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SUBSTANZEN

Die Schreie der Vögel, die dort draußen nisten, und der ferne Ozean, der die Ersatzriffe aus rostigen Autoteilen, aufgeschütteten Ziegelsteinen und Gerümpel aller Art abschmirgelt, klingen beinahe wie Urlaubsverkehr.

Margaret Atwood, Oryx und Crake

 

 

Chemikalien haben in der modernen Gesellschaft keinen guten Ruf. Man sagt uns ständig, ein bestimmtes Lebensmittel sei gesund, weil es keine synthetischen Chemikalien enthalte, und ich habe sogar Werbeanzeigen für angeblich »chemie-freies« Flaschenwasser gesehen. Tatsache ist jedoch, dass reines Wasser selbst eine Chemikalie ist, ebenso wie alle Stoffe, aus denen unser Körper besteht. Sogar schon bevor die Menschheit sesshaft wurde und in Mesopotamien die ersten Städte gegründet wurden, hing unser Leben von der gezielten Gewinnung, Verarbeitung und Nutzanwendung natürlicher Chemikalien ab. Im Lauf der Jahrhunderte haben wir neue Methoden entwickelt, um verschiedene Substanzen aus anderen herzustellen; dabei wandeln wir diejenigen, die wir am leichtesten aus unserer Umwelt gewinnen können, in diejenigen um, die wir am dringendsten benötigen, und wir produzieren die Rohstoffe, mit denen unsere Zivilisation aufgebaut worden ist. Unser Erfolg als Spezies verdankt sich nicht nur der Tatsache, dass wir Ackerbau und Viehzucht beherrschen oder Werkzeuge und mechanische Apparate verwenden, um unseren Arbeitsaufwand zu verringern; er ist auch darauf zurückzuführen, dass wir uns hervorragend darauf verstehen, chemische Stoffe und Materialien mit erwünschten Eigenschaften herzustellen.

Die verschiedenen Klassen chemischer Verbindungen gleichen dem Werkzeugkasten eines Tischlers; jede eignet sich für eine bestimmte Aufgabe, und wir verwenden sie, um Rohstoffe in benötigte Produkte umzuwandeln, wobei wir verschiedene Werkzeuge für bestimmte Aufgaben benutzen. Wir werden sehen, dass lange, kettenartige Kohlenwasserstoffverbindungen sich gut als Energiespeicher eignen und zugleich wasserabstoßend sind, so dass sie für die Herstellung wetterbeständiger Kleidung unverzichtbar sind. Wir werden uns verschiedene Lösungsmittel ansehen, die zur Extraktion oder Reinigung verwendet werden, und untersuchen, wie Laugen und ihre chemischen Pendants, Säuren, durch die gesamte Geschichte hindurch für eine ganze Reihe wichtiger Operationen verwendet wurden. Wir werden sehen, dass einige Chemikalien andere dadurch »reduzieren« können, dass sie ihnen Sauerstoff entziehen – eine fundamentale Fähigkeit zur Herstellung reiner Metalle –, während andere Oxidationsmittel sind, die den gegenteiligen Effekt haben und zum Beispiel die Verbrennung beschleunigen. Später in diesem Buch werden wir die chemischen Prozesse kennenlernen, die elektrische Energie erzeugen, andere, die uns erlauben, Licht einzufangen und so Fotos zu machen, und wieder andere, die jäh einen starken Energieimpuls freisetzen und aus denen sich daher Sprengstoffe herstellen lassen.

Ich konzentriere mich hier auf einige der Substanzen, die sofort sehr nützlich sein werden, eine sehr kleine Teilmenge der Gesamtheit. Die Chemie in ihrer ganzen Fülle ist ein riesiges Netzwerk von Verbindungen, möglichen Umwandlungen und Konversionen zwischen verschiedenen Verbindungen, und es bedarf gewaltiger postapokalyptischer Aufholanstrengungen, um die vielen Merkmale dieses Territoriums erneut zu erkunden, die effizientesten Methoden auszukundschaften, die idealen Mischungsverhältnisse der Reaktanden wiederzuentdecken und die richtigen chemischen Formeln und Molekularstrukturen zu ermitteln.

 

Die Bereitstellung von Wärmeenergie

 

Im Lauf der Zeit hat es die Menschheit verstanden, Verbrennungsprozesse immer besser zu kontrollieren und zu beherrschen – und sich so die Kraft des Feuers zunutze gemacht. Viele der Grundfunktionen der Zivilisation beruhen auf chemischen oder physikalischen Umwandlungen, die von Wärme angetrieben werden: das Schmelzen, Schmieden und Gießen von Metallen; die Erzeugung von Glas, die Raffination von Salz, die Herstellung von Seife, das Kalkbrennen, das Brennen von Backsteinen, Dachziegeln und tönernen Wasserrohren, das Bleichen von Textilien, das Backen von Brot, das Brauen von Bier und das Brennen von Schnaps, nicht zu vergessen die Bereitstellung der Energie für die fortgeschrittenen Solvay- und Haber-Bosch-Verfahren, auf die wir in einem späteren Kapitel zurückkommen werden. Kurze Feuerstöße, die in den Kolben der Verbrennungsmotoren eingesperrt sind, treiben unsere Pkws und Lkws an, und jedes Mal, wenn Sie den Lichtschalter bei sich zu Hause anknipsen, benutzen Sie höchstwahrscheinlich noch immer Feuer, wenn auch Feuer, das an einem fernen Ort eingefangen und aus dem Energie gewonnen, umgewandelt und dann durch Leitungen zu Ihrer Glühbirne geschickt wurde. Unsere moderne, technologische Zivilisation ist genauso abhängig von der grundlegenden Technik des Feuermachens wie unsere Vorfahren, als sie in den ältesten menschlichen Siedlungen an einer Feuerstelle kochten.

Heute stammt ein Großteil der Wärmeenergie, die wir benötigen, entweder direkt oder indirekt (über Elektrizität) aus der Verbrennung fossiler Energieträger: Erdöl, Kohle oder Erdgas. Tatsächlich war eine der wichtigsten Technologien, die die industrielle Revolution ermöglichte, die Herstellung von Koks aus Kohle und die Nutzung dieses Brennstoffs für viele der oben aufgelisteten technischen Prozesse, insbesondere für das Schmelzen von Eisen und die Stahlherstellung. Seither wurde der mit dem Fortschritt unserer Zivilisation stetig wachsende Energiebedarf nicht auf nachhaltige Weise gedeckt, nämlich durch Erneuerung dessen, was verbraucht wurde, sondern durch das Ausplündern fossiler Brennstoffvorkommen – Energie, die in umgewandelten Pflanzenresten eingefangen wurde, die sich über Jahrmillionen anhäuften.

