ZEHN

In der Bank wurde Thorben Mommsen sofort von Ralf Christiansen empfangen. Der Prokurist führte den Stammkunden in sein Büro und bot frischen Kaffee an.

»Danke, sehr gerne«, erwiderte Thorben.

Nachdem ihnen eine Mitarbeiterin die beiden Tassen gebracht hatte, kam Thorben zum Anlass seines Besuches.

»Wir sollen demnächst weitere Fördergelder der EU erhalten. Dafür müssen neue Konten eingerichtet werden. Sie kennen die Vorgaben der EU ja«, sagte er.

Da Christiansen in der Vergangenheit schon mehrfach für die Projekte des Instituts die Konten eingerichtet hatte, war er mit den Abläufen bestens vertraut. Es handelte sich in der Regel um sechsstellige Summen, die sich immer gut in der Bilanz der Genossenschaftsbank niederschlugen.

»Ja, natürlich. Ich lasse die erforderlichen Papiere sofort vorbereiten«, sagte Christiansen.

Er verließ das Büro für einige Minuten, in denen Thorben über seine nächsten Worte nachdenken konnte. Der Zufall kam ihm in Form zweier aufgeregt diskutierender Bankangestellten zur Hilfe. Als Ralf Christiansen ins Büro zurückkehrte, nutzte Thorben die Gelegenheit.

»Die Polizei war bei Ihnen, Herr Christiansen? Was ist denn passiert?«, fragte er direkt.

Als Christiansen ihn verwundert anschaute, nannte Thorben den mitgehörten Wortwechsel als Grund seiner Neugier. Für einige Sekundenbruchteile verschleierte sich Christiansens Blick, doch dann kehrte sein professionelles Lächeln zurück.

»Keine große Sache, Herr Mommsen. Es ging lediglich um den Inhalt eines Schließfaches«, antwortete Christiansen.

Er wollte das Thema wechseln, doch Thorben griff zu einer Notlüge.

»Es fiel der Name Hauke Boysen in dem Gespräch. War es etwa sein Schließfach?«

Dieses Mal hielt die Verärgerung ein wenig länger an, doch der Prokurist bestätigte die Vermutung.

»Und deswegen musste die Kripo aus Husum kommen?«, bohrte Thorben weiter.

Doch an dieser Stelle hob Christiansen abwehrend die Hand hoch.

»Ich habe schon zu viel verraten, Herr Mommsen. Mehr darf ich Ihnen nicht sagen«, sagte er.

Es war sein Ernst, und daher akzeptierte Thorben es schweren Herzens. Wenigstens sah er sich in seiner Annahme bestätigt, dass offenbar belastendes Material im Schließfach gelegen hatte.

»Vielen Dank für die schnelle Erledigung, Herr Christiansen«, sagte er fünf Minuten später.

Nachdem Thorben seine Unterschriften unter die Kontoeröffnungsunterlagen gesetzt hatte, verabschiedete er sich. Dann eilte er über den Marktplatz und ging zurück in den »Pesel«. Dort gab er sein Wissen weiter und konnte zusehen, wie die Besorgnis in den Gesichtern von Fokke und Wiebke wuchs.

»Wir müssen den Clan zusammenholen und uns beratschlagen«, entschied Wiebke.

Es war Fokke zwar nicht recht, aber er erhob trotzdem keine Einwände. Sie mussten alle Köpfe einschalten, die ihnen zur Verfügung standen.

Fokke grauste zwar vor einem weiteren Treffen mit seiner Sippe, doch die Lage zwang ihn dazu. Thorben und er kamen nicht allein voran.

»Kannst du auch gegen vier Uhr am Nachmittag, Wiebke?«, fragte Thorben.

Zu dieser Zeit sollte es im Gastraum des »Pesel« ein wenig ruhiger zugehen, sodass ihre Anwesenheit nicht dringend erforderlich war. Wiebke akzeptierte den Vorschlag, und da auch Anne telefonisch zustimmte, einigte man sich auf ein Treffen im Institut.

»Am liebsten würde ich zur Wache fahren und sehen, ob Heidemarie und ihr Kollege immer noch da sind«, sagte Fokke.

Thorben warf ihm einen Seitenblick zu, bevor er die Fahrtroute änderte.

»Es kann nicht verboten sein, dass wir uns nach dem Stand der Ermittlungen erkundigen. Solange du ganz offen auftrittst, kann Heidemarie dir keinen Strick daraus drehen«, sagte er.

