ZWÖLF
Als Fokke seinen Cousin in den Raum eintreten sah, musterte er ihn neugierig. Dirk Mommsen war mittelgroß, hatte dunkelblondes Haar und wässrig blaue Augen. Er wirkte immer leicht abwesend.
»Moin, Dirk«, grüßte Fokke.
Dirk nickte nur stumm, bevor er sich nach einem misstrauischen Blick zu Heidemarie Boysen auf den Stuhl setzte. Fokke hatte verdrängt, welch sperriger Charakter Dirk war. Schon in der Schulzeit fiel er durch sein störrisches Verhalten auf. Wenn es ihm in den Sinn kam, packte er seinen Schulranzen und ging einfach. Auch mitten im Unterricht und gegen den erklärten Willen der Lehrer.
Dirk lebt in seiner eigenen Welt, hieß es innerhalb der Familie.
»Ich möchte Sie darüber informieren, dass Oberkommissar Fokke Mommsen ab sofort an den Ermittlungen beteiligt ist. Es steht Ihnen frei, sich ihm gegenüber zu äußern«, erklärte Heidemarie.
Dirk starrte schweigend auf die Tischplatte. Irgendwie musste Fokke Dirk klarmachen, dass er auf Unterstützung angewiesen war.
»Wir haben die Schuldscheine gefunden, die Sie unterschrieben haben. Hauke hat sie in einem Bankschließfach aufbewahrt«, sagte Heidemarie.
Dieses Mal hob Dirk den Kopf und schaute Fokke an. Der glaubte, Unverständnis im Blick seines Cousins zu lesen.
»Ihnen ist klar, was für einen Eindruck das hinterlässt? Wieso haben Sie sich ausgerechnet von Hauke das Geld geliehen?«, fragte sie weiter.
Dirk senkte den Kopf und starrte erneut auf die Tischplatte. Am liebsten hätte Fokke seinen stumpfsinnigen Verwandten an den Schultern gepackt und kräftig durchgeschüttelt. Während er sich an dieser Vorstellung erbaute, bemerkte Fokke das Spiel von Dirks Fingern. Er malte ein Rechteck auf die Tischplatte und strich es dann mit einem Finger entschieden wieder aus. Dirk blickte Fokke fest in die Augen.
»Also gut, Dirk. Ich habe verstanden, auch wenn du mit mir nicht reden darfst«, sagte Fokke.
Er nickte Heidemarie zu, die nach kurzem Zögern dem Streifenpolizisten einen Wink gab. Widerstandslos ließ Dirk sich abführen, ohne den beiden einen weiteren Blick zuzuwerfen.
»Was war das denn?«, fragte Heidemarie.
»Ist dir aufgefallen, wie Dirk mit den Fingern auf der Tischplatte herumgemalt hat?«
Fokke vollführte die gleichen Bewegungen, bis Heidemarie langsam nickte.
»Ja, stimmt. Aber was hat es zu bedeuten?«, fragte sie.
»Dirk hat keine Schuldscheine ausgestellt«, antwortete Fokke.
Er war sich absolut sicher, sodass Heidemarie schließlich einem Schriftvergleich zustimmte. Sie saßen in ihrem Büro, und nachdem Heidemarie ihre Anweisung telefonisch weitergegeben hatte, schaute sie Fokke auffordernd an.
»Und nun? Hast du noch mehr solcher Einfälle?«
Fokke schmunzelte. Er hatte in der Tat noch einen Einfall, vermochte aber Heidemaries Reaktion darauf nicht einzuschätzen.
»Raus mit der Sprache. Was heckst du jetzt schon wieder aus?«, drängte sie.
»Wir sollten ein Treffen der beiden Clans vorschlagen. Wer weiß, welche Informationen uns dabei unfreiwillig serviert werden«, sagte Fokke.
Heidemarie wollte protestieren, ließ es dann aber bleiben. Sie schaute zum Fenster hinaus und dachte über Fokkes Vorschlag angestrengt nach. Er ließ ihr die Zeit, um solange die Berichte aus dem Labor zu studieren. Hier fand er die Aussagen vom Brandsachverständigen, mit dem er im »Pesel« über das Feuer gesprochen hatte, bestätigt. Jemand hatte an mehreren Stellen Brandsätze gelegt und zudem Brandbeschleuniger verschüttet.
»Wie stellst du dir das vor?«
Heidemaries Frage unterbrach Fokkes Aktenstudium.
»Wir könnten jeweils eine Delegation von vier oder fünf Familienmitgliedern zulassen. Als Treffpunkt käme der ›Pesel‹ in Betracht«, erwiderte Fokke.
