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Das Haus stand in einer Straße, die von der Ballarat Road abging. Dem Untergang geweihte Wohnhäuser mit Holzverschalung, rostigen Dächern und schäbigen kleinen Rasenflächen standen einander gegenüber, getrennt durch einen pockennarbigen Asphaltstreifen. Am Ende der Straße, unter dem fahlen Licht einer Straßenlaterne, schossen sich zwei Jungs abwechselnd einen Fußball zu und stießen wilde Schreie aus, wenn sie ihn vor dem Hintergrund des fast dunklen Himmels aus dem Blick verloren.
Ich bekam keine Luft, jemand saß auf mir, drückte mir etwas auf den Kopf und sagte: »Stirb. Stirb einfach.« Ich wachte auf, schnappte nach Luft, lag auf dem Sofa im Wohnzimmer und hatte mir einen alten, offenen Schlafsack über den Kopf gezogen. Darin war mein Atem kondensiert, und mein Gesicht war nass.
Der äußere Ring des Sicherheitssystems, das das Anwesen von Pat Carson schützte, des Patriarchen der Carson-Dynastie, war eine drei Meter hohe Mauer. Dann fuhr man in ein Torhaus in der Mauer, ein Tor schloss sich hinter einem, vor einem schoss ein anderes Tor aus dem Boden, und man kam erst weiter, nachdem einen irgendwo jemand aus vier verschiedenen Blickwinkeln angesehen und auf einen Knopf gedrückt hatte. War man dem Gefängnis entronnen, demonstrierten verborgene Scheinwerfer, dass die Mauer nicht das einzige Hindernis war, mit dem sich Eindringlinge konfrontiert sahen. Etwa vier Meter innerhalb des Grundstücks stand ein mehrere Meter hoher, eleganter, mit spitzen Pfosten versehener Stahlzaun. Durchaus möglich, dass in dem grasbewachsenen Bereich zwischen Mauer und Zaun Dobermänner und ihre Führer Streife gingen.
Im Nebenzimmer wurde klar, warum es in Pat Carsons Arbeitszimmer keine Bücher gab. Es war eine Bibliothek, ein markanter Raum, angenehmer Parkettboden, vier Wände mit Büchern vom Boden bis an die Decke, Leitern auf Rädern, mit verblichenen Stoffen bezogene Sessel, ein langer, schmaler Bibliothekstisch, umgeben von steifen Stühlen, strengen Stühlen.
Als sie weg waren, rief ich von dem Telefon in der Bibliothek Orlovsky an. Er dauerte lange, bis er endlich dranging.
Wir saßen in der Bibliothek, zu viert, ich, Tom Carson, der in einem Computerausdruck las, Graham Noyce, der in ein Büchlein mit Ledereinband schrieb, Orlovsky, der zu schlafen schien, die Hände auf dem Schoß, Handflächen nach oben, die Rechte umfasste die Linke. Barry Carson sprach im Nebenzimmer mit seinem Vater.
Zweihunderttausend Dollar in Fünfzigern in einer Sporttasche wiegen nicht viel, ein paar Kilo. In der VIP-Tiefgarage unter der großen Südtribüne nahm ich mit einem mulmigen Gefühl im Magen die softlederne Louis-Vuitton-Tasche aus dem Kofferraum von Noyces Mercedes und tastete nach dem winzigen Handy in der Innentasche meines Sakkos.
»Ein paar tausend hättest du ruhig behalten können«, sagte Orlovsky, als er mit seinem Aktenkoffer in den Mercedes stieg, wobei er kalte Luft mitbrachte und sich Regen von der Kopfhaut wischte. »Ehrlichkeit ist eine völlig überschätzte Tugend.«
An diesem Abend hatte sich in der eleganten Bibliothek eine Frau zu den Carson-Jungs gesellt. Sie war hager, hatte einen weiten Pullover und Jeans an, schulterlange blonde Haare, saß kerzengerade und mit verschränkten Armen in einem Sessel, Whiskyglas auf einem Fasstisch. Auf den ersten Blick sah sie wie ein Teenager aus, doch dann bemerkte man um ihren Mund die Falten wie geschwungene Klammern und das leichte Runzeln zwischen den Brauen. Vermutlich war sie Anfang dreißig.
Carmen Geary wirkte nicht eben erschüttert, weil ihre Freundin verschwunden war. Sie musterte mich, als wollte ich mich für einen Job bewerben, bei dem das Aussehen wichtig war. Ihrem eigenen Aussehen nach kam sie näher an die zwanzig, als es sich für eine Fünfzehnjährige schickte, eine langbeinige Mischung aus Mädchen und Frau mit glänzenden dunklen Haaren, die ständig mit theatralischer Geste aus dem Gesicht geschoben werden mussten.
Wir hielten auf dem fleckigen Betonparkplatz einer Firma namens Dollakeen Kitchens im Gewerbegebiet von Dandenong, einem Teil von Groß-Melbourne, den die Zeitung nicht empfiehlt, wenn sie zehn attraktive Gegenden für den Sonntagsausflug auflistet. Orlovsky entschied sich für Dollakeen, weil das Tor offen stand und bei der Auskunft keine Telefonnummer für die Firma angegeben war.
