Distinktion

Die Scholastik genießt keinen guten Ruf. Sie gilt als absurdeste Form der Theologie, bei der sich gelehrte Mönche darum stritten, wie viele Engel auf eine Nadelspitze passen. In Wahrheit stand die mittelalterliche Philosophie für eine Neubegründung des Denkens in einem Abendland, in dem die Ratio mit dem Ende der Antike ziemlich auf den Hund gekommen war. Denken heißt unterscheiden, und so überrascht es nicht, dass distinctio (›Unterscheidung, Unterscheidungsmerkmal‹) als gedankliche Trennung von Phänomenen einer der zentralen Termini der Scholastik war.

Das Wort, das schon im klassischen Latein Ciceros vorkam, wurde durch die Scholastiker fachsprachlich-philosophisch definiert. In dieser Bedeutung wird es bis heute in der Philosophie verwendet, etwa bei Niklas Luhmann, der in seinem Buch »Soziale Systeme« eine Unterscheidungsmethode des Denkens beschreibt: »Beobachten ist nichts weiter als das Handhaben einer Distinktion wie zum Beispiel System und Umwelt.«

In den Debatten, die die Barockdichter im 17. Jahrhundert über die deutsche Literatursprache und die richtige Schreibung der Wörter führten, meinte Distinktion auch ›Rechtschreibung‹ im Sinne von ›das, was die Wörter unterscheidet‹. Am Ende des Druckfehlerverzeichnisses von Georg Rodolf Weckherlins 1618/19 erschienenen »Oden und Gesäng« wird der Leser instruiert: »Was sunsten in distinctionen und buchstaben übersehen / wirt der Löser selbs zu verbessern wissen.« Und Georg Philipp Harsdörffer versieht sein dichtungstheoretisches Traktat »Poetischer Trichter« 1650 mit einem Anhang namens »Unvergreifliches Bedencken von der Rechtschreibung und Wortscheidung / oder Distinktion«.

Unter dem Einfluss des Französischen, aus dem auch das Verb distinguieren (›(sich) unterscheiden‹) sowie das Adjektiv distinguiert stammen, nahm Distinktion dann eine gesellschaftliche Bedeutung im Sinne von ›das, womit man sich vorteilhaft von anderen unterscheidet‹ an. Dass kann so ein banales Stück Metall wie ein Orden oder Schmuck sein, das kann ein Verdienst oder eine besondere Wertschätzung sein, aber ebenso ein gewisser vornehm-zurückhaltender Habitus. In Franz Werfels Drama »Juarez und Maximilian« von 1925 urteilt der republikanische General Porfirio Díaz über den Habsburger Maximilian, der sich zum Kaiser von Mexiko hatte einsetzen lassen: »Ernste Grazie und Distinktion wirken immer in Mexiko.« Das Gleiche ist gemeint, wenn man Menschen distinguiert nennt. In Maxim Billers »Harlem Holocaust« ist 1998 zu lesen: »Die paar Münchener jüdischen Intellektuellen, die es gab und die Warszawski wohl auch kannte, kamen ohnehin nie – ich glaube, sie fürchteten Warszawski, sie waren für seine Tafel in Geist und Temperament viel zu zurückgenommen und distinguiert.«

In seiner älteren gesellschaftlichen Bedeutung war das Wort Distinktion selten geworden, als ihm seit den 1970er-Jahren die Soziologie ein Comeback beschert. Zuerst verwendete es 1939 Norbert Elias in seinem Hauptwerk »Über den Prozess der Zivilisation« im Sinne von ›(bewusste) Abgrenzung von Angehörigen bestimmter sozialer Gruppen gegeneinander oder gegenüber der Gesamtgesellschaft‹. Populär machte das Wort dann aber vor allem der französische Soziologe Pierre Bourdieu mit seinem epochalen Buch »Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft«, das im französischen Original von 1979 den Titel »La distinction« trägt. Ein Autor der »Zeit« erklärt Bourdieus Distinktionsbegriff im Jahr 2011: »Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat dafür sensibilisiert, wie Menschen über Mode, Wohnungseinrichtung, Musikstil, Autoauswahl – kurz über alles, was im Leben Stil hat, feine Abgrenzungen von anderen betreiben, Distinktion eben.«

Durch die intensive Lektüre Bourdieus bei deutschen Geisteswissenschaftlern und Intellektuellen wurden Distinktion und die darauf beruhende Zusammensetzung Distinktionsgewinn regelrecht zu bildungssprachlichen Modewörtern. Das bescherte uns viele interessante Einsichten, denn so wie Bourdieu hatte vorher noch niemand diese Abgrenzungsprozesse untersucht. Aber die Verwendung des Wortes Distinktion taugt mittlerweile nur noch bedingt dazu, sich zu distinguieren.