Der Vorschlag fand Heidemaries Billigung. Sie wollte mit Peter Boysen darüber sprechen, während Fokke sich mit Anne Mommsen in Verbindung setzen sollte.
»Wenn beide Seiten zustimmen, machen wir es«, sagte Heidemarie.
Als Fokke seiner Tante den Vorschlag unterbreitete, erntete er dafür reichlich Spott. Anne Mommsen lehnte ein solches Treffen rundweg ab und erinnerte ihren Neffen an die vielen Demütigungen, die sein Clan durch die Boysensippe erlitten hatte. Fokke ließ die Litanei an sich vorbeiziehen und spielte zum Schluss seinen besten Trumpf aus.
»Ich verstehe dich sehr gut, Anne. Dann hoffe ich nur, dass Peter dem Treffen ebenfalls nicht zustimmt. Ansonsten stehen wir ein wenig dumm da«, antwortete er.
Am anderen Ende der Leitung trat Stille ein, und Fokke glaubte fast, hören zu können, wie im Kopf seiner Tante die Gedanken herumjagten. Gespannt wartete er ab, bis Anne sich endlich wieder zu Wort meldete.
»Stell dich doch nicht so blöd an«, schimpfte sie.
Fokke grinste zufrieden.
»Soll Heidemarie sich doch zuerst äußern. Wenn Peter einem Treffen zustimmt, sind wir natürlich ebenfalls dabei. Kapiert?«, sagte sie.
Fokke bestätigte seiner Tante, dass er ihr cleveres Vorgehen durchschaut hatte und es genau so machen wollte. Anschließend kehrte er ins Büro von Heidemarie zurück, die ihr Telefonat beendet hatte und ihn erwartungsvoll anschaute. Fokke reckte den Daumen in die Höhe. Sein Bluff funktionierte bestens.
»Ja, Peter hat auch eingewilligt. Er versteht zwar nicht, was uns das bringen soll, aber er konnte sich schlecht verweigern«, sagte Heidemarie.
Damit war das Treffen besiegelt, und Fokke konnte mit seiner Schwester darüber sprechen. Zuerst reagierte Wiebke auf seinen Anruf ähnlich abweisend wie Anne, doch zum Schluss gab sie nach. Das Treffen wurde für den nächsten Tag im »Pesel« anberaumt.
Fokke fragte sich, ob das Zusammentreffen wohl ohne blutige Köpfe über die Bühne gehen würde. Auf jeden Fall würde es für neuen Gesprächsstoff in Bredstedt sorgen. Der Gedanke ließ ihn erneut schmunzeln.
Bereits beim Eintreffen der verschiedenen Familienmitglieder gab es die ersten lautstarken Auseinandersetzungen. Allein der Umstand, dass dieses Treffen im »Pesel« stattfand, erregte den Unmut einiger Boysens.
»Wer hat denn diesen Unsinn zu verantworten?«, rief Sievert Boysen.
Der Landwirt und Betreiber von Biogasanlagen schnauzte unmittelbar nach dem Eintreten im Gastraum los. Seine Frau nickte zustimmend, während sich Thea Boysen-Petersen gegen den Tonfall verwahrte. Die Ehefrau von Peter Boysen und Leiterin des Tourismusbüros bezog für ihren Mann Position. Fokke und Heidemarie saßen einträchtig nebeneinander am Tresen und verfolgten das Schauspiel.
»Im Kindergarten könnte es nicht lustiger zugehen«, frotzelte Fokke.
Statt einer Antwort deutete Heidemarie zur Eingangstür. Dort drängte sich soeben Karl-Heinz Mommsen an Ulf Boysen vorbei und setzte dazu seinen stämmigen Körper ein. Der Metzgermeister schob den überrumpelten Polizeihauptmeister kurzerhand zur Seite und warf auffordernde Blicke in Richtung des Boysenclans. Fokke seufzte schwer.
»Karl-Heinz sollte keinen Schnaps mehr kriegen«, sagte er zu Wiebke.
Seine Schwester stand hinter dem Tresen wie ein Kapitän auf seiner Brücke und schaute mit finsterer Miene auf Fokke und die immer mehr ausufernden Streitereien. Als sich schließlich auch noch Anne mit dem Bürgermeister anlegte, schlug Wiebke energisch mit der Glocke. Normalerweise wurde auf diese Art und Weise eine Lokalrunde angemeldet, doch heute diente es zur Eindämmung der lautstarken Auseinandersetzungen.
»Moin. Schön, dass ihr alle so pünktlich zu diesem Treffen erschienen seid«, rief Fokke.
