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1 Lily Morrisette wollte gerade das Wasserglas an die Lippen setzen, um einen Schluck zu trinken, als sie mitten in der Bewegung yerharrte und fasziniert den großen Mann anstarrte, der durch die Küchentür trat. Die Granitfliesen unter ihren Füßen verbreiteten einen matten Glanz, und außer dem fernen Ticken der alten Standuhr im Wohnzimmer war in dem großen Haus direkt am Strand von Laguna Beach kein Laut zu hören. Der Mann brachte einen Schwall kühler, salziger Luft mit sich, der nach den ersten Frühlingsblumen roch. Aber kühl war nicht unbedingt das Wort, das Lily bei seinem Anblick als Erstes in den Sinn kam. Im Gegenteil, er war einer der heißesten Typen, die ihr jemals unter die Augen gekommen waren. Von den Fotos, die ihr Glynnis Taylor gezeigt hatte, wusste sie natürlich, wer er war. Allerdings wurde ihm keines der Bilder auch nur annähernd gerecht, und schon bei seinem bloßen Erscheinen stockte Lily der Atem. Er war etwa einen Meter achtzig groß und strahlte etwas Geheimnisvolle
2 Am nächsten Morgen stand Lily nackt vor der Spiegeltür des Kleiderschranks und musterte ihre Figur. Je länger sie schaute, desto mürrischer wurde sie. Wer hatte bloß so große Spiegel erfunden? Sie hätte wetten mögen, dass es ein Mann mit einer sadistischen Ader war. Okay, damit tat sie vielleicht jemandem Unrecht. Vielleicht war er ja ein ganz netter Kerl — einer, der vollkommen vernarrt war in seine elfenhafte Frau, und er hatte das Ding erfunden, damit sie ihren gertenschlanken, sicherlich knabenhaften Körper nach Herzenslust von Kopf bis Fuß betrachten konnte. Abgesehen davon war es ja auch nicht so, dass das Bild, das Lily entgegenblickte, so schlimm war. Wenn sie allein ihre Maßstäbe anlegte, dann würde sie vermutlich sogar sagen: Nicht toll. Könnte durchaus einige Verbesserungen vertragen. Aber insgesamt gesehen nicht schlecht für eine Fünfunddreißigjährige, die leidenschaftlich gerne isst. Nur leider war ihr Blick beeinflusst von der Erinnerung an Zach Taylors kalte graue Auge
3 »Warum erzählst du diesem Idioten nicht einfach, womit du dein Geld verdienst, damit du endlich deine Ruhe hast?« Lily lächelte ihre Freundin Mimi über den Restauranttisch hinweg schief an. »Das wäre sicherlich das Vernünftigste, klar. Aber sobald ich ihn nur sehe, bin ich schon auf hundertachtzig und zu keinem klaren Gedanken mehr imstande.« »Genau deshalb sollst du ja dem weisen Rat deiner Freundin folgen.« Mimi schob ihre Leopardenfellhandtasche auf die Seite, um auf der ecrufarbenen Leinentischdecke Platz für ihre Ellbogen zu schaffen, und beugte sich mit ernster Miene vor. »Gönn dir doch das Vergnügen, und zeig ihm einen deiner Lohnstreifen, Lil, wenn er die vielen Nullen vor dem Komma sieht, wird er sich wie ein Volltrottel vorkommen, und jedes weitere Wort wird ihm im Hals stecken bleiben.« »Meinetwegen soll er dran ersticken«, murmelte Lily, und fügte dann, erschrocken über ihre eigene Boshaftigkeit, schnell hinzu: »Das meine ich natürlich nicht wörtlich.« Sie schüttelte verw
