ZWEI

Das zweite Treffen mit Anne Mommsen fand im Esszimmer von Wiebke statt. Wiebke schätzte ihre eigenen Räumlichkeiten sehr, denn sie waren ihr Rückzugsort. Hierher konnte kein Gast kommen. Sie hatte eine Flasche Wein für sich und Anne aufgemacht, während Fokke zufrieden seinen Grog trank.

»Hauke sammelte also getrocknete Scheiße in der Scheune? Der Bursche hatte wohl einen ordentlichen Deichbruch im Hirn«, sagte Anne.

»Schaapschiet, falls du es genau wissen möchtest«, meinte Fokke trocken.

Seine Tante runzelte verärgert die Stirn. »Trink nicht so viel Grog oder ändere die Mischung der Zutaten«, schimpfte sie.

Fokke schnaubte entrüstet. »Das war kein Scherz, verehrte Tante. Hauke hat tatsächlich mehrere Tonnen Schafscheiße in getrockneter Form gelagert. Beim Grog kennst du doch die eiserne Regel, oder?«

»Ja, ja. Rum mutt, Zucker kann, Water brukt nich«, antwortete Anne.

Während Wiebke die Gläser mit Wein nachfüllte, stellte sie die entscheidende Frage: »Was kann man mit getrockneter Schafscheiße anfangen?«

Fokke zuckte ratlos mit den Schultern.

»Es gibt Hobbygärtner, die schwören darauf. Der Dung soll ein hervorragender Rasendünger sein«, sagte Anne.

»Und? Sind es so viele, dass sich der Verkauf lohnt?«, fragte Fokke.

Tatsächlich war es eine kleine Minderheit, die sich mit diesem speziellen Dünger im Garten beschäftigte.

»Was wollte Hauke also damit, wenn es kein Geld damit zu verdienen gab?«, wollte Wiebke wissen.

Das war die Kernfrage, die sie trotz ausgiebiger Diskussion nicht beantworten konnten.

»Dann kommen wir zu der Geschichte mit der Anzahlung für den Schlepper. Woher soll Hauke das Geld gehabt haben? Mit dem Verkauf seines Naturdüngers hat er es kaum erwirtschaftet«, wechselte Anne das Thema.

»Vermutlich hat er sich die Summe bei der lieben Verwandtschaft zusammengeliehen«, sagte Wiebke.

Fokke schüttelte den Kopf. Er hatte Informationen aus erster Hand, die anders lauteten. Seine Tante schaute ihn überrascht an, als er diese Möglichkeit kurzerhand vom Tisch wischte.

»Woher willst du das so genau wissen?«, staunte sie.

»Weil mein lieber Bruder das blonde Gift in der Bergstraße aufgesucht hat«, antwortete Wiebke.

Anne musterte den Haarschnitt ihres Neffen mit fachkundigem Blick. »Als Friseurin taugt Celia was. Kannst du ihr vertrauen?«, fragte sie.

»Ja, kann ich. Hauke hat das Geld nicht von seiner Familie erhalten«, sagte Fokke.

Er schaute seine Schwester warnend an, die mit viel Mühe eine scharfe Erwiderung hinunterschluckte.

Die drei entwickelten immer abwegigere Theorien, wie Hauke Boysen an das Geld gekommen sein konnte.

»Es reicht, Leute. So kommen wir nicht weiter. Neues Thema. Welchen Streit haben Dirk und Hauke miteinander ausgefochten?«, wollte Fokke wissen.

Die beiden Frauen tauschten einen Blick, bevor Anne antwortete. »Ach, immer die alte Leier. Hauke war doch schon seit der Grundschule eifersüchtig auf Dirk. Du weißt schon. Wegen des Gedichtwettbewerbs, bei dem die Lehrerin angeblich Dirk bevorteilt hat.«

Der dritte Grog hatte seine Spuren in Fokkes Gehirntätigkeit hinterlassen, weshalb er nicht sofort reagierte. Doch dann wurde er wütend. »Das ist doch Unsinn, Anne! Was war wirklich los?«

Es folgte ein weiterer Blickwechsel der beiden Frauen.

