NEUN

Der folgende Tag fing mit ungewohnter Arbeit an. Fokke kroch im Morgengrauen aus dem Bett und schloss die Kühe an die Melkanlage an. Die Handgriffe waren ihm nicht vertraut, was von den Kühen bemerkt und bemängelt wurde. Als ihn zum wiederholten Male ein Tritt erwischte, schlug Fokke mit der flachen Hand auf die Kuppe der Kuh.

»Benimm dich, Dörthe! Sei froh, dass ich überhaupt hier bin und euch melke«, schimpfte er.

Schließlich waren alle Tiere angeschlossen, und ihr zufriedenes Muhen erfüllte den Stall. Fokke nutzte die Zeit für eine schnelle Dusche und suchte sich einen sauberen Overall, um für die anstehende Arbeit auf dem Bauernhof passend gekleidet zu sein. Bis in die Mittagszeit war Fokke mit seinen neuen Pflichten bestens beschäftigt und fand keine Zeit, sich mit den Morden auseinanderzusetzen.

»Das nenne ich doch mal einen schönen Anblick. Fokke bei ehrlicher Arbeit«, rief Wiebke.

Er hatte soeben den Heuwender unterm Schleppdach abgesetzt und stieg vom Ferguson, als seine Schwester ankam. Fokke knurrte lediglich als Antwort und rieb sich den schmerzenden Rücken.

»Bist du nur zum Lästern gekommen?«, fragte er.

Wiebke war ihrem Bruder ins Haus gefolgt, wo er sich zunächst ausgiebig die Hände gewaschen hatte.

»Nein, eher, um dich vorm Verhungern zu retten«, erwiderte sie lachend.

Fokke entdeckte erst jetzt den Weidenkorb, der auf dem Küchentisch stand. Wiebke holte diverse Behälter heraus, in denen sie ihre Köstlichkeiten warmgehalten hatte. In Windeseile deckte Fokke den Tisch, sodass sie kurze Zeit später essen konnten.

»Dein Gulasch ist unschlagbar«, lobte er Wiebke.

Für eine Weile plauderten die Geschwister über alltägliche Dinge und blendeten den Grund für Fokkes längeren Aufenthalt einfach aus. Fokke hatte seinen Urlaub verlängern können, mit der Begründung, dass er seinen kranken Onkel auf dem Bauernhof vertreten musste. Dass Fokke in Wahrheit vor allem die Ermittlungen heimlich vorantreiben wollte, kam natürlich nicht zur Sprache.

»Du hast vermutlich noch nicht die aktuellen Gerüchte über den Mord an Tüchsen gehört, oder?«, fragte Wiebke.

Normalerweise kümmerte Fokke sich herzlich wenig um solche Aussagen, die in der Regel keinerlei Substanz hatten. In diesem Fall musste er eine Ausnahme machen, da es sich um Bredstedt handelte. Hier wurde so manches Wissen unter dem Deckmantel eines angeblich aus dritter Hand vernommenen Gerüchtes verbreitet.

»Nö, habe ich nicht«, antwortete er.

Wiebke schob den leeren Teller zurück und tupfte sich die Mundwinkel mit der Serviette ab, bevor sie ihrem Bruder das Gerede mitteilte.

»Ron hatte also wieder einmal eine Affäre. Das ist nicht ungewöhnlich, außer dass es eine verheiratete Frau gewesen sein soll. Solche Komplikationen hat er eigentlich gemieden. Glaubst du den Gerüchten denn?«, fragte er verblüfft.

In seiner Erinnerung hatte Fokke Ron nie mit einer verheirateten Frau gesehen.

»Ja, und der Ehemann dieser Frau soll bereits mehrfach mit Ron gestritten haben. Nicht nur mit Worten«, antwortete Wiebke.

Die Eifersucht zählte fraglos zu den häufigen Mordmotiven, und gehörnte Ehemänner verloren regelmäßig die Kontrolle. Fokke brachte das nur nicht mit Ron zusammen.

»Gibt es denn auch Namen zu dieser ominösen Geliebten?«, fragte er.

Wiebke ließ ihren Bruder ein wenig zappeln, bevor sie die Identität der angeblichen Geliebten lüftete.

»Elke Busch? Ausgerechnet Miss Nordfriesland soll etwas mit Ron gehabt haben? Das klingt verdächtig nach dem Neid einiger Frauen«, zweifelte Fokke.