4 Lily war außer sich vor Wut, als sie die Tür hinter sich zuschlug. Was für ein Arschloch! Was für ein unglaubliches Arschloch! Was fiel ihm eigentlich ein, sie so zu behandeln? Aber bitte, dann hatte er eben gewonnen. Sie würde ihre Sachen packen und sich noch heute Nachmittag nach einer neuen Wohnung umsehen. Es passte ihr zwar nicht, ihn so einfach davonkommen zu lassen, aber diese Situation ertrug sie nicht mehr. Für so etwas war sie einfach nicht geschaffen. Anders als am Abend zuvor, als sie alle ihre Besitztümer wahllos in den Koffer geschmissen hatte, sammelte sie jetzt nur die lebensnotwendigen Dinge zusammen, ohne die sie nicht auskommen konnte, damit sie von einer Minute auf die andere ausziehen konnte. Aber als sie ihre Koffer aus dem Schrank holte, stöhnte sie auf. Das erinnerte sie zu sehr an ihr Leben als Heranwachsende, als kaum ein Jahr ins Land ging, in dem ihr ihre ruhelosen Eltern nicht mitteilten, sie solle ihre Sachen packen, weil sie wieder einmal umziehen würde
5 Zach trommelte ungeduldig auf das Dach seines Jeeps. Wann kam Lily endlich mit der Adresse? Er war nervös, und die Warterei trug nicht eben zu seiner Beruhigung bei; er musste etwas unternehmen, bevor seine Schwester einen Fehler beging, unter dem sie vielleicht Jahre zu leiden hatte. Die Tatsache, dass sich Lily in Glynnis’ Leben geschlichen hatte, war schlimm genug. Er wusste nicht einmal, wie lange seine Schwester schon unterwegs war, und die Zeit, die ihn dieses geldgierige kleine Luder gekostet hatte, indem sie die Nachricht von Glynnis nicht herausrückte, konnte darüber entscheiden, ob er noch rechtzeitig zum Haus der Beaumonts kam, um dieser Farce ein Ende zu bereiten, oder nicht. Bedenkt man, was für ein Kontrollfreak Sie sind, bin ich nicht unbedingt überrascht, dass Ihnen Glynnis nichts von ihren Plänen erzählt hat, flüsterte Lilys Stimme in Zachs Kopf und unterbrach das Trommeln seiner Finger auf dem Autodach. Er schlug mit beiden Händen auf das heiße Metall, stieß sich ab
6 Als Zach aufwachte, schneite es. Fluchend setzte er sich auf und schälte sich aus seinem Schlafsack, der von einer dichten, nassen Schneeschicht bedeckt war. Über dieser verflixten Fahrt lag ein Fluch. Wenigstens hatte er Voraussicht bewiesen und den Poncho, der zu seiner Ausstattung gehörte, über den Schlafsack gebreitet, bevor er sich gestern Nacht hingelegt hatte. Sich den Geruch eines feuchten Schlafsacks zu ersparen war zwar nur ein schwacher Trost, aber man musste nehmen, was man kriegte. Nicht dass er gleich eingeschlafen wäre, als er sich hingelegt hatte. Er hatte sich hin und her geworfen, nachdem Lily endlich Ruhe gegeben und das Licht im Jeep ausgemacht hatte. Der kurze Moment, den er sie in den Armen gehalten hatte, war ihm nicht aus dem Kopf gegangen, immer wieder hatte er ihn in Gedanken durchlebt. Seine Haut brannte überall dort, wo sie ihn berührt hatte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Kalt, steif und genervt streifte er sich seine Schuhe über, dann breitete er den