Zu seiner Überraschung empfand er so etwas wie diebische Freude. Bevor er weitersprechen konnte, giftete Thea Boysen-Petersen dazwischen.
»Was hat der denn hier zu suchen? Fokke gehört nicht wirklich dazu«, rief sie erbost.
»Allerdings! Ich staune auch darüber, dass du ihn an den Ermittlungen teilhaben lässt, Heidemarie. Ich behalte mir vor, eine dienstliche Beschwerde einzulegen«, protestierte Peter Boysen scharf.
Zustimmendes Gemurmel wurde laut, bis Heidemarie energisch mit der flachen Hand auf den Tresen schlug.
»Ruhe! Fokke gehört jetzt zur Ermittlungsgruppe, die beide Todesfälle aufklären soll. Wir sind in offizieller Mission hier«, stellte sie klar.
Verblüffte Blicke wurden ausgetauscht, und auch die Mommsens wurden von dieser Eröffnung überrascht.
»Du hilfst Heidemarie, unseren Dirk hinter Gitter zu bringen?«, fragte Karl-Heinz verärgert.
»Da gehören Mörder nun einmal hin! Verwandtschaftliches Geklüngel werde ich nicht zulassen«, rief Peter Boysen.
Als die Anwesenden zu einem erneuten Wortduell ansetzten, schlug Wiebke wieder die Glocke. Sie tat es mit so viel Kraft, dass Fokke und Heidemarie sich die Ohren zuhalten mussten.
»Fokke wird alles daransetzen, den wahren Mörder zu finden. So viel Vertrauen müsst ihr schon aufbringen«, rief Thorben Mommsen.
Er hatte geschickt die kurze Ruhephase nach dem durchdringenden Glockenläuten ausgenutzt, um sein Statement abzugeben. Fokke nickte ihm dankbar zu.
»Wozu sollten wir uns hier eigentlich versammeln? Doch wohl kaum, um von Fokkes Mitwirken bei den Ermittlungen zu erfahren«, rief Sievert Boysen.
Er und Stefan Mommsen saßen nur wenige Meter auseinander. Obwohl sie mit ihren Betrieben durchaus Konkurrenten waren, verstanden sich die beiden Männer sehr viel besser als der Rest der beiden Clans. Für die jeweiligen Ehefrauen galt es allerdings nicht, wie die bösen Blicke von Anne in Richtung von Irmgard Boysen bewiesen. Die Vorsitzende der Landfrauen schaffte es jedoch, diese Blicke zu ignorieren.
»Nein. Es gibt neue Fakten, zu denen wir euch befragen müssen«, antwortete Heidemarie.
Nur eine Stunde vor ihrem Aufbruch in Husum war das Ergebnis des Schriftenvergleichs eingetroffen. Fokke hatte die stummen Andeutungen von Dirk richtig interpretiert.
»Wir haben in einem Schließfach einer Bank einige Schuldscheine gefunden. Das Fach gehörte Hauke, und die Scheine waren von Dirk Mommsen unterschrieben«, sprach Heidemarie weiter.
Sie wollte weiter ausholen, doch erneut riefen die verschiedenen Clanmitglieder laut durcheinander. Peter Boysen erhob sich sogar und ging auf Anne zu, die ihrerseits die Schuldscheine als mieses Manöver des Boysenclans bezeichnete.
»Nimm das sofort zurück oder ich zeige dich wegen übler Nachrede an!«, brüllte Peter Boysen.
»Anne hat recht, die Scheine sind falsch«, sagte Heidemarie.
Obwohl sie ihre Stimme nicht sonderlich erhob, lösten ihre Worte ungläubiges Staunen aus. Selbst Anne war dermaßen verblüfft, dass sie schwieg.
»Es erschien uns von Anfang an sehr fraglich, wieso Dirk ausgerechnet von Hauke Geld leihen sollte. Woher hätte Hauke auch achtundzwanzigtausend Euro haben sollen?«, fragte Fokke in die Runde.
Zum ersten Mal an diesem Nachmittag nickte die Mehrzahl der Anwesenden.
»Was für einen Zweck erfüllen denn diese gefälschten Schuldscheine?«, fragte Thea.
»Die wurden Hauke untergejubelt, um vom eigentlichen Täter abzulenken«, antwortete Irmgard Boysen.
Bevor dieser eindeutige Vorwurf wieder ein Wortgefecht auslösen konnte, meldete sich Heidemarie zu Wort.
»Das wäre denkbar, aber ungewöhnlich kompliziert. Wer immer diesen Plan verfolgen sollte, hätte ungehinderten Zugang zum Schließfach haben müssen.«
Dieser Einwand wurde akzeptiert und damit weitere Spekulationen unterbunden.
