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Prolog
1 Als es an der Tür läutete, war Catherine MacPhersons erster Impuls, nicht darauf zu reagieren. Ihr war einfach nicht nach Gesellschaft zumute. Andererseits war Selbstmitleid eine ziemlich unschöne Eigenschaft, und noch dazu verursachte es ihr Schuldgefühle – auch wenn sie sich selbst die Erlaubnis erteilt hatte, einen ganzen Tag lang in ihrem Unglück zu schwelgen. Wieder läutete es, durchdringender dieses Mal, und da gewann Catherines jahrelang geübte Selbstdisziplin die Oberhand. Sie ging zur Tür und öffnete. Die Letzte, die sie auf ihrer Schwelle zu sehen erwartet hätte, war ihre Zwillingsschwester. »Kaylee«, war alles, was sie in ihrer Verblüffung herausbrachte, und dann stand sie nur noch da und starrte ihre Schwester an. »Überraschung!«, rief Kaylee mit der heiseren Altstimme, die sie sich antrainiert hatte, als sie beide fünfzehn Jahre alt gewesen waren. Der Riemen ihrer Tasche rutschte ihr von der Schulter, und sie stieß mit ihrem Koffer gegen den Türrahmen, als sie ihn in den
2 »Verdammter Mist!« Sam McKade hatte allmählich die Schnauze voll. Würde die Pechsträhne an diesem beschissenen Tag denn niemals ein Ende nehmen? Sein Schienbein fühlte sich an, als habe ihm der Rotschopf mit den üppigen Kurven den Knochen zertrümmert. Ohne seinen Griff zu lockern, beugte Sam sich so weit über die Frau, dass seine Brust sich gegen ihren Rücken presste, und streckte den Kopf aus dem Fenster, durch das er sie gerade gezogen hatte. Die Sonne blendete ihn zwar, aber er entdeckte sofort den Koffer und die Handtasche auf dem Pflaster und nahm das als endgültigen Beweis, dass MacPherson tatsächlich im Begriff gewesen war, die Flucht zu ergreifen. Er richtete sich wieder auf, schlug das Fenster zu und verriegelte es. »Eins muss ich Ihnen lassen, Lady, Sie machen es einem nicht leicht.« Er zog sie ein Stück vom Fenster weg, drückte sie gegen die Wand und schob mit dem Fuß unsanft ihre Beine auseinander. Sie gab einen erstickten Laut von sich, als seine Hände über ihre Schulter
3 Dieser Fall war erst ein paar Stunden alt und schon jetzt eine einzige Katastrophe. Mom, es ist wirklich schade, dass du nicht mehr unter uns weilst, dachte Sam grimmig, während er sich nach Kräften bemühte, seine mürrische Beifahrerin zu ignorieren und sich stattdessen auf den dichten Verkehr in der Innenstadt zu konzentrieren. Du hättest dich wirklich wunderbar unterhalten. Die Situation enthielt nicht nur Elemente, die fester Bestandteil der Handlung von Lenore McKades Lieblingsserien waren, sie passte auch hervorragend zu ihrer pessimistischen Alltagstheorie, die da lautete: »Seiner Herkunft entkommt man nicht«. Es war nicht so, dass sie ihm oder sonst irgendjemandem etwas Böses gewünscht hätte. Sie hatte nur einfach nicht geglaubt, dass Menschen etwas an ihrem Schicksal ändern konnten. Sie hatte sich abgeschuftet, und es hatte ihr nichts gebracht als viel Arbeit für wenig Geld, einen letzten Lohnstreifen ohne Anspruch auf Altersversorgung und den Gang zum Sozialamt. Mit anderen