7 Ein paar Stunden später in Anacortes musste Zach erleben, wie sein schöner Zeitplan von der hässlichen Realität der Fahrpläne der vom Staat Washington betriebenen Schifffahrtslinien zunichte gemacht wurde. Ungläubig starrte er den Schalterbeamten an. »Drei Stunden bis zur Abfahrt?« »Ja, Sir. Drei Stunden und fünfunddreißig Minuten, um genau zu sein.« »Sie wollen mich auf den Arm nehmen, oder?« »Nein.« Der Mann hinter dem Schalter lächelte ihn flüchtig an. »Ich vermute, Sie sind nicht aus der Gegend?« »Nein.« »Nun, Sir, zurzeit gilt noch der Fahrplan für die Nebensaison, das ist also nichts Außergewöhnliches. Sie haben gerade eine Fähre nach Orcas Island verpasst, und die nächste, die dort anlegt, ist die Illahee, aber ich fürchte, die wird Ihnen auch nichts nützen, weil sie nur fünfundsiebzig Fahrzeuge aufnehmen kann und vor Ihnen schon mehr Leute warten.« »Die können doch nicht alle nach Orcas Island wollen.« »Nein, Sir. Viele davon fahren nach Lopez oder Shaw Island. Orcas Island i
8 Als sie auf Orcas Island von der Fähre runterfuhren, war es bereits stockfinstere Nacht. Der Mond war hinter den Wolken verschwunden, und sobald sie die Anlegestelle des kleinen Hafenstädtchens hinter sich gelassen hatten, breitete sich tiefe Dunkelheit um sie herum aus. Auf den ersten Blick schien die Insel nur aus Bäumen zu bestehen. Laubbäume standen dicht an dicht mit hoch aufragenden Tannen und bildeten mit ihrem Astwerk einen Tunnel über der Straße. Wenn die Scheinwerfer des Jeeps die dunklen Gebilde erfassten, erhielten sie Farbe und Form, um im nächsten Augenblick wieder zu schwarzen Schatten vor dem Nachthimmel zu werden, was das Ganze wie ein mehrdimensionales, in dunklen Farben gehaltenes Fries aussehen ließ. Sie wandte ihren Blick vom Fenster ab und sah Zach an. Im schwachen Schein der Armaturen hatten seine Augen etwas Undurchdringliches, und sein Gesicht schien nur aus harten Kanten zu bestehen. »Wir sollten wirklich schauen, ob wir in Eastsound nicht irgendwo zwei Zimm
9 Zach behielt seine ausdruckslose Exerzierplatz-Miene bis zu dem Moment bei, in dem er die Tür des Zimmers, das man ihm zugewiesen hatte, hinter sich zumachte. Endlich allein. Er ließ seine Tasche auf den Boden fallen, ging zum Bett und setzte sich. Weder bemerkte er die freundlichen Farben des Zimmers noch dessen luxuriöse Ausstattung. Er merkte nur, dass seine Hände leicht zitterten, und starrte sie an. Dann ballte er sie ein paar Mal zur Faust und streckte sie wieder, damit sich ihr Zittern verlor. Seine kleine Schwester war entführt worden. »Nein«, flüsterte er grimmig. Er durfte sie nicht verlieren. Seit seine Mutter sie ihm damals auf dem Flugplatz in den Arm gelegt hatte, hatte er sich in der einen oder anderen Weise um sie gekümmert, und er konnte und würde sie nicht verlieren. Aber hatte er nicht versagt in seinen Bemühungen, für sie zu sorgen? Vielleicht hatte Lily ja Recht. Vielleicht hatte er sich wirklich immer auf die falschen Dinge konzentriert. Auf Beaumont, zum Beispi
10 Lily war stolz auf sich, weil sie sich auf dem Weg ins Erdgeschoss des Beaumont’schen Hauses nur ein Mal verlief. Aber der Umweg und ihr Magen, der sich über die lange Zeit, seit er das letzte Mal etwas bekommen hatte, vernehmlich beschwerte, hatten in ihr den Wunsch geweckt, jemand hätte eine Spur aus Brotkrumen gelegt. Sie wäre nicht nur nützlich gewesen, um ihr den Weg zu weisen, sie hätte auch gleich etwas Essbares gehabt, das ihr über die Zeit bis zum Frühstück hinweghalf, und selbst die Vorstellung, Brotkrumen vom Boden zu klauben, hatte etwas Verlockendes. Dieses Haus war einfach riesig, und sie war von irgendwo tief im Inneren des westlichen Flügels aufgebrochen, wo man ihr und Zach Zimmer zugewiesen hatte. Bei dem Gedanken daran vergaß sie ihren knurrenden Magen, und ihre Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. Zweifellos hatte die Frau, die ihnen die nebeneinander liegenden Zimmer gegeben hatte, angenommen, sie würde ihnen damit auf diskrete Weise einen Gefallen