»Es gibt aber noch eine Merkwürdigkeit, über die wir mit euch reden müssen. Warum hat ein Berliner Arzt die Anzahlung für Haukes Schlepper geleistet?«, fragte Fokke.
Die Mitglieder des Boysenclans tauschten Blicke aus, aber niemand wollte auf die Frage antworten. Fokke schaute zu Heidemarie, die mit gefurchter Stirn auf ihre Familienmitglieder schaute. Ihr kam das Verhalten offensichtlich ebenfalls merkwürdig vor. Sie rutschte vom Barhocker und stellte sich zwischen die Tische.
»Raus mit der Sprache! Was wisst ihr darüber?«, fragte sie.
Einige Köpfe senkten sich, während bei den Mommsens verärgerte Blicke ausgetauscht wurden. Jeder im Raum spürte, dass der Boysenclan ein Geheimnis bewahren wollte. Doch Heidemarie blieb hartnäckig und forderte erneut ihre Familienangehörigen auf, endlich mit der Sprache herauszurücken.
»Der Hauke hat die grüne Witwe getröstet«, murmelte Peter Boysen.
Fokke starrte den Bürgermeister ungläubig an. Hauke sollte ein intimes Verhältnis mit Elfriede Schulz gehabt haben? Wenn es der Wahrheit entsprach, ergab sich daraus eine Verbindung zum Mord an Ron Tüchsen.
Seine Befürchtungen hatten sich schneller als erwartet bestätigt. Die Fälschungen waren aufgeflogen und veranlassten die Polizei dazu, neue Denkansätze zu verfolgen.
Der Experte hat bestimmt keine fünf Minuten benötigt, um diese Amateurfälschung zu entlarven, dachte er.
Schon kurz nachdem er die Polizei auf das angebliche Schließfach von Hauke Boysen mit dem brisanten Inhalt aufmerksam gemacht hatte, traten erste Zweifel bei ihm auf. Doch es gab weiteres Ungemach, da sich die Ermittlungen in eine völlig unerwartete Richtung ausdehnten.
Was wollten die nur von Elfriede Schulz? Wie zum Teufel waren die nur auf sie gekommen?
Er konnte nicht glauben, wie rasant sich die Ermittlungen gegen seine Pläne entwickelten. War er anfangs davon ausgegangen, alles im Griff zu haben, verlor er diese Zuversicht zunehmend.
Was konnte er tun?
Erneut musste er drängende Entscheidungen treffen. Seine Gedanken kreisten um Elfriede Schulz, ohne eine simple Lösung für sein Problem zu finden. Da er bereits die Grenze überschritten hatte, bewegten sich seine Überlegungen schon sehr bald wieder in diesem gefährlichen Fahrwasser. Gefährlich vor allem für Elfriede Schulz. Musste er wirklich einen weiteren Zeugen aus der Welt schaffen? Vermutlich schon.
Es musste dieses Mal aber eindeutig wie ein Unfall aussehen. Bestenfalls ein Selbstmord wäre denkbar.
Durch einen weiteren Mord würde er nur die Polizei zu erhöhter Aktivität animieren, und die könnte sich schnell in seine Richtung entwickeln. Die verbleibende Zeit bis zu seinem Feierabend vertiefte er sich in alle möglichen Szenarien. Mehrfach entwickelte er Tötungsvarianten, nur um sie sofort wieder zu verwerfen. Schließlich lehnte er sich frustriert zurück.
Einen Selbstmord vorzutäuschen hatte er sich einfacher vorgestellt. Blieb also nur ein Unfall als Alternative übrig. Möglicherweise waren hierbei die Hürden weniger hoch. Mit frischem Elan stürzte er sich in seine Recherchen und plante das baldige Ableben von Elfriede Schulz.
Sie hatten nicht lange über einen Besuch bei Elfriede Schulz diskutieren müssen.
»Ich bin gespannt, ob Frau Schulz auf unsere Fragen überhaupt reagiert«, sagte Fokke.
»Vielleicht haben wir Glück, und ihr Ehemann ist immer noch in Berlin. In seiner Anwesenheit wird sie kaum mit uns über eine Affäre plaudern«, erwiderte Heidemarie.
Da sie ohne Vorankündigung an der Pforte auftauchten, war nicht einmal sicher, dass Elfriede Schulz überhaupt in der Villa sein würde. Doch sie erschien in der Haustür, und der weiße Pudel jagte kläffend aufs Tor zu.
»Hallo, Prinzessin«, rief Fokke.
Aus dem wütenden Bellen wurde ein freudiges Jaulen, was Heidemarie mit einem erstaunten Seitenblick quittierte.