Der Titel der Miss Nordfriesland lag zwar bereits eine Weile zurück, doch Elke Busch gehörte immer noch zu den auffälligen Frauen in der kleinen Stadt. Sie war die Tochter eines Fischhändlers, der nicht nur mit Nordseekrabben ein kleines Vermögen angehäuft hatte. Henner Busch hatte Elke zeitlebens auf einen Sockel gestellt, wodurch sie sich selbst ebenfalls als Prinzessin ansah. Fokke hatte sich früher oft gefragt, wie ein unscheinbarer Mann wie Henner so eine Schönheit hervorbringen konnte.

»Ja, ja. Elke wird von allen Männern angehimmelt und von allen Frauen beneidet. Ist so eine Betrachtungsweise eigentlich hilfreich für einen Kommissar?«, fragte Wiebke.

Fokke schmunzelte zufrieden. Seine Schwester erkannte die Falle, in die sie getappt war, und versetzte ihm einen kräftigen Schlag gegen die Schulter.

»Aua! So abwegig ist diese Einteilung gar nicht. Mich interessiert viel mehr, ob an diesem verrückten Gerücht tatsächlich etwas dran ist«, sagte Fokke.

Er hatte für den Nachmittag einen kleinen Ausflug geplant gehabt. Da er seinen Mietwagen mittlerweile in Flensburg bei der dortigen Niederlassung der Verleihfirma zurückgegeben hatte, musste er sich mit dem alten Mercedes seines Onkels begnügen. Solange er damit keine Verfolgungsjagden antreten musste, würde der Wagen vollauf genügen.

»Ich fahre nachher ins Krankenhaus zu Erich. Auf dem Weg wollte ich einen Abstecher zu Rons Atelier machen. Vielleicht bietet sich aber vorher noch ein Besuch bei Elke an«, erklärte Fokke.

Den skeptischen Blick von Wiebke ignorierte er genauso wie die abfällige Bemerkung.

»Mannslüüd blieven jümmers Mannslüüd«, sagte sie.

Ihre negative Haltung zum männlichen Geschlecht schien neuerdings noch ausgeprägter als früher zu sein.

»Hast du Ärger mit deinem Liebhaber?«, neckte Fokke.

Er machte sich nur wenig Gedanken über das Liebesleben seiner älteren Schwester. Seine Frage war reine Lust am Ärgern, weshalb ihn die heftige Reaktion total überrumpelte.

»Dat geiht di gornix an! Sieht so dein Dank für die leibliche Versorgung aus?«, schimpfte Wiebke.

Bevor Fokke seine Verblüffung überwunden hatte, räumte Wiebke den Weidenkorb ein und eilte aus der Küche. Endlich kam Fokke auf die Füße und folgte seiner Schwester, doch er kam zu spät. Als er die Tür zum Innenhof aufstieß, sah er nur noch die Heckpartie des Beetles. Dafür rammte ihm Düvel den kräftigen Schädel gegen das Schienbein.

»Mensch, ole Düvel. Das tut doch weh«, beschwerte sich Fokke.

Statt in irgendeiner Weise seine rabiate Handlung abzumildern, trat der schwarze Kater mit voller Absicht auf Fokkes Fuß. Da er auf Strümpfen unterwegs war, schmerzte der Druck der schmalen Pfoten ebenfalls nicht unerheblich.

»So werden wir keine Freunde«, knurrte Fokke.

Er rieb abwechselnd das malträtierte Schienbein und den Fuß, während er nachdenklich dem immer kleiner werdenden Wagen seiner Schwester nachschaute. Hatte er unwissentlich einen wunden Punkt angesprochen? Seufzend wandte Fokke sich um und kehrte zurück in die Küche. Dort hockte der schwarze Kater auf dem Tisch und schleckte genüsslich den Teller von Wiebke aus.

»Beim Essen hast du jedenfalls einen guten Geschmack«, sagte Fokke.

Der Besuch im Krankenhaus war nicht einfach für Fokke gewesen. Erich wirkte immer noch sehr verloren und fasste seine Krankheit in einem simplen Satz zusammen.

»Mien Bregen lööst sik op«, sagte er.

Es war eine drastische Umschreibung für die nachlassende Leistung seines Gehirns, das sich natürlich nicht wirklich auflöste. Erich drückte es aber so aus, und vermutlich fühlte es sich auch so für ihn an. Fokke bemühte sich um Optimismus und erhielt dabei Unterstützung durch den behandelnden Arzt.