11 Eine Chefköchin! Zach marschierte durch die Halle und eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die geschwungene Treppe hoch. Und nicht nur irgendeine unbedeutende Köchin, die sich mit einem schicken Titel schmückte, sondern, wenn er recht verstanden hatte, eine bestens ausgebildete Chefköchin. Er fluchte leise vor sich hin. Wenn er diese Vorstellung auch am liebsten mit einem verächtlichen Lachen abgetan hätte, musste er zugeben, dass sie sehr plausibel klang. Es gab doch nichts Schöneres, als sich wie ein kompletter Vollidiot zu fühlen. Plötzlich war er nicht einmal mehr davon überzeugt, dass, Beruf hin oder her, Lily hinter anderer Leute Geld her war, wie er ihr oft genug unterstellt hatte. Zu spät erkannte er den Fehler in seiner Logik, über den er sich schon ein paar Tage den Kopf zerbrach. Er hatte sie gefragt, ob sie befürchte, freie Kost und Logis zu verlieren, wenn er die Heirat von Glynnis und David verhinderte. Er griff sich an die Stirn. Es ist dir wohl nie in den Sin
12 Zach stieß einen Fluch aus und lief mit großen Schritten zur Treppe. Was, zum Teufel, war bloß in ihn gefahren? Er war ein erfahrener Stratege, verdammt noch mal. Aber wenn sich seine Schwester in der Gewalt eines Entführers befand und er neben dem Telefon sitzen sollte, oder sich zumindest in der Nähe eines Telefons aufhalten sollte, was tat er stattdessen? Er machte mit der kleinen Lily Morrisette herum! Er war wütend, nicht nur auf sich und den Entführer, sondern auch auf sie, weil sie ihn ständig in Versuchung führte. Und wenn er es recht bedachte ... Lily war ja nicht diejenige gewesen, die mit der Knutscherei angefangen hatte. Sie war nicht diejenige gewesen, die gesagt hatte: »Ich möchte Sie küssen«, und ihn dann gepackt und gegen die nächstbeste Wand gedrückt hatte. Dafür trägst du ganz allein die Verantwortung, Alter. Ein großer Fehler. Ein großer, großer Fehler. Trotzdem hielt sich seine Reue in Grenzen, seine Finger nicht von einer Frau gelassen zu haben, die so verführer
13 Allein in der Küche, schnitt, würfelte und hackte Lily alles, was ihr unter die Finger kam. Die Unruhe, die ihren Körper bis in die Zehenspitzen erfasst hatte, brannte auf ihrer Haut wie ein sich schnell ausbreitender Ausschlag. Sie bekam das Intermezzo mit Zach oben im Flur einfach nicht aus dem Kopf, sosehr sie sich auch darum bemühte. Wer hätte gedacht, dass ein so sturer und aggressiver Typ mit einer solchen Zärtlichkeit und Zurückhaltung küssen konnte? Zumindest anfänglich. Als er nämlich richtig in Fahrt gekommen war, da ... Ihr wurde heiß. Sie starrte vor sich hin, ohne etwas wahrzunehmen, als sie die paar viel zu kurzen Momente noch einmal durchlebte, das Messer in der einen Hand und die Kartoffel, die sie gerade in gleichmäßige Würfel schneiden wollte, in der anderen. Wieder spürte sie den Hunger, mit dem er sie geküsst hatte, erinnerte sich an seinen langen, harten Schwanz, der sich fest zwischen ihre Oberschenkel drückte, an die Bewegung seiner Hüften und die Hitze, die s