»Offenbar hat Hauke alte Katasterkarten entdeckt. Demnach sitzt Dirk auf wenigstens drei Hektar Nutzland, das eigentlich zur Fläche von Haukes Hof gehört«, sagte Wiebke.

Fokke stieß einen verwunderten Pfiff aus. Drei Hektar gutes Weideland stellten ein kleines Vermögen dar, wenn man es gut bewirtschaftete. Sollte Hauke Boysen tatsächlich recht gehabt haben, stünde ihm vermutlich eine sechsstellige Schadenersatzsumme zu.

»Das wäre verdammt übel, Wiebke. Du weißt selbst, über welche Summen wir dann sprechen würden. Ein stärkeres Motiv gäbe es kaum«, sagte Fokke.

Ihr Cousin Dirk unterhielt einen Milchviehhof, der stark unter den schwankenden Milchpreisen zu leiden hatte. Sollte er nicht mehr genügend Futterfläche für seine Kühe zur Verfügung haben, drohte ihm schnell der Bankrott.

»Bisher steht ja noch überhaupt nicht fest, ob es stimmt. Vermutlich ist es wieder nur einer dieser hinterhältigen Tricks des Boysenclans«, sagte Anne.

Fokke hoffte fast, dass es so wäre. Er wunderte sich aber, dass der Clan ausgerechnet Hauke für die Umsetzung des Betrugs eingespannt hatte. Er war einfach zu dämlich, um nicht auch den besten Plan zu torpedieren.

»Kennst du jemanden beim Katasteramt, der uns eine Kopie des Abschnitts besorgen kann?«, fragte er.

Mittlerweile baute Fokke immer mehr auf die vielen Verbindungen seiner weit gestreuten Familie, wie er mit einigem Schrecken erkannte. Seine Tante machte ein unglückliches Gesicht.

»Nein, verdori ook! Ausgerechnet da kriegen wir keinen Fuß in die Tür. Deswegen denke ich ja, dass es ein mieser Trick der Boysens ist«, schimpfte sie.

Das war durchaus ein naheliegender Gedanke, den Fokke jedoch nicht weiterverfolgen wollte. Ihm war ein völlig legaler Weg eingefallen, wie sie ohne Schwierigkeiten an die Kopie aus dem Katasteramt kommen konnten. Der Grog hatte verhindert, dass er sofort an diese Möglichkeit gedacht hatte. Eigentlich hätten seine Tante und Schwester ebenfalls darauf kommen müssen.

»Nicht so schlimm, Anne. Der Rechtsanwalt von Dirk kann sich darum kümmern«, sagte er.

Während Anne angestrengt auf die Wanduhr starrte, schob Wiebke ärgerlich ihr Weinglas hin und her. Fokke ahnte Böses.

»Ihr habt keinen Rechtsanwalt eingeschaltet? Um Himmels willen, warum denn nicht?«, fragte er.

Anne trank einen großen Schluck Wein und stellte das Glas dann energisch auf den Tisch. »Weil wir damit die Ansprüche der Boysens offiziell anerkannt hätten, Fokke! So etwas dürfen wir nicht machen. Die glauben sonst, dass wir auf jeden dämlichen Trick von ihnen hereinfallen«, antwortete sie.

Er schüttelte ungläubig den Kopf. Die Verbohrtheit dieser Menschen grenzte an Wahnsinn. Was ging nur in ihren Köpfen vor? Sobald es um die möglichen Machenschaften der anderen Familiensippe ging, verloren sie jedes Maß. So viele Kopfnüsse konnte man überhaupt nicht verteilen, um durch diese friesischen Dickschädel durchzudringen.

»Ich brauch ’ne Auszeit. Dieser verfluchte Sippenkrieg geht mir ganz gehörig auf die Nerven!«, sagte Fokke. Mit einem entschiedenen Ruck erhob er sich.