»Ihr Onkel spricht sehr gut auf die Medikamente an, Herr Mommsen. Zum Glück wurde die Krankheit in einem frühen Stadium entdeckt, sodass wir die Entwicklung erheblich bremsen können«, sagte der Mediziner.

Es würde noch drei Tage dauern, bis Erich ausreichend auf die passende Medikation eingestellt war und auf seinen Bauernhof zurückkehren durfte.

»Mach dir keinen Kopf, Erich. Ich kümmere mich um deine Viecher und Felder«, beruhigte ihn Fokke.

Der skeptische Seitenblick seines Onkels erinnerte ihn aber daran, dass er in Erichs Augen ein Stadtmensch geworden war.

»Ehrlich. Ich mach das schon«, versicherte Fokke.

»Glööv ick di, Fokke. Wat is mit de Hof vun Dirk?«, fragte Erich.

An den hatte Fokke überhaupt nicht mehr gedacht und völlig vergessen, dass sich sein Onkel seit der Inhaftierung seines Cousins ebenfalls darum kümmerte. Als Erich den Schrecken im Gesicht seines Neffen bemerkte, lachte er schallend los.

»Muss nich glieks dood umfallen, mien Jung. Hans kümmert sik al üm«, sagte er dann.

Demnach beobachtete Erich die Bestrebungen seines Neffen sehr aufmerksam und hatte dafür gesorgt, dass Dirks Betrieb während seiner Abwesenheit bestens versorgt wurde. Fokke musste eingestehen, dass er wohl doch mehr Stadtmensch war, als er es selbst einsehen wollte.

»Na, dann funktioniert dein Hirn ja viel besser, als du uns weismachen willst«, sagte Fokke.

Kurze Zeit später lenkte er den schwerfälligen Diesel seines Onkels wieder über die B 5. Fokke hatte eine Idee, wo er mehr über die angebliche Affäre zwischen Ron Tüchsen und Elke Busch erfahren konnte. In gemütlichem Zockeltempo rollte der Mercedes vierzig Minuten später auf einen Parkplatz in Schlüttsiel aus. Fokke erklomm die Treppe hinauf zum Deich und schlenderte zwischen den Touristen hinunter zur Bude, in der er Henner Busch anzutreffen hoffte.

»Moin, Henner. Wo geiht di dat?«, grüßte er den Inhaber.

Der dunkelhaarige Fischhändler hatte eine weiße Schürze um seinen gewaltigen Bauch gebunden und schaute Fokke aus kleinen, gewieften Augen an. Henner müsste nicht mehr selbst in dieser Fischbude am Deich stehen, aber er fühlte sich hier am wohlsten.

»Kiek maal an. De Kommissar besöcht uns ook maal wedder«, rief Henner aus.

Er reichte seine schwammige Hand über den Tresen, die Fokke notgedrungen schütteln musste. Doch das Krabbenbrötchen, das er bekam, war eine hervorragende Entschädigung, sodass er sich schnell wieder entspannte.

»Wie geht es Dirk?«, fragte Henner.

Fokke gab bereitwillig Auskunft über alle Belange seiner Familie, die der Fischhändler penibel abfragte. Als er von Erich Mommsens Erkrankung hörte, glitt ein Schatten über sein fülliges Gesicht.

»Dumme Sache, das. Aber er ist ein zäher Bursche, dein Onkel. Erich packt das.«

Eine besondere Feinfühligkeit konnte man Henner nun wirklich nicht unterstellen, aber das erwartete Fokke auch nicht von ihm. Nachdem er sein Krabbenbrötchen genüsslich vertilgt hatte, schlürfte er den starken Kaffee und wartete geduldig ab, bis andere Laufkundschaft versorgt worden war.

»Wie geht es Elke? Tourt sie immer noch durch die Weltgeschichte?«, fragte er dann.

Zu seiner Überraschung hatte sich die ehemalige Schönheitskönigin ein seriöses Standbein aufgebaut. Als Eventmanagerin organisierte Elke mittlerweile kleine und mittlere Veranstaltungen an der Küste und auf den Inseln.

»Die Deern macht sich richtig gut, Fokke«, schwärmte Henner.

»Redet ihr etwa über mich?«, fragte Elke.

Fokke drehte sich überrascht um, als er ihre Stimme in seinem Rücken vernahm. Mit einem Lächeln umarmte sie den völlig überrumpelten Fokke, der die hellblonde Tochter des Fischhändlers bislang nicht als Freundin eingestuft hatte. Ihre unerwartete Intimität verwirrte ihn, weshalb er die Herzlichkeit ein wenig steif erwiderte.