Als Fokke und Thorben die Polizeistation betraten, schaute sie Ulf Boysen überrascht an.

»Was wollt ihr denn hier?«, fragte er.

Bevor Fokke ihm eine passende Antwort geben konnte, kam Heidemarie aus dem Büro des Stationsleiters.

»Fokke? Steckst du deine Nase etwa schon wieder in unsere Angelegenheiten?«, fragte sie.

Da trat Thorben schnell vor und antwortete für Fokke.

»Nein, Heidemarie. Wir wollen uns lediglich erkundigen, wie es aussieht. Du verstehst doch sicherlich, dass wir uns Sorgen um Dirk machen«, erwiderte er.

Nach einigen Sekunden nickte die Kriminalrätin und erteilte ihnen die gewünschte Auskunft.

»Es sind weitere belastende Beweise aufgetaucht. Ich werde noch heute mit dem Staatsanwalt sprechen. Ihr solltet davon ausgehen, dass die Beweislage für eine Anklageerhebung jetzt ausreicht«, sagte sie.

Fokke und Thorben schauten Heidemarie Boysen ungläubig an.

»Was für neue Beweise sind aufgetaucht?«, fragte Fokke.

Er wusste genau, dass er darauf keine Antwort erhalten würde, und wandte sich daher gleich ab.

»Vergiss nicht, was dir blüht, wenn du dich nicht aus den Ermittlungen raushältst«, warnte ihn Heidemarie.

Fokke eilte aus dem Revier und schlug die Beifahrertür von Thorbens Golf krachend hinter sich zu. Sein Cousin rutschte hinter das Lenkrad und fuhr los.

»Der Wagen kann nichts dafür, Fokke. Wir müssen eine Lösung finden, und dabei wird der Clan uns helfen«, sagte Thorben nach einer Weile.

Das bezweifelte Fokke immer mehr, doch vorerst schwieg er. Ihm machte die Zuversicht der Husumer Kollegen zu schaffen. Sollten die Beweise tatsächlich so erdrückend sein?

Heike Fehrings bisheriges Leben schien sich langsam, aber sicher aufzulösen. Zuerst die Entdeckung in der Praxis ihres Mannes und dann die Begegnung am Deich.

Nimmst du es, wie es kommt, Fokke?, fragte sie sich.

Als sie Elke Busch und ihn in trauter Zweisamkeit gesehen hatte, war ihr schwer ums Herz geworden. Heike überspielte den Schock und die einsetzende Enttäuschung, nur um wenige Augenblicke später von Elkes Vater noch schwerer getroffen zu werden.

»Fokke und Elke? Jau, se kunnen jümmer good ünnerenanner«, sagte er.

Daraufhin schmeckte ihr weder der Kaffee noch vermochten die frische Luft oder die wunderschöne Aussicht übers Wattenmeer Heikes Laune wieder aufzubessern. Sie absolvierte die späteren Termine nur mit halbem Herzen und blieb auch am Tag danach meistens unkonzentriert.

»Hast du mir überhaupt zugehört?«, fragte Kay.

Sie hatten sich zum Mittagessen in der Küche getroffen, um wieder einmal ein wenig Zeit miteinander zu verbringen. Während ihr Mann von den Verletzungen eines angefahrenen Hundes berichtete, schweiften Heikes Gedanken erneut ab. Es war Kay offenkundig nicht entgangen.

»Entschuldige bitte, Kay. Diese blöde Geschichte mit den einstweiligen Verfügungen geht mir nicht aus dem Kopf«, sagte Heike.

Es war zum Teil sogar richtig, denn auch dieses Eilverfahren beschwor einen weiteren Streit zwischen dem Mommsenclan und den Boysens herauf. Es gab erhebliche Zweifel an einigen Grundstücken, die als Baugrund für neue Windkraftanlagen vorgesehen waren. Peter Boysen hatte in seiner Funktion als Bürgermeister von Bredstedt rechtliche Unstimmigkeiten bei einigen Grundstücken festgestellt. Nun mussten die Karten des Katasteramtes dahin gehend überprüft werden. Es hatte schon öfter Zank zwischen den Clans gegeben, weil ein Grenzstein verschwunden war oder seine aktuelle Position nicht mit den Karten übereinstimmte. Mittlerweile bezweifelte der Bürgermeister ganz offen, dass einige Felder überhaupt zu Recht im Besitz der Mommsens waren. Seine rechtlichen Schritte beschäftigten auch Heike in ihrer Funktion als Landrätin.