4 Kaylee stand vor dem Schrank im Schlafzimmer ihrer Schwester. Besaß Catherine denn kein einziges Kleidungsstück, das nicht so aussah, als stamme es aus einer Sammlung der Heilsarmee? Sie ging die Kleiderbügel einen nach dem anderen durch. Moosgrün, Ockergelb, Braun, oh je. Und dazwischen nicht ein Teil, das in einer Frau den Wunsch weckte, in ihre hochhackigen Pumps zu schlüpfen und zu zeigen, was sie hatte. Wie konnte Cat bloß diese langweiligen Klamotten tragen? Mit einem tiefen Seufzer tauschte Kaylee ihr knallenges purpurrotes Glitzertop gegen eine schlichte hellbraune Bluse. Na gut, die Farbe schmeichelte ihrem Teint. Aber sie brachte ihren tollen Busen oder ihre schmale Taille ganz sicher nicht so zur Geltung, wie sie es verdient hätten. Aber es half nichts. Falls einer der Nachbarn sie zu Gesicht bekam, war es unbedingt notwendig, dass er sie für Catherine hielt. Kaylee brauchte einen Ort, an dem sie in aller Ruhe darüber nachdenken konnte, was sie als Nächstes tun sollte. Sie
5 Als Catherine aufwachte, stellte sie fest, dass sie während des Schlafens in Sams Richtung gerutscht war. Sie lehnte an ihm, und ihre Wange ruhte auf seinem muskulösen Oberarm. Sam hatte seinen Arm über die Lehne zwischen ihren Sitzen gelegt und hielt ihren Oberschenkel mit seiner großen Hand umfasst. Sie spürte die Wärme seiner langen Finger an der Stelle, an der sie die Innenseite ihres Knies berührten, und dann merkte sie, dass er mit dem Daumen über ihre bloße Haut rieb. Sie schlug die Augen auf und musterte seine kantigen Gesichtszüge. Auf Wange und Kinn zeigten sich die Schatten dunkler Bartstoppeln, und seine volle Unterlippe hatte etwas unleugbar Erotisches an sich. Sie öffnete gerade den Mund, um ihn zu fragen, was zum Teufel er sich eigentlich einbildete, als sie sah, dass er die Augen noch halb geschlossen hatte und schläfrig auf seinen Daumen blickte, der mit trägen, gleichmäßigen Bewegungen über ihre blasse Haut strich. Er war offensichtlich noch nicht richtig wach. Das
6 Sam starrte auf sie hinunter und fauchte sie an: »Lady, allmählich gehen Sie mir wirklich auf die Nerven!« Catherine war sehr zufrieden mit sich. Wenn ein Mann anfing, sich zu wiederholen, dann konnte man sicher sein, dass man einen wunden Punkt bei ihm getroffen hatte. Sie zuckte ein weiteres Mal mit den Schultern, was gar nicht so einfach war, da er immer noch ihre Oberarme umklammert hielt. »Ja?« »Ja, also nennen Sie mir einen guten Grund, warum ich Sie für den Rest dieser Reise nicht fesseln und knebeln sollte. Und wenn Sie klug sind, Red, dann beeilen Sie sich damit, weil ich nämlich im Begriff stehe, die Geduld zu verlieren.« Bei seinen Worten verschwand Catherines Zufriedenheit umgehend. Fragte sich nur, wessen Geduld hier erschöpft war. Langsam hatte sie von diesem arroganten Kerl und seinen Drohungen die Nase voll. Sie reckte trotzig das Kinn in die Höhe, und während sie ihm Auge in Auge auf dem staubigen Parkplatz gegenüberstand, auf den die Vormittagssonne so unbarmherzig
7 Bobby legte langsam den Hörer auf und machte sich auf die Suche nach Kaylee. Er entdeckte sie in Catherines Schlafzimmer, wo sie sich gerade die Bikinizone enthaarte. »Du wirst nicht glauben, was ich eben herausgefunden habe, Baby.« Er zuckte zusammen, als sie einen Wachsstreifen von der zarten Haut auf der Innenseite ihres Oberschenkels riss. »Und das wäre?« Kaylee zog einen Streifen Wachs von ihrem anderen Oberschenkel. »Ich begreife nicht, wie du das tun kannst«, sagte er. Ihm kamen bereits beim bloßen Zusehen die Tränen, und er ertappte sich dabei, dass er die Oberschenkel zusammenpresste und die Schultern einzog. »Mensch, Kaylee, tut das denn nicht weh?« »Eigentlich nicht. Das ist so ähnlich, wie wenn du dir die Augenbrauen zupfst – die ersten paar Mal tut es weh, aber später spürst du es kaum noch.« Sie warf die gebrauchten Wachsstreifen in den Papierkorb neben dem Bett und griff nach einer Flasche Körperlotion, um die frisch enthaarten Stellen einzucremen. Dann sah sie Bobby a