»Leicht gesagt, wenn man sich lieber in die große weite Welt verdrückt! Wir müssen schließlich Tag für Tag mit den Boysens auskommen, Fokke. Du hast es ja vorgezogen, dich nach Lübeck in dein Schneckenhaus zurückzuziehen!«, erwiderte Anne wütend.

Sie konnte ihn schlecht im Nachhinein über die wahren Hintergründe aufklären. Seine Haltung als Kommissar hatte dazu geführt, dass Anne als Oberhaupt des Clans ihm einige Dinge vorenthielt. So auch die Tatsache, dass die Änderungen auf den Karten zufällig ihre Richtigkeit hatten. Denn der Vater von Dirk hatte heimlich die Grenzsteine in einer Nacht-und-Nebel-Aktion versetzt. Die beiden Manipulationen hoben sich somit gegenseitig auf, weshalb Anne lieber nicht einen Rechtsanwalt auf dieses leidige Thema aufmerksam machen wollte.

Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Fokke hatte seinem Cousin wirklich helfen wollen, doch dieser Kleinkrieg zwischen den Mommsens und Boysens verhinderte es.

»Genau, liebe Tante! Ich packe gleich morgen früh meine Tasche und verschwinde aus diesem Irrenhaus.« Er ignorierte den betroffenen Gesichtsausdruck seiner Schwester und schlug krachend die Tür hinter sich zu. Er brauchte dringend frische Luft.

Als Fokke am nächsten Vormittag wach wurde, kitzelte ein Sonnenstrahl seine Nasenspitze. Mürrisch quälte er sich aus dem Bett und trat ans Fenster. Da es wie immer in der Nacht einen Spalt weit geöffnet gewesen war, füllte frische Morgenluft sein Zimmer.

»›Was tun?‹, sprach Zeus«, murmelte er.

Sein Ausbruch vom Abend zuvor war durchaus ein Teil seiner inneren Überzeugung gewesen. Dennoch spürte Fokke sein schlechtes Gewissen, weil er sich so unbeherrscht gezeigt hatte. Erst das leise Klopfen an seiner Zimmertür holte ihn zurück in die Gegenwart.

»Komm ruhig rein, Wiebke. Du bist doch sonst nicht so zurückhaltend«, rief Fokke.

Außer seiner Schwester besuchte ihn niemand im Zimmer, weshalb er sich keine weiteren Gedanken über seinen Aufzug machte. In seinem Rücken öffnete sich die Zimmertür, und dann blieb es unerwartet ruhig. Fokke wandte den Kopf und spürte eine Hitzewelle in sich aufsteigen. Mit einem belustigten Funkeln in den Augen musterte ihn Heike Fehring. Mit einer hastigen Bewegung griff Fokke nach seiner Jeanshose und schlüpfte hinein. Dabei verhedderte sich sein linker Fuß im Hosenbein. Heike eilte ihm zur Hilfe.

»Störe ich etwa?«, erklang Wiebkes verärgerte Stimme.

Während er sich an Heikes Schulter festhielt, sah Fokke hinüber zur offenen Zimmertür. Dort stand Wiebke und schaute fassungslos auf das Bild, das Fokke in Heikes Armen abgab.

»Nein, ich bin ja bereits angezogen, und Fokke ist auch gleich so weit«, erwiderte Heike trocken.

Mit einem verärgerten Schnauben verließ Wiebke das Zimmer, wobei sie die Tür heftiger als nötig ins Schloss zog. Mit einem spöttischen Lächeln löste Heike sich von Fokke und setzte sich auf die Bettkante.

»Deine Schwester kann mich immer noch nicht ausstehen. Dabei bin ich doch dafür verantwortlich, dass du nicht mit Heidemarie Boysen zum Abschlussball gegangen bist«, sagte sie.

Fokke sortierte seine Gefühle und ließ sich ächzend in den kleinen Clubsessel am Fenster fallen. »Du machst es Wiebke aber auch nicht leicht, dich zu mögen. Warum provozierst du sie ständig?«

Ein seltsamer Ausdruck erschien im herzförmigen Gesicht der Brünetten, bevor sie den Kopf senkte. Das lange Haar fiel wie ein Vorhang über ihr Gesicht und verwehrte Fokke dadurch den Blick.

