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CHEMIE FÜR FORTGESCHRITTENE

Ich hätte nichts dagegen, wenn die ganze Konsumwelt sich über Nacht puff! auflösen würde, denn dann säßen wir alle im selben Boot und das Leben wäre gar nicht so schlecht; man könnte mit Hühnern und Feudalismus und solchen Sachen rumpusseln. [Aber weißt du, was das absolut Schrecklichste wäre?] … Wenn ich, während wir alle hier unten auf der Erde in Lumpen gehüllt in verlassenen Baskin-Robbins-Filialen Schweine hielten, in den Himmel aufschauen und ein Flugzeug sehen sollte … ich würde ausrasten. Ich würde völlig durchdrehen. Entweder alle fallen zurück ins Mittelalter, oder überhaupt niemand.

Douglas Coupland, Shampoo Planet

 

 

In diesem Buch haben wir eine Reihe einfacher Verfahren zur Umwandlung einer Substanz in eine andere kennengelernt. Mögen diese Umwandlungen zwischen Stoffen mit sehr unterschiedlichem Aussehen auf den ersten Blick auch etwas Magisches haben, so können Sie doch, wenn Sie sich etwas anstrengen, das Verhalten verschiedener chemischer Stoffe verstehen, in ihren Wechselwirkungen Muster erkennen, vorhersagen, was bei einer Reaktion geschieht, und dann schließlich diese Macht des Wissens nutzen, um den Ablauf einer komplexen Folge von Reaktionen so zu steuern, dass Sie genau das Produkt erhalten, das Sie wollen.

Später in diesem Kapitel werden wir sehen, dass eine weiter fortgeschrittene Zivilisation, die nach einer sich über mehrere Generationen erstreckenden Erholung auf einem stabilen Fundament ruht, komplexere industrielle Verfahren einsetzen kann, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen; die einfachen Methoden zur Herstellung von Soda, die wir bereits beschrieben haben, helfen Ihnen nur in begrenztem Umfang weiter. Aber zunächst wollen wir uns ansehen, wie man mit Hilfe der Elektrizität mehrere Rohstoffe gewinnen kann, die für die neustartende Zivilisation von entscheidender Bedeutung sind, und wie sie uns dabei helfen kann, die erstaunliche Ordnung zu erkunden, die der chemischen Welt zugrunde liegt.

 

Elektrolyse und das Periodensystem der Elemente

 

Wir haben gesehen, dass Elektrizität, sobald man ihre Erzeugung und Weiterleitung beherrscht, eine phantastische Energiequelle für eine Vielzahl von Funktionen einer sich erholenden Zivilisation ist und dass sie Kommunikation über große Entfernungen ermöglicht. Aber die erste praktische Anwendung der Elektrizität in der Geschichte – eine Nutzungsweise, von der Sie zu Beginn des Neustarts ebenfalls sehr profitieren werden –, bestand darin, mit Hilfe eines elektrischen Stroms chemische Verbindungen in ihre Bestandteile zu zerlegen: die Elektrolyse.

Wenn Sie zum Beispiel einen Strom durch eine Salz- beziehungsweise Natriumchloridlösung leiten, können Sie den bei der Aufspaltung von Wassermolekülen freigesetzten Wasserstoff auffangen, der von der negativen Elektrode in Blasen aufsteigt, und Chlorgas von der positiven Elektrode. Wasserstoff eignet sich als Traggas für Luftschiffe und ist ein Ausgangsstoff des Haber-Bosch-Verfahrens (auf das wir später in diesem Kapitel zurückkommen werden), während Chlor zur Herstellung jener Bleichen verwendet werden kann, die für die Produktion von Papier und Textilien benötigt werden, wie wir in Kapitel 4 gesehen haben. Und wenn Sie es klug anstellen, können Sie auch noch Natriumhydroxid (Ätznatron) gewinnen, das sich in dem Elektrolyt-Fluid ansammelt und das, wie wir früher sahen, ein unglaublich nützliches Alkali ist. Bei der Elektrolyse von reinem Wasser (mit etwas beigemengtem Natriumhydroxid zur Erhöhung seiner elektrischen Leitfähigkeit) erhält man Sauerstoff und Wasserstoff.