»Wie man hört, bringst du die holde Weiblichkeit in Bredstedt in Aufruhr«, redete sie weiter.

Offenbar kursierten über Fokke, Celia, Heike und sogar Heidemarie die wildesten Gerüchte in der kleinen Stadt. Kein Wunder, wenn Wiebke sich darüber echauffierte. Fokke hatte nicht geahnt, was für ein interessantes Ziel er für die Klatschmäuler abgab.

»Danke, gleichfalls. Dir dichtet man schon eine Affäre mit Ron Tüchsen an«, nutzte er die Gelegenheit.

Während Henner puterrot im Gesicht wurde, lachte Elke prustend los. Es amüsierte sie offenbar, dass man ihr eine Liebschaft mit dem ermordeten Bildhauer nachsagte. An mangelndem Selbstbewusstsein litt die Tochter des Fischhändlers offenkundig nicht.

»Dat is Rufmord!«, tönte Henner.

Elke winkte jedoch lässig ab.

»Lass den Tratschtanten doch ihren Spaß, Vader. Dat jöökt mi gornich«, erwiderte sie.

Für Fokke bestanden keine Zweifel an Elkes Aufrichtigkeit. Selbst wenn sie verheiratet gewesen wäre, was nicht der Fall war, traute er ihr keine Affäre mit Ron zu.

»Weiß man eigentlich schon mehr, Fokke? Unterstützt du deine Husumer Kollegen bei dem Fall?«, fragte sie.

Fokke erklärte seine schwierige Lage und die im Raum stehende Drohung von Heidemarie Boysen. Henner gab einige bissige Kommentare ab, die Fokke aber eher als eine Pflichtübung ansah. Sobald einer aus dem Boysenclan an seiner Bude stehen und über die Mommsens meckern würde, würde er bestimmt die gleiche Zustimmung erhalten. Henner Busch war eben ein cleverer Geschäftsmann, der sich keiner Seite zuneigen wollte.

»Hast du noch Zeit für einen kleinen Spaziergang, oder warten die Kühe auf dich?«, fragte Elke.

Fokke fand, dass er die Zeit hatte, und so schlenderten sie kurze Zeit später nebeneinander am Deich entlang. Henner hatte ihm noch eine Portion frischer Krabben aufgenötigt, die er zuerst in den Wagen brachte. Elke plauderte zunächst über ihre Arbeit, bevor sie die Bombe platzen ließ.

»Ich wollte Vader nicht beunruhigen, Fokke. Ron und ich hatten doch eine Beziehung, die aber schon längere Zeit vorbei war«, beichtete sie.

Ihre Eröffnung ließ Fokke stehen bleiben und die schöne Frau ungläubig anstarren.

Während Fokke diese Neuigkeit noch verdauen musste – er konnte sich die blonde Schönheit nur schwer in den Armen des toten Bildhauers vorstellen –, erzählte Elke von der fast zwei Jahre andauernden Beziehung.

»Ron war unglaublich verletzlich und ein wahrer Künstler. Sobald ich ihn in seine Welt begleitet hatte, zeigte sich ein völlig anderer Mensch. Ein wertvoller Mensch, Fokke.«

Unwillkürlich musste er an die Tage in Lübeck denken, als Ron in seiner Wohnung genächtigt hatte. Auch in dieser Zeit ergaben sich tief gehende Gespräche, die Fokke dem ruppigen Ron nie zugetraut hätte.

»Ich verstehe, was du meinst. Ron war einmal bei mir in Lübeck«, sagte er.

Sie tauschten Erinnerungen aus, und für Fokke stand fest, dass Elke Ron aus ganzem Herzen geliebt hatte.

»Wie kam es zur Trennung?«

Es war eine heikle Frage, die ihm nicht zustand. Offenbar nahm Elke es ihm nicht krumm, da sie offenherzig über ihre Beziehung berichtete.

»Ron war ein Selbstzweifler und immer auf der Suche nach Anerkennung. Es gab immer wieder Streit zwischen uns, da er in dieser Hinsicht ausgesprochen egoman agierte.«

Ron Tüchsen suchte demnach so verzweifelt nach Bestätigung, dass er auch falschen Schmeicheleien erlag oder Frauen zu diesem Zweck umgarnte. Fokke konnte sich lebhaft vorstellen, wie kompliziert dadurch eine Liebesbeziehung werden konnte. Ihm reichte bereits die einfache Variante, um sich überfordert zu fühlen.

»Siehst du ein Motiv?«, fragte Elke.