8 In Pocatello machte der Bus Halt für die Mittagspause. Fünfundvierzig Minuten später setzte er seine Fahrt fort. Er war gerade auf der Höhe der Auffahrt zum Expressway, als vom Freeway her rasch näher kommendes Sirenengeheul zu vernehmen war. Die Fahrgäste auf der linken Seite des Gangs reckten die Hälse und konnten einen Streifenwagen der Highway Patrol mit Blaulicht und Sirene vorbeirasen sehen. Einen Augenblick später verstummte die Sirene, und aus dem Lautsprecher auf dem Dach des Streifenwagens ertönte eine Stimme, die den Busfahrer aufforderte, rechts ranzufahren. Kurz darauf öffnete sich zischend die vordere Tür, und ein Streifenpolizist kletterte in den Bus. Er sprach ein paar Sätze mit dem Fahrer, der daraufhin nach dem Mikrofon am Armaturenbrett griff. In der plötzlich eintretenden Stille schien seine Stimme besonders laut zu dröhnen. »Mary Sanders, würden Sie bitte nach vorne kommen?« Catherines Helferin folgte der Aufforderung und ging zu den zwei Männern nach vorne, wo s
9 Catherine sah Sam, der sie aus wenigen Zentimetern Entfernung spöttisch anblickte, in die Augen, und ihr war klar, dass es am klügsten wäre, ihn so lange in Ruhe zu lassen, bis er sich wieder eingekriegt hatte. Man musste nicht gerade ein Hellseher sein, um zu erkennen, dass sich hinter seinem unsäglich arroganten Verhalten immer noch eine gehörige Portion Wut verbarg. Aber der Tag war einfach zu lang gewesen, dieses Motelzimmer war so schäbig, dass man Depressionen bekommen konnte, und sie war überreizt ... ganz zu schweigen davon, dass ihr seine überhebliche Art allmählich den letzten Nerv raubte. Catherine legte beide Hände auf Sams Brust und gab ihm einen kräftigen Stoß, damit er aufhörte, ihr so dicht auf die Pelle zu rücken. Zu ihrer Erleichterung trat er einen Schritt zurück und befreite sie von der Wärme und dem Geruch seines Körpers. Sie atmete einmal tief durch und schob sich dann an ihm vorbei, um nach ihrem Koffer zu greifen. Sie legte ihn auf die abgewetzte Bettdecke, ma
10 Die windige, kahle Hochebene, die sich schier endlos in alle Richtungen erstreckte, verursachte Jimmy Chains ausgesprochen schlechte Laune und machte ihn nervös und reizbar. Mit finsterer Miene starrte er nach draußen, während er darauf wartete, dass die Verbindung zustande kam. »Hey, Boss, ich bin’s«, sagte er ohne große Begeisterung, als Hector Sanchez sich endlich meldete. »Ich bin in Grotesque, Wyoming, wie Sie es mir gesagt haben.« »Arabesque«, korrigierte Hector. Chains zuckte mit den Schultern, vergessend, dass Sanchez ihn in seiner Telefonzelle nicht sehen konnte. »Auch egal. Das hier ist jedenfalls eins der hässlichsten Käffer, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Außer vielleicht am Meer, und das ist ja wenigstens noch blau, bin ich noch nie an einem Ort wie dem hier gewesen, wo man sich irgendwo hinstellen kann und nichts außer Landschaft sieht.« Er schüttelte sich unwillkürlich. »Richtig unheimlich, Boss, hier gibt’s echt nur Gestrüpp. Ich will wieder nach Miami.