14 Zach erinnerte sich daran, natürlich. Er erinnerte sich an jede einzelne Sekunde. Er sah auf Lily hinunter, auf ihre Rundungen, die ihn ganz nervös machten, und ihre intensiv blauen Augen, die in sein tiefstes Inneres zu blicken schienen, und er konnte sich kaum zurückhalten, sie hochzuheben, auf das Bett zu werfen und sich auf sie zu stürzen. Verdammt. Er war ein Mann, der sich auf seine Selbstbeherrschung einiges einbildete — was hatte sie bloß an sich, das ihn jedes Mal, wenn sie sich begegneten, fast dazu brachte, eben diese Selbstbeherrschung zum Teufel zu jagen? Um sich davon abzuhalten, Lily einfach zu packen, verschränkte er die Hände hinter dem Rücken und nahm die bewährte Stehen-Sie-bequem-Haltung ein. Aber so einfach würde er sie nicht davonkommen lassen, damit sie ihm weiterhin fröhlich auf der Nase herumtanzen konnte. »Warum bist du wirklich gekommen?«, fragte er. »Willst du da weitermachen, wo wir aufgehört haben?« Sag Ja, dachte er inbrünstig. Sag einfach dieses klein
15 Lilys Arm rutschte von Zachs Hals und plumpste auf die Matratze. Ihm folgten ihre Beine, als sie von Zachs Schultern glitten, und sie lag matt und erschöpft da. So fühlte sich also richtig guter Sex an. Sie wollte nichts weiter als einfach daliegen und das Gewicht von Zachs reglosem Körper spüren — bis ihr plötzlich auffiel, dass sie ihn nicht atmen hörte, und sie war sie sich auch keineswegs sicher, ob das sein Herzschlag war, den sie da spürte, oder nicht doch ihr heftig klopfendes Herz. Unter Aufbietung aller Kräfte hob sie die rechte Hand und tätschelte seinen schweißbedeckten, muskulösen Rücken. »Lebst du noch?« »Weiß nicht«, murmelte er in ihre Halsbeuge. Aber eine seiner Hände bewegte sich und streichelte sie von der Achsel bis zur Hüfte und wieder zurück. »Vielleicht bin ich auch gestorben und befinde mich jetzt im Himmel.« Na, wenn das alles ist. Ich dagegen habe mich vielleicht verliebt — Nein. Erschrocken ließ sie die Hand sinken. Das ist nicht wahr, also denk so etwas ni
16 Am späten Nachmittag dieses Freitags suchte sich Lily auf der Terrasse ein sonniges, windgeschütztes Eckchen und streckte sich auf einem der Liegestühle aus, um die Aussicht zu genießen, von der sie immer wieder überwältigt war. Unterhalb der Terrasse blühten Frühlingsblumen in voller Pracht, und der leuchtend grüne, perfekt gepflegte Rasen erstreckte sich bis zu den zerklüfteten Klippen. Am Fuß der Klippen brandeten die Wellen gegen die Felsen, und auf der Wasseroberfläche tanzten die Schatten der über den Himmel ziehenden Wolken. Das Spiel der Farben und die über den ganzen Sund verstreut liegenden bewaldeten Inseln begeisterten sie jedes Mal aufs Neue, seit sich am Dienstagnachmittag der Nebel verzogen und den Blick darauf freigegeben hatte. Die Erinnerung an diesen Tag versetzte ihr einen kleinen Dämpfer. Dienstagnacht war ihr klar geworden, dass sie sich in Zach verliebt hatte, und sie war nicht gerade stolz darauf, dass sie sich mit diesem Problem noch immer nicht richtig ause