»Das wirst du noch früh genug erfahren, Fokke. Aber bestimmt nicht von mir«, antwortete sie schließlich.

Fokke wusste, dass alles Nachfragen zwecklos war, und wechselte das Thema. Heike war nicht der Typ Mensch, der seine Meinung schnell bildete oder änderte. Diese Ernsthaftigkeit hatte er damals zu spät erkannt und war ihr vermutlich auch nicht gewachsen gewesen.

»Was verschafft mir die Ehre?«, fragte er.

Heike Fehring legte den Kopf schräg und wich damit dem einfallenden Sonnenlicht aus. »Du weißt über den Streit zwischen Hauke Boysen und Dirk Bescheid?«, fragte sie.

Fokke schaute sie verblüfft an. »Wenn du diese seltsame Sache mit den landwirtschaftlichen Flächen meinst, dann ja. Warum fragst du?«

Mit einem Lächeln öffnete Heike ihre Handtasche, entnahm ihr einen braunen Umschlag und reichte ihn Fokke. Als er danach griff, gab sie ihn nicht sofort frei.

»Das hast du nicht von mir bekommen, Fokke. Verstanden?«

Daher ihr ungewöhnlicher Besuch. Heike Fehring half ihm. Sie wollte aber nicht, dass es publik wurde. Fokke nickte zustimmend. Er öffnete den Umschlag und zog das mehrfach gefaltete Dokument heraus.

Nachdem er es auf dem kleinen Couchtisch ausgebreitet hatte, stieß Fokke einen leisen Pfiff aus.

»Das ist der ominöse Auszug vom Katasteramt, mit dem Hauke seinen Anspruch geltend machen wollte«, sagte er.

Heike war neben ihn getreten. Sie stand so dicht neben Fokke, dass ihre Ellenbogen sich leicht berührten und er den Duft ihres Parfüms wahrnahm. Doch bevor Fokke sich gedanklich verlieren konnte, meldete sich Heike zu Wort.

»Allerdings, Fokke. Bislang haben die Boysens ihn noch nicht als belastendes Material gegen Dirk vorgelegt. Ich gehe jedoch davon aus, dass es bald passieren wird.«

Davon ging Fokke ebenfalls aus. Was ihn im Augenblick aber weit mehr interessierte, war Heikes Motiv in dieser Angelegenheit.

»Wieso hilfst du mir?«, fragte er.

Heike zog sich ein Stück zurück und lächelte Fokke amüsiert an.

»Warum wohl, mein Lieber? Wiebke kennt die Antwort bestimmt«, erwiderte sie.

Er konnte sich denken, was Heike damit andeuten wollte. Fokke interessierte aber nicht, was seine Schwester vermutete.

»Raus mit der Sprache, Heike. Was hast du davon, wenn du mir hilfst?«, hakte er nach.

Das Lächeln in ihrem Gesicht erlosch.

»Weil ich nicht zusehen werde, wie die Ermittlungen einseitig geführt werden. Zurzeit kann Heidemarie einen schnellen Erfolg gut gebrauchen und wird daher ihrer Sippe nicht allzu sehr auf die Finger sehen. Deswegen behalte ich die Boysens im Auge.«

Das klang plausibel. Fokke dankte ihr.

»Bedank dich nicht zu früh, Fokke. Ich schaue auch deiner Familie auf die Finger, und falls ihr irgendwelche krummen Dinger probiert, bekommt ihr es mit mir zu tun«, sagte Heike.

Diese Ansage gefiel Fokke und lieferte ihm gleichzeitig die Antwort auf seine Fragen, die er vor Heikes Auftauchen zu klären versucht hatte.

»Dann werde ich bleiben«, sagte er.

Einige Sekunden lang schauten sie sich stumm in die Augen, bevor Heike sich verabschiedete.

»Melde dich bei mir, wenn es erforderlich wird.«

»Das werde ich machen. Danke für deine Hilfe«, erwiderte Fokke.

