ACHTZEHN
Bevor sie Erich erreichte, löste er sich vom Anblick der niedergebrannten Scheune und ging ins Wohnhaus. Wiebke folgte ihrem Onkel – und traf nicht nur ihn in der Wohnstube an.
»Ralf? Was machst du denn hier?«, staunte sie.
Christiansen starrte nicht weniger fassungslos auf Erich und Wiebke. Auf seiner Stirn glänzte Schweiß, und seine Augen waren vor Schreck geweitet.
»Ich? Die Bank benötigt noch einige Unterlagen, die hier sein müssen«, erwiderte er.
Wiebke glaubte ihm kein Wort. Erich summte leise vor sich hin und schlenderte am Bücherregal entlang, ohne sich um Ralf oder Wiebke zu kümmern. Erich schnappte sich eine Skulptur und setzte sich zufrieden mit seinem Fund auf einen Sessel neben der Tür.
»He, Finger weg! Gib mir die Figur«, forderte Ralf ihn auf.
Erich schaute auf und zog eine Schnute, so wie es ein Kind machen würde, wenn es sich gegen einen Erwachsenen behaupten möchte. Wiebke schaute ungläubig auf Ralf, der sich drohend Erich näherte.
»Der dritte Ungerechte. Natürlich. Warum bin ich nicht früher darauf gekommen?«, murmelte Christiansen vor sich hin.
»Was faselst du denn da? Lass Erich in Ruhe. Du siehst doch, dass er seine Medikamente nicht geschluckt hat. Er ist nicht ganz bei sich«, hielt Wiebke ihn zurück.
Mit einer unwilligen Bewegung schüttelte Ralf ihre Hand ab und starrte dabei finster auf Erich, der den Kopf gesenkt hatte und sich auf die Skulptur konzentrierte.
»Gib her, oder ich nehm sie mir«, stieß Ralf hervor.
Es war der reine Wahnsinn, und Wiebke hatte keine Ahnung, wie sie mitten hineingeraten war.
Drehen denn heute alle durch?, fragte sie sich.
»Was stört dich denn daran, wenn Erich mit dieser blöden Figur spielt?«, fragte sie wütend.
Ralf fuhr herum und funkelte sie erbost an.
»Das ist die dritte Figur, die eigentlich im Atelier von Ron stehen sollte. Der miese Halunke hat sie Hauke überlassen, oder der blöde Kerl hat sie gestohlen«, erklärte er.
Wiebke verstand kein Wort und fragte sich langsam, ob Christiansen vielleicht auch den Verstand verloren hatte. War Demenz ansteckend, oder grassierte in Bredstedt eine Krankheit, die ganz ähnliche Symptome auslöste?
»Und wenn schon? Hatte er dir etwa die Figur versprochen oder gar verkauft?«, bohrte sie nach.
Erich brabbelte fröhlich vor sich hin und plapperte unverständliches Zeug, während er mit der Figur spielte.
»Da muss die Speicherkarte drin sein. Das ist doch das perfekte Versteck«, antwortete Ralf.
»Speicherkarte? Ich verstehe überhaupt nicht, wovon du eigentlich redest«, sagte Wiebke genervt.
Ralf trat zwei Schritte zurück und deutete auf die abgebrannte Scheune, von der man nur einige geschwärzte Dachsparren durch das Wohnzimmerfenster sehen konnte.
»Ron hat mich gesehen. Hier im Haus. Er wusste, dass Hauke mich mit Aufnahmen erpresste, die Elfie angefertigt hatte«, sagte Ralf.
Langsam dämmerte Wiebke, worüber er sprach. Es war zwar ungeheuerlich, aber es klang verdächtig nach einem Geständnis.
»Ihr habt euch gestritten, du und Hauke. Musste er deswegen sterben?«, fragte sie.
Ralfs Nicken bestätigte Wiebkes böse Ahnung. Ihr Blick wanderte hinüber zu Erich, der offenbar seine Umgebung total ausgeblendet hatte und sich völlig in seinem Spiel verlor.
»Es war nicht mit ihm zu reden. Dabei hatte ich es doch schon mit den fünfundzwanzigtausend Euro so gedreht, dass Hauke sie auf sein Konto überwiesen bekam«, sprach Ralf weiter.
»Das war dein Geld?«, fragte Wiebke.
Er schüttelte mit einem Grinsen den Kopf. In diesem Augenblick bekam Wiebke Angst vor dem schlanken Mann. Sie musste unbedingt einen Weg finden, wie sie sich und Erich hier unbeschadet herausbekam.