Auch Aluminium lässt sich auf elektrolytischem Wege aus seinem steinigen Erz gewinnen – es ist zu reaktionsfreudig, um es unter Verwendung von Holzkohle oder Koks einzuschmelzen. Es ist das häufigste Metall in der Erdkruste und ein wichtiger Bestandteil eines der ältesten Werkstoffe der Menschheit – Ton. Doch es war unerschwinglich teuer, bis Ende der 1880er Jahre eine effiziente Methode zum Einschmelzen und zur elektrolytischen Zersetzung seines Erzes entwickelt wurde.30

Zum Glück muss eine sich erholende Gesellschaft das Metall nicht sofort neu herstellen. Aluminium ist so korrosionsbeständig, dass es Jahrhunderte unbeschädigt überdauert und bei der relativ niedrigen Temperatur von 660°C in dem einfachen Hochofen, den wir auf Seite 156 kennenlernten, eingeschmolzen werden kann.

Mit Hilfe der Elektrolyse können Sie mehrere nützliche Substanzen synthetisieren, so dass Sie die weniger effektiven chemischen Verfahren, die jahrhundertelang benutzt wurden, überspringen können. Außerdem wird Ihnen die Elektrolyse bei der wissenschaftlichen Erkundung der Welt helfen: Sie zerlegt Verbindungen in die einfachen Grundbausteine aller Stoffe – die Elemente. Im Jahr 1800 zum Beispiel wurde mit Hilfe der Elektrolyse schlüssig nachgewiesen, dass Wasser kein Element, sondern vielmehr eine Verbindung aus Wasserstoff und Sauerstoff ist. Und innerhalb von acht Jahren wurden sieben weitere Elemente mit der elektrolytischen Methode isoliert: Kalium, Natrium, Calcium, Bor, Barium, Strontium und Magnesium. Die ersten drei wurden entdeckt, indem man weitverbreitete Verbindungen, denen wir in diesem Buch immer wieder begegnet sind, auf elektrischem Wege zerlegte: Pottasche (Kaliumcarbonat), Ätznatron und Ätz- oder Branntkalk. Die Elektrolyse ist aber nicht nur eine äußerst wichtige Technik zur Isolierung bisher unbekannter Elemente – mit Hilfe dieses Verfahrens lässt sich auch nachweisen, dass die Bindungen, die Atome in Molekülen zusammenhalten, ihrerseits elektromagnetischer Natur sind.

Wenn Sie die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Elementen betrachten, also ihr Verhalten, wenn sie miteinander reagieren – ihre »Persönlichkeiten« –, werden Sie eine überwältigende, grundlegende Wahrheit erkennen: Die Elemente sind keine für sich stehenden, gesonderten Entitäten, sondern sie bilden von Natur aus familienartige Gruppen mit jeweils ähnlichem Verhalten. Die Entdeckung dieses Musters verleiht der chemischen Welt Struktur, in der gleichen Weise, wie die Entdeckung morphologischer Ähnlichkeiten und damit der Verwandtschaft zwischen lebenden Organismen Ordnung in die biologische Welt bringt. Natrium und Kalium zum Beispiel sind höchst reaktionsfreudige Metalle, die alkalische Verbindungen bilden, wie etwa Ätznatron und Pottasche, aus denen man sie durch Elektrolyse isolieren kann, und Chlor, Brom und Jod reagieren mit Metallen und bilden Salze. Wenn Sie jetzt die bekannten Elemente in einem Diagramm graphisch anordnen, und zwar so, dass Sie diejenigen mit ähnlichen Eigenschaften in derselben Spalte untereinander aufführen, um auf diese Weise das zugrunde liegende Wiederholungsmuster darzustellen, erzeugen Sie das Periodensystem der Elemente.

Das moderne Periodensystem ist eine überragende Leistung des menschlichen Geistes, so eindrucksvoll wie die Pyramiden oder eines der anderen Weltwunder. Es ist weit mehr als eine umfassende Liste der Elemente, die Chemiker im Lauf der Jahre identifiziert haben: Es ist eine systematische Darstellung des bekannten Wissens, die Ihnen erlaubt, konkrete Vorhersagen über Dinge zu machen, die Sie noch nicht entdeckt haben.