Als er die Tür hinter ihr schloss, blieb Fokke einen Augenblick nachdenklich stehen. Die junge Heike hatte ihn mit ihrer Lebendigkeit fasziniert. Die heutige Heike berührte ihn mit ihrer Ernsthaftigkeit und löste ein längst verloren geglaubtes Gefühl in ihm aus.

Die Reste eines rot-weißen Absperrbandes flatterten im böigen Wind. Fokke Mommsen umkurvte die vielen Löcher, die sich mit Regenwasser gefüllt hatten. Ein Tief war über die Nordsee nach Nordfriesland gekommen und sorgte für umwölkte Gesichter bei manchen Touristen.

»Ich muss mir einen eigenen Eindruck verschaffen«, hatte er Wiebke gesagt.

Vielleicht war es auch nur eine Ausrede gewesen, um ihren Fragen auszuweichen. Es war Fokke klar, dass seine Schwester mehr über Heikes Anwesenheit in seinem Zimmer erfahren wollte. Instinktiv hatte er sich bedeckt gehalten und auch noch kein Wort über die Kopie der Karte mit den Betriebsflächen verloren.

»Moin, Fokke. Schaapschiet stinkt ganz schön lang«, meldete sich eine Stimme.

Fokke hatte an der Stelle angehalten, an der früher einmal das große Tor in die Scheune geführt haben musste. Die verkohlten Balken ließen entsprechende Rückschlüsse zu. Er wandte sich um und war erleichtert, dass es sein Onkel Erich war und kein Mitglied des Boysenclans.

»Moin, Erich. Ja, der Gestank ist bestialisch. Hast du eine Ahnung, wozu Hauke so viel getrocknete Schafscheiße gehortet hat?«, fragte er.

Sein Onkel lehnte an seinem roten Massey Ferguson und schüttelte den Kopf. Sein grüner Overall war ordentlich verdreckt, und auch seine Gummistiefel zeigten Spuren frischer Feldarbeit.

»Nö, aber bei dem Dööskopp wundert mich überhaupt nichts mehr«, erwiderte Erich.

Mit der rechten Hand nahm er seine speckige Arbeitsmütze ab und fuhr sich durch das graue Haar. Fokke musste unwillkürlich schmunzeln, als er den weißen Rand am Haaransatz bemerkte.

»Na, zum Lachen ist das ja nun nicht mehr. Hauke war vielleicht ein bisschen langsam im Kopf, aber so einen Tod hat er nicht verdient«, sagte Erich.

Fokke stellte das Missverständnis klar und ignorierte das Gemurmel seines alten Onkels, der für diese Art Humor wenig erübrigen konnte. Erich Mommsen war es völlig gleichgültig, was die anderen Menschen von ihm hielten oder ob sein äußeres Erscheinungsbild ihren Vorstellungen entsprach.

»Wat lungerst du hier eigentlich herum, Fokke?«, fragte er.

Die typische Vermischung von hoch- und niederdeutscher Sprache setzte Erich normalerweise nur bei Fremden ein. Mit der Familie und echten Nordfriesen sprach er Niederdeutsch oder wenn möglich Friesisch, obwohl immer weniger Menschen diese Sprache beherrschten. Fokkes Onkel war mit dem Leben seines Neffen nicht einverstanden und zeigte es auf diesem Weg.

»Ich will herausfinden, wer Hauke den roden Hahn aufs Dach gesetzt und ihn dabei umgebracht hat«, antwortete er.

Der kritische Blick von Erich erfasste zuerst das Wohnhaus mit dem Reetdach, auf dem sich eine Menge Moos angesiedelt hatte. Dann wanderte er hinüber zu den Resten der niedergebrannten Scheune.

»Dirk war das nicht«, sagte er schließlich.

Fokke unternahm einen weiteren Anlauf, um auf seine Frage von vorhin eine befriedigende Antwort zu erhalten. Er wusste, dass Erich und Dirk einander bei der Arbeit auf den Höfen halfen. Daher kannte sein Onkel den landwirtschaftlichen Betrieb von Hauke Boysen ebenfalls, da er unmittelbar an Dirks Ländereien grenzte.