»Sissy und ich konnten bereits Freundschaft schließen«, erklärte Fokke.
Elfriede Schulz betätigte die elektronische Entriegelung, sodass die beiden Ermittler die Pforte öffnen konnten. Nach einem kurzen Kläffen in Heidemaries Richtung umkreiste der Pudel nur noch Fokkes Beine. Er kraulte der Hündin immer wieder den Kopf, während er zum Eingang schritt.
»Moin, Frau Schulz. Das ist meine Kollegin, Kriminalrätin Boysen von der Husumer Kripo«, sagte er.
Elfriede Schulz nickte Heidemarie knapp zu, bevor sie sich wieder an Fokke wandte. Er konnte an ihren Augen ablesen, welche Frage nun kommen musste.
»Kollegin? Bei Ihrem letzten Besuch haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie bei der Polizei sind«, beschwerte sie sich.
Fokke machte eine entschuldigende Geste.
»Zu dem Zeitpunkt war ich auch wirklich nur als Freund von Ron Tüchsen bei Ihnen, Frau Schulz«, erklärte er.
»Herr Mommsen gehört erst seit gestern zu meinem Ermittlerteam. Wir hätten einige Fragen. Können wir ins Haus gehen, Frau Schulz?«
Heidemarie sprang Fokke zur Seite. Mit einem skeptischen Gesichtsausdruck führte Elfriede Schulz die Besucher in das kühl eingerichtete Wohnzimmer. Sie bot ihnen keine Erfrischung an, füllte aber ihr eigenes Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit auf. Fokke tippte auf einen Longdrink, denn ihm war die Alkoholfahne von Elfriede Schulz nicht entgangen.
»Ich wüsste nicht, in welcher Hinsicht ich der Polizei beim Mord an Ron helfen könnte«, sagte sie.
»Es geht uns vor allem um Ihre Beziehung zu Hauke Boysen. Wie würden Sie die beschreiben?«, fragte Heidemarie.
Für einen Augenblick blieb die Hand mit dem Glas auf halbem Weg zum Mund in der Luft stehen. Der Blick von Elfriede Schulz wurde misstrauisch. Dann trank sie einen langen Schluck aus dem Glas.
»Beziehung? Keine Ahnung, was Sie damit meinen. Herr Boysen und ich kannten uns nur flüchtig. Er hat Ron ein- oder zweimal geholfen, wenn er neue Skulpturen gebracht hat«, antwortete sie.
Sie wich aus, und das nicht einmal sehr geschickt. Fokke lehnte sich mit einem Lächeln vor.
»Dann würden Sie eine intime Beziehung zu Herrn Boysen also definitiv abstreiten?«, fragte er.
Erneut antwortete Elfriede Schulz nicht sofort, sondern nippte an ihrem Glas.
»Ja.«
Knapper hätte die Antwort nicht ausfallen können.
»Es gibt aber Zeugen, die uns etwas anderes erzählen. Wie erklären Sie uns das, Frau Schulz?«, hakte Heidemarie nach.
Für einen Moment sah es so aus, als wenn sie ausführlich antworten und Farbe bekennen wollte. Doch der Augenblick verstrich.
»Dann irrt sich Ihr Augenzeuge, Frau Boysen. Haben Sie noch weitere Fragen?«, erwiderte Elfriede Schulz.
Für Fokke stand fest, dass es ein Geheimnis gab und dieses wahrscheinlich mit einer intimen Beziehung verbunden war. Scheute Frau Schulz nur die vielfältigen Konsequenzen, wenn ihr Ehemann von der Affäre erfuhr?
»Allerdings. Wie gut kannte Ihr Mann Hauke Boysen?«, fragte Heidemarie.
Ein verwirrter Ausdruck trat in Elfriede Schulzes Gesicht.
»Dietmar? Ich glaube kaum, dass er Herrn Boysen überhaupt kannte«, antwortete sie.
Heidemarie hob verwundert die Augenbrauen. Als Frau Schulz diese Reaktion bemerkte, erbleichte sie. Offenbar ahnte sie, dass ihr Leugnen kaum noch Sinn machte. Als Elfriede Schulz das Glas an die Lippen führte, zitterte ihre Hand.
»Das ist sehr merkwürdig, Frau Schulz. Warum überweist Ihr Mann einem völlig Unbekannten die Anzahlung für einen Schlepper? Immerhin eine Summe im fünfstelligen Bereich«, hakte Heidemarie nach.