»Wenn die Grenzsteine versetzt wurden, muss es geklärt werden. Du scheinst neuerdings mehr die Partei der Mommsens zu ergreifen. Hat es etwa mit Fokkes Rückkehr zu tun?«, fragte Kay.

Verärgert über den unterschwelligen Vorwurf schob Heike ihren nur halb geleerten Teller von sich.

»Was soll das werden? Willst du mit mir ernsthaft das Thema eheliche Treue erörtern?«, fragte sie.

Ihre bissigen Gegenfragen ließen Kay verwundert die Augenbrauen in die Höhe ziehen. Heike spürte förmlich, wie ihr Gespräch in gefährliches Fahrwasser abdriftete.

»Worauf spielst du an?«, fragte ihr Mann.

Sie wollte um jeden Preis das heikle Thema umgehen und wählte daher den einzigen Ausweg, der ihr in diesem Augenblick einfiel.

»Ich habe vor einigen Tagen in einem deiner Bücher etwas nachgeschlagen und bin dabei auf den Brief von Hauke Boysen gestoßen«, antwortete Heike.

Kay blinzelte mehrfach. Offenbar hatte er damit nicht gerechnet. Die Überraschung war so groß, dass er seine Frau nicht einmal das Naheliegende fragte. Der Tierarzt nahm es einfach hin, dass Heike sich um medizinische Themen kümmerte. Denn welchen Grund hätte sie sonst gehabt, eines seiner Fachbücher zurate zu ziehen? Sie war heilfroh, dass er nicht darauf einging.

»Du weißt doch, wie Hauke war. Er hat ständig irgendeinen Streit vom Zaun gebrochen«, sagte Kay.

Es war nicht seine Art, so schnell in die Defensive zu gehen. Heike hatte einen wunden Punkt getroffen. Da sie es nun einmal ausgesprochen hatte, wollte sie endgültig Klarheit haben.

»Warst du bei Hauke auf dem Hof? Habt ihr euch gestritten?«, fragte sie.

Sein Schweigen dauerte zu lange. In Heike stieg Hitze auf. Hatte sie die Büchse der Pandora geöffnet, nur um das Thema Ehebruch zu vermeiden?

»Was hast du getan?«, bohrte sie nach.

Kay schüttelte stumm den Kopf, stieß den Stuhl zurück und wollte aus der Küche fliehen. Doch Heike war in Panik und reagierte unerwartet schnell. Sie stellte sich ihrem Ehemann in den Weg und schaute ihm entgeistert ins Gesicht.

»Red doch, Kay! Was ist auf dem Hof passiert?«, forderte sie.

Einige Sekunden lang schauten sie sich nur an. Dann senkte Kay den Kopf und wirkte auf einmal wie ein verlorener Junge. In einer spontanen Geste schlang Heike die Arme um seinen Hals.

»Ich muss es wissen, Kay. Bitte. Sprich mit mir«, flehte sie.

Heike nahm den Geruch seiner Haut wahr. Wie lange war es her, dass sie einander so nahe gewesen waren? Ein unbestimmtes Verlangen erfasste sie.

»Ich wollte Hauke zur Vernunft bringen. Auch eine ungerechtfertigte Anzeige hätte meinen guten Ruf nachhaltig beschädigt«, murmelte Kay.

Sie standen im Durchgang, der Wohnhaus und Praxis voneinander trennte. Heike hielt Kay umfangen, während er mit leiser Stimme vom Besuch auf Hauke Boysens Hof berichtete. Kay hatte anhand der Fotografien schnell erkannt, dass Hauke ihm Medikamentenpackungen unterjubeln wollte, die er selbst über das Verfallsdatum hinaus aufbewahrt hatte. Die aufgedruckten Chargennummern ließen sich ohne Weiteres zurückverfolgen und belegten, dass Kay die Präparate vor geraumer Zeit im tadellosen Zustand ausgehändigt hatte. Doch Hauke blieb stur und drohte weiterhin mit einer Anzeige bei der Ärztekammer, falls der Tierarzt sich sein Schweigen nicht erkaufen würde.

Es war ein Schock für Heike, sie schämte sich so sehr, weil sie Kay misstraut hatte. Als er verstummte, nahm sie ihr Gesicht von seinem Hals und schaute in seine Augen.