11 Obwohl es noch nicht einmal acht Uhr war, herrschte bereits eine unerträgliche Hitze. Die Sonne brannte so stark, dass auf dem Highway, an dem Catherine und Sam entlangliefen, der Asphalt zu flimmern begann. Das Frühstück lag Catherine wie ein Stein im Magen, und sie verfluchte sich, weil sie an diesem Morgen aus einer Laune heraus Kaylees Riemchensandaletten angezogen hatte. Sie musste endlich aufhören, sich wie ein trotziges Kind zu benehmen, nur weil sie Sam eins auswischen wollte; letztlich musste doch nur immer sie darunter leiden. Während sie neben ihm herstolperte und sich bemühte, mit ihm Schritt zu halten, und dabei von Zeit zu Zeit an dem feuchten Stoff herumzupfte, der auf ihrer verschwitzten Haut klebte, dachte sie sehnsüchtig an ihre weiten, luftigen Klamotten. Kühle Baumwollhemden und Bermuda-Shorts. Lange Kleider, die ihren Körper lose umspielten, anstatt an jedem Zentimeter zu haften. Falls sie jemals wieder in die reale Welt zurückkehren sollte, würde sie in ihre we
12 »Wenn ich noch lang hier drin bleiben muss, drehe ich durch, Bobby.« Kaylee ließ den Vorhang fallen, den sie ein Stück angehoben hatte, um aus dem Fenster des Motelzimmers nach draußen zu sehen, drehte sich um und sah Bobby, der auf dem Bett lag und eine Sendung im Fernsehen verfolgte, ärgerlich an. Wie konnte er bloß so entspannt daliegen – merkte er denn nicht, dass ihr jeden Moment die Decke auf den Kopf zu fallen drohte? In diesem Augenblick war ihr alles an ihm zuwider: seine Unbekümmertheit, sein Interesse für das Fernsehprogramm, die lässige Haltung, in der er auf zwei Kissen gestützt herumlümmelte, die Füße über Kreuz gelegt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Sie verließ ihren Platz am Fenster und ging zur Tür. »Ich muss für eine Weile hier raus.« Zumindest brachte ihn das dazu, sich lange genug von den neuesten Meldungen aus der Welt des Sports loszureißen, um sie anzusehen. »Nur zu«, sagte er gelassen, »geh ruhig, wenn es dir egal ist, dass du uns damit das Überras
13 Catherine schob ihren Stuhl zurück. »Ich muss mal auf die Toilette.« Bevor sie die Gelegenheit hatte, sich zu erheben, schoss Sams Hand über den Tisch und nagelte ihr Handgelenk auf der Tischplatte fest. »Das kann warten, bis wir wieder im Bus sind.« Sie blickte hinunter auf die große braun gebrannte Hand, in der ihre sehr viel kleinere und blassere Hand gefangen war, und hob dann den Kopf wieder, um Sam anzusehen. »Nein, kann es nicht. Ich muss jetzt.« »Tja, das ist Pech, Red. Sie werden sich wohl oder übel noch ein Weilchen gedulden müssen.« Catherine sprang hoch und stützte sich mit ihrer freien Hand auf den Tisch, als sie sich weit nach vorne beugte und Sam in die Augen sah. »Ich habe zwei große Gläser Eistee und ein Glas Wasser getrunken. Ich muss auf die Toilette. Und wenn Sie mich nicht gehen lassen, und zwar bald, dann pinkle ich hier mitten ins Lokal.« Sie beugte sich noch ein bisschen weiter vor, bis ihr Gesicht nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt war. »Und fall