Ihr wacher Verstand sortierte das Gesagte, um zu einem logischen Rückschluss zu gelangen.

Wer behauptet, alle Blondinen wären blöd, der kennt Elke nicht, dachte er.

»Oft sind es Täter aus dem unmittelbaren Umfeld des Opfers. Daher suche ich, rein theoretisch, nach solchen Menschen«, erwiderte Fokke.

Elke registrierte seine eilige Einschränkung und quittierte sie mit einem hellen Lachen. Sie hakte sich bei Fokke unter.

»Keine Bange, Herr Kommissar. Ich werde niemandem verraten, dass du dich nach Ron erkundigt hast«, sagte sie.

Es war ein wunderbarer Moment voller Harmonie. Fokke spazierte auf dem Deich im böigen Wind, sog die salzige Nordseeluft ein und unterhielt sich mit einer gleichermaßen intelligenten wie schönen Frau. Das Leben schenkte ihm einen Augenblick des Glücks.

»Hoppla! Ist das nicht die Landrätin?«, fragte Elke.

Die wankelmütige Göttin Fortuna kehrte Fokke abrupt den Rücken zu und ließ ihn mit der unerwarteten Begegnung allein fertig werden. Heike Fehring kam auf ihn und Elke zu und zögerte kurz, nachdem sie Fokke erkannte.

»Moin, Elke. Moin, Fokke. Ein schöner Nachmittag, um sich seinen Kopf an der See durchpusten zu lassen«, grüßte Heike.

Ihr Lächeln war das einer professionellen Politikerin, aber in ihrem Blick las Fokke eine Spur Enttäuschung, mit der er zu kämpfen hatte. Warum meldete sich sein Gewissen? Nur weil sie einmal miteinander geschlafen hatten, waren Heike und er wohl kaum ein Paar. Trotzdem fühlte Fokke sich unbehaglich, weil er mit Elke am Arm ausgerechnet auf Heike getroffen war.

»Ja, nicht wahr? Alle Termine für heute erledigt, oder machst du nur eine kurze Pause?«, antwortete Elke.

Heike erzählte von noch ausstehenden Treffen in Husum und Leck. Die Zeit dazwischen wollte sie mit einem Fischbrötchen in Schlüttsiel verbringen.

»Gute Wahl. Vader freut sich bestimmt auch, wenn er dich gleich sieht«, lobte Elke.

»Ja, er bestimmt. Schönen Tag noch«, verabschiedete sich Heike.

Mit einem undefinierbaren Blick wandte sie sich ab und ging weiter zur Fischbude von Henner Busch.

»Sie beherrscht ihre Gefühle ausgesprochen gut. Dabei hat Heike sicherlich überlegt, ob sie dich küssen oder dir die Augen auskratzen soll«, sagte Elke.

Fokke zuckte erschrocken zusammen, als sie so unverblümt über die augenscheinlich erkennbaren Gefühle von Heike sprach.

»Sie ist verheiratet und würde in der Öffentlichkeit weder das eine noch das andere machen«, widersprach er automatisch.

»Pah! Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass da was zwischen euch läuft«, sagte Elke.

Dann sollten wir besser nicht in Kays Gegenwart aufeinandertreffen, schoss es Fokke durch den Kopf.

Er wechselte schnell das Thema und fragte Elke weiter nach Ron aus. Mitten in einem Bericht über dessen Alkoholexzesse fiel Fokke auf einmal wieder ein, was Bertram Johannsen ihm in der Nacht des Mordes erzählt hatte. Wie hatte er das nur vergessen können?

Daran war nur der verdammte Friesengeist schuld, dachte er.

Der Weg von Schlüttsiel bis nach Bordelum, wo Bertram Johannsen sein Haus hatte, reichte für viele unnütze Überlegungen aus. Fokke gehörte eigentlich nicht zu den Menschen, die ihre Gefühle zu Tode analysierten, doch die Begegnung auf dem Deich hatte ihn aufgewühlt.

Wenn es so verdammt offensichtlich ist, müssen Heike und ich uns aus dem Weg gehen, beschloss er schließlich.

Es hatte ihn zutiefst erschüttert, wie selbstverständlich Elke die Anziehung zwischen Heike und ihm ausgemacht hatte.

»Moin, Fokke«, grüßte der Taxiunternehmer.

Bertram erhob sich aus der Hocke und rieb sich über den schmerzenden Rücken. Er bekämpfte das Unkraut, das sich in den Fugen zwischen den großen Steinen des Friesenwalles angesiedelt hatte. Sein forschender Blick erfasste Fokkes Gesicht.