»Wir stehen es durch, Kay. Gemeinsam«, sagte Heike.

Ein verloren geglaubtes Gefühl stieg in ihr auf, als sie Kay so hilflos vor sich stehen sah. Unwillkürlich küsste sie ihn. Zuerst sanft und beruhigend, doch dann erwiderte Kay den Kuss. Er zog seine Frau in die Arme und gab seinen Gefühlen nach. Schließlich lösten sie sich aus der Umarmung, aber nur, um hinauf ins Schlafzimmer zu eilen. Noch auf der Treppe zog Kay Heike die Bluse aus.

Die Versammlung blieb übersichtlich, denn außer Anne war nur noch Wiebke ins Institut gekommen.

»Wo bleiben die anderen?«, fragte Thorben.

Als die beiden Frauen einen Blick austauschten, ahnte Fokke nichts Gutes.

»Was ist los, Anne?«, fragte er.

Kurz nach Thorbens Anruf wegen der Versammlung hatte sich Dirks Rechtsanwalt bei Anne Mommsen gemeldet.

»Er kam gerade vom Gericht. Die Staatsanwaltschaft hat offiziell gegen Dirk Anklage eingereicht. Der Richter hat die vorgelegten Beweise geprüft und sie als ausreichend eingestuft«, erwiderte sie.

»Was befand sich im Schließfach?«, fragte Fokke.

»Ein Schuldschein über siebzehntausend Euro und einer über elftausend Euro. Beide von Dirk unterschrieben.«

Bei Annes Antwort stöhnten Fokke, Wiebke und Thorben fassungslos auf. So viel Geld hätte Dirks Hof niemals abgeworfen.

»Wofür soll Dirk das gebraucht haben?«, fragte Thorben.

»Die Frage sollte eher lauten, wie Hauke an so viel Geld gekommen sein soll«, sagte Wiebke.

»Warum hätte Hauke ausgerechnet Dirk das Geld leihen sollen? Sie mochten sich nicht einmal, und der Streit um die Ländereien lief ebenfalls schon«, ergänzte Anne.

Fokke schüttelte ungläubig den Kopf. Dieser Fall steckte voller Geheimnisse, und alles sprach mittlerweile gegen Dirk Mommsen. Wenn er doch nur offiziell ermitteln dürfte. Auf die bisherige Art und Weise konnte er seinem Cousin kaum effektiv helfen.

»Es gibt zu viele offene Fragen. Ich kann so nicht ermitteln«, sagte Fokke.

Einige Sekunden legte sich Schweigen über die Gruppe, bevor Anne die entscheidende Frage stellte.

»Willst du damit andeuten, dass du uns nicht mehr helfen kannst?«

»Doch, verehrte Anne. Ich muss aber einen Weg finden, als offizieller Ermittler arbeiten zu dürfen«, sagte Fokke.

Er verabschiedete sich kurze Zeit später und lieh sich Thorbens Wagen aus. Damit fuhr Fokke zunächst nach Husum ins Krankenhaus, um seinem Onkel einen Besuch abzustatten. Erich Mommsen wirkte ausgesprochen munter und tadelte Fokke sofort.

»De Hof geiht vör oder ünner«, beschwerte er sich.

Natürlich wusste Fokke, dass er die Arbeit auf dem Bauernhof nicht so gut wie sein Onkel verrichtete, aber von einem drohenden Untergang konnte er auch nichts erkennen.

»Du übertreibst, Erich. Der Arzt hat also zugesagt, dass du spätestens übermorgen wieder nach Hause darfst?«

Das waren gute Nachrichten, und in der Tat wirkte Erich nicht so, als wenn sein Aufenthalt im Krankenhaus weiter erforderlich wäre. Fokke hatte mit dem behandelnden Arzt gesprochen und kannte die Prognose.

»Ich will morgen nach Hause. Hol mich um elf Uhr ab, dann ist die Visite durch«, ordnete Erich an.

Da er sich der hochdeutschen Sprache bediente, war jeder Widerspruch zwecklos. Erich Mommsen fühlte sich hier überflüssig und machte sich Sorgen um seinen Hof. Fokke sagte daher zu und machte sich nach einem Blick auf seine Armbanduhr auf den Weg.

»Töövt en Deern op di?«, fragte Erich.

»So in etwa. Bis morgen«, verabschiedete sich Fokke.