14 Bis zu dem Augenblick, als Kaylee Catherines Bus geräuschvoll anfahren hörte, hatte sie sich damit vergnügt, ihre frisch lackierten Nägel zu bewundern und nebenbei den Parkplatz des Restaurants im Auge zu behalten. Das Curl Up & Dye mochte ja mitten in der Pampa liegen, aber die Besitzerin verstand etwas von ihrem Geschäft. Kaylees Fingernägel hatten seit einer Ewigkeit nicht mehr so klasse ausgesehen. Die letzte Stunde war unerwarteterweise äußerst unterhaltsam verlaufen. Maydeen, Besitzerin und Chefkosmetikerin des C U & D, war eine Frau nach Kaylees Geschmack. Sie hatten über Mode geplaudert und über Männer, und Kaylee hatte das Gefühl, eine Seelenverwandte gefunden zu haben, als sie feststellten, dass sie sich sogar regelmäßig die gleiche Seifenoper ansahen. Ihre Freundschaft war endgültig besiegelt, als Maydeen Kaylee darin zustimmte, dass die vor einigen Jahren groß aufgemachte Schwanger-mit-Beinahezwillingen-von-zwei-verschiedenen-Vätern-Geschichte bis zum heutigen Tag die be
15 Der Bus hielt auf einem Parkplatz mit Panoramablick an der Interstate. Er hatte vor einer Weile das Great Divide Basin hinter sich gelassen und die Fahrt durch eine hügeligere Landschaft fortgesetzt. »Fünfzehn Minuten Pause, Leute«, verkündete der Fahrer über den Lautsprecher. »Nutzen Sie die Zeit, um sich die Beine zu vertreten und die Aussicht zu genießen.« Catherine stieg langsam und vorsichtig aus dem Bus. Draußen sah sie sich ständig nervös um, da sie jeden Moment damit rechnete, dass Jimmy Chains auftauchte und seine Pistole auf sie richtete. Sam hielt ihren Arm fest umklammert, und zum ersten Mal war sie über seinen vollständigen Mangel an Vertrauen froh. Es war ihr sogar egal, dass er sich vorhin im Restaurant wie ein Vollidiot aufgeführt hatte. Sie wollte nichts weiter als in seiner Nähe bleiben, und das tat sie auch, als er seinen Griff lockerte und ihren Arm schließlich ganz losließ. Als die Minuten vergingen, ohne dass etwas geschah, begann ihre Anspannung nachzulassen.
16 Sam ließ sich erschöpft zurücksinken. »Ein Freund. Gary und ich waren MPs.« Catherine zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe. »MPs? Soll das etwa heißen, dass Sie bei der Militärpolizei waren? In der Armee?« »Ja.« »Sam McKade, Sie hatten einen richtigen Job, und den haben Sie aufgegeben, um Kopfgeldjäger zu werden?« »Ich musste.« Inzwischen hatte er nicht mal mehr genug Kraft, seinen Kopf aufrecht zu halten. »Gary hat eine Kugel abbekommen, die für mich bestimmt war. Seitdem sitzt er im Rollstuhl. Jemand muss sich darum kümmern, dass –« Er sprach den Satz nicht zu Ende, stattdessen murmelte er einen Fluch, setzte sich auf und hielt den Kopf über die Kloschüssel. Sein Körper wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt, aber es kam nicht mal mehr Galle. Catherine sah hinunter auf den Griff der Pistole, die in Sams Hosenbund steckte, und auf die Brieftasche in seiner Gesäßtasche. Er war so mit sich selbst beschäftigt, dass er es nicht einmal merkte, als sie beides herauszog. Sie legte