Eine Gesellschaft, die durch eine Apokalypse auf ein primitives Entwicklungsniveau zurückgeworfen wird, hat möglicherweise Schwierigkeiten, ihren Bedarf an Wärmeenergie zu decken, sobald die Vorräte in den Tankstellen oder Gasdepots aufgebraucht sind. Der größte Teil der leicht zugänglichen, qualitativ hochwertigen Vorkommen fossiler Brennstoffe ist bereits erschöpft: Die Fülle der angehäuften, »abholbereiten« Energie, die es uns im ersten zivilisatorischen Entwicklungsprozess leicht machte, ist verbraucht. Erdöl findet sich nicht länger in oberflächennahen Lagerstätten, und Bergarbeiter sind gezwungen, sich immer tiefer in die Eingeweide der Erde hineinzugraben, was ausgeklügelte Techniken der Entwässerung, Belüftung und Vorsorge gegen Einsturz erfordert.13 Weltweit gibt es nach wie vor riesige Kohlevorkommen: Die USA, Russland und China verfügen zusammengenommen über mehr als 500 Milliarden Tonnen, wobei jedoch ein Großteil der leicht erreichbaren Vorkommen bereits ausgebeutet wurde. Einige Gruppen postapokalyptischer Überlebender haben vielleicht das Glück, sich in der Nähe oberflächennaher Kohlevorkommen zu befinden, die im Tagebau abgebaut werden können. Dennoch dürfte die neustartende Zivilisation zu einem grünen Reboot gezwungen sein.

Wie wir in Kapitel 1 sahen, werden in den ersten Jahrzehnten nach der Katastrophe Wälder die ländlichen Regionen, aber auch verlassene Städte zurückerobern. Einer kleinen Population von Überlebenden wird es nicht an Feuerholz fehlen, insbesondere wenn sie kleine Gehölze aus schnell wachsenden Bäumen unterhalten. Sobald eine Esche oder Weide gefällt wurde, wird aus ihrem Stumpf ein neuer Baum sprießen und innerhalb von fünf bis zehn Jahren erneut abgeerntet werden können, so dass ein Hektar Kulturwald jedes Jahr im Schnitt zwischen fünf und zehn Tonnen Holz liefern kann. Holzstämme eignen sich für eine Feuerstelle, die das Haus wärmt, aber für die praktischen Anwendungen während des langen Erholungsprozesses benötigt man einen Brennstoff, der viel heißer brennt als Holz. Und dies erfordert die Wiederbelebung einer sehr alten Praktik: die Herstellung von Holzkohle.

Holz wird bei gedrosselter Luftzufuhr verbrannt, um die Verfügbarkeit von Sauerstoff zu beschränken, so dass es nicht vollständig verbrennen kann, sondern stattdessen verkohlt. Flüchtige Substanzen wie Wasser und andere kleine Moleküle, die sich leicht in Gas verwandeln, werden aus dem Holz herausgetrieben, und dann werden die komplexen Verbindungen, aus denen sich Holz zusammensetzt, selbst durch die Wärme zerlegt – das Holz wird pyrolisiert (thermisch zersetzt) –, bis schließlich schwarze Klumpen aus fast reinem Kohlenstoff übrig bleiben. Diese Holzkohle verbrennt nicht nur unter sehr viel höheren Temperaturen als ihr Mutterholz – weil sie bereits alle Feuchtigkeit verloren hat und nur kohlenstoffhaltiger Brennstoff übrig bleibt –, der Verlust von etwa der Hälfte des ursprünglichen Gewichts bedeutet zudem, dass sie viel kompakter und leichter zu transportieren ist.

Die herkömmliche Methode, die für diese anaerobe Umwandlung von Holz benutzt wurde – das spezielle Handwerk des Köhlers –, bestand darin, einen Scheiterhaufen aus Holzscheiten mit einem zentralen offenen Schacht zu bauen und anschließend den ganzen Hügel mit Erde oder Rasen zu bedecken. Der Haufen wird durch ein Loch an der Spitze angezündet, und dann wird der schwelende Kohlenmeiler mehrere Tage lang überwacht und die Luftzufuhr sorgfältig reguliert. Sie können ähnliche Ergebnisse leichter erzielen, wenn Sie einen langen Graben ausheben und mit Holz füllen, ein loderndes Feuer entzünden und den Graben mit Wellblech bedecken, das Sie irgendwo aufgestöbert haben; schließlich häufen Sie Erde darauf, um die Sauerstoffzufuhr abzuschneiden. Lassen Sie das Ganze verschwelen und abkühlen. Holzkohle wird sich, weil es ein sauber verbrennender Brennstoff ist, als unverzichtbar für den Neustart wichtiger Industriezweige erweisen: etwa für die Herstellung von Töpferware, Ziegelsteinen, Glas und Metallen, worauf wir im nächsten Kapitel zurückkommen werden. Wenn Sie sich in einer Region mit leicht zugänglichen Kohlenfeldern befinden, werden diese abermals eine unwiderstehliche Quelle von Wärmeenergie sein. Eine einzige Tonne Kohle liefert so viel Wärmeenergie wie das Brennholz, das ein halber Hektar Buschwald pro Jahr liefert. Das Problem an Kohle ist, dass sie nicht mit so hohen Temperaturen verbrennt wie Holzkohle. Außerdem ist sie ziemlich schmutzig – die Rauchschwaden verderben womöglich Produkte, die unter Verwendung der in Kohle aufgespeicherten Wärmeenergie hergestellt wurden, wie etwa Brot oder Glas, und Schwefel-Unreinheiten machen Stahl spröde, so dass er sich nur schwer schmieden lässt.14 Der entscheidende Trick bei der Nutzung von Kohle besteht darin, sie zuerst zu verkoken, ein Vorgang, der an die Umwandlung von Holz in Holzkohle erinnert. Kohle wird in einem Brennofen unter Sauerstoffabschluss gebacken, um Verunreinigungen und flüchtige Stoffe auszutreiben, die, wie die Produkte der Trockendestillation von Holz (vgl. S. 134ff.), ihre eigenen vielfältigen Nutzanwendungen haben und kondensiert und gesammelt werden sollten.

Bei der Verbrennung wird auch Licht erzeugt, und während die sich erholende Gesellschaft Stromnetze instand setzt und die Glühbirne neu erfindet, sind die unmittelbaren Überlebenden auf Öllampen und Kerzen angewiesen.15 Pflanzenöle und tierische Fette eignen sich aufgrund ihrer chemischen Zusammensetzung besonders gut als verdichtete Energiequellen für die kontrollierbare Verbrennung. Das wichtigste Merkmal dieser Verbindungen sind ihre langen Kohlenwasserstoffketten: lange Ketten aus Kohlenstoffatomen mit seitlich angesetzten Wasserstoffatomen, die die Flanken wie stummelige Raupenbeine zieren. Energie ist in den chemischen Bindungen zwischen den verschiedenen Atomen enthalten, und daher stellen die langen Kohlenwasserstoffmoleküle energiereiche Reservoire dar, die darauf warten, aufgeschlossen zu werden. Bei der Verbrennung wird dieses große Molekül auseinandergerissen, und alle Atome vereinigen sich mit Sauerstoff: Die Wasserstoffatome verbinden sich mit Sauerstoff zu H2O, Wasser, während die Kohlenstoff-Hauptkette zerfällt und als Kohlendioxidgas entweicht. Die schnelle Zerlegung langer Fettmoleküle während der Oxidation setzt einen Sturzbach von Energie frei – das wärmende Glühen einer Kerzenflamme.