Vom Krankenhaus fuhr er zum Kommissariat, wo sich auch das Büro von Heidemarie Boysen befand. Fokke parkte den Golf und blieb sitzen. Er wollte sich seine Worte noch einmal zurechtlegen und wurde dabei von Heidemarie überrascht. Fokke hätte das Gespräch lieber im Büro gesucht, doch nun musste er improvisieren.

»Moin, Heidemarie«, sagte er.

Fokke war ausgestiegen und trat ihr in den Weg. Heidemarie krauste verwundert die Stirn und beschattete die Augen mit der Hand, da sie die Strahlen der tief stehenden Sonne blendeten.

»Moin, Fokke. Na, warst du wieder im Krankenhaus?«, fragte sie.

Er nutzte die Gelegenheit, um mit dem unverfänglichen Thema anzufangen. Fokke berichtete von seinem Besuch und gab auch den Tadel seines Onkels wortwörtlich wieder. Heidemarie lachte laut los.

»Das klingt wirklich nach Erich Mommsen, so wie er leibt und lebt«, sagte sie.

»Hast du noch einen Termin?«, fragte Fokke.

»Nein, ausnahmsweise kann ich einmal pünktlich Feierabend machen. Warum? Wolltest du mich etwa auf ein Eis einladen?«

In einem Café voller Touristen wollte Fokke ungern über das heikle Thema sprechen. Er schlug daher ein gutes Restaurant vor, in dem man ungestörter miteinander sprechen konnte.

»So ein Pech. Ausgerechnet heute haben die Ruhetag«, sagte Heidemarie.

Offenbar verschwor sich zurzeit alles gegen Fokke.

»Könnte ich dich zu einem Grillabend überreden, oder geht das zu sehr gegen deine Familienehre?«, fragte Heidemarie.

Mit einer solchen Einladung hatte Fokke überhaupt nicht gerechnet. Es wäre ein idealer Rahmen für sein Vorhaben, egal was Wiebke oder Anne darüber denken würden.

»Man wird mich vermutlich verstoßen, aber ich finde deine Idee sehr verlockend«, erwiderte Fokke.

Auf dem Weg hinaus nach Schwesing, wo Heidemarie ihr Haus hatte, hielten sie bei einem kleinen Metzgerladen. Dort kauften sie Steaks und Grillwurst sowie einen Topf mit hausgemachtem Weißkrautsalat ein.

»Bier und Wein habe ich zu Hause. Die Grillkohle sollte auch noch reichen«, sagte Heidemarie.

Fokke legte die Einkaufstüten in den Kofferraum des Golfs, da er auch auf der Bezahlung bestanden hatte.

»Es war schließlich meine Einladung, und du stellst ja bereits deine Terrasse samt Grill und die Getränke zur Verfügung«, lehnte er ihre Beteiligung rundweg ab.

Für die restliche Strecke benötigten sie nur noch wenige Minuten, bis sie das ehemalige Siedlungshaus in Schwesing erreichten. Früher hatte hier ein Onkel von Heidemarie mit seiner Familie gelebt. Nach seiner Pensionierung als Luftwaffenoffizier war er mit seiner Frau in den Süden gezogen.

»Das ist ein schönes Anwesen«, lobte Fokke beim Anblick des gepflegten Gartens und des umsichtig renovierten Hauses. Die größeren Fensterflächen brachten mehr Licht in die Räume, die Heidemarie ihren Bedürfnissen angepasst hatte. Es gab eine offene Küchenzeile, die in ein Esszimmer überging. Während das Siedlungshaus äußerlich nur wenig verändert schien, war es im Inneren heller und offener als die meisten seiner Artgenossen. Zu seiner Überraschung fühlte Fokke sich schnell wohl, und er bereute ein wenig, dass er nicht ohne Hintergedanken bei Heidemarie zu Besuch war.

»Danke. Für den Garten habe ich zum Glück einen Rentner aus der Nachbarschaft, der ihn in Schuss hält. Mir fehlt nicht nur der grüne Daumen, sondern auch die Zeit dafür«, erwiderte Heidemarie.

Fokke füllte Grillkohle in die Schale und entfachte sie mit Anzündern. Dann schloss er den Deckel und kehrte zurück ins Haus. Heidemarie hatte die Steaks gewürzt und bereits Teller und Besteck auf ein Tablett verteilt. In der Küche drückte sie Fokke verschiedene Gewürze und den Topf mit Krautsalat in die Hand.