»Moin, Bertram. Hast du einen Moment für mich?«

Sie gingen auf die Terrasse des Hauses, wo Bertram eine Thermoskanne mit Kaffee sowie eine Flasche Mineralwasser auf dem Tisch stehen hatte. Fokke entschied sich für den Kaffee und erinnerte Bertram dann an die Taxifahrt.

»Klar kann ich mich erinnern. Ich habe dich noch nie so besoffen erlebt«, schmunzelte Bertram.

Fokke überging dieses Detail und kam stattdessen auf die Gesprächsfetzen zu sprechen. Bertram runzelte nachdenklich die Stirn und starrte eine Weile stumm auf einen Hortensienstrauch. Dann nickte er auf einmal.

»Es ging bei Ron, wie meistens, um seine Skulpturen und darum, dass nie ausreichend Geld zur Verfügung stand. Er hat bei der Fahrt mehrfach von einem ominösen Sponsor erzählt, wobei seine Andeutungen ein wenig rätselhaft waren«, antwortete er schließlich.

»Was meinst du damit?«, wollte Fokke es genauer wissen.

Bertram beschrieb das Gespräch mit Ron und gab einiges wortwörtlich wieder. Fokke vergaß seinen Kaffee und spürte sofort, dass er auf eine heiße Spur gestoßen war. Sein Instinkt als Ermittler ließ sich in dieser Hinsicht nicht täuschen.

»Das hört sich ja fast so an, als wenn Ron jemanden erpresst haben könnte«, sagte Fokke.

»Wat? Nö, der doch nicht«, widersprach Bertram entschieden.

Einen Augenblick lang schaute Fokke ihn nur verblüfft an.

»Wieso nicht? Alles, was Ron gesagt hat, deutet doch genau in diese Richtung«, sagte er.

»Ron war ein Klookschnaker, genau wie du. Er hat doch nur dumm rumgetönt«, schimpfte Bertram.

Klookschnaker, er? Was meinte der Taxiunternehmer denn damit?

»Wieso bezeichnest du Ron und mich als Klookschnaker?«, fragte er.

Bertram Johannsen stürzte den Inhalt seines Wasserglases in einem Zug hinunter und erhob sich. Verblüfft kam Fokke ebenfalls auf die Beine und fragte sich, wodurch er den Unwillen des sonst so umgänglichen Taxiunternehmers ausgelöst hatte.

»Weil ihr beide mit dem Kopf immer in den Wolken unterwegs seid. Ron hatte nur seine dämlichen Skulpturen im Sinn und du nur deine Ermittlungen. Gibt es eigentlich kein normales Leben bei euch?«, lautete die Antwort.

Damit war das Gespräch für Bertram beendet, der mit wütenden Schritten über den Rasen zur Eingangspforte stampfte. Fokke beeilte sich, um mit Bertram Schritt halten zu können, und versuchte, die Stimmung wieder aufzubauen.

»Nun beruhig dich doch, Bertram. Ich bin nun einmal Polizist, und daher gehen meine Gedanken vermutlich wirklich zu oft in diese Richtung. Vergiss einfach, worüber wir geredet haben. Einverstanden?«, bat er.

Wenn Bertram sich später bei den Fahrgästen über seine Fragen auslassen würde, drohte Fokke reichlich Ungemach. Sie würden es weitertragen, und irgendwann erreichte es auch die Ohren von Heidemarie Boysen. Welches Schicksal Fokke dann blühte, wusste er ja bereits. Wie hatte sein Besuch bei dem sanftmütigen Bertram nur so aus dem Ruder laufen können?

»Ja, ja. Jetzt lass mich meine Arbeit machen, bevor es zu regnen beginnt«, erwiderte der.

Auf dem Weg zum alten Mercedes seines Onkels warf Fokke einen prüfenden Blick hinauf zum Himmel. Es hatten sich Schleierwolken gebildet, die das strahlende Blau in eine milchige Masse verwandelten. Siedend heiß fiel Fokke ein, dass er ja einige Aufgaben auf dem Bauernhof seines Onkels zu erledigen hatte. Fluchend sprang er auf den Fahrersitz und glühte die alte Dieselmaschine vor. Auf dem Weg durch Bredstedt hätte Fokke am liebsten zuerst bei Thorben im Institut und anschließend im »Pesel« vorbeigeschaut. Er musste seinem Cousin unbedingt von den Neuigkeiten berichten, außerdem wollte er mit Wiebke seinen Frieden schließen. Beides musste warten, denn die Arbeiten auf dem Hof gingen vor.