Eine Öllampe kann in ihrer einfachsten Form eine tönerne Schale mit einer kleinen Schnauze oder Öffnung oder auch nur eine große Muschelschale sein. Ein aus Pflanzenfasern wie Flachs oder einfach aus Binsen bestehender Docht zieht den flüssigen Brennstoff aus dem Reservoir nach oben, wo er unter Einwirkung der Flammenhitze verdampft und dann verbrennt. Paraffin (Kerosin) ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein weitverbreiteter flüssiger Brennstoff für Glaslampen (und treibt heute auch Passagierflugzeuge über den Wolken an), aber es wird durch fraktionierte Destillation aus Rohöl gewonnen und wäre daher nach dem Zusammenbruch der modernen technischen Zivilisation nur schwer herzustellen. Allerdings genügt jede ölige Flüssigkeit: Raps- oder Olivenöl oder auch Ghee aus geklärter Butter.

Eine Kerze benötigt gar keinen Behälter, weil der Brennstoff fest bleibt, bis er in unmittelbarer Nähe der Flamme eingeschmolzen wird – daher ist eine Kerze nichts anderes als ein Zylinder aus festem Brennstoff, durch dessen Mitte der Docht verläuft. In dem Maße, wie sie herunterbrennt, wird mehr Docht freigelegt, so dass eine größere, stärker rußende Flamme entsteht, es sei denn, Sie stutzen den Docht regelmäßig. Eine Innovation, auf die man erst 1825 kam, besteht darin, die Fasern des Dochts zu einem flachen Band zu flechten, so dass er sich von selbst umbiegt und das überschüssige Stück von der Flamme verzehrt wird.

Moderne Kerzen bestehen aus Wachs, das ein Nebenprodukt der Erdölverarbeitung ist, und Bienenwachs wird nur in begrenztem Umfang verfügbar sein, aber Sie können aus ausgelassenem tierischem Fett eine Kerze herstellen, die ihren Zweck hervorragend erfüllt. Kochen Sie Fleischabfälle in Salzwasser und schöpfen Sie die hart werdende Schicht aus schwimmendem Fett von der Oberfläche ab. Eine Kerze aus Schweinefett stinkt und rußt stark, während Rindertalg und Schafsfett passabel sind. Füllen Sie geschmolzenen Talg in eine Gießform oder tauchen Sie eine Reihe locker hängender Dochte in heißen Talg, um sie zu beschichten, lassen Sie diese an der Luft abkühlen und erstarren. Wiederholen Sie das Ganze und bauen Sie so eine Schicht nach der anderen auf, bis Sie hinreichend große Kerzen haben.

 

Kalk

 

Die Substanz, die eine sich erholende postapokalyptische Gesellschaft am dringendsten benötigt, wenn sie aus eigener Kraft mit dem Bergbau und der Veredelung von Rohstoffen beginnen will, ist Calciumcarbonat. Es hat vielfältige Funktionen, die für die grundlegenden Aktivitäten jeder Zivilisation absolut unverzichtbar sind. Mit Hilfe dieser einfachen Verbindung und ihren leicht herzustellenden Derivaten lassen sich die landwirtschaftliche Produktivität wiederherstellen, die Hygiene gewährleisten und Trinkwasser reinigen, Metalle schmelzen und Glas herstellen; sie stellt auch einen wichtigen Grundstoff für den Wiederaufbau bereit und liefert unverzichtbare Reagenzien für den Neustart der chemischen Industrie.

Korallen und Meeresmuscheln sind sehr reine Quellen von Calciumcarbonat, ebenso Kreide. Tatsächlich ist Kreide ihrerseits ein biologisches Gestein – die Kreidefelsen von Dover sind im Grunde nichts anderes als eine 100 Meter dicke Platte aus verdichteten Muschelschalen von einem urzeitlichen Meeresboden. Die am weitesten verbreitete Quelle von Calciumcarbonat ist jedoch Kalk. Zum Glück ist Kalk relativ weich und lässt sich ohne große Mühe mit Hämmern, Meißeln und Kreuzpickeln aus der Abbauwand eines Steinbruchs herausbrechen. Alternativ kann die Stahlachse eines ausgeschlachteten Kraftfahrzeugs zu einem spitzen Ende geschmiedet und als Sprungbohrer verwendet werden, den man wiederholt auf die Felswand fallen lässt oder gegen sie stößt, um Reihen von Löchern zu erzeugen. Rammen Sie hölzerne Dübel in diese hinein und halten Sie sie feucht, so dass sie anschwellen und schließlich den Felsen sprengen. Sie sollten freilich möglichst schnell Sprengstoffe neu erfinden und Sprengladungen verwenden, die Ihnen diese zermürbende Arbeit abnehmen.

Calciumcarbonat selbst wird routinemäßig als »Düngekalk« auf Felder ausgebracht, um ihre Ertragskraft zu steigern. Es lohnt sich durchaus, saure Böden mit Kalksteinmehl zu bestreuen, um wieder einen möglichst neutralen pH-Wert zu erreichen. Saure Böden verringern die Verfügbarkeit der essentiellen Pflanzennährstoffe, die wir in Kapitel 3 diskutiert haben, insbesondere von Phosphor, so dass die von Ihnen angebauten Feldfrüchte nicht genügend Nahrung erhalten. Die Kalkung von Feldern steigert die Wirksamkeit sämtlicher Stall- und chemischen Dünger, die Sie ausbringen.

Es sind jedoch vor allem die chemischen Umwandlungen, welche Kalkstein bei Erhitzung durchmacht, die für ein breites Spektrum zivilisatorischer Bedürfnisse besonders nützlich sind. Wird Calciumcarbonat in einem hinreichend heißen Ofen gebrannt – einem Ofen, der eine Temperatur von mindestens 900°C erreicht –, zersetzt sich das Mineral und zerfällt unter Freisetzung von Kohlendioxid zu Calciumoxid. Dieses wird auch gebrannter Kalk oder Ätzkalk genannt. Branntkalk ist eine stark ätzende Substanz, die in Massengräbern verwendet wird – was nach der Apokalypse durchaus nötig sein mag –, um die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern und den Verwesungsgeruch einzudämmen. Eine andere vielseitig verwendbare Substanz erhält man dadurch, dass man diesen Ätzkalk vorsichtig mit Wasser reagieren lässt. Das englische Wort für Branntkalk, »quicklime«, leitet sich vom altenglischen cwic her, was »belebt« oder »lebend« bedeutet, da Branntkalk so heftig mit Wasser reagiert und dabei eine siedende Hitze freisetzt, dass er geradezu lebendig wirkt. Chemisch gesprochen, reißt das Calciumoxid die Wassermoleküle auseinander und erzeugt auf diese Weise Calciumhydroxid, das auch Löschkalk oder Gerberkalk (Äscher) genannt wird.