17 Unentschlossen, ob sie kämpfen oder fliehen sollte, blieb Lily wie erstarrt stehen. Sie sah Zach weiter oben am Hang im Lichtkegel einer Taschenlampe auftauchen, er blickte grimmig drein und hielt eine Pistole in der Hand, die ihrem ungeschulten Auge so groß wie eine Kanone erschien, und das Adrenalin schoss mit solcher Kraft durch ihre Adern, dass sie Angst hatte, ihr Herz würde zerspringen. Als hätte es noch eines weiteren Grundes bedurft, damit sie sich zu Tode ängstigte. Die ganze Situation versetzte sie ohnehin schon in Panik, und als er jetzt plötzlich noch auf dem Hügel auftauchte wie ein einsamer Soldat in einem Kriegsfilm, machte sie sich beinahe in die Hosen. Gleich darauf beschrieb der Lichtkegel, der sein Gesicht beschien, auch noch einen Kreis, und er verschwand vor ihren Augen, und da geriet sie vollends in Panik. Zuerst hatte sie um sich Angst gehabt. Nun hatte sie Angst um ihn. Diese Angst wich jedoch rasch einer rasenden Wut darüber, dass ihn irgendein gesichtsloser
18 Als am nächsten Morgen das Telefon klingelte, nahm Lily ab, bevor Zach aufwachen konnte, und flüsterte ein Hallo in den Hörer. Einen Augenblick blieb es still, dann sagte eine Männerstimme: »Sie müssen Lily sein. Geben Sie mir Zach.« Im Hintergrund hörte sie die Stimme einer Frau, die irgendwas von schlechten Manieren sagte, aber sie erwiderte nur: »Er schläft.« »Dann wecken Sie ihn auf. Sagen Sie ihm, Coop will ihn sprechen.« »Nein.« »Wie bitte?« Er hätte Zachs Zwillingsbruder sein können, so fassungslos klang er, dass sich jemand seinem Befehl widersetzte. »Nein, das werde ich nicht tun. Gestern Nacht sollte die Übergabe stattfinden, und das Ganze endete damit, dass Zach einen Schlag auf den Kopf bekommen hat. Ich werde ihn nicht stö—« »Hat er das Bewusstsein verloren?« »Ja.« »Länger als ein paar Minuten?« »Nein.« »Musste er ins Krankenhaus?« »Nein«, sagte sie zögernd, weil ihr nicht gefiel, welche Richtung das Gespräch zu nehmen begann. »Zach sagte, das sei nicht nötig.« »Nun, be
19 Niemand war zu sehen, als sie nach Hause zurückkehrten und Lily Jessica in ihre Wohnung begleitete. Nachdem ihr die Freundin versichert hatte, dass sie sich nur ein bisschen ausruhen musste, damit es ihr wieder besser ging, half ihr Lily ins Bett und brachte ihr einen feuchten Waschlappen, den sie sich über die Augen legen konnte. Es behagte ihr zwar nicht, Jessica allein zu lassen, aber da sie den Eindruck hatte, dass diese ganz froh wäre, eine Zeit lang niemanden sehen zu müssen, verließ sie schließlich das Zimmer. Einen kurzen Moment stand sie unschlüssig im Flur, dann machte sie sich auf die Suche nach Zach. Sie entdeckte ihn unten im Wohnzimmer, wo er mit großen Schritten zwischen den Terrassentüren und dem Kamin auf und ab ging. Sie blieb in der Tür stehen, als er gerade wieder den Kamin erreicht hatte. Er nahm eine kleine Porzellanfigur vom Kaminsims und warf sie nervös von einer Hand in die andere, ohne offensichtlich irgendeinen Gedanken an deren Wert zu verschwenden. Er ma
20 Zach gefror das Blut in den Adern, aber er behielt seine Hände unten, und seine Stimme war freundlich und ohne den geringsten drohenden Unterton, als er einen Schritt vortrat und sagte: »Ich glaube nicht, dass Sie das tun wollen, Richard.« Der Mann sah Zach an, als sei er nicht ganz bei Verstand. »Natürlich will ich das nicht tun! Ich hatte auch nie die Absicht, jemanden zu verletzen. Mein Plan war, mir das Geld zu schnappen und zu verschwinden, bevor David nach Hause kommt.« Er funkelte Zach wütend an. »Aber dann mussten Sie ja auftauchen und alles vermasseln.« In einer beschwichtigenden Geste streckte Zach beide Hände von sich weg, während er sich einen Millimeter weiter vorwagte. »Ich dachte, jemand hätte meine kleine Schwester entführt. Sie hätten sicher auch Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, wenn es um eine Ihrer Schwestern gegangen wäre.« Richard gab ein verächtliches Schnauben von sich und drückte den Doppellauf seiner Waffe gegen Glynnis’ Kinn. Ihre Augen waren schreckge