Die Tieffront blieb über der Region Nordfriesland hängen.

Am Tag zuvor hatte er gerade noch das getrocknete Heu in Ballen fassen und in die Scheune fahren können. Keine zwei Stunden, nachdem Fokke auf den Hof seines Onkels zurückgekehrt war, wurde aus dem leichten Tröpfeln ein heftiger Landregen. Da er anschließend noch die Kühe melken musste und den Stall ausmisten, blieb keine Zeit mehr für Grübeleien. Fokke aß eine Kleinigkeit und fiel kurz danach zu Tode erschöpft ins Bett.

Jetzt ging sein Blick hinaus durchs Küchenfenster, an dem Regentropfen hinunterliefen.

»Schietweder«, grummelte Fokke.

»Das ist zurzeit das geflügelte Wort«, antwortete Thorben.

Fokke hatte nicht bemerkt, wie sein Cousin in die Küche gekommen war. Was ihm jedoch nicht entging, war der ole Düvel. Der schwarze Kater drückte sich an Thorbens Bein vorbei und setzte sich vor den leeren Fressnapf.

»Moin, Thorben. Was treibt dich denn hierher?«, fragte Fokke.

Er füllte einen Becher mit Kaffee und schob ihn Thorben zu. Sein Cousin nippte daran und deutete auf den Kater.

»Dein Hausgenosse wartet auf sein Fressen«, sagte er.

Fokke ignorierte das gelegentliche Miauen des Katers genauso wie die strafenden Blicke des gesunden Auges.

»Der hat bereits zwei Schüsseln vertilgt. Such dir ’ne Maus, Düvel«, empfahl Fokke.

Da der Kater mittlerweile die Sturheit seines derzeitigen Dosenöffners erkannt hatte, verschwand er aus der Küche. Thorben schüttelte amüsiert den Kopf.

»Dauert nicht mehr lange, und ihr benehmt euch wie ein altes Ehepaar«, sagte er.

Fokke zuckte mit den Schultern und starrte finster hinaus auf den Innenhof, auf dem sich bereits einige Regenpfützen gebildet hatten.

»Auf dem Hof fällt heute vermutlich nicht so viel Arbeit an, oder?«, fragte Thorben.

»Nö, außer Melken eigentlich nichts weiter. Wieso?«

Thorben hatte dafür gesorgt, dass sein Institut eine Auswahl an Katasterkarten zugeschickt bekam.

»Angeblich um einen Abgleich mit alten Karten vorzunehmen. Na ja, im Grunde war das nicht einmal gelogen«, sagte er.

Zuerst verstand Fokke nicht, warum sein Cousin ihm davon erzählte. Doch dann ging ihm ein Licht auf.

»Verdori! So können wir herausfinden, ob die Betriebsfläche von Dirk verändert wurde«, stieß er hervor.

»Genau das ist der Plan. Also hast du Zeit?«, erwiderte Thorben.

Schlagartig verflog Fokkes schlechte Laune. Er stieg wenige Minuten später zu Thorben in den Wagen und fuhr mit ihm ins Institut. Dort breiteten die beiden Männer die verschiedenen Kartenausschnitte auf einem der riesigen Tische aus und verglichen sie miteinander. Sobald die richtigen Ausschnitte nebeneinanderlagen, erkannten Fokke und Thorben die Zusammenhänge.

»Übel, übel. Hauke hatte recht. Wenn es keine Grundstücksübertragungen gegeben hat, dann beackert Dirk einen Teil vom Boysenland«, sagte Fokke.

Es war ihnen also nicht gelungen, diesen Vorwurf zu entkräften.

»Aber deswegen würde Dirk doch keinen Menschen umbringen«, sagte Thorben.

»Nein, sicherlich nicht. Wat nu?«

Die Cousins schauten sich fragend an. Keinem wollte eine brauchbare Idee einfallen.

»Lass uns erst mal in den ›Pesel‹ fahren und zu Mittag essen«, sagte Fokke.

Thorben gefiel der Vorschlag, und so betraten sie zehn Minuten später die bereits gut gefüllte Gastwirtschaft von Fokkes Schwester. Neben den Einheimischen, die fast jeden Tag hier anzutreffen waren, hatten sich diverse Touristen ebenfalls in den »Pesel« aufgemacht. Als Wiebke ihren Bruder und ihren Cousin bemerkte, machte sie eindeutige Zeichen.