Löschkalk ist stark alkalisch und ätzend und lässt sich vielfältig nutzen. Wenn Sie einen sauberen weißen Anstrich wünschen, um Gebäude in heißen Klimazonen kühl zu halten, dann sollten Sie Löschkalk mit Kreide mischen und daraus eine Tünche herstellen. Löschkalk kann auch zur Behandlung von Abwasser verwendet werden; er sorgt dafür, dass sich winzige Schwebeteilchen zusammenlagern und anschließend am Boden ein Sediment bilden, so dass klares Wasser übrig bleibt, das weiter aufbereitet werden kann. Er ist außerdem ein sehr wichtiger Baustoff, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass wir ohne Löschkalk schlichtweg keine Städte hätten, so wie wir sie kennen. Wie aber wandelt man überhaupt Gestein in Branntkalk um?

Moderne Kalkwerke benutzen rotierende Stahltrommeln mit ölbefeuerten Einspritzdüsen zum Backen von Branntkalk, aber in der postapokalyptischen Welt werden Sie auf einfachere Methoden angewiesen sein. Wenn Sie sich wirklich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen wollen, können Sie Kalk in der Mitte eines großen Holzfeuers in einer Grube brennen. Anschließend zermahlen und löschen Sie die so produzierten kleinen Kalkmengen und benutzen diese zur Herstellung eines Mörtels, aus dem Sie einen leistungsfähigeren, mit Ziegeln ausgekleideten Brennofen bauen, der eine effizientere Branntkalk-Produktion erlaubt.

Die beste Lowtech-Option zum Kalkbrennen ist der Schachtofen mit gemischter Beschickung: Es handelt sich im Grunde um einen hohen Kamin, der mit abwechselnden Schichten aus Brennstoff und dem zu brennenden Kalkstein gefüllt wird. Schachtöfen werden oft in die Flanke eines steilen Hügels hineingesetzt, sowohl zur baulichen Abstützung als auch zur zusätzlichen Isolation. In dem Maße, wie der Kalkstein, mit dem der Ofen beschickt wird, in dem Schacht nach unten wandert, wird er zunächst durch die aufsteigende heiße Zugluft vorgewärmt und getrocknet und dann in der Verbrennungszone gebrannt, bevor er am Boden abkühlt; der bröcklige gebrannte Kalk kann durch Zugangsöffnungen mit einem speziellen Rechen (Krähl) herausgeholt werden. Während der Brennstoff zu Asche verbrennt und der Branntkalk am Boden herausrieselt, können Sie den Ofen mit weiteren Schichten aus Brennstoff und Kalkstein beschicken, so dass er zeitlich unbegrenzt betrieben werden kann.

Um den Branntkalk zu löschen, benötigen Sie ein flaches Wasserbecken. Sie könnten zu diesem Zweck eine alte Badewanne benutzen, die Sie irgendwo aufgetrieben haben. Der Trick besteht darin, ständig Branntkalk zuzuführen, so dass das Gemisch immer knapp unter dem Siedepunkt bleibt, wobei die freigesetzte Wärme den zügigen Ablauf der chemischen Reaktion gewährleistet. Die so erzeugten Feinpartikel färben das Wasser in der Wanne milchig, bevor sie sich nach und nach auf dem Boden absetzen und miteinander verkleben, während die Masse mehr und mehr Wasser aufsaugt. Wenn Sie das Kalkwasser ableiten, bleibt ein breiiger Schlamm aus gelöschtem Kalkteig zurück. Wir werden in Kapitel 11 sehen, wie man aus dem Kalkwasser Schießpulver herstellen kann; hier wollen wir uns zunächst einmal eine besonders nützliche Anwendung von Löschkalk ansehen, nämlich als Zutat bei der Herstellung einer chemischen Waffe gegen marodierende Horden von Mikroorganismen.

 

Seife

 

Seife lässt sich leicht aus einfachen Materialien herstellen, die in Ihrer natürlichen Umgebung vorkommen, und sie wird ein unverzichtbarer Stoff sein, um die Wiederkehr vermeidbarer Infektionskrankheiten zu verhindern. Studien über Gesundheitserziehung in der Dritten Welt haben gezeigt, dass fast die Hälfte aller Magen-Darm- und Atemwegs-infektionen allein durch regelmäßiges Händewaschen vermieden werden könnte.

Öle und Fette sind die Ausgangsstoffe aller Seifen. Wenn Sie daher beim Zubereiten des Frühstücks aus Unachtsamkeit Ihr Hemd mit Schmalz bespritzen, lässt sich der Stoff, mit dem Sie die Flecken wieder herauswaschen können, selbst aus Schmalzöl gewinnen. Seife entfernt Fettflecken aus Ihrer Kleidung und wäscht das mit Bakterien belastete Öl von Ihrer Haut, weil sie sich ohne weiteres sowohl mit fetthaltigen Verbindungen als auch mit Wasser vermengt, die sich ihrerseits nicht miteinander vermischen. Ein ganz besonderes Molekül ist für dieses ungewöhnliche Verhalten verantwortlich: ein langer Kohlenwasserstoffschwanz, der gut an Fett- und Ölmoleküle bindet, und ein geladener Kopf, der sich gut in Wasser löst. Ein Öl- oder Fettmolekül setzt sich seinerseits aus drei »Fettsäure«-Kohlenwasserstoffketten zusammen, die alle mit einem Verbindungsstück verknüpft sind. Der entscheidende Schritt bei der Seifenherstellung, die sogenannte Verseifungsreaktion, besteht darin, die chemischen Bindungen, welche die drei Fettsäuren am Verbindungsstück befestigen, aufzusprengen. Eine ganze Kategorie von Chemikalien, die sogenannten Alkalien, leisten genau dies, indem sie diese Bindung aufschließen (»hydrolisieren«). Alkalien sind die Antipoden von Säuren, und wenn die beiden aufeinandertreffen, neutralisieren sie sich gegenseitig, wobei Wasser und ein Salz entstehen. So wird zum Beispiel gewöhnliches Tafelsalz, Natriumchlorid, durch Neutralisierung des alkalischen Natriumhydroxids mit Salzsäure gebildet.

