Immer wieder stellt sich in diesem Buch die Frage, ob Wörter genuin bildungssprachlich sind oder einfach nur dem gehobenen Stil angehören – ein schönes Beispiel für Bedeutungserweiterung und übertragenen Gebrauch des Wortes, denn ›angeboren‹ oder ›erblich‹ kann bei Wörtern selbstverständlich nichts sein. Diese Bedeutungen aber hatte genuinus ursprünglich im Lateinischen, und genauso benutzt man genuin seit dem frühen 20. Jahrhundert in der deutschen medizinischen Fachsprache. Doch bildungssprachlich wird genuin, nachdem es im späten 17. Jahrhundert entlehnt wurde, wie echt verwendet – mit allen Nuancen, die das deutsche Stammwort bietet, etwa ›vom Herkommen her‹, ›authentisch‹, ›eigen‹, ›eigentlich‹ oder ›nicht nachgemacht‹.
Genuin war ein Lieblingswort Martin Heideggers, der es in seinem Hauptwerk »Sein und Zeit« von 1927 sehr oft zwischen allen möglichen Bedeutungsschattierungen schillernd einsetzt. Beispielhaft sind Sätze wie: »Wir erfahren nicht im genuinen Sinne das Sterben der Anderen, sondern sind höchstens immer nur ›dabei‹.« Oder: »Wie ist das genuine Erschließen dieser ständigen Bedrohung existenzial möglich?« Bis zum typischen Heidegger-Hammer:
Der je auf das Zeug zugeschnittene Umgang, darin es sich einzig genuin in seinem Sein zeigen kann, z. B. das Hämmern mit dem Hammer, erfaßt weder dieses Seiende thematisch als vorkommendes Ding, noch weiß etwa gar das Gebrauchen um die Zeugstruktur als solche.
Doch Heidegger hatte die Vorliebe für das Wort nicht exklusiv: Dem Anschein nach war es geradezu ein Modewort bei Großdenkern des frühen 20. Jahrhunderts; auch C. G. Jung verwendet es, und in Max Webers religionssoziologischen Werken häuft es sich fast noch mehr als bei Heidegger. Beispielsweise schreibt Weber 1916 in der »Wirtschaftsethik der Weltreligionen«: »Die genuin konfuzianische Lebensweisheit war ›bürgerlich‹ im Sinne des optimistischen aufgeklärten Beamtenrationalismus mit seinem, jeder Aufklärung leicht beigemengten, superstitiösen Einschlag.«
Von diesen Gipfeln stieg genuin aber längst hinab in die Ebenen von Zeitungsdeutsch. Wer Wert auf Distinktion legt, erlangt diese eher noch durch das schon seit dem 18. Jahrhundert nachweisbare Substantiv Genuinität, das in theologischen und philologischen Schriften als Synonym für ›Echtheit‹ üblich ist, von den Medien aber bisher noch gemieden wird.