Als der russische Chemiker Dmitri Mendelejew im Jahr 1869 erstmals ein Periodensystem der über sechzig damals bekannten Elemente zusammenstellte, stieß er auf Lücken im Mauerwerk – Platzhalter, die noch unbekannten Elementen entsprachen. Aber das Brillante an dieser tabellarischen Anordnung ist die Tatsache, dass sie Mendelejew ermöglichte, präzise vorherzusagen, welche Eigenschaften diese hypothetischen Elemente besitzen würden – wie etwa Eka-Aluminium, der fehlende Baustein in der Tabelle, unmittelbar unterhalb von Aluminium. Auch wenn dieses hypothetische Element bis dahin noch nie gesehen oder berührt worden war, konnte man allein aufgrund seiner Position in der Tabelle vorhersagen, dass es sich um ein glänzendes, duktiles (umformbares) Metall einer bestimmten Dichte handeln würde, das bei Zimmertemperatur fest wäre, aber bei einer für Metalle ungewöhnlich niedrigen Temperatur schmelzen würde. Einige Jahre später entdeckte ein Franzose in einem Erz ein neues Element, das er nach dem alten Namen seines Heimatlandes Gallium nannte. Schon bald stellte sich heraus, dass dies das von Mendelejew vorausgesagte, fehlende Eka-Aluminium war und dass der Russe dessen Schmelzpunkt haargenau vorhergesagt hatte: Gallium verflüssigt sich bei einer Temperatur von 30°C – das Metall schmilzt buchstäblich in Ihrer Hand.31

Diese einfache Erkenntnis über die den Elementen innewohnenden Verhaltensmuster wird Ihnen helfen, Ihre eigenen Untersuchungen über den Aufbau der Materie und die besten Nutzungsmöglichkeiten verschiedener Eigenschaften natürlicher Stoffe zu strukturieren. Wir wollen jetzt auf den Lektionen der Kapitel 5 und 6 aufbauen und uns zwei nützliche Anwendungen etwas kniffligerer chemischer Prozesse genauer ansehen – Sprengstoffe und Fotografie.

 

Sprengstoffe

 

Vielleicht glauben Sie, Sprengstoffe seien genau die Art von Technologie, die nichts in einem Handbuch über den Wiederaufbau der Zivilisation zu suchen hätte, da es in diesem Fall doch darum gehen müsse, möglichst lange eine friedliche Koexistenz zwischen den Gruppen von Überlebenden aufrechtzuerhalten. Zweifellos können Sprengstoffe zu kriegerischen (oder defensiven) Zwecken genutzt werden, und in der Vergangenheit hat sich die Sprengstoffchemie Hand in Hand mit der Metallurgie entwickelt, die notwendig ist, um die Explosionsdruckwelle sicher zu kontrollieren und zu lenken – in Form zuverlässiger Geschütze und Schusswaffen. Doch die friedlichen Anwendungen sind für eine neustartende Zivilisation wohl wichtiger: Sprengstoffe sind enorm nützlich in Gewehren für die Jagd, um Felswände für den Abbau von Erzen aufzubrechen und um Tunnel und Kanäle zu sprengen. Am wichtigsten in einer postapokalyptischen Welt ist aber vielleicht der Abriss baufälliger Hochhäuser, um ihre strukturellen Teile auszuschlachten und das Land in dem Maße für den Wiederaufbau freizumachen, wie die Zivilisation in lange Zeit menschenleere Gebiete zurückkehrt. Jedenfalls sind wissenschaftliche Erkenntnisse selbst neutral: Der Zweck, zu dem sie angewendet werden, ist entweder gut oder schlecht.

Um eine Explosion zu erzeugen – eine sich ausbreitende Stoßwelle, die das Trommelfell angreift, eine Felswand zertrümmert oder ein Gebäude zum Einsturz bringt –, müssen Sie auf kleinem Raum eine unter extrem hohem Druck stehende Luftblase erzeugen. Und dies gelingt am besten mit einer rasant ablaufenden chemischen Reaktion, bei der Feststoffe in heiße Gase umgewandelt werden, die einen deutlich größeren Raumbedarf haben und sich daher vom Reaktionspunkt aus blitzschnell nach außen ausbreiten. Ein modernes Gewehr zum Beispiel enthält ungefähr eine zuckerwürfelgroße Menge Schießpulver in der Sprengladung hinter dem Projektil, aber wenn diese gezündet wird, reagiert das Pulver rasant mit sich selbst und erzeugt einen Gasball etwa von der Größe eines Partyballons. Wenn die Stoßwelle in der klaustrophobischen Enge eines schmalen Gewehrlaufs rasch expandiert, setzt sie eine Kraft frei, die stark genug ist, um das Projektil ungefähr mit Schallgeschwindigkeit hinauszuschleudern.