17 Wenn Jimmy Chains den dämlichen Bengel, der ihm erzählt hatte, dass Kaylee sich in einem Motel ungefähr eindreiviertel Stunden westlich von Laramie befand, in diesem Augenblick in die Finger bekommen hätte, dann hätte er ihn windelweich geprügelt, ihm beide Arme gebrochen und sämtliche Zähne eingeschlagen. Während der vielen Stunden, die er damit verbracht hatte, ein gottverlassenes Kaff nach dem anderen abzuklappern, begann er den Ärger zu verstehen, der seinen Vater vor all diesen Jahren zu seinen Gewalttätigkeiten veranlasst haben musste. Vielleicht hatte sein alter Herr letzten Endes gar nicht so Unrecht gehabt. Vielleicht waren ein paar Schläge wirklich die einzige Sprache, die so ein kleiner Klugscheißer verstand. Der Junge hatte ihn zum Narren gehalten, und er konnte es nun mal nicht leiden, wenn man ihn wie einen Dummkopf behandelte. Kaum jemand hatte das zweimal probiert, zumindest nicht, wenn er ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, weil er nämlich immer prompt re
18 Sam hielt ganz still, als Catherine ihre weichen Lippen zuerst auf den Papierschnipsel drückte, auf den er vorwurfsvoll gedeutet hatte, und dann auf eine Stelle auf seiner anderen Wange. Schließlich küsste sie die Kerbe unter seiner Unterlippe. Wollte sie ihn herausfordern? Er konnte ihre Hitze spüren, nahm ihren Duft wahr. Sein Mund bekam einen entschlossenen Zug – was sie konnte, das konnte er schon lange. Er liebte Wettkämpfe. »Du hast Lust auf ein Spielchen?« Er schlang einen Arm um ihre Taille und zog sie fest an sich. Seine freie Hand grub sich in ihr Haar und hielt ihren Kopf fest. »Wie wär’s denn hiermit?«, schlug er vor und presste seine Lippen auf ihren Mund. So als wäre ein Funke in ein Pulverfass gefallen, explodierte in ihnen das Verlangen. Ihre Streitereien, ihre jeweiligen Ängste, die Versuche, dem anderen immer eine Nasenlänge voraus zu sein – all das ging in den lodernden Flammen des Begehrens auf. Tief aus Sams Kehle stieg ein hungriger Laut, und er öffnete die Lip
19 Bobby lag gegen ein Kissen gelehnt auf dem Bett und beobachtete Kaylee, die im Zimmer auf und ab lief. Als das Schweigen so drückend wurde, dass er es nicht mehr aushielt, bat er in flehendem Ton: »Sag doch endlich was.« Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu, und er wiederholte zum mindestens sechsten oder siebten Mal: »Baby, es tut mir wirklich Leid, dass ich dich nicht gleich erkannt habe. Aber so lange hat das nun auch wieder nicht gedauert. Außerdem habe ich mein Gedächtnis nicht absichtlich verloren und mir auch ganz bestimmt nicht deshalb den Schädel einschlagen lassen, um dir den Tag zu verderben.« Ohne ihm die geringste Beachtung zu schenken, setzte Kaylee ihre Wanderung fort, vom Fenster, wo sie kurz stehen blieb, mit den Fingern auf das Fensterbrett trommelte und in den Regen hinaussah, zu dem Tisch und den zwei Stühlen in der Ecke, weiter zur Badezimmertür und wieder zurück. Bobby folgte ihr mit den Augen und spürte, wie seine Anspannung immer größer wurde. Er hatte h
20 Sam hatte nicht vorgehabt, wieder einzuschlafen, doch genau das war passiert. Und Catherine war es nicht anders gegangen, wie er feststellte, als er aufwachte und ein Blick auf die Uhr ihm sagte, dass es bereits nach vierzehn Uhr war. Aneinander geschmiegt lagen sie auf dem Bett, wie zwei junge Hunde, die sich nach einer ausgelassenen Balgerei zum Schlafen zusammengerollt hatten. Nachdem er sich vorsichtig aus der Umklammerung ihrer Arme und Beine befreit hatte, setzte er sich auf und rieb sich über das Gesicht. Schließlich ließ er seine Hände langsam sinken und ballte sie unwillkürlich zu Fäusten, während er auf Catherine hinuntersah. Mann, da hatte er wirklich eine Glanzleistung vollbracht. Die Fischerhütte konnte er vergessen; er konnte von Glück sagen, wenn sie ihm nicht ein halbes Dutzend Klagen anhängte. Es hatte keinen Sinn, die Sache schönzureden – er hatte sie entführt. Verdammt, er hatte sie entführt, wie ein Gepäckstück durch die Gegend geschleift und ihr ständig neue Bel