21 Der Sheriff war nicht besonders erfreut darüber, dass Mrs. Beaumont ihn nicht hinzugezogen hatte, bevor sich die Angelegenheit gewissermaßen von selbst erledigt hatte. Aber dieselbe Frau, die sich die ganze Zeit über am Rande der Hysterie bewegt hatte, begegnete nun der Missbilligung des Gesetzeshüters mit ungeheurer Gelassenheit, wie Lily erstaunt feststellte. Mrs. Beaumont war offensichtlich so glücklich über Davids und Glynnis’ sichere Heimkehr, dass es ihr egal war, ob der Sheriff verärgert war oder nicht. Als er dann aber seinen Zorn auf Zach richtete, fuhr sie dazwischen und übernahm die volle Verantwortung, indem sie ihm klar machte, dass sie gegen den ausdrücklichen Rat von Zach gehandelt hatte. Lily beobachtete fasziniert das kleine Drama, das sich vor ihren Augen entfaltete, aber schließlich riss sie sich doch davon los, um in die Küche zu gehen und ein spätes Mittagessen zuzubereiten. Es war seltsam, dachte sie, wie Leute in manchen Situationen wuchsen und in anderen völl
22 Zach starrte durch das Flugzeugfenster auf die Blitze, die über den Himmel zuckten. Seine Augen brannten vor Müdigkeit, und er konnte kaum noch sitzen. Glynnis lag schlafend auf seinem Schoß, ihre Arme hingen herunter, und ihr Kopf ruhte schwer auf seiner Brust. Hin und wieder ließ sie ein leises Schnarchen hören. Sie stank zum Himmel, aber da er sie nicht aufwecken wollte, wenn er ihre Windel wechselte, ignorierte er es. Sie waren seit dreiunddreißig Stunden unterwegs und hatten fünf Zwischenlandungen hinter sich, bei denen sie viermal das Flugzeug wechseln mussten, und die meiste Zeit war sie wach und quengelig gewesen. Während des Aufenthalts in Atlanta hatte sie ununterbrochen geheult, und als sie nach dem letzten Start endlich eingeschlafen war, war er nahe daran, ebenfalls in Tränen auszubrechen. Aber man hatte ihm aufgetragen, sich wie ein Mann zu benehmen und sich um seine kleine Schwester zu kümmern, deshalb hatte er es unterdrückt. Jetzt, da er für kurze Zeit der Pflicht e
23 Als Lily am nächsten Abend dem Oberkellner durch den eleganten Speisesaal des Rosario Resort folgte, fühlte sie sich alles andere als vernünftig. Das Lächeln wollte einfach nicht von ihren Lippen weichen, und als sie über ihre Schulter blickte und Zach dabei ertappte, wie seine Augen der Bewegung ihrer Hüften folgten, wurde es noch breiter. Sie drohte ihm kurz mit dem Zeigefinger, als er zu ihr aufblickte, dann versuchte sie, wieder ein unbeteiligtes Gesicht zu machen, als der Empfangschef an einem Fenstertisch stehen blieb, von dem aus sie die Bucht überblicken konnten, und ihr den Stuhl zurechtrückte. Sie dankte ihm und hatte ihn im nächsten Augenblick vergessen, als sie sich zu ihrem Liebhaber beugte, der ihr gegenüber an dem mit einem blütenweißen Leinentischtuch bedeckten Tisch Platz genommen hatte. Ihr Liebhaber. Sie ließ sich das Wort durch den Kopf gehen, und ein Kribbeln durchfuhr sie bis in die Zehenspitzen, die in Pumps mit Stiletto-Absätzen steckten, als sie daran dachte