Um Seife zu machen, müssen Sie daher ein Fettsäuresalz herstellen, indem Sie Schweineschmalz mit einem Alkali aufschließen. Auch wenn sich Öl und Wasser nicht mischen, kann dieses Fettsäuresalz seinen langen Kohlenwasserstoffschwanz zwischen die Ölmoleküle einbetten und seinen Kopf herausstrecken, so dass es sich im umgebenden Wasser lösen kann. Überzogen mit einer Schicht dieser langen Moleküle, wird ein kleines Öltröpfchen mitten in dem Wasser stabilisiert, von dem es abgestoßen wird, und auf diese Weise lässt sich Fett von Haut oder Gewebe ablösen und abwaschen. Die Flasche mit »stärkendem, belebendem, feuchtigkeitsspendendem, tiefenreinigendem Meeresschaum«-Duschgel für Männer in meinem Bad listet fast dreißig Inhaltsstoffe auf. Aber neben all den schaumbildenden Mitteln, Stabilisatoren, Konservierungsstoffen, Gelier- und Bindemitteln, Duft- und Farbstoffen ist der eigentliche Wirkstoff noch immer ein seifenähnlicher, milder, oberflächenaktiver Stoff auf der Basis von Kokos-, Oliven-, Palm- oder Rizinusöl.

Die dringende Frage lautet daher, wo man in einer postapokalyptischen Welt ohne Lieferanten von Reagenzien ein Alkali herbekommt. Die gute Nachricht ist, dass Überlebende auf alte chemische Extraktionstechniken und auf eine Quelle zurückgreifen können, von der man es am wenigsten erwartet hätte: Asche.

Die trockenen Rückstände eines Holzfeuers bestehen größtenteils aus nicht brennbaren anorganischen Verbindungen, die der Asche ihre weiße Farbe geben.

Der erste Schritt beim Wiederaufbau einer primitiven chemischen Industrie ist verlockend einfach: Schütten Sie die Asche in einen Topf Wasser. Der nicht verbrannte schwarze Holzkohlenstaub schwimmt an der Oberfläche, und viele der im Holz enthaltenen Mineralien sind nichtlöslich und lagern sich daher als Sediment am Boden des Topfes ab. Sie aber wollen die im Wasser gelösten Mineralstoffe gewinnen.

Schöpfen Sie den an der Oberfläche schwimmenden Holzkohlenstaub ab und gießen Sie die Wasserlösung in ein anderes Gefäß, wobei Sie sorgfältig darauf achten sollten, den nicht gelösten Bodensatz zurückzuhalten. Vertreiben Sie das Wasser aus dem neuen Gefäß, indem Sie es so lange kochen, bis es sich vollständig verflüchtigt hat und eine trockene Masse übrig bleibt, oder, wenn Sie in einer heißen Klimazone leben, gießen Sie die Lösung in weite, flache Pfannen und lassen Sie sie in der Sonne trocknen. Übrig bleibt ein kristalliner weißer Rückstand, der fast wie Salz oder Zucker aussieht und Pottasche genannt wird. (Tatsächlich leitet sich der moderne chemische Name, Potassium, für das vorherrschende Metallelement in Pottasche von diesem volkstümlichen Namen ab.) Sie sollten darauf achten, Pottasche nur aus den Rückständen eines Holzfeuers zu gewinnen, das auf natürliche Weise herunterbrannte und nicht mit Wasser begossen wurde oder Regen ausgesetzt war. Sonst sind die löslichen Mineralstoffe, die uns interessieren, bereits fortgespült worden.

Die weißen Kristalle, die zurückbleiben, bestehen letztlich aus einem Gemisch chemischer Verbindungen, aber der Hauptbestandteil von Holzasche ist Kaliumcarbonat. Wenn Sie stattdessen einen Haufen getrockneten Seetang verbrennen und den gleichen Extraktionsprozess durchführen, können Sie sogenanntes calciniertes Soda beziehungsweise Natriumcarbonat herstellen. An der Westküste von Schottland und Irland war das Sammeln und Verbrennen von Tang jahrhundertelang ein bedeutender lokaler Wirtschaftszweig. Aus Seetang lässt sich zudem Jod gewinnen, ein dunkelviolettes Element, das als Desinfektionsmittel für Wunden sehr nützlich ist, aber auch in der Fotochemie viel verwendet wird (darauf kommen wir noch zurück).

Mit dem oben beschriebenen Verfahren können Sie aus jedem Kilogramm Holz- oder Seetangasche etwa ein Gramm Kalium- oder Natriumcarbonat gewinnen – das entspricht einer Ausbeute von 0,1 Prozent. Pottasche und Soda sind jedoch so nützliche Verbindungen, dass es sich durchaus lohnt, sie zu extrahieren und zu reinigen, und denken Sie daran – Sie können die Hitze des Feuers zunächst für andere Anwendungen nutzen. Holz dient deshalb als ein natürliches Vorratslager für diese Verbindungen, weil das Wurzelgeflecht des Baumes jahrzehntelang aus einem riesigen Bodenvolumen Wasser und gelöste Mineralien aufgenommen hat, und diese können anschließend durch Verbrennen konzentriert werden.

Sowohl Pottasche als auch Soda sind Alkalien; tatsächlich leitet sich das Wort selbst vom arabischen al-qalya her, das »verbrannte Asche« bedeutet. Wenn Sie jetzt Ihren Extrakt in einen Bottich mit siedendem Öl oder Fett einrühren, verseift das Gemisch und Sie erhalten eine reinigende Seife. Sie können also mit ganz einfachen Stoffen wie Schweinefett und Asche und etwas chemischem Know-how die postapokalyptische Welt sauber und von vielen Krankheitskeimen frei halten. Diese Hydrolyse-Reaktion lässt sich noch steigern, wenn sie eine stärkere alkalische Lösung verwenden: Alkalilauge. Hier kehren wir zum gelöschten Kalk, Calciumhydroxid, zurück.

Verwenden Sie niemals Löschkalk selbst zur Verseifung, da Calcium-Seifen nicht wasserlöslich sind und daher einen Film und keinen angenehmen Schaum auf Wasser bilden. Man kann das Calciumhydroxid jedoch mit Pottasche oder Soda reagieren lassen, so dass das Hydroxid seine Partner tauscht und Kalium- oder Natriumhydroxid entsteht: Ätzkali oder Ätznatron. Ätzkali ist ein starkes Alkali (es hydrolisiert die Öle in Ihrer Haut umgehend zu menschlicher Seife, so dass Sie es sehr vorsichtig handhaben sollten) und es ist daher ideal für diesen entscheidenden Verseifungsprozess, bei dem Blöcke aus Hart- beziehungsweise Kernseife entstehen.16

Ein weiteres Alkali, das sich sehr leicht herstellen lässt, ist Ammoniak. Der menschliche Körper entledigt sich überschüssigen Stickstoffs in Form einer wasserlöslichen Verbindung namens Harnstoff, den wir im Urin ausscheiden. Bestimmte Bakterien verwandeln Harnstoff in Ammoniak – der unverwechselbare Gestank, den Sie von schlecht gereinigten öffentlichen Toiletten nur allzu gut kennen –, und daher lässt sich das so vielseitig verwendbare Alkali Ammoniak auch mit sehr einfachen technischen Mitteln herstellen: durch Vergärung von Urin. Dies war historisch ein wichtiges Verfahren zur Herstellung von Geweben, die mit Indigo (traditionell das Blau von Jeans) blau gefärbt wurden. Wir werden später auf die verschiedenen Nutzanwendungen von Ammoniak zurückkommen.