»Nein, das hat Elfriedes Gönnergatte bezahlen dürfen. Es war ganz leicht für mich, diese Überweisung zu manipulieren. Wozu sitzt man schließlich an der Quelle?«, sonnte er sich in seinem Ruhm.
Obwohl Ralf ganz offen über seine Schandtaten sprach, verstand Wiebke nicht alle Zusammenhänge.
»Wenn du Hauke bezahlt hast, war doch alles geregelt. Wieso habt ihr euch dann gestritten?«, fragte sie weiter.
Solange Ralf weiterredete, kam er wenigstens nicht auf falsche Ideen. Das hoffte Wiebke jedenfalls und dachte fieberhaft über einen Ausweg nach.
»Der dumme Kerl wollte mehr Geld. Typisch für diesen Versager, dass er den Bogen überspannen musste«, stieß Ralf wütend hervor.
Dabei wanderte sein Blick zu Erich, und er machte drei schnelle Schritte auf den Sessel zu. Wiebke erschrak und stellte sich schnell in den Weg.
»Kam es deshalb zum Streit? Deswegen musste Hauke sterben?«
Doch dieses Mal ließ Ralf sich nicht ablenken, sondern versetzte Wiebke einen derben Stoß. Sie taumelte gegen das Regal und spürte einen Stich in der Hüfte. Wiebke schrie unwillkürlich auf. Im nächsten Augenblick schleuderte Erich die Figur mit einer blitzschnellen Bewegung dem Bankkaufmann an den Kopf.
»Das wirst du büßen!«, schrie Ralf voller Wut.
Bevor Wiebke reagieren konnte, flog die Tür auf, und Fokke stürmte in den Raum. Gleich nach ihm sprangen zwei uniformierte Polizisten auf Christiansen zu, der nun keine Chance mehr hatte, zu fliehen.
»Nein, Ralf. Deine Flucht endet hier«, rief Fokke.
Die drei Männer rangen den sich wie wild gebärdenden Christiansen zu Boden und legten ihm Handschellen an. Heidemarie Boysen trat zu Wiebke und legte ihr einen Arm um die Schulter.
»Bist du in Ordnung? Soll ich einen Notarzt anfordern?«, fragte sie.
Der Schmerz in der Hüfte klang bereits ab, und daher winkte Wiebke ab.
»Nein, halb so schlimm. Ist nicht mehr als eine Prellung«, sagte sie und schluckte die aufkommenden Tränen hinunter.
»Wat is dat denn?«, frohlockte Erich.
Er schmunzelte vor sich hin und klaubte die Scherben der Figur vom Boden auf. Verwundert betrachtete er dann eine Speicherkarte, so wie man sie in Digitalkameras verwendete.
»Da is de Koort, von de Ralf jümmerto snackt hett«, stellte er fest.
Als Erich sie einstecken wollte, hielt Wiebke ihn davon ab.
»Das kannst du nicht behalten«, sagte sie.
Ihr Onkel zog entrüstet die Augenbrauen in die Höhe.
»Warum nich? Ik wullt bloot rutfinnen, wat dat ist«, erwiderte er. Seine Stimme wurde weinerlich.
Jetzt trat auch Fokke zu dem Sessel, in dem Erich sich wieder niedergelassen hatte.
»Ich kauf dir nachher ein großes Eis, Erich. Dafür musst du mir aber diese Karte überlassen. Einverstanden?«, schlug er vor.
Ein begeistertes Strahlen erhellte Erichs Gesicht, während er Fokke die Karte in die offene Hand legte.
»Kommst du mit auf die Wache, oder möchtest du vorher noch deinen Onkel nach Hause bringen?«, fragte Heidemarie.
»Das übernehme ich«, sagte Wiebke.
Fokke machte den beiden Beamten ein Zeichen, damit sie Ralf Christiansen abführten.
Zwei Tage später saßen Fokke und Heidemarie in ihrem Dienstzimmer in der Inspektion. Durch das geöffnete Fenster drang Motorenlärm zu ihnen. Heidmarie deutete auf die Akte vor sich.
»Runde Sache, Fokke. Christiansen hat alles zugegeben. Von der Affäre mit Elfriede Schulz über die Erpressung von Hauke bis zu dem Streit, der zum Totschlag führte«, sagte sie.