»Einer dieser Wagen mit Schiebetüren«, sagte der in ein Tweedjackett gekleidete Harry Cherry von Hayes & Cherry, einem schmalen Geschäft in der Revesdale Street, der Badezimmerarmaturen verkaufte. »Ein ziemlich lädierter mit Vorhängen an den Fenstern. Tarango? Durango? So was in der Art. Großraumlimousine nennt man die wohl. Ziemlich hochtrabend für einen Transporter mit mehreren Sitzbänken.«
Wie Pat Carson dasaß, vorgebeugt, Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, Kinn auf die Hände, sah er eingefallen und geschrumpft aus, genauso alt, wie er war. Er atmete schwer, schien dabei aber mehr Luft aus- als wieder einzuatmen.
Aus Orlovskys Wagen, während der Fahrt auf der schauderhaften gebührenpflichtigen Autobahn, rief ich einen Cop namens Vince Hartnett im Rauschgiftdezernat an, ohne meinen Namen zu nennen.
Ich schlief in dem Gartenhaus, in einem großen Bett in der Mitte eines geräumigen Zimmers, und träumte von der Kindheit, als der Anruf kam. Mein Unterbewusstes versuchte, das schrille Vogelpiepsen in die Geschichte einzubauen, gab aber rasch auf und ließ zu, dass der Lärm mich weckte.
Der Ermittler war ein massiger Mittfünfziger mit Halbglatze und hieß Andrew. Sein Taxi roch leicht nach Fish and Chips. Angela Cairncross wäre nicht froh darüber. McDonald’s ja, Fisch und Pommes nein.
Wieder im Gartenhaus, zu überdreht, um schlafen zu können, ließ ich mich in dem Zimmer im Erdgeschoss, wo der Fernseher stand, in einen Sessel fallen. Orlovsky kam rein, öffnete die Bar, wo er eine Flasche Black Label, zwei schwere kristallene Whiskygläser und eine Flasche Mineralwasser fand. Ohne zu fragen, goss er in jedes Glas drei Fingerbreit und gab einen Spritzer Wasser dazu.
Barry Carson hatte ein überraschend schlichtes Büro im dritten Stock von Carson House: zwei Holzstühle mit Lederpolsterung für Besucher, ein alter Schreibtisch, Schreibtischstuhl genau wie die im Vorzimmer, ein ausgeblichener Perserteppich auf Parkettfußboden, eine nichtssagende Aussicht auf das gegenüberliegende Gebäude. An der blass cremefarbenen Wand hingen Schwarz-Weiß-Fotos von Bulldozern, planierten Bauplätzen, Fußböden aus Schüttbeton und Richtfesten auf windumtosten Gebäuden mit Bauarbeitern und Männern in Anzügen, die Schutzhelme aufhatten und Bierdosen hochhielten. Nur die Schutzhelme passten, und nur sie sahen aus, als wollten sie das Bier auch trinken.
Ich stieg an der Museum Station ein, setzte mich in die zweite Reihe hinter den Türen. Kurz vor Flagstaff nahm Vella gegenüber von mir Platz. Er stellte sich eine Myer-Tragetasche zwischen die Füße, betrachtete sein Spiegelbild im Zugfenster, fummelte an seinem Schlips herum. Ich sah mir auch sein Spiegelbild an, betrachtete sein Gesicht mit der langen Nase; Augen, Haare und Anzug waren zu schwarz, um sich vor der Dunkelheit draußen abzuheben.
»Ach du Scheiße«, sagte Orlovsky und schaute auf den großen Computerbildschirm. »Diese Software kenne ich.«
Es war kurz nach neun Uhr abends, die lange Nacht stand bevor, und der ganze Dienstag machte sich in meinem Rückgrat bemerkbar, als ich in Orlovskys Wagen die Yarra-Brücke überquerte; das schicke Southbank leuchtete zur Rechten, wo die Menschen aßen und tranken, wo jede Menge andere Leute unterwegs waren, die Stadt war lebendig, das tagsüber schlammig-graue Wasser war jetzt eine reflektierende und glitzernde Oberfläche. Melbournes Arno, romantisch. Hinter uns lag die Flinders Street Station, auf der Treppe die ersten Nachtmenschen: Beute, Räuber und Beschützer, junge Cops aus netten Familien in den Vorstädten oder in Landgemeinden, die Eindrücke von der Wirklichkeit sammelten und deren Augen Nacht für Nacht härter wurden.
Martie Harmon arbeitete bei Hayes, Harmon, Calero, einer Anwaltskanzlei in South Yarra mit einem Büro neben einem Thai-Restaurant.
»Klingt, als wäre dieser Mark ein netter Kerl«, sagte Orlovsky. »Ja, ich merke, dass mir die ganze Familie immer mehr ans Herz wächst.«
Da ich nichts anderes zu tun hatte, schwer besorgt war und nicht einfach nur warten konnte, rief ich vom Gartenhaus Graham Noyce an.