»Was möchtest du trinken? Bier oder lieber Wein?«, fragte sie.

Fokke entschied sich für Bier. Während Heidemarie für die Getränke sorgte, trug er zunächst Gewürze und Krautsalat hinaus. Anschließend schnappte er sich noch das Tablett und verteilte Teller und Besteck auf dem Tisch auf der Terrasse. Als er mit dem Bierglas in der Hand in einem Stuhl mit hoher Rückenlehne saß, wanderte sein Blick hinauf zum Himmel. Dort trieb der westliche Wind die Wolken vor sich her, sodass ab und an die Sonne für einige Momente ihre wärmenden Strahlen zur Erde schicken konnte.

»Gibt heute vielleicht noch Regen. Aber erst später«, kommentierte Heidemarie das Wolkenbild.

Sie hatte sich ebenfalls ein Glas mit Bier gefüllt und prostete Fokke zu.

Er hatte es nicht gewagt. Heidemarie umsorgte Fokke in ihrem Heim, und er wollte von ihr ein Zugeständnis erbitten.

Nachdem sie gut gegessen und noch eine Weile entspannt geplaudert hatten, verabschiedete Fokke sich, ohne seine Bitte vorzutragen. Im einsetzenden Regen fuhr er über die B 5 in Richtung Bredstedt. Es hatte sich alles in ihm dagegen gesträubt, die gute Stimmung durch sein Anliegen zu zerstören. Er würde einen neuen Anlauf am folgenden Tag versuchen müssen, bevor er Erich aus dem Krankenhaus abholte. Sein Blick erfasste eine Werbetafel für ein neues Gartencafé. Es stand einhundert Meter von der nächsten Kreuzung entfernt und warb mit Berliner Weiße. Das Wort löste umgehend eine Assoziation bei Fokke aus. Er musste an die Berliner Arztgattin Elfriede Schulze denken, der auch eine Liebschaft mit Ron Tüchsen nachgesagt wurde, wie er von seiner Schwester erfahren hatte. Sollte an den Gerüchten nichts dran sein, wäre es gut, diesen Ermittlungsstrang abzuschließen. Und wenn doch, dürften die Auskünfte von Frau Schulze sehr aufschlussreich sein. Sein beruflicher Instinkt riet ihm, seiner Eingebung nachzugeben.

Kurz entschlossen bog Fokke nach Drelsdorf ab, um zur Villa von Dr. Schulz zu fahren. Als er dort Licht bemerkte, hielt Fokke an und stieg aus. Kaum trat er an das weiß gestrichene Holztor am Grundstück, schoss ein weißer Königspudel laut kläffend über den Rasen auf ihn zu.

»Sissy! Benimm dich gefälligst«, rief eine Frauenstimme.

Der Hund dachte überhaupt nicht daran, sein wildes Bellen einzustellen. Der Pudel stemmte seine Vorderpfoten von innen gegen das Holztor und kläffte Fokke an. Eine schlanke Frau eilte auf die Pforte zu und zögerte einen Augenblick, als sie Fokke bemerkte.

»Verzeihen Sie die Störung, Frau Schulz. Mein Name ist Fokke Mommsen. Ich bin ein Freund von Ron Tüchsen«, rief er.

Er setzte auf die Freundschaft zum Bildhauer, um eventuell Einlass in die Villa zu finden. Tatsächlich glitt ein Lächeln über das Gesicht der Frau, die den Pudel energisch am Halsband vom Tor wegzerrte.

»Aus! Sei endlich ruhig, Sissy«, herrschte sie den Hund an.

»Ich würde gern mit Ihnen und Ihrem Mann über Ron sprechen. Hätten Sie einen Moment Zeit dafür?«, bat Fokke.

Offenbar weckte er Vertrauen in der Frau des Arztes, die mit einem Nicken das Tor öffnete. Fokke trat ein und schloss die Pforte hinter sich, um dann auf den Ansturm des Pudels zu reagieren.

»Hallo, Prinzessin. Ich freue mich auch, dich kennenzulernen«, rief er lachend.

Zuerst zeigte Sissy sich noch misstrauisch, doch dann reagierte sie auf die Worte mit erfreutem Schwanzwedeln.

»Woher wissen Sie, dass mein Mann sie immer Prinzessin nennt?«, fragte Elfriede Schulz.

»Bei dem Namen fand ich es irgendwie passend. Außerdem führt Sissy sich wie eine Prinzessin auf«, antwortete Fokke.