»Das will ich beweisen, Erich. Wat is nu mit de Schaapschiet? Hast du eine Idee?«, hakte er nach.

Außer der Verwendung als Pflanzendünger in einem Nutzgarten fiel Erich Mommsen auch nichts Sinnvolles ein, was jemand mit solchen Mengen an getrockneter Schafscheiße anstellen konnte. Er wandte sich um und stieg auf den Sitz seines Schleppers. Fokke eilte hinüber.

»Was ist das eigentlich für eine Sache mit den Betriebsflächen? Wie kommt Hauke auf diesen Unsinn mit dem angeblich widerrechtlich genutzten Land?«, rief er.

Obwohl seine Worte noch vor dem Starten des Motors gut zu hören gewesen waren, zog Erich die Tür zu und fuhr los. Er vollführte einen Halbkreis mit dem Ferguson und winkte seinem Neffen zu, bevor der nur noch dem Heck des Fahrzeugs hinterherschauen konnte.

»Friesischer Dickschädel«, brummte Fokke verärgert.

Er war sich absolut sicher, dass sein Onkel die Fragen sehr wohl gehört hatte. Erich Mommsen wollte einfach nicht antworten. War am Ende doch etwas an Hauke Boysens Behauptung dran?

Fokke hatte sich gerade wieder der abgebrannten Scheune zugewandt, als ein weiteres Fahrzeug auf dem Hofplatz anhielt. Als er den Streifenwagen erkannte, ahnte er Probleme voraus.

»Schnüffelt der Herr Kollege etwa an fremden Tatorten herum?«, fragte Heiner Boysen.

»Nein, ich wollte nur mal nachsehen«, erwiderte Fokke.

Es war eine schwache Antwort, und das wusste er. Was sollte er sonst sagen? Fokke hatte sich in eine dumme Lage gebracht. Seine Anwesenheit auf dem Bauernhof des Opfers war vielleicht noch erklärbar. Wenn Ulf oder Heiner jedoch den Umschlag in seiner Hand näher untersuchen würden, stünden Fokke ganz andere Probleme ins Haus. Wie sollte er erklären, woher er die Kopien des Auszuges der Betriebsflächen hatte?

»So, so. Dann bist du also ein verkappter Pyromane, oder suchst du nur nach Hinweisen, die noch vertuscht werden müssen?«, erwiderte Heiner.

Ulf und Heiner standen vor Fokke, der seine Antwort sorgfältig abwog.

»He, ich will nur den wahren Täter finden. Dirk war es nicht, und das wisst ihr doch genauso gut wie ich«, sagte er.

Es platzte aus ihm heraus, und an den finsteren Mienen der beiden Beamten war unschwer abzulesen, dass es deutlicher als gewünscht herausgekommen war.

»Du machst dich besser vom Hof, Fokke. Sollten wir dich noch einmal bei unzulässigen Ermittlungen erwischen, geht eine Beschwerde an deine Dienststelle in Lübeck raus. Ist das bei dir angekommen?«, warnte Ulf.

Es war sinnlos, gegen diese Drohung zu protestieren. Vermutlich hätte Fokke im umgekehrten Fall ganz ähnlich reagiert, weshalb er lediglich nickte und sich in seinen Leihwagen setzte. Er startete den Motor und zuckte zusammen, als Heiner Boysen die Beifahrertür aufriss. Bevor Fokke reagieren konnte, schnappte er sich den braunen Umschlag und zog die Kopie der Karte heraus.

»Ich hatte recht, Ulf. Dieser krumme Hund war im Haus und hat sich Beweisstücke unter den Nagel gerissen«, rief Heiner.

Fokke stieß einen halblauten Fluch aus und fuhr los. Er konnte nur verlieren, wenn er die Herausgabe der Kopie verlangte. So würde das Wort der beiden Streifenbeamten gegen seins stehen.

»Na, toll. Jetzt ist es schon so weit mit mir gekommen, dass ich lügen muss«, schimpfte er.