Man kann Festbrennstoffe dadurch zur Explosion bringen, dass man sie zu einem feinen Pulver zermahlt, so dass die Luft Zugang zu einer viel größeren Oberfläche hat und die Verbrennung beschleunigt wird; Kohlenstaub und Mehl verbrennen extrem schnell (und es kann sogar in Puddingfabriken zu Explosionen kommen). Eine noch bessere Lösung besteht darin, die Notwendigkeit, Sauerstoff aus der Luft zu beziehen, zu umgehen und stattdessen in unmittelbarer Nähe reichlich Sauerstoffatome zur Verfügung zu stellen, um eine rasche Verbrennung anzutreiben. Eine Chemikalie, die in großer Menge Sauerstoffatome zur Verfügung stellt – oder, allgemeiner ausgedrückt, begierig darauf ist, Elektronen von anderen Chemikalien aufzunehmen –, wird Oxidationsmittel beziehungsweise Oxidans genannt.

Ironischerweise wurde der allererste Sprengstoff im 9. Jahrhundert von chinesischen Alchemisten hergestellt, die auf der Suche nach einem Unsterblichkeitselixier waren: Schwarzpulver. Schießpulver besteht aus Holzkohle – dem Brennstoff beziehungsweise Reduktionsmittel – und Salpeter (Kaliumnitrat) – dem Oxidationsmittel –, die gemahlen und miteinander vermischt werden. Bestreut man dieses Gemisch mit ein wenig reinem Schwefel, ändert dies die Endprodukte der Reaktion, mit der Folge, dass für die Detonation viel mehr Energie übrig bleibt. Das beste Schießpulver erhält man, wenn man je ein Teil Salpeter und Schwefel mit sechs Teilen Holzkohle-Brennstoff zu einem chemischen Cocktail mischt, der so stark mit Umwandlungsenergie aufgeladen ist, dass er kurz davor steht, zu explodieren.

Der Nitrat-Bestandteil des Schießpulvers erfordert ein bisschen chemische Tüftelei. Früher wurden die für die Herstellung von Sprengstoffen und Düngern benötigten Nitrate aus einer sehr »anrüchigen« Quelle bezogen: In einem gut gereiften Misthaufen finden sich massenhaft Bakterien, die Stickstoff enthaltende Moleküle in Nitrate umwandeln. Um sie zu extrahieren, kann man sich die Tatsache zunutze machen, dass sich ähnliche Verbindungen unterschiedlich gut in Wasser lösen. Alle Nitratsalze sind leicht wasserlöslich, während Hydroxidsalze oftmals nichtlöslich sind. Wenn Sie daher ein paar Eimer Kalkwasser (Calciumhydroxid: siehe Kapitel 5) durch einen Dunghaufen sickern lassen, bleiben die meisten Mineralien als nichtlösliche Hydroxide darin eingeschlossen, während das Calcium die Nitrationen aufnimmt und ausschwemmt. Sammeln Sie diese Flüssigkeit und rühren Sie ein wenig Pottasche ein. Kalium und Calcium tauschen ihre Partner und bilden Calciumcarbonat und Kaliumnitrat. Calciumcarbonat ist nicht wasserlöslich – es ist die Verbindung, aus der Kalkstein und Kreide bestehen, und die Wellen können den Kreidefelsen von Dover nichts anhaben –, Kaliumnitrat dagegen schon. Filtern Sie daher das kreidig weiße Präzipitat (Bodensatz) heraus, ehe sie das Wasser eindampfen, um Salpeterkristalle zu erhalten. Um zu überprüfen, ob Ihnen die Isolation gelungen ist, sollten Sie ein bisschen von der Lösung mit einem Streifen Papier aufsaugen und diesen trocknen lassen – Kaliumnitrat verbrennt mit einer zischenden, funkelnden Flamme.