Damit war bei der Pudeldame schon einmal das Eis gebrochen. Sissy umkreiste Fokkes Beine und ließ sich am Kopf kraulen.

»Mein Mann ist in Berlin. Er führt dort eine Privatklinik und kommt erst zum Wochenende ins Sommerhaus«, erklärte Elfriede Schulz.

»Wenn es Ihnen lieber ist, komme ich dann wieder«, bot Fokke an.

Doch davon wollte Frau Schulz nichts wissen und führte ihren Besucher ins Haus. Im Gegensatz zu Heidemaries Siedlungshaus wirkte die Villa wenig einladend auf Fokke. Die Fußböden aus Stein in Verbindung mit weiß verputzten Wänden, an denen sich Bilder mit Sockeln verschiedener Skulpturen ablösten, erinnerten ihn eher an ein Museum.

»Ich habe den Kamin an. Das Wetter ist so ungemütlich«, plauderte Elfriede Schulz drauflos.

Nach wenigen Minuten war Fokke klar, dass die Frau des Berliner Arztes sich langweilte. Vermutlich hatte sie ihn auch sofort ins Haus gebeten, weil sie Ablenkung suchte.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ein Glas Wein oder vielleicht lieber einen Longdrink?«, fragte sie.

Die zwei Gläser Bier auf der Terrasse von Heidemarie waren vorerst genug Alkohol für Fokke, der um ein Mineralwasser bat. Elfriede Schulz reichte ihm das Glas und schenkte sich selbst aus einem Metallschwenker nach. Fokke tippte beim Anblick der Flüssigkeit auf eine Wodkamischung.

»Sie waren also mit Ron befreundet?«, fragte sie.

Fokke erzählte von seiner Familie in Bredstedt und seinem Leben in Lübeck.

»Wenn Ron eine Ausstellung bei uns hatte, wohnte er bei mir«, sagte er.

Dass es nur einmal vorgekommen war, behielt Fokke lieber für sich. Er spürte, wie Elfriede Schulz immer zugänglicher wurde. Nachdem er ihr so bereitwillig über seine Beziehung Auskunft erteilt hatte, gab sie sich nicht weniger offen. Elfriede Schulz erzählte, wie sie in Berlin auf die Arbeiten von Ron aufmerksam geworden waren.

»Dietmar sammelt Kunst als gute Geldanlage, und so gelangten einige Arbeiten von Ron in unseren Besitz.«

Erst später erfuhr das Ehepaar, wo Ron Tüchsen sein Atelier hatte.

»Sie können sich unsere Überraschung vorstellen, als wir ihn in Bredstedt trafen. Von da an besuchte Ron uns regelmäßig im Sommerhaus«, berichtete Elfriede Schulz.

Bei diesen Worten trat ein schwärmerischer Ausdruck in ihr Gesicht. Eine Ahnung stieg in Fokke auf. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Ron auf die gelangweilte Arztfrau gewirkt haben musste. Elfriede Schulz musste es genossen haben, wenn der Künstler sie besucht hatte.

»Ron hat oft über Sie gesprochen«, sagte Fokke.

Er hielt seine Aussage bewusst vage, um der Frau möglichst viel Spielraum bei der Antwort zu lassen. Elfriede Schulz schenkte sich nach und nippte gedankenverloren an ihrem Glas. Dann hob sie den Blick und schaute Fokke an.

»Sie vermuten, dass Ron und ich eine Affäre hatten. Stimmt doch, oder?«, fragte sie.

»Ja, das denke ich.«

Erneut nippte Elfriede Schulz an ihrem Drink, bevor sie weitersprach.

»Ron war ein gemeiner Mensch. Er hat mich erpresst«, stieß sie hervor.

Damit hatte Fokke überhaupt nicht gerechnet und musste zunächst einmal seine Gedanken ordnen.

Die Zweifel wollten einfach nicht mehr verschwinden. Zuerst hatte er seinen Einfall für besonders clever gehalten und war über die Reaktion der Polizei hocherfreut gewesen. Er feierte seinen Erfolg mit einer Flasche Champagner, dessen Nachgeschmack ihm heute fad vorkam.

Was, wenn die weiteren Ermittlungen die wahren Hintergründe aufdecken?, dachte er.