Im Rückspiegel sah er die Drohgebärden der Boysens und ahnte, dass die Angelegenheit noch nicht aus der Welt geschafft war. Wenigstens Ulf Boysen war clever genug, die Situation richtig einzuschätzen. Er würde es dem Clanoberhaupt stecken, und Peter Boysen ließ eine derartige Provokation garantiert nicht so einfach auf sich beruhen.

Wie sehr er recht behalten sollte, stellte sich keine zehn Minuten nach seiner Rückkehr in den »Pesel« heraus.

»Fokke? Damit kommst du nicht durch!«

Als der aufgebrachte Peter Boysen in den Schankraum stürmte und ohne einen Gruß auf ihren Bruder losging, mischte sich Wiebke umgehend ein.

»Auch wenn du der Bürgermeister bist, Peter Boysen, führst du dich hier nicht so auf!«, rief sie.

Für die nächsten Minuten war das Gasthaus nicht mehr der neutrale Boden, auf dem sich die Mommsens und Boysens friedlich trafen. Es entbrannte ein hitziges Wortgefecht, in dem Peter Boysen auch die Sache mit der Kopie zur Sprache brachte.

»Willst du etwa leugnen, dass Heiner die Kopie in deinem Auto gefunden hat?«, fragte er.

Das war der Zeitpunkt, an dem Fokke Mommsen die unsichtbare Grenze überschritt, die er seit Jahren immer sorgfältig beachtet hatte. Er log für seine Familie.

»Hat er nicht, Bürgermeister«, erwiderte er.

Es klang selbst in Fokkes Ohren erstaunlich sicher und brachte tatsächlich Peter Boysen zum Verstummen. Er war ein intelligenter Mann, der in vielen Jahren Kommunalpolitik eine Menge über Lügner gelernt hatte. In der Regel durchschaute Boysen sicherlich sehr schnell, ob er seinem Gegenüber vertrauen konnte.

»Ich kann nicht glauben, was ich gerade erlebe. Fokke Mommsen tanzt nach der Pfeife seiner Sippe. Das wird dir noch leidtun, Kommissar«, sagte er.

Seine Drohung war nicht so ernst, wie sie hätte sein können. Fokke erkannte die Verunsicherung bei Peter Boysen, aber die Warnung traf ihn dennoch. Eine Stimme in seinem Kopf wiederholte die Worte immer und immer wieder.

Das wird dir noch leidtun, Kommissar.

Fokke konnte das ungute Gefühl nicht abstreifen, dass es genau so kommen würde. Er schaute Peter Boysen hinterher, der den Schankraum genauso grußlos verließ, wie er ihn betreten hatte.

»Hast du tatsächlich Papiere vom Hof mitgehen lassen?«, fragte Wiebke.

Das Geschwisterpaar hatte sich hinter den Tresen zurückgezogen, damit keiner ihr Gespräch mit anhören konnte. Man wusste nie genau, wer sich als Zuträger der Boysens erweisen würde.

»Ja, hab ich«, behauptete Fokke.

Innerhalb weniger Minuten log er nicht nur das Familienoberhaupt der Boysens an, sondern auch noch seine Schwester. Diese Sache entwickelte sich eindeutig in die falsche Richtung. Fokke schien eine Art Rückverwandlung zu durchlaufen und benahm sich schon fast wie ein vollwertiges Mitglied seiner Familie. Genau so hatte er nicht enden wollen, und nun schien es innerhalb weniger Stunden trotzdem so zu kommen.

»Es war die Kopie des Kartenausschnittes, die Haukes Ansprüche auf Dirks Ländereien belegen soll«, sagte er.

Am liebsten hätte Fokke sich auf sein Zimmer verzogen, um endlich in Ruhe nachdenken zu können. Alles ging viel zu schnell und zwang ihn zu unüberlegten Reaktionen. Wenn Fokke nicht höllisch aufpasste, würde er sein gesamtes bisheriges Leben in Lübeck zerstören.

Was für ein grausamer Gedanke.