Es war unverkennbar, dass Frau Schulz sich in eine Sackgasse gedrängt fühlte. Sie nippte erneut an ihrem Drink und ließ den Blick unstet im Raum umherwandern. Schließlich stellte sie das Glas mit einem harten Ruck auf dem Tisch ab und erhob sich.
»Ich werde dieses Gespräch so nicht weiterführen. Zuerst spreche ich mit meinem Mann, der vermutlich unseren Rechtsanwalt einschalten wird«, sagte sie.
Dagegen konnten Fokke und Heidemarie nichts einwenden, daher verließen sie das Haus. Sissy stürzte sich vor der Haustür wieder mit großer Begeisterung auf Fokke, doch sie wurde von den energischen Rufen ihres Frauchens zurück in Haus beordert.
»Da haben wir einen wunden Punkt getroffen«, sagte Fokke.
Er und Heidemarie saßen im Wagen auf dem Weg in Richtung der B 5.
»Sehe ich auch so. Für mich war ihre Reaktion eindeutig. Frau Schulz hat oder hatte eine Affäre. Fragt sich nur, ob Hauke tatsächlich ihr Liebhaber gewesen ist«, stimmte sie zu.
An dem Punkt war sich Fokke ebenfalls unsicher. Er konnte das Verhalten von Elfriede Schulz nicht wirklich deuten.
»Berliner sind komplizierte Menschen«, murmelte er.
Heidemarie lachte.
»Und wir Nordfriesen sind schlicht gestrickt und leicht zu durchschauen, oder wie meinst du das?«, fragte sie.
»Wir sind immer klar wie das Wasser und eindeutig wie der Wind«, antwortete Fokke.
Sosehr er sich um einen ernsten Gesichtsausdruck bemühte, es wollte ihm nicht gelingen. Schließlich lachten sie beide laut los.
»Frau Schulz wird sich mit ihrem Mann besprechen müssen. Geben wir ihr Zeit bis morgen Nachmittag«, sagte Heidemarie.
An der Kreuzung der B 5 änderte sie zu Fokkes Überraschung die Fahrtrichtung und lenkte den Passat zurück nach Bredstedt.
»Was ist denn nun los? Ich dachte, du wolltest zurück in dein Büro«, fragte er.
»Ich würde gern mit Herrn Christiansen von der Bank sprechen. Er hat das Schließfach gemeldet, und ich möchte wissen, wer es wann eingerichtet hat«, erklärte Heidemarie.
Das waren berechtigte Fragen. Spätestens seit sie wussten, dass Dirk diese Schuldscheine nie unterschrieben hatte, musste diese Frage dringend geklärt werden.
Als Fokke am nächsten Tag ins Büro kam, empfing Heidemarie ihn unerwartet kühl.
»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte er.
Der Blick aus Heidemaries Augen sprach Bände. Es brodelte ihn ihr.
»Deine Sippe macht wieder einmal Ärger. Der Rechtsanwalt von Dirk hat einen Schriftsatz eingereicht«, antwortete sie.
Fokke verstand kein Wort. Er hatte am Abend zuvor lange mit Wiebke über das Treffen gesprochen, und anfangs war sogar Anne noch dabei gewesen. Von irgendeinem Schriftwechsel zwischen Anwälten war nie die Rede gewesen.
»Gegen was oder wen richtet sich diese Klage?«, fragte er.
Heidemarie schnaubte verärgert auf und blieb stumm. Offensichtlich ging sie davon aus, dass Fokke ihr etwas vorspielte.
»Großes Indianerehrenwort. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was los ist«, versicherte er.
Heidemarie lehnte sich zurück und betrachtete Fokke einige Sekunden forschend.
»Angeblich soll Hauke die Grenzsteine selbst versetzt und mit den Auszügen des Katasteramtes deinen Cousin Dirk erpresst haben«, sagte sie.
Angesichts der bekannten Fakten war es ein sehr durchsichtiges juristisches Manöver. Fokke konnte Heidemaries Verärgerung gut nachvollziehen. Tief in seinem Inneren regte sich dennoch Widerspruch, denn was für normale Menschen eindeutiger Unsinn war, konnte für Hauke Boysen durchaus logisch gewirkt haben. Er und Dirk zählten beide nicht zur geistigen Elite Nordfrieslands.
»Ungünstiger Zeitpunkt. Da es aber unsere Ermittlungen höchstens am Rande berührt, würde ich es vorerst ignorieren«, sagte er.
Fokke fand seinen Vorschlag praktikabel und staunte über die ablehnende Haltung von Heidemarie. War damit die friedliche Zusammenarbeit bereits wieder an einem Endpunkt angekommen? Diese elendigen Kleinkriege ihrer Familienclans trieben erneut einen Keil zwischen ihn und Heidemarie.