Niemand bezweifelte diese Aussage. Ralf Christiansen hatte Hauke Boysen auf dessen Hof besucht, um die Fortsetzung der Erpressung aus der Welt zu schaffen. Es kam zum Streit mit einem Handgemenge, bei dem der Landwirt mit dem Kopf gegen die Achsgabel eines Anhängers krachte.
»Es knackte ganz laut, und dann war Hauke tot. Ehrlich, ich wollte ihn nicht umbringen«, schwor Christiansen.
Fokke hatte die Aussagen noch gut im Kopf und sah es wie in einem Film wieder vor sich. Mit dem Feuer glaubte Christiansen tatsächlich, die verräterischen Spuren beseitigen zu können.
»Den Einfall mit der Kerze als Zeitverzögerung hatte er aus einem älteren Film«, sagte Fokke.
Heidemarie nickte und schüttelte dann den Kopf.
»Ausgerechnet Ron Tüchsen sieht Christiansen dann während der Löscharbeiten im Haus von Hauke verschwinden. Er hat schnell geahnt, was wirklich passiert ist«, sagte sie dann.
»Klar, nachdem Hauke ihm alles über die Affäre und die Erpressung erzählt hatte. Da war nicht viel Phantasie erforderlich, um eins und eins zusammenzuzählen«, stimmte Fokke zu.
Hauke Boysen hatte Ron Tüchsen die Speicherkarte zur Aufbewahrung überlassen. Tüchsen sollte dafür einen Anteil erhalten, doch so weit kam es nicht mehr.
»Als Tüchsen erkannte, wie gefährlich Christiansen werden konnte, brachte er die Figur mit der Speicherkarte ins Haus von Hauke. Er ging davon aus, dass niemand ausgerechnet dort nachsehen würde«, ergänzte Heidemarie.
Christiansen hatte in einem permanenten Wechselbad der Gefühle gelebt, wie er selbst erzählte. Mal fühlte er sich sicher, weil nach dem Mord an Tüchsen niemand mehr auf die Erpressung kommen konnte. Dann wieder überkamen ihn Zweifel, und die Ermittlungsarbeit der Polizei versetzte ihn in Unruhe.
»Er hat den gleichen Fehler wie viele Verbrecher gemacht«, sagte Heidemarie.
»Allerdings. Er wollte seine Spuren beseitigen und gleichzeitig falsche Fährten legen«, stimmte Fokke zu.
Heidemarie lachte unfroh auf.
»Spätestens bei der Rückkehr seiner Viöler Kollegin aus Thailand wäre sein schöner Plan mit dem Schließfach aufgeflogen. Christiansen hat es geahnt und versuchte verzweifelt, weitere entlastende Fakten zu schaffen«, sagte sie.
»Der Einfall mit dem Wagen, der ihn von der Straße zu drängen versuchte, hätte ohne seine Frau klappen können. Auch der angebliche Einbruch war kein so schlechter Versuch, wenn wir Christiansen zu dem Zeitpunkt nicht längst beschattet hätten«, sagte Fokke.
Hätte Christiansen bessere Nerven gehabt und einfach nur abgewartet, säße Dirk Mommsen vermutlich immer noch in Untersuchungshaft. Ohne die hektischen Aktivitäten von Christiansen wären Fokke und Heidemarie nicht so schnell auf ihn gekommen.
»Es fing alles mit einer Affäre an, die seiner weiteren Karriere schaden konnte. Dabei hätte Elfriede Schulz selbst vermutlich geschwiegen. Ihr wurde der Alkohol zum Verhängnis«, sagte Heidemarie.
Sie hatte bei einem Fest ihre Digitalkamera mit der von Hauke Boysen vertauscht. Elfriede Schulz war zu betrunken, um es zu bemerken.
»Ich kann mir lebhaft Haukes Gesicht vorstellen, als er Schulz und Christiansen bei ihren erotischen Spielen zu sehen bekam«, lachte Fokke.
Ab diesem Augenblick beschwor Hauke Boysen sein übles Schicksal herauf. Für seine absurde Idee, mit getrocknetem Schafskot als alternativer Energiequelle das große Geschäft zu machen, hatte er keine Bank gewinnen können. Niemand wollte Hauke dafür einen Kredit einräumen.
»Ohne diese dumme Geschäftsidee wäre Hauke vielleicht nicht einmal auf den verrückten Einfall mit der Erpressung gekommen«, sagte Heidemarie. Sie schaute einen Moment aus dem Fenster.