Bei der Verseifung von Fettmolekülen entsteht ein weiteres nützliches Nebenprodukt. Die chemische Komponente des Lipids, die als Verbindungsstück fungiert, welches die drei Fettsäureschwänze festhält, Glycerin, bleibt zurück, nachdem Schweinefett in Seife umgewandelt wurde. Glycerin ist höchst nützlich und lässt sich leicht aus einer schaumigen Seifenlösung gewinnen. Die Fettsäuresalze der Seife selbst sind in Salzlake weniger gut löslich als in Süßwasser, und daher lagern sie sich bei Beigabe von Salz als feste Teilchen ab und lassen das Glycerin in der Flüssigkeit zurück. Glycerin ist ein wichtiger Ausgangsstoff für die Herstellung von Kunst- und Sprengstoffen (worauf wir in Kapitel 11 eingehen werden).

Die Hydrolysereaktion, die tierische Fette in Seife verwandelt, wird auch zur Herstellung von Klebstoff eingesetzt. Diesen erhält man dadurch, dass man Häute, Sehnen, Hörner und Hufe kocht: alles, was genug Bindegewebe aus Kollagen enthält, das zu Gelatine zerfällt. Da diese wasserlöslich ist, kann sie zu einer klebrigen, klitschigen Paste geformt werden, die dann zu einer harten, festen Masse austrocknet. Die notwendige hydrolytische Zersetzung von Collagen erfolgt sehr viel schneller unter stark alkalischen Bedingungen – eine weitere Anwendung von Alkalilauge – oder unter Einwirkung von Säuren (zu denen wir gleich kommen werden).

 

Pyrolyse von Holz

 

Holz lässt sich nicht nur als Brennstoff oder zur Herstellung von Alkalien (aus Holzasche) verwenden. Tatsächlich war Holz einst die Hauptquelle für organische Verbindungen – es lieferte chemische Einsatzmaterialien und Vorläufersubstanzen für ein breites Spektrum von Prozessen und Aktivitäten –, und es wurde erst im ausgehenden 19. Jahrhundert von Kohlenteer und später von Rohöl als dem Ausgangsmaterial für die Herstellung von Mineralölerzeugnissen abgelöst. In einer postapokalyptischen Welt, in der Sie sich durchaus ohne leicht zugängliche Kohle oder eine kontinuierliche Erdölversorgung wiederfinden dürften, werden diese älteren Techniken den Neustart einer chemischen Industrie erleichtern.

 

Eine einfache Apparatur zur Pyrolyse von Holz und zur Einsammlung der freigesetzten

Dämpfe (oben) und eine schematische Übersicht über die verschiedenen

Schlüsselsubstanzen, die sich auf diese Weise gewinnen lassen (unten).

 

Bei der Herstellung von Holzkohle geht es zwar darum, die flüchtigen Substanzen aus dem Holz herauszutreiben, so dass wir einen Brennstoff aus fast reinem Kohlenstoff mit hoher Verbrennungstemperatur erhalten, aber genau genommen sind auch diese Abfallprodukte sehr nützlich. Und wenn man das Verfahren der Holzkohleherstellung nur etwas weiterentwickelt, kann man auch die entweichenden gasförmigen Stoffe einfangen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts fiel Chemikern auf, dass beim Verbrennen von Holz in einem geschlossenen Behälter neben entflammbarem Gas auch gasförmige Stoffe freigesetzt werden, die sich wieder zu einer wässrigen Flüssigkeit kondensieren ließen. Diese Produkte wurden als »Pyrolignine« bezeichnet (ein griechisch-lateinisches Mischwort für Feuer und Holz), und sie sind ein komplexes Gemisch aus vielen Verbindungen. Im Idealfall würde eine Gesellschaft im zivilisatorischen Neubeginn direkt einen technologischen Sprung zu einem Verfahren machen, bei dem das Holz in einem luftdicht abgeschlossenen Metallbehältnis gebacken wird, wobei eine seitlich angebrachte Röhre die freigesetzten Rauchdämpfe ableitet, die in Spiralen durch einen mit kaltem Wasser gefüllten Eimer geleitet werden, wo sie abkühlen und kondensieren. Die freigesetzten Gase kondensieren hingegen nicht und können daher dazu verwendet werden, die Brenner unter dem Reaktionsbehälter zur Holzverschwelung mit Brennstoff zu versorgen. Wir werden in Kapitel 9 sehen, dass man mit diesen Pyrolysegasen sogar ein Kraftfahrzeug betreiben kann.

Das gesammelte Kondensat zerfällt spontan in eine wässrige Lösung und einen zähen, teerigen Rückstand, beides komplexe Gemische, die, wie bereits beschrieben, durch Destillation aufgespalten werden können. Der wässrige Teil, ursprünglich Pyroligninsäure genannt, setzt sich hauptsächlich aus Essigsäure, Aceton und Methanol zusammen.

Essigsäure lässt sich zum sauren Einlegen von Nahrungsmitteln verwenden: Wie schon erwähnt, ist Essig im Grunde nichts anderes als stark verdünnte Essigsäure. Sie reagiert mit alkalischen Metallverbindungen und erzeugt dabei verschiedene nützliche Salze. So reagiert sie zum Beispiel mit calciniertem Soda oder Ätznatron, wobei Natriumacetat entsteht, das sich gut als Beizmittel zur Fixierung von Farbstoffen in Textilien eignet. Kupferacetat ist ein Fungizid (ein pilzabtötender Wirkstoff) und wurde seit der Antike als ein blaugrünes Pigment für Anstrichfarben verwendet.

Aceton ist ein gutes Lösungsmittel und wird als Basis für Anstrichfarben – es verleiht Nagellack seinen unverwechselbaren Geruch – und als Entfettungsmittel verwendet. Es spielt auch eine wichtige Rolle bei der Kunststoffproduktion, und es wird zur Herstellung von Kordit benutzt, dem explosiven Treibmittel für Geschosse, das im Ersten Weltkrieg weithin zum Einsatz kam. Tatsächlich befürchtete Großbritannien zu einem bestimmten Zeitpunkt, es werde aufgrund akuten Acetonmangels den Krieg verlieren. Die gewaltige Nachfrage nach Kordit überstieg bei weitem die Menge, die sich durch Trockendestillation von Holz gewinnen ließ, und auch die Importe des Lösungsmittels aus holzreichen Ländern wie den Vereinigten Staaten konnten den Bedarf nicht decken. Die Produktion wurde dank der Erfindung einer neuen Technik aufrechterhalten, bei der ein bestimmtes Bakterium, das bei der Gärung Aceton absondert, und riesige Mengen an Rosskastanien, die von Schülern gesammelt wurden und als Ausgangsstoff dienten, eingesetzt wurden.