Corin McCall befand sich offenbar auf einem Baugelände, als ich sie anrief, im Hintergrund hörte man das Getöse mächtiger Maschinen.
Ich rief Graham Noyce an und berichtete ihm von dem Anruf.
Mr. Pat Carson würde mich gern sprechen, wenn es genehm sei, sagte der Securitymann in der Tiefgarage, als er mir die Schlüssel des Audi aus der Hand nahm.
»Ist schwieriger als gedacht«, sagte Orlovsky. »Ein Haufen Leute befasst sich mit dem einen oder anderen Aspekt von Stimmverarbeitung. Meistens geht es darum, dass man mit Computern spricht, ihnen Fragen stellt, solche Sachen.«
Lauren Geary stand in der Tür zur Bibliothek und hielt den Umschlag in der Hand, unsicher, wem sie ihn geben sollte. Er war kurz nach zehn Uhr früh zugestellt und von einem am Torhaus wartenden Securitymann hergebracht worden.
Aus den Fenstern des Büros der Mordkommission schaute man hinunter auf die Lichter der St. Kilda Road, sah den Shrine Of Remembrance, ein Kriegsopferdenkmal mit seiner ewigen Flamme, sah die dunklen Flächen der Sportplätze der Melbourne Grammar School. Es war ein ruhiges Büro, in dem es nach Instantkaffee, zu intensivem Aftershave und übermäßig aufgetragenem Deodorant roch.
In der Nacht kam der Afghanistan-Traum, einer der Träume, jener, in dem ich versuchte, zu Cowper vorzudringen, Cowper mit den tränenfeuchten Augen, der schreit, das Schreien eines Kindes, der nach mir ruft. Seinem Captain. Wenn ich zu ihm vordringe, kann ich ihn retten. Darin steckt keine Logik, es ist ein Traum. Ich krieche auf ihn zu, Schüsse, um mich herum brennende Hubschrauberteile. Auf mir lastet ein Gewicht, das mich bremst. Ich komme nur quälend langsam voran. Plötzlich wird mir klar, was dieses Gewicht ist: Meine Beine sind weg; ein großer Teil meiner Beine, bis oberhalb der Knie. Ich muss meinen Körper ohne Mithilfe der Beine vorwärts bewegen. Und im selben Moment, als mir das klar wird, durchströmen mich Schmerzen, und ich weiß, dass ich Cowper nicht retten kann, weil ich sehr rasch sterbe.
Das Grundstück lag an einem Hang und war über einen Fahrweg erreichbar, gesäumt von einem halben Dutzend alter Ulmen, deren Hunderte von Wurzeltrieben eine wild wuchernde Hecke bildeten.
Orlovsky sagte: »Ich hab mich noch mal mit der Abonnentendatei befasst, du erinnerst dich?«
»Ich konnte den Namen Sitesong nicht ändern«, sagte David Klinger. »Schauderhafter Name, aber er war vor mir da. All die Jahre habe ich damit leben müssen. War früher mal sehr trendy.« Er schnaubte. »Trendy. Das Wort hört man heute auch nicht mehr. Wir waren damals ein wenig trendy, ein wenig angesagt.«
»Sie schreiben Computerspiele«, sagte ich. »Sie verdienen ihr Geld mit der Herstellung von Computerspielen.«
Sie hieß damals Margaret Patton und heute Margaret Spears, und ich brauchte drei Stunden, um sie in einem teuren Haus in dem teuren Melbourner Stadtteil Albert Park zu finden. Sie empfing mich nur sehr widerwillig.
Das Telefon in London klingelte immer wieder, und ohne dass ich es logisch hätte erklären können, wusste ich einfach, dass es niemanden rief, sondern an einem Ort klingelte, wo keiner rangehen würde. Ich saß auf dem Küchenstuhl in Orlovskys Computerzimmer, er saß an seiner Tastatur, wir sahen einander an und lauschten beide dem Klingeln.
Unterwegs, es war noch zu früh für einen Besuch, parkten wir an der Hauptstraße von Eltham.
Wir fanden in Eltham einen Ort, wo wir Kaffee trinken konnten, warteten schweigend darauf an einem Tisch auf dem Gehsteig, Orlovsky rauchte.
Diesmal fuhren wir nicht zu der eindrucksvollen Vordertür. Wir umrundeten das Haus, rasten über den holprigen Erdboden, machten Krach, bogen an der hinteren Mauer des weiträumigen Hauses scharf rechts ab, bremsten abrupt, sprangen einigermaßen rasant aus dem Wagen, waren für so etwas eigentlich nicht in Form, näherten uns dem Haus, überquerten die Terrasse in Richtung Hintertür.
Zweieinhalb Autostunden von Brisbane entfernt stellten wir den Mietwagen auf einem grünen Hügel hinter Maleny ab, stiegen aus, standen im Sonnenschein und betrachteten die Landschaft.
Vella rieb sich die Augen, rieb sich den Rücken seiner langen Nase.
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