24 Miguel warf seiner kurvenreichen Gefangenen einen triumphierenden Blick zu, als er langsam über die Rosario Road in Richtung Highway fuhr. Der Anblick ihrer gefesselten Hände und der Ausdruck von Unsicherheit auf ihrem Gesicht erfüllten ihn mit größter Befriedigung. Er war bester Laune und konnte nur mit Mühe stillsitzen. »Das ist das dritte Mal, dass wir uns begegnen«, sagte sie, als er sie wieder einmal ansah und sich ihre Blicke trafen. »Wer sind Sie eigentlich?« Einschüchterung war eine sehr wirksame Waffe – das hatte ihm der Comandante beigebracht –, und Miguel bedachte die Frau seines Feindes mit seinem eisigsten Blick, um dann zu knurren: »Dein schlimmster Albtraum.« Ha! Er wollte diesen Satz sagen, seit er ihn in der Nacht, in der er mit den GIs Karten spielte, im Fernsehen gehört hatte. Solch drohende Worte verdienten eine respektvolle Reaktion – zumindest aber eine, die ein kleines bisschen ehrerbietiger war als das bittere Lachen, das seine Gefangene jetzt hören ließ. »He
25 Lily hatte entschieden zu viele Horrorfilme gesehen. Als sie vom Schweinwerferkegel des Autos erfasst wurde, während sie am Straßenrand entlanglief, war sie so erschrocken, dass das Erste, was ihr in den Sinn kam, Szenen aus solchen Filmen waren: Frau wird zerhackt/aufgeschlitzt /zersägt von einem aus dem Nichts auftauchenden, unsichtbaren Killer. Eine neue Woge Adrenalin durchflutete sie, und da ihr ein Kampf an diesem Abend vollauf reichte, beschloss sie zu fliehen. Das Schlimmste an der ganzen Angelegenheit war – sie hatte sich selbst in diese furchtbare Lage gebracht. Nachdem sie Miguel entkommen war, hatte es allein in der Dunkelheit nur fünf Minuten gedauert, bis sie gemerkt hatte, wie dumm sie gewesen war. Statt die Autoschlüssel an sich zu nehmen, um diesen Idioten davon abzuhalten, hinter ihr herzujagen, sobald er wieder zu Bewusstsein kam, hätte sie ihn aus dem Auto stoßen und losfahren sollen. Diese Wildnis, in der überall schwarze Schatten lauerten, war einfach kein Ort
26 Lily hatte keine Lust mehr zu weinen. In den vergangenen Stunden hatte sie genug Tränen vergossen, um eine ganze Flotte darauf in See stechen zu lassen, deshalb biss sie die Zähne zusammen und unterdrückte die Tränen, während sie ihre Habseligkeiten in die Kartons warf, die sie aus der Garage geholt und in ihr Schlafzimmer in Glynnis’ Haus in Laguna Beach geschleppt hatte. Zwei der Kartons waren bereits bis zum Rand mit Schuhen gefüllt – wann, um Himmels willen, hatte sie bloß all diese Schuhe gekauft? Sie hätte schwören können, dass es bei ihrem Einzug noch nicht so viele gewesen waren. Als ob das von Bedeutung wäre, Lily. Sie zuckte die Schultern. Das Einzige, was jetzt zählte, war, von hier weg zu sein, wenn Zach von Orcas zurückkam. Deshalb hatte sie sofort mit dem Packen begonnen, nachdem mit Mimi geklärt war, dass sie ein paar Tage auf der Couch ihrer Freundin schlafen konnte, bis sie eine eigene Wohnung gefunden hatte. Sie kannte ein paar Restaurants, die jederzeit bereit war
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