Methanol, ursprünglich »Holzgeist« (Holzspiritus) genannt, wird in großen Mengen durch Trockendestillation von Holz gewonnen: Eine Tonne Holz ergibt etwa zehn Liter. Methanol ist das einfachste Alkoholmolekül: Es enthält lediglich ein Kohlenstoffatom, während Ethanol, der gewöhnliche Alkohol, um ein Grundgerüst von zwei Kohlenstoffatomen aufgebaut ist. Methanol lässt sich als Treibstoff und als Lösungsmittel verwenden; es ist ein Frostschutzmittel und überdies unverzichtbar zur Synthese von Biodiesel, mit dem wir uns in Kapitel 9 beschäftigen werden.

Der Rohteer, der aus dem schwelenden Holz ausschwitzt, lässt sich durch Destillation ebenfalls in seine Hauptbestandteile zerlegen: dünnes, flüssiges Terpentin (schwimmt auf Wasser), dickflüssiges, dichtes Kreosot (sinkt in Wasser) und dunkles, zähflüssiges Pech. Terpentin ist ein wichtiges Lösungsmittel, das in der Vergangenheit für Pigmente verwendet wurde, und wir werden in Kapitel 10 auf diesen Stoff zurückkommen. Kreosot ist ein ausgezeichnetes Konservierungsmittel, und wenn Holz damit angestrichen oder getränkt wird, schützt es dieses gegen Wind und Wetter sowie gegen Holzfäule. Es wirkt außerdem antiseptisch, hemmt das Wachstum von Mikroben und konserviert Fleisch: Es ist verantwortlich für den unverwechselbaren Geschmack von geräuchertem Fleisch und Fisch. Pech ist der klebrigste von allen Extrakten, ein zähflüssiges Gemisch aus langkettigen Molekülen, und aufgrund seiner Entflammbarkeit eignet er sich ideal, um Holzstäbe damit zu tränken und so Fackeln herzustellen. Diese teerartige Substanz ist außerdem wasserabweisend und eignet sich zur Abdichtung von Kübeln und Fässern; seit Jahrtausenden werden die Nähte zwischen den hölzernen Planken eines Schiffsrumpfs mit Pech kalfatert.

Das Holz verschiedener Bäume liefert bei der Trockendestillation jeweils unterschiedliche Mengen dieser äußerst nützlichen Chemikalien, aber bei harzreichen Harthölzern – zum Beispiel Nadelbäumen wie Kiefern, Fichten und Tannen – ist die Ausbeute am höchsten. Birkenrinde etwa ist eine besonders ergiebige Pechquelle, und Birkenpech wurde seit der Steinzeit zur Befiederung der Pfeilschäfte und zum Ankleben der Pfeilspitzen verwendet. Wenn Sie es nur auf das Pech abgesehen haben, können Sie es sammeln, wenn es aus harzreichem Holz heraussickert, das in einem Ofen oder auch nur in einer Konservenbüchse über einem offenen Feuer verschwelt wird.

Die Destillation als solche ist eine so allgemein nützliche Technik zur Abtrennung chemischer Verbindungen aus einem Gemisch von Flüssigkeiten, dass eine Gesellschaft im zivilisatorischen Neustart gut beraten ist, diese so früh wie möglich zu beherrschen. Die Destillation fraktioniert die verschiedenen Produkte des durch Hitze zersetzten Holzes und extrahiert konzentrierten Alkohol aus einer gärenden Masse, wie wir bereits gesehen haben. Außerdem lässt sich mit ihrer Hilfe Rohöl in eine vielfältige Auswahl von Bestandteilen zerlegen, von dem extrem dickflüssigen Asphalt bis zu leicht flüchtigen Komponenten wie Benzin. Und sobald ein bestimmtes Niveau der industriellen Leistungsfähigkeit erreicht ist, kann sogar Luft selbst destilliert werden. Luft wird durch mehrfache Wiederholung eines Expansions- und Kühlungsverfahrens auf etwa 200°C abgekühlt und dabei in einer vakuumisolierten Kapsel aufbewahrt, ähnlich einer riesigen Thermosflasche, in der man Tee auf eine Wanderung mitnimmt. Anschließend erwärmt man die flüssige Luft, und in dem Maße, wie die verschiedenen flüssigen Bestandteile bei Erreichen ihres Siedepunktes verdampfen, werden sie gesammelt. Reiner Sauerstoff zum Beispiel wird für die künstliche Beatmung in Krankenhäusern verwendet.

 

Säuren

 

Bislang haben wir uns hauptsächlich auf Alkalien konzentriert, da sich relativ leicht starke Varianten herstellen lassen. Säuren, die chemischen Gegenstücke von Alkalien, sind in der Natur genauso weit verbreitet, aber an starke Säuren kommt man schwerer als an Laugen, und zudem wurden sie erst in der jüngeren Vergangenheit in bedeutsamem Umfang wirtschaftlich genutzt. Wir haben gesehen, dass es möglich ist, aus einer Vielzahl pflanzlicher Produkte durch Vergärung Alkohol herzustellen, und dass dieses Ethanol wiederum durch Kontakt mit Luft zu Essig oxidiert werden kann. Essigsäure war die erste Säure, die der Menschheit zur Verfügung stand, und während des größten Teils der Geschichte war sie auch die einzige. Zwar konnten die Menschen schon früh aus einer ganzen Reihe von Alkalien auswählen – Pottasche, calciniertem Soda, Löschkalk, Ammoniak –, aber trotzdem blieben unsere chemischen Künste jahrtausendelang beschränkt, weil allgemein nur eine einzige schwache Säure verfügbar war.

Die zweite Säure, die die Menschheit nutzte, war Schwefelsäure. Diese wurde zunächst durch Erhitzung aus einem seltenen, glasartigen Mineral namens Vitriol gewonnen und später in großen Mengen durch Brennen von reinem gelbem Schwefel mit Salpeter in mit Blei ausgekleideten, mit Dampf gefüllten Gefäßen erzeugt. Heute fällt Schwefelsäure als Nebenprodukt beim Waschen von Erdöl und Erdgas zur Beseitigung schwefelhaltiger Verunreinigungen an. In einer postapokalyptischen Welt sitzen Sie daher möglicherweise zwischen zwei Stühlen: Sie können diese vielseitig nutzbare, starke Säure einerseits nicht mit traditionellen Verfahren herstellen, da die Vorkommen an elementarem Schwefel in vulkanischen Ablagerungen an der Erdoberfläche schon seit langem erschöpft sind, und Sie können andererseits ohne den benötigten spezifischen Katalysator keine fortgeschrittenen Verfahren anwenden.

