Habitus

Als Mel Gibson im Jahr 2004 seinen Film »Die Passion Christi« ins Kino brachte, schmähten viele Kritiker das Werk wegen seiner exzessiven Darstellung der Gewalt als christlichen Splatterfilm. Frühere Zeitalter, die noch den Anblick öffentlicher Hinrichtungen und Folter kannten, hätten das wohl einfach nur realistisch gefunden. Der Barocktheologe Johann Conrad Dannhauer vergleicht in seiner 1654 gedruckten Predigt den Habitus Christi in der Passion mit der Kleidung eines Arbeiters, der den ganzen Tag rote Weintrauben in einem Bottich zertritt, damit ihr Saft zu Wein werden kann: Christus sei »von seinem Blut roth worden / als eines Keltertretters«. Mit Habitus ist hier tatsächlich nicht das Gebaren Christi gemeint, sondern sein Gewand.

Im Kirchenlatein meint habitus, das aus habere (›halten, an sich tragen‹) abgeleitet ist, ›Kleidung, Ordenstracht‹. Mit dieser Bedeutung gelangte das Wort als abit oder habit bereits ins Mittelhochdeutsche und ist noch heute in der Kurzform Habit lebendig. Doch schon im Lateinischen kann habitus andere Äußerlichkeiten wie die Erscheinung oder den Zustand eines Menschen, eines Tieres oder eines Phänomens bezeichnen. Außerdem war das Wort in der mittelalterlichen scholastischen Philosophie ein Synonym für ›Gewohnheit‹.

Diese Bedeutungsnuancen sind in der älteren Sprache ab dem Mittelhochdeutschen nicht immer sauber zu unterscheiden. Eberhard Werner Happel lässt 1690 in »Der Academische Roman« seinen Helden Venereus auf die Frage, ob wohl ein Reicher oder ein Armer besser zur Weisheit »geschickt« sei, antworten: »Weil die Weißheit / sprach er / ein Habitus, der mit Wissenschafften und Tugenden vermenget ist / so gibt die Armuth zu der einen so wol / als zu der andern / mehr Disposition, als der Reichthum.«

Die Bedeutung ›Gewohnheit‹, die in diesem Satz noch steckt, kam im 19. Jahrhundert außer Gebrauch. Seitdem dominiert bildungssprachlich der Sinn ›Gesamterscheinungsbild einer Person nach Aussehen und Verhalten‹ beziehungsweise übertragen ›(auf einer bestimmten Grundeinstellung aufgebautes, erworbenes) Auftreten‹ sowie ›Haltung, Benehmen, Gebaren‹. Die recht komplexen Definitionen, die dem Duden-Universalwörterbuch entnommen sind, zeigen, wie weit die Bedeutung des Wortes zu fassen ist.

Von Max Weber ausgehend wurde Habitus zum Fachwort der Soziologie. Im 1916/17 veröffentlichten Abschnitt zu Hinduismus und Buddhismus seiner »Wirtschaftsethik der Weltreligionen« erklärt er: »Der allgemeine geistige Habitus der Intellektuellen ist in China, Indien und Hellas zunächst keineswegs grundverschieden.« Oswald Spengler dagegen behauptet 1918 im ersten Band seines Werks »Der Untergang des Abendlandes«: »Alle großen Persönlichkeiten der Antike bilden eine Gruppe für sich, deren seelischer Habitus von dem aller großen Menschen der arabischen oder abendländischen Gruppe streng unterschieden ist.« Norbert Elias und Pierre Bourdieu definierten Habitus als Lebensstil, Sprache, Kleidung und so weiter, an denen der Rang einer Person in der Gesellschaft erkennbar wird; diesen Habitus betont man durch Distinktion.

Durch Elias und Bourdieu, deren Werke im intellektuell die Bundesrepublik prägenden Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurden und weit über das Fach Soziologie hinaus Wirkung zeigten, wurde Habitus um die Jahrtausendwende zu einer Lieblingsvokabel von Intellektuellen. Wenn Hengameh Yaghoobifarah die eigene Kolumne, die seit 2016 in der »taz« erscheint, »Habibitus« nennt, darf sie wohl davon ausgehen, dass das Wortspiel mit Habibi (arabisch ›mein Freund, Geliebter‹) und Habitus allgemein verstanden wird.