»Wir sollen in ihre Küche gehen. Dort können wir in Ruhe essen und reden«, sagte Fokke.

Auf dem Weg dorthin schnappte er sich zwei frisch gezapfte Biere und stellte ein Glas vor Thorben auf den Tisch. Der stand in der westlichen Ecke der großen Küche, in der zwei Helferinnen an den Herden standen und das bestellte Essen zubereiteten.

»Moin«, rief er.

Grete winkte lediglich, während die dünne Erika herüberkam und beiden Männern die Hand reichte. Für ein Gespräch war keine Zeit, worüber weder Fokke noch Thorben wirklich traurig waren. Erikas Eltern waren nach dem Krieg aus Pommern nach Bredstedt gekommen und geblieben. Man hörte es an der merkwürdigen Klangfarbe in Erikas Aussprache, da sie den pommerschen Dialekt nie ganz abgelegt hatte.

»Ich geh zurück«, sagte sie seit geraumer Zeit.

Anfangs hatten Wiebke und die anderen Bredstedter es noch geglaubt, aber da den Worten nie Taten folgten, gingen sie mittlerweile nicht weiter darauf ein. Die Euphorie von Erika war unmittelbar nach dem Wegfall der Mauer aufgekommen, doch zu einem echten Aufbruch hatte es nie gereicht.

»Wir haben schlechte Nachrichten«, sagte Fokke.

Wiebke war in die Küche gekommen.

»Was ist nun schon wieder passiert?«, fragte sie.

Fokke und Thorben erzählten von den Katasterauszügen.

»So’n Schiet! Wart ihr auch auf der Bank?«

Wiebke schaute in die fragenden Gesichter und erzählte von den jüngsten Vorkommnissen.

»Heiner und Ulf waren in der Bank? Warum sollte das etwas mit dem Mord an Hauke zu tun haben?«, fragte Fokke.

Darüber konnte Wiebke ihn aufklären. Einige Angestellte der Genossenschaftsbank waren zum Mittagessen in den »Pesel« gekommen.

»Sie haben sich darüber unterhalten, was die Polizei in der Bank gewollt hat. Es ging um den Inhalt eines Schließfaches. Genauer gesagt, um das Schließfach von Hauke Boysen«, erzählte sie.

Einer der leitenden Angestellten hatte sich erinnert, dass das Mordopfer ein Schließfach bei der Bank hatte, und die Polizei angerufen.

»Ralf Christiansen hat das Fach geöffnet und den Inhalt Heiner ausgehändigt«, sagte Wiebke.

Das musste zunächst nichts bedeuten, aber trotzdem spürte Fokke ein unangenehmes Ziehen in der Magengrube.

»Ging aus dem Gespräch hervor, was im Schließfach war?«, fragte er.

Darüber hatte Wiebke leider nur Andeutungen aus dem Gespräch der Bankangestellten aufschnappen können.

»Es muss aber wichtig sein, Fokke«, sagte sie.

»Warum glaubst du das?«, fragte er.

Wiebke zögerte kurz mit der Antwort.

»Weil keine Stunde später Heidemarie mit einem weiteren Kripomann aus Husum nach Bredstedt gekommen ist.«

Fokke stöhnte leise auf. Es war zum Haareausraufen. Jede weitere Entwicklung im Mordfall Hauke Boysen schien die Schuld von Dirk weiter zu untermauern.

»Wir müssen unbedingt herausfinden, was in diesem Schließfach gewesen ist«, sagte er.

Seine Schwester konnte nicht länger bei ihnen stehen bleiben. Im Schankraum wurde ihre Hilfe dringend benötigt, sodass Fokke und Thorben allein über das Problem nachdenken mussten.

»Ich kenne Ralf Christiansen ganz gut. Da mein Institut auch Kunde bei der Bank ist, könnte ich ihn unter einem Vorwand besuchen und ausquetschen«, schlug Thorben vor.

Es war kein genialer Plan, aber der einzige, den sie hatten. Sosehr es Fokke auch missfiel, er musste Thorben zustimmen. Nachdem der sein Jägerschnitzel mit Salzkartoffeln vertilgt hatte, machte er sich auf den Weg zur Genossenschaftsbank. Fokke blieb nichts anderes übrig, als sich von Grete den Teller nachfüllen zu lassen und zu warten. Die füllige Küchenhelferin freute sich über seinen guten Appetit.

»Wenigstens dich mache ich glücklich«, murmelte er.