»Es läuft doch gut mit uns, Heidemarie. Wollen wir uns etwa auf das Niveau unserer zerstrittenen Familien herablassen?«, fragte er.
Sie hielt den Kopf gesenkt und las scheinbar konzentriert in einer Akte. Doch Fokke bemerkte die angespannten Nackenmuskeln und wusste, dass es in ihr arbeitete. Schließlich hob sie den Kopf und schaute ihn direkt an.
»Ich glaube dir, dass du nicht eingeweiht warst. Solange die Sache mit der Grenzveränderung keine Auswirkung auf unsere Ermittlungen hat, können wir sie zunächst ausklammern«, ging sie schließlich auf Fokkes Vorschlag ein.
Er atmete erleichtert auf und nahm sich fest vor, sehr bald ein klärendes Gespräch mit seiner Tante und seiner Schwester zu führen. Fokke wollte ihnen verdeutlichen, wie negativ sich solche Spielchen auf die Ermittlungen auswirkten.
Während des Aktenstudiums am Nachmittag kam Fokke eine neue Idee. Er ging hinüber zu Heidemaries Büro.
»Daran haben wir bisher tatsächlich nicht gedacht. Gute Idee, Fokke. Bleib dran«, sagte sie.
Es genügte anschließend ein kurzes Gespräch mit Ole Förster, um mit ihm einen Termin im Feuerwehrhaus auszumachen. Heidemarie war damit einverstanden, dass sie nach dem Gespräch mit Ralf Christiansen direkt dorthin fuhren. Ihr erster Anlaufpunkt war jedoch die Filiale der Genossenschaftsbank am Marktplatz. Ralf Christiansen empfing die beiden und hörte sich an, was sie von ihm wollten.
»Die Schuldscheine waren Fälschungen? Und jetzt sehen Sie darin ein Motiv für den Mord an Herrn Boysen?«, fragte er.
»Wir müssten genau wissen, wann und von wem das Schließfach angemietet wurde. War Hauke Boysen persönlich hier in der Filiale?« Heidemarie ging nicht auf seine Fragen ein.
Christiansen entschuldigte sich für einen Augenblick, um das Verzeichnis aus dem Raum mit den Schließfächern zu holen. Als er zurückkam, wirkte er verunsichert.
»Probleme, Ralf?«, fragte Fokke.
Er kannte den drahtigen Bankkaufmann aus der gemeinsamen Schulzeit. Ralf Christiansen war ein guter Schüler gewesen, ohne als Streber zu gelten. Sie hatten von der D-Klasse bis zur A-Jugend gemeinsam Fußball gespielt, und dort hatte Fokke Ralf als schnell denkenden und entschieden auftretenden Menschen kennengelernt.
»Das ist sehr ungewöhnlich. Die Schließfach-Eröffnung wurde hier verzeichnet, aber ich kann keine Unterschrift von Hauke Boysen finden«, antwortete Christiansen.
Er reichte ihnen das Buch, sodass sie sich die entsprechenden Einträge ansehen konnten. Tatsächlich war alles gut dokumentiert, aber im Unterschriftenfeld war nur ein unleserliches Handzeichen zu erkennen.
»Kannst du nachvollziehen, wer an dem Tag für die Schließfächer verantwortlich war?«, fragte Fokke.
Ralf Christiansen schaute ins Buch und fuhr mit dem Zeigefinger die Spalten hinunter. Die Einträge waren chronologisch aufgelistet, und während Ralf die Daten prüfte, wanderte Fokkes Blick automatisch mit. Als er bei der vorletzten Eintragung den Namen entzifferte, stockte er.
»Das Zeichen dürfte zu Frau Sörensen gehören. Sie hat uns in der Urlaubszeit unterstützt. Normalerweise arbeitet sie in Viöl«, sagte Ralf.
Dann konnte sich jemand für Hauke Boysen ausgegeben haben, und genau dieser Gedanke war Fokke beim Anblick des anderen Namens gekommen.
»Ron Tüchsen hat am gleichen Tag ebenfalls ein Schließfach einrichten lassen. Existiert es noch, oder gibt es eine Aufstellung über den Inhalt?«, fragte Fokke.
Er deutete gleichzeitig mit dem Finger auf den Eintrag, sodass Heidemarie seinen Gedankengang nachvollziehen konnte.
»Nein, aber vermutlich war eine Skulptur darin. Wenn Ron eine wertvolle Arbeit beendet hatte, lagerte er regelmäßig die Kunstobjekte hier bei uns ein. Sobald der Kunde mit dem Geld kam oder die Summe auf dem Konto gutgeschrieben worden war, holte Ron das Kunstobjekt wieder ab und löste den Vertrag für das Schließfach auf«, antwortete Ralf.