Das Kunststück besteht darin, einen chemischen Pfad zu benutzen, den wir selbst nie in industriellem Maßstab angewandt haben. Schwefeldioxidgas lässt sich durch Rösten von gewöhnlichem Pyritgestein gewinnen (Eisenkies ist vielsagenderweise auch unter dem Namen Katzen- oder Narrengold bekannt, und auch die gewöhnlichen Blei- und Zinnerze sind Pyrite), anschließend lässt man es mit Chlorgas reagieren, das man durch Elektrolyse von Salzsole (siehe S. 257) erhält, wobei Aktivkohle (eine hochporöse Form von Holzkohle) als Katalysator verwendet wird. Dabei entsteht eine Flüssigkeit, die Sulfurylchlorid genannt wird und durch Destillation konzentriert werden kann. Diese Verbindung zersetzt sich in Wasser zu Schwefelsäure und gasförmigem Chlorwasserstoff, der seinerseits aufgefangen und in Wasser gelöst werden sollte, wobei Salzsäure entsteht. Zum Glück gibt es einen einfachen chemischen Test, um herauszufinden, ob ein Gestein ein Pyritmineral (eine metallische Sulfidverbindung) ist: Träufeln Sie ein paar Tropfen verdünnte Säure auf den Stein und wenn diese schäumt und es nach faulen Eiern riecht, dann haben Sie das, wonach Sie suchen (da Schwefelwasserstoff ein giftiges Gas ist, sollten Sie nur sehr vorsichtig daran schnuppern!).

Heute gibt es keine andere chemische Verbindung, die in solchen Mengen hergestellt wird wie Schwefelsäure – sie ist das Rückgrat der modernen chemischen Industrie und wird auch bei der Beschleunigung des zivilisatorischen Wiederaufbaus eine entscheidende Rolle spielen. Schwefelsäure ist deshalb so wichtig, weil sie mehrere verschiedene chemische Funktionen erfüllt. Sie ist nicht nur eine hochwirksame Säure, sondern sie wirkt auch stark entwässernd und ist ein potentes Oxidationsmittel. Der größte Teil der Säure, die heute synthetisiert wird, wird zur Herstellung von Kunstdüngern verwendet: Sie löst Phosphatgesteine (oder Knochen) auf und setzt dabei den wichtigen Pflanzennährstoff Phosphor frei. Ihre Anwendungsmöglichkeiten sind jedoch praktisch unbegrenzt: angefangen von der Herstellung von Eisengallustinte, dem Bleichen von Baumwolle und Leinen, der Produktion von Detergentien (Wasch- und Reinigungsmitteln), der Säuberung und Vorbereitung der Oberfläche von Eisen und Stahl zur Weiterverarbeitung, der Herstellung von Schmierstoffen und synthetischen Chemiefasern bis zur Verwendung als Batteriesäure.

Schwefelsäure dient als Wegbereiter für die Herstellung anderer Säuren. Salzsäure erhält man dadurch, dass man Schwefelsäure mit gewöhnlichem Tafelsalz (Natriumchlorid) reagieren lässt, und Salpetersäure entsteht bei der Reaktion mit Salpeter. Salpetersäure ist besonders nützlich, weil sie auch ein sehr starkes Oxidationsmittel darstellt: Sie kann Dinge oxidieren, die Schwefelsäure nicht oxidieren kann. Dadurch wird Salpetersäure zu einem unverzichtbaren Hilfsmittel bei der Produktion von Sprengstoffen sowie bei der Herstellung von Silberverbindungen für die Fotografie – zwei Schlüsselprozesse, auf die wir später zurückkommen werden.

 

 

13 Ökonomen beurteilen die Qualität eines fossilen Brennstoffvorkommens, indem sie den sogenannten Erntefaktor (Energy Return on Energy Invested) berechnen. Dieser sagt ihnen, wie viel nutzbare Energie man im Verhältnis zur gesamten Energie, die für die Förderung, die Raffination und Verarbeitung des Energieträgers aufgewendet werden muss, aus einer bestimmten Lagerstätte gewinnen kann. So waren zum Beispiel die ersten kommerziell ausgebeuteten Ölfelder in Texas Anfang des 20. Jahrhunderts sehr leicht zu erschließen und hatten einen Erntefaktor von etwa 100 – das heißt, sie erbrachten hundertmal mehr Energie, als für ihre Erschließung aufgewendet wurde. In Anbetracht der schwindenden Vorräte müssen heutzutage immer größere Anstrengungen unternommen werden, um das Erdöl an die Oberfläche zu pumpen (einschließlich des enormen Aufwands, der mit dem Betrieb von Offshore-Bohranlagen verbunden ist) und die Restbestände zu verarbeiten, so dass der Erntefaktor auf etwa 10 gesunken ist.

 

14 In vielerlei Hinsicht ist Holzkohle daher Kohle als Brennstoff überlegen, und sie ist keineswegs nur eine überholte historische Reminiszenz. Brasilien zum Beispiel verfügt über gigantische Holzressourcen, hat aber nur wenige Kohlengruben – eine Situation, die in der postapokalyptischen Welt, in der die Wälder auf breiter Front nachwachsen, vermutlich weit verbreitet sein wird. Also ist Brasilien der größte Holzkohleproduzent der Welt geworden. Ein Teil davon wird in Hochöfen verwendet, um Roheisen herzustellen, das in die USA und andere Länder exportiert wird, wo es zu Stahl für Kraftfahrzeuge und Haushaltsgeräte weiterverarbeitet wird. Ein Großteil dieser Holzkohle stammt aus bewirtschafteten Wäldern und eröffnet damit die Gelegenheit zur Herstellung von »Grünem Stahl«.

 

15 Heute sehen wir in Sturmlaternen und Kerzen Reservetechnologien, die als zuverlässige, leicht zu erhaltende Sicherungsoptionen für den Fall bereitgehalten werden, dass die fortschrittlichere Option versagt. Einfache Technologien vermitteln aber auch eine gewisse besondere Atmosphäre, wie etwa die von Pferden gezogene Kutsche bei einer Beerdigung oder das romantische Candle-Light-Dinner. In diesem Sinne werden einige alte Technologien nie überflüssig: Sie bestehen fort, erhalten aber eine andere Hauptfunktion. Für Überlebende stellen diese Methoden nach der Apokalypse vielversprechende Ersatzoptionen dar.

 

16 WARNUNG: Verwenden Sie niemals Aluminiumtöpfe oder -geräte zur Seifenherstellung. Aluminium reagiert sehr heftig mit starken Alkalien, wobei explosives Wasserstoffgas freigesetzt wird.