21 »Hast du eigentlich die leiseste Ahnung, wo wir hier sind?« Es hatte zu dämmern begonnen, und Catherines Nerven lagen mittlerweile blank. Ihre Beine waren vollkommen verkratzt, und darüber hinaus waren sie, ebenso wie ihre Arme, mit Stichen übersät. Zum hundertsten Mal schlug sie nach einer Mücke, die versuchte, ihr etwas Blut abzuzapfen, während sie so dicht hinter Sam herlief, dass sie ihm bei jedem ihrer Schritte beinahe auf die Fersen getreten wäre. »Bist du als Kind zelten gewesen?«, fragte sie. »Ich habe noch nie gezeltet.« Sie legte den Kopf in den Nacken, um durch die Äste der hoch aufragenden Tannen einen Blick auf den Himmel zu erhaschen. »Wir haben uns verlaufen, nicht wahr? Für meinen Geschmack gibt es hier ein bisschen zu viel Natur.« Sam blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Prompt prallte Catherine gegen ihn, und er packte sie bei den Schultern, um sie zu stützen. Dann trat er einen Schritt zurück, hielt sie auf Armeslänge von sich weg und sah ihr prüfend ins Gesich
22 Anders als Sam vermutet hatte, war es Chains überhaupt nicht in den Sinn gekommen, eine Karte zu Rate zu ziehen, um festzustellen, wo Sam und Catherine wieder auf die Straße treffen würden, falls sie eine andere Richtung einschlagen sollten. Nachdem er gestern beobachtet hatte, wie sie sich unten in der Schlucht in Sicherheit brachten, hatte er kurz erwogen, hinunterzuklettern und dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Aber nach einem Blick auf den zerklüfteten Abhang und einem zweiten auf seine wunderbar polierten Schuhe hatte er diese Idee schnell wieder vergessen. Also hatte er gewartet. Er hatte sich entsetzlich gelangweilt, und seine Kleidung war von der Herumsitzerei völlig zerknittert, was ihn furchtbar ärgerte, aber alles in allem war er mit sich und der Entwicklung der Ereignisse höchst zufrieden. Hey, wieso war ihm in all diesen Jahren eigentlich nie aufgefallen, dass er das Zeug zu einem echten Genie hatte? Er machte mit seiner Pistole eine auffordernde Geste vor Catherines Ges
23 Bobby hatte es gerade geschafft, sich ein kleines Stückchen vom Paradies zurückzuerobern, als das Telefon läutete. Den Rock bis zur Taille hochgeschoben, lag Kaylee auf dem Bauch vor ihm auf dem Bett, und er war eifrig damit beschäftigt, der Einladung ihres tätowierten roten Kussmundes zu folgen. Die Störung ließ ihn den Kopf heben. »Ich vermute mal, du hast was dagegen, dass ich es einfach ignoriere?« Sie war sehr in Versuchung. Und wie sehr! Seine Lippen, die den Mund auf ihrem Hinterteil so wunderbar ergänzten, waren weich, heiß, und es war schon sooo lange her. Trotzdem... Sie richtete sich auf Händen und Knien auf und streckte den Arm nach dem Telefon auf dem Nachtkästchen aus, um abzunehmen. »Hallo«, sagte sie genau in dem Augenblick, als Bobbys Mund da weitermachte, wo er aufgehört hatte. Dieses Mal wurde er jedoch ein paar Zentimeter weiter südöstlich von Bobbys Fingern unterstützt, und sie musste an sich halten, um nicht laut aufzustöhnen. »Kaylee, hier ist Scott«, sagte di