Fokke konnte sich lebhaft vorstellen, wie sehr ihr der ganze Fall zu schaffen machte. Hauke Boysen war einfach nur einfältig gewesen und geriet auf die schiefe Bahn. Er musste auch deswegen sterben, weil er den falschen Menschen in die Quere kam. Zum einen war das Ron Tüchsen, der selbst große Geldprobleme hatte, und zum anderen Christiansen, der wegen einer Affäre sein ganzes Leben gefährdet sah.
»Spricht deine Schwester wieder mit dir?«
Die Frage von Heidemarie holte Fokke zurück in die Gegenwart. Während der Phase des Schweigens hatte er sich gefragt, ob er zu einem früheren Zeitpunkt auf Christiansen als Täter hätte kommen können. Wenn ja, wäre einigen Menschen großes Leid erspart worden. Auch wenn Elfriede Schulz sich von der Attacke wieder vollständig erholen würde, saß der Schock über Christiansens Angriff sehr tief.
»Doch, wir reden wieder miteinander. Die zurückliegenden Tage haben aber viel verändert. Wiebke ist dichter an die Familie gerückt, und ich werde für immer gebrandmarkt bleiben. Da hilft es mir wenig, dass ich Dirk schließlich doch noch entlasten konnte«, gab er offen zu.
Heidemarie nickte. Dann öffnete sie eine Schublade, entnahm ein Dokument und schob es Fokke über den Tisch zu. Er nahm es auf und überflog die offizielle Meldung aus dem Kieler Innenministerium.
»Ihr habt die Planstellenkürzungen rückgängig gemacht. Meinen Glückwunsch. Dann behält Lena Arndt ihren Posten auf Föhr. Das freut mich für sie«, sagte Fokke.
»Der Posten des zivilen Ermittlers in Bredstedt muss auch wieder besetzt werden«, ergänzte Heidemarie.
Als Fokke ihren Blick wahrnahm, hob er abwehrend beide Hände hoch.
»Falls du dabei an mich gedacht hast, verzichte ich liebend gern«, rief er aus.
»Warum? Du könntest Hauptkommissar werden und dort leben, wo du dich nach eigener Aussage am wohlsten fühlst. Macht dir der Gedanke etwa Angst, dass dein Clan dich ablehnen würde?«, wollte Heidemarie wissen.
Fokke fühlte sich in die Enge getrieben. Sein Leben hatte sich im Laufe der Ermittlungen total verändert. Er fand viele Gründe, warum er in Bredstedt bleiben wollte. Auf der anderen Seite scheute er auch die Reaktionen seiner Familie, obwohl das bisherige Verhältnis sowieso nicht mehr existierte.
»Meine Dienststelle in Lübeck ist unterbesetzt. Man wird einer Versetzung also kaum zustimmen. Wir können diese Gedankenspiele gleich wieder vergessen«, warf er ein.
Heidemaries mildes Kopfschütteln ließ Fokke aufmerken.
»Was willst du damit andeuten?«, fragte er.
»Da hat jemand seinen politischen Einfluss ausgenutzt, um eine Versetzung zu ermöglichen. Dein Vorgesetzter in Lübeck würde keine Einwände erheben, wenn du ein Versetzungsgesuch einreichst«, erwiderte Heidemarie.
Demnach hatte Heike Fehring dieses Problem aus der Welt geschafft. Warum? Möglicherweise aus Dankbarkeit, dass Fokke durch den Ermittlungserfolg ihren Ehemann gleich mit entlastet hatte. Alles sah danach aus, dass Kay Fehring der neue Kreisveterinär werden würde. Außerdem hatte das Ehepaar sich wieder angenähert, wie Fokke gerüchteweise erfahren hatte.
»Ich habe nicht einmal eine Wohnung in Bredstedt, und bei Wiebke im ›Pesel‹ kann ich schlecht wohnen«, stellte Fokke fest.
Er wusste, dass er sich in einem Rückzugsgefecht befand und es nicht gewinnen konnte. Offensichtlich war Heidemarie Boysen fest entschlossen, ihn zum Bleiben zu bewegen.
»Die Ferienwohnung, in der dich Celia untergebracht hat, kannst du behalten. Du bekommst einen ordentlichen Mietvertrag«, räumte sie auch dieses Hindernis aus dem Weg.
Fokke gab auf und signalisierte seine Niederlage mit einem Nicken.
»Na also. Dann bist du der neue Kommissar in Bredstedt. Willkommen im Team«, rief Heidemarie zufrieden aus.
Für Fokke stand noch nicht fest, ob er eine gute oder fatale Entscheidung gefällt hatte.