Log In
Or create an account ->
Imperial Library
Home
About
News
Upload
Forum
Help
Login/SignUp
Index
Table of Contents
Title Page
Impressum
Prolog
Die Sekunden verharrten im Regal zwischen den Aktenordnern, starrten mit lidlosem Blick auf die Besucherecke mit den beiden Stühlen, auf den überladenen Schreibtisch und das geschlossene Fenster, das den tosenden Verkehrslärm aussperrte. Von Zeit zu Zeit löste sich eine der Sekunden, tropfte hinab auf den Linoleumboden, verging mit einem unhörbaren Seufzer. Dann stand die Zeit wieder still. Andere Sekunden starben, ebenso lautlos, auf den ausdruckslosen Gesichtern der beiden Männer, die vis-à-vis an dem runden Tisch saßen.
»Du kannst dir das gar nicht vorstellen, wie das ist. Ich hätte nie geglaubt, dass ich mich einmal fast nach meiner Zelle zurücksehnen würde.« Zorn kibbelte auf seinem Stuhl wie ein zu alter Berufsschüler. Seine Hände zitterten, seine hageren Gesichtszüge waren eingefallener denn je. Ich blieb ungerührt. Ein Teil von mir konnte nachvollziehen, wie schlecht es ihm unter den gegebenen Umständen gehen musste. Ein anderer, weitaus größerer Teil von mir misstraute jedoch seinen Unschuldsbeteuerungen, warf in die Waagschale, was Zorn belastete: seine gegenüber der Polizei und auch mir zunächst verschwiegene Bekanntschaft mit dem Mordopfer, sein fehlendes Alibi für die Tatzeit, sein Hobby – die Fotografie, sein unverhohlenes, wohl nicht nur fotografisches Interesse an Ellen. Mir war allein seine Anwesenheit hier, in meinem zu engen Büro, unangenehm. Ich versuchte, professionell zu bleiben und so etwas wie eine neutrale Haltung zu ihm einzunehmen. Zorn fummelte in der Tasche seiner Jacke, hielt mir einen zusammengefalteten Zeitungsausschnitt hin.
»Wolfgang, mach auf. Ich weiß, dass du da bist.« Ich pokerte. Die Klingel hatte Zorn schon vor langer Zeit abgestellt. Mein Klopfen verhallte. Es klang, als liefe drinnen der Fernseher. Doch das konnte auch aus einer der beiden anderen Wohnungen auf dieser Etage kommen. Durch das Treppenhausfenster meinte ich das vielstimmige mutwillige Murren der Montagsmeute zu hören, die sich wieder vor dem Haus zusammengerottet hatte, um den Friedenshof von Wolfgang Zorn und Wismar von gesundem Menschenverstand und Mitmenschlichkeit zu befreien. Ich war ebenso wütend auf diese menschlichen Nieten dort draußen wie auf meinen Klienten, der sich auch nach meiner schriftlichen Aufforderung nicht bei mir hatte blicken lassen. Seine Suchtberaterin, die Zorn gleich zu Beginn der Betreuung mir gegenüber von der Schweigepflicht entbunden hatte, vermisste ihn ebenfalls seit drei Wochen, wie ich herausgefunden hatte. Vielleicht war er ja wie angekündigt fortgezogen, untergetaucht – mit diesem Gedanken meldete sich auch diesmal sogleich der schwer zu unterdrückende, unangenehm egoistische Teil von mir.
»Sie hat was?« Ellen kräuselte die Stirn, stopfte sich ihr Kissen hinter den Kopf und sah mich ungläubig an.
Die Zeit stand still. Die Sekunden verharrten im niedrigen, holzgetäfelten Raum, hockten zwischen den auf den schmucklosen Tischen stehenden Monitoren, starrten mit lidlosem Blick auf den Kassentresen, hinter dem ein runder Schwarzer mit Batikhemd und Nerdbrille regungslos seine Kunden überwachte, Videofilme und Telefonkarten verkaufte. Von Zeit zu Zeit löste sich eine der Sekunden, tropfte hinab auf den imitierten Perserteppich, verging mit einem unhörbaren Seufzer. Dann stand wieder die Zeit still. Andere starben, ebenso lautlos, auf dem ausdruckslosen Gesicht des alternden Bewährungshelfers, der braun gebrannt, in Shorts und Polohemd, an einem der Computerterminals saß und auf den Text einer E-Mail starrte.
← Prev
Back
Next →
← Prev
Back
Next →