24 Catherine hatte eben erst die Katze aus dem Sack gelassen, und Kaylee war vor Erstaunen der Mund offen stehen geblieben. Bevor sie Zeit gehabt hatte, sich von dem Schock zu erholen, war Sams Stimme zu vernehmen gewesen, und sie hatte Bobbys Pistole aus ihrer Handtasche gezogen, ohne auf den Protest von Bobby und Catherine zu achten. Und im nächsten Augenblick stand der Kopfgeldjäger auch schon mitten im Zimmer. Er war groß und machte einen finsteren und furchteinflößenden Eindruck, trotz des großen, etwas deplatziert wirkenden Tulpenstraußes in seiner Hand und des sanften Klangs seiner Stimme, als er nach Catherine rief. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie meinte, es müsste ihr gleich aus der Brust springen, er dagegen schien nicht besonders überrascht zu sein. »Kaylee MacPherson, nehme ich an«, sagte er gedehnt. Er ließ langsam die Hand mit dem Blumenstrauß sinken und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Legen Sie die Pistole weg, bevor Sie noch jemanden verletzen«, befahl er
25 »Bitte«, sagte Kaylee freundlich. »Mach jetzt bloß keine falsche Bewegung. Ich will dir wirklich nicht wehtun, Jimmy. Aber ich tu es, wenn du mich dazu zwingst.« Betont langsam hob Jimmy beide Hände und legte sie neben seinen Kopf. »Ich beweg mich praktisch nicht. Siehst du? Ich lieg ganz ruhig da.« Catherine ging neben ihm in die Hocke und schob eine Hand unter seinen Rücken, um ihm die Waffen abzunehmen. Sie deponierte sie außerhalb seiner Reichweite und sah dann mit einem ärgerlichen Blick zu ihrer Schwester hoch. »Verdammt noch mal, Kaylee, ich habe nicht gemeint, dass du ihn auf diese Weise von mir ablenken sollst. Er hätte dich erschießen können!« »Hol die Handschellen raus, Schwesterherz, und fessle ihn damit, und dann sieh dich um, ob du ein Stück Schnur für seine Füße findest. Ich habe dir doch gesagt, dass ich deinen wunderbaren Plan ein bisschen abändern werde. Warum solltest du die Suppe auslöffeln, die ich mir eingebrockt habe, und dich in Gefahr begeben? Himmel noch ma
26 »Wenn du mich fragst«, sagte Kaylee, während sie neben Catherine auf das zartrosa gestrichene Apartmenthaus zuging, in dem sie wohnte, »dann ist dieser Mann ein kompletter Vollidiot. Und ehrlich gesagt überrascht mich das, weil er auf mich eigentlich wie jemand wirkt, der alles daransetzt, um das zu kriegen, was er will, und ich weiß genau, dass er total scharf auf dich ist.« »Ach, das bildest du dir doch nur ein«, erwiderte Catherine. »Also bitte, du musst schon entschuldigen, aber ich habe schließlich mitgekriegt, wie der Kerl dich angesehen hat, und glaub mir, der will dich, das ist überhaupt keine Frage.« Kaylee sperrte die Eingangstür auf und ging durch den engen Hausflur zu ihrem Briefkasten. Sie öffnete ihn, nahm einen Packen Briefe heraus und stopfte ihn achtlos in ihre Handtasche. Dann drehte sie sich zu ihrer Schwester um. »Willst du es dir nicht vielleicht doch noch einmal überlegen und mit uns ausgehen, um ein bisschen zu feiern?« »Nein, wirklich nicht.« »Es würde dir gu
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