An diese Möglichkeit hatte der Mörder von Hauke Boysen und Ron Tüchsen bislang überhaupt nicht gedacht. Seitdem sich dieser Gedanke eingeschlichen hatte, wuchsen seine Zweifel über den Erfolg seiner Maßnahme nahezu stündlich. Was konnte er jetzt noch tun, um den Schaden zu begrenzen?

Die Spur des Geldes verwischen, dachte er.

So klar sich diese Idee in der Theorie anbot, so schwierig war die praktische Umsetzung. Er war kein Profi, der über die nötigen Kenntnisse oder wenigstens Kontakte verfügte. Schließlich war er ein braver Bürger und kein Gangster.

Er musste trotzdem einen Weg finden. Es musste einfach sein. Er war zurück auf dem Pfad. Zweifel gehörten nicht zu seinem Selbstbild. Nach und nach setzte sich die gewohnte Selbstsicherheit wieder durch, und er glaubte fest daran, auch für das neue Problem schon bald eine Lösung gefunden zu haben. Das Läuten des Telefons beendete das Grübeln und holte ihn zurück in den Alltag.

Die ganze Fahrt von Bredstedt nach Husum, wo er Erich aus dem Krankenhaus abholen wollte, dachte Fokke über das Gespräch vom Vorabend nach. Ein wenig plagte ihn das schlechte Gewissen, weil er Elfriede Schulz nicht die Wahrheit über sich erzählt hatte. Für sie war Fokke ein Freund von Ron Tüchsen, der sich ihr gegenüber als mieser Charakter herausgestellt hatte.

»Es war eine schöne Zeit, die mich noch einmal träumen ließ. Ich dumme Kuh habe ernsthaft an eine gemeinsame Zukunft mit Ron geglaubt, bis er mir die Rechnung präsentierte«, hatte sie Fokke erzählt.

Es schien ihr überhaupt nicht in den Sinn zu kommen, dass sie sich durch diese Aussage schwer belastete. Elfriede Schulz hatte das alles in einem privaten Gespräch gestanden und war zudem angetrunken gewesen.

Ich kann die Informationen trotzdem nicht für mich behalten, dachte Fokke.

Fokke war sehr früh aufgestanden, um die nötigen Arbeiten auf dem Bauernhof zu erledigen. Erich sollte keinen Grund zum Klagen haben, wenn er später seinen Betrieb in Augenschein nahm. Wie es in den kommenden Tagen und Wochen mit Erich und seinem Bauernhof weitergehen sollte, musste allerdings noch geklärt werden.

Wenn er Heidemarie nicht dazu bringen konnte, ihn in die Ermittlungen offiziell einzubinden, musste er nächste Woche wieder seinen Dienst in Lübeck antreten.

In dem Fall blieben Fokke ganze drei Tage, um seinem Cousin aus der Patsche zu helfen. Angesichts der wenigen Fortschritte in den zurückliegenden Tagen war es kaum vorstellbar, wie ihm ein solches Kunststück gelingen sollte. Fokke erreichte den Parkplatz des Krankenhauses.

»Erich?«

Verblüfft hielt Fokke den Mercedes neben seinem Onkel an, der bereits am Haupteingang des Krankenhauses auf einer Parkbank saß. Die Reisetasche stand neben Erich, der sich sofort erhob, als er seinen Wagen erkannte.

»Warrt ook Tied«, brummelte er.

Erich warf die Tasche schwungvoll auf die Rückbank, bevor er demonstrativ die Fahrertür öffnete und seinen Neffen auffordernd anschaute.

»Du willst selbst fahren?«, fragte Fokke.

Da Erich ihn nur stumm anstarrte, löste Fokke den Verschluss des Sicherheitsgurtes und stieg aus.

»Hat der Arzt dir denn erlaubt, sofort wieder Auto zu fahren?«, fragte er.

Erichs Blicke sprachen Bände. Die kurze Schwächephase zu Beginn seines Krankenhausaufenthaltes war längst wieder verflogen, und so trat Erich Mommsen in gewohnter Manier auf.

»Fahr mit der Bahn, wenn du Schiss hast«, sagte er.

Bevor Fokke begriff, was sein Onkel damit sagen wollte, zog Erich die Fahrertür ins Schloss und fuhr los. Fokke blinzelte verwirrt und konnte nicht glauben, dass Erich ihn tatsächlich einfach hier stehen ließ.

»Halt an, Erich! Verflucht, wie soll ich denn nach Hause kommen?«, brüllte Fokke.