»Können Sie Frau Sörensen zu dem Vorgang befragen?«, fragte Heidemarie.
Ralf Christiansen setzte sich hinter seinen Schreibtisch, um das erforderliche Telefonat zu tätigen. Es fiel sehr kurz aus.
»Frau Sörensen hat Urlaub. Sie reist mit ihrem Mann durch Vietnam und kommt erst in drei Wochen zurück«, teilte Christiansen mit.
So lange konnten Heidemarie und Fokke schlecht auf eine Aussage warten. Im Notfall mussten sie versuchen, Frau Sörensen in Asien zu kontaktieren. Sie dankten Ralf Christiansen für seine unkomplizierte Kooperation.
»Das ist doch selbstverständlich. Ich stehe jederzeit zur Verfügung, wenn es vonnöten ist«, wehrte er ab.
Als Heidemarie und Fokke auf dem gepflasterten Marktplatz standen, schauten sie genau auf die Fassade des »tanzenden Hauses«.
»Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Ergebnisse unserer Recherchen ähnlich verzerrt sind«, sagte Fokke.
Seine Kollegin betrachtete die bunte Fassade und zuckte dann mit den Schultern.
»Das müsstest du doch kennen. Solange die Details nicht am richtigen Ort eingepasst sind, bleibt das Bild unklar. Ich glaube aber mittlerweile auch, dass beide Morde zusammenhängen«, antwortete sie.
Das war zwar auch in gewisser Hinsicht ein Fortschritt, aber nicht so, wie Fokke ihn sich wünschte. Er setzte soeben zu einer Erwiderung an, als sein Blick auf einen Trecker mit Anhänger fiel. Fokke starrte auf seinen Onkel, der in kurzer Hose mit Hosenträgern hinter dem Lenkrad saß und auf der Ladefläche eine Kuh transportierte.
»Wäre es nicht sicherer, wenn das Tier angebunden wäre?«, fragte Heidemarie.
»Natürlich. Verdori! Was treibt er da nur?«, stieß Fokke hervor.
Er rannte los und schaffte es, neben dem Trecker ein Stück mitzulaufen. Es dauerte eine Weile, bis er Erich auf sich aufmerksam machen konnte.
»Halt an!«, brüllte Fokke.
Er musste einen Zickzacklauf zwischen den Fußgängern hinlegen und gleichzeitig den Blickkontakt zu seinem Onkel suchen. Wäre im gleichen Augenblick nicht der Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht aufgetaucht, Erich Mommsen wäre vermutlich einfach weitergefahren. Ulf Boysen setzte seinen Wagen vor den Trecker und stoppte so das Fahrzeug.
»Dein Onkel spinnt doch«, sagte Heiner.
Er war aus dem Wagen gesprungen und leitete bereits den sich stauenden Verkehr um das Gespann herum. Ulf trat zum Führerhaus und öffnete die Tür.
»Wat is denn?«, fragte Erich.
Fokke schob den Streifenbeamten zur Seite und stieg zu seinem Onkel ins Führerhaus.
»Wieso hast du die Kuh denn nicht angebunden? Wohin willst du überhaupt mit ihr?«, fragte er.
Erich machte ein überraschtes Gesicht.
»Na, zu Karl-Heinz. Er soll sie für Wiebkes Konfirmation schlachten«, antwortete er dann.
Fokke wusste sofort, woher der Wind wehte.
»Ich kümmere mich um ihn«, rief er Ulf zu.
Der Hauptmeister schaute fragend zu Heidemarie, die zustimmend nickte. Im nächsten Augenblick erschien der stämmige Karl-Heinz in seiner blutigen Schürze im Durchgang zu seiner Metzgerei. Fokke winkte ihn heran und bat um Stricke, mit denen sie die Kuh auf dem Anhänger anbinden konnten.
Fokke nickte nur. Karl-Heinz Mommsen verschwand und kehrte wenige Augenblicke später mit einigen Stricken zurück. Die Kuh ließ sich ohne Schwierigkeiten anbinden, sodass Fokke die Rückfahrt zum Hof seines Onkels antreten konnte. Erich saß mit verständnisloser Miene auf dem Beifahrersitz über dem Radkasten.
»Ich fahre euch mit dem Wagen hinterher. Oder möchtest du für heute lieber Feierabend machen?«
Das Angebot von Heidemarie war sehr großzügig.
»Danke. Ich versorge erst Erich und die Kuh, aber danach können wir zu Ole fahren«, antwortete Fokke.