morbid

Manchmal ist die Zeit für ein Wort einfach reif. So erging es dem Adjektiv morbid, das im frühen 19. Jahrhundert aus dem gleichbedeutenden französischen morbide und dem lateinischen morbidus entlehnt wurde. Herders »Conversations-Lexikon« definiert es 1856 mit ›mürbe, weich; nach dem Leben gemalt‹ und kennt zudem die Ausdrücke Morbidesse und Morbidezza für anschaulich gemachte Weichheit des Fleisches bei der Aktmalerei.

Doch literarisch bedeutsam wurde das Wort im Deutschen erst durch die Literatur des Fin de Siècle um 1900, die sich für Verfall, Nervenschwäche und Dekadenz interessierte. Hugo von Hofmannsthal preist 1893 in der »Frankfurter Zeitung« den italienischen Schriftsteller Gabriele D’Annunzio und insbesondere seine Erzählung »L’Innocente« über einen Kindsmord: »Der Erzähler der Geschichte, der Ehemann, ist eines jener Wesen von morbider Empfindlichkeit, hellsichtig bis zum Delirium und unfähig, zu wollen.« Einige Jahre später beschreibt Thomas Mann seine Figur Gerda Buddenbrook, die Ehefrau von Thomas Buddenbrook, der sich als Letzter gegen den Verfall seiner Familie wehrt: »Gerda, deren ein wenig morbide und rätselhafte Schönheit einen seltsamen Gegensatz zu der hübschen Gesundheit ihrer Schwägerin bildete.« Beide Zitate entsprechen schon ganz der heutigen Bedeutung des Wortes, die der Online-Duden mit ›(vom körperlichen Zustand) nicht sehr widerstandsfähig; kränklich, angekränkelt‹ sowie ›vom inneren, sittlichen, moralischen Zustand) im Verfall begriffen, brüchig‹ definiert.

Während die Figurenbeschreibungen bei Hofmannsthal und Mann ebenso wie bei Gerhart Hauptmann, Jakob Wassermann und Hugo Ball durchaus von zwiespältiger Faszination geprägt waren, wurde der Ausdruck vor allem in deutschen Medien des frühen 20. Jahrhunderts eindeutig negativ gebraucht – häufig mit einem national gesinnten Unterton. Als morbid galten in deutschen Zeitschriften der genannten Zeit unter anderem Pablo Picasso, die italienische Kriegspolitik und der französische Impressionismus. Noch 1933 sorgt sich ein Autor im Nazi-Blatt »Völkischer Beobachter« um die deutschen Frauen und Mädchen: »Helft, ihr ewigen Helferinnen, helft brechen den Wahn des Standesdünkels, der das gesunde Mädel zurückstößt um den ›Rang‹ morbider Dämchen!«

Im NS-Kontext diente das Adjektiv häufig zur Herabwürdigung anderer Länder sowie als undeutsch empfundenen Verhaltens. In einer Proklamation vom November 1944 nutzt es Adolf Hitler, um den italienischen König, der Mussolini abgesetzt hatte und einen Separatfrieden mit den Alliierten suchte, zu verunglimpfen:

Daß Monarchen in einer völligen Verkennung ihrer eigenen, heute nur noch als prähistorisch anzusehenden Position den Mut verlieren und zu Verrätern werden, liegt in ihrer durch jahrhundertelange Inzucht hervorgerufenen geistigen und moralischen Unzulänglichkeit begründet. Völker verlangen in solchen Zeiten andere Führer als krank und morbide gewordene alte Geschlechter.

Zu diesem Zeitpunkt meldete sich Hitler schon nicht mehr so häufig, die Äußerung wurde daher in der Presse sehr breit zitiert. Dass ausgerechnet die Nazis, die sich doch als so junge und lebenskräftige Bewegung im politbiologische Sinne verstanden, dieses Wort gebrauchen, ist bemerkenswert.

Doch auch am anderen Ende des politischen Spektrums war das Wort gebräuchlich, diesmal zur Kritik am angeblich überlebten kapitalistischen System. 1933 beispielsweise analysiert die sozialdemokratische Zeitung »Deutsche Freiheit«: »In dem morbiden und angefaulten Körper der bürgerlichen Gesellschaft sitzen die uniformierten Spießbürger des Dritten Reichs wie die Maden im Speck.« Und im »Neuen Deutschland« wurden zu DDR-Zeiten unter anderem die Bourgeoisie, die amerikanische Gesellschaft, das imperialistische Herrschaftssystem, die Moral der herrschenden Klasse in Frankreich, Adelsabkömmlinge im Bonner Parlament und – wieder einmal – der französische Impressionismus als morbid bezeichnet. Wie luzid gehört morbid übrigens zu den Adjektiven auf -id, bei denen oft ein im Duden nicht verzeichnetes e am Ende des Wortes ergänzt wird.