Salpeter lässt sich relativ einfach gewinnen; das Problem wird darin bestehen, genügend Quellen von Nitraten als Ausgangsstoffe für den Prozess zu finden, da der Bedarf einer sich erholenden Zivilisation rasch wachsen wird. Geeignete Minerallagerstätten finden sich nur in sehr trockenen Gebieten (Salpeter ist leicht löslich und wird daher schnell weggespült) wie der Atacama-Wüste in Südamerika. Ebenfalls sehr salpeterreich ist Guano (Vogelkotablagerungen). Die Verwendung von Nitraten zur Herstellung von Düngemitteln und Sprengstoffen hatte zur Folge, dass diese Chemikalien Ende des 19. Jahrhunderts zu strategischen Rohstoffen geworden waren, so dass selbst um karge kleine Inseln nur wegen der Vogelexkremente, mit denen sie überkrustet waren, Kriege geführt wurden. Wir werden uns im weiteren Verlauf dieses Kapitels mit der Frage beschäftigen, wie eine aufstrebende Zivilisation die Fesseln, die ihr der Stickstoffmangel anlegt, abstreifen kann.

Obwohl Schießpulver durch die feinabgestimmte Mischung von Brenn- und oxidierenden Pulvern eine schnelle Verbrennung unterstützt, gibt es eine bessere Methode, um eine noch stürmischer ablaufende Reaktion und folglich eine stärkere Explosion zu erreichen: Man kombiniert Brennstoff und Oxidans im selben Molekül. Lässt man viele organische Moleküle mit einem Gemisch aus Salpeter- und Schwefelsäure reagieren (vgl. Kapitel 5), werden sie oxidiert, das heißt, an das Brennstoffmolekül werden Nitratgruppen angeheftet. Oxidiert man beispielsweise Papier oder Baumwolle (die beide aus dünnen Schichten pflanzlicher Cellulosefasern bestehen) mit Salpetersäure, erhält man das hochentflammbare Cellulosenitrat (beziehungsweise die Nitratcellulose) – Pyropapier oder Schießbaumwolle.

Ein weiterer Sprengstoff, der eine höhere Sprengkraft als Schießpulver besitzt, ist Nitroglycerin. Dieser klare, ölige Sprengstoff entsteht durch Nitrierung von Glycerin, einem bei der Seifenherstellung anfallenden Nebenprodukt (wie wir in Kapitel 5 gesehen haben), aber Nitroglycerin ist fatalerweise höchst instabil und fliegt Ihnen bei der kleinsten Erschütterung um die Ohren. Die Lösung, die Alfred Nobel fand, um dieses zerstörerische Potential zu stabilisieren, bestand darin, saugfähiges Absorptionsmaterial wie Sägemehl oder Ton mit dem stoßempfindlichen Nitroglycerin zu tränken – auf diese Weise stellte er die ersten Dynamitstäbe her. (Das Vermögen, das Nobel mit dieser Erfindung anhäufte, bildete das Stiftungskapital der berühmten Auszeichnungen für jene Beiträge in den Bereichen Naturwissenschaften, Literatur und Frieden, die der Menschheit den größten Nutzen brachten.)

Die Produktion hochbrisanter Sprengstoffe basiert daher auf Salpetersäure als einem starken Oxidationsmittel, und diese Säure wird auch in der Fotografie und für das Einfangen von Licht mit Hilfe der Silberchemie benötigt.

 

Fotografie

 

Die Fotografie ist eine wunderbare Technik – ein Verfahren, um mit Hilfe von Licht ein Bild aufzunehmen, welches einen Moment festhält und für alle Ewigkeit konserviert. Ein Urlaubsfoto kann noch nach Jahrzehnten lebhafte Erinnerungen wecken und die Welt mit größerer Wirklichkeitstreue abbilden, als es das Gedächtnis je vermöchte. Doch abgesehen von Besäufnis-Schnappschüssen, Familienporträts oder atemberaubenden Landschaftsaufnahmen bestand der unvergleichliche Wert der Fotografie in den letzten zweihundert Jahren darin, das abzubilden, was das Auge nicht sehen kann. Sie stellt eine bahnbrechende Basistechnologie für viele Wissenschaftsgebiete dar und wird bei der Beschleunigung des Neustarts eine unverzichtbare Rolle spielen. Die Fotografie erlaubt es Forschern, Ereignisse und Prozesse aufzuzeichnen, die sehr undeutlich sind oder so schnell beziehungsweise so langsam ablaufen, dass wir sie nicht wahrnehmen können, oder auch bei Wellenlängen, die für uns unsichtbar sind. So kann die Fotografie zum Beispiel durch lange Belichtungszeiten schwaches Licht viel länger einfangen, als es das menschliche Auge vermag; dies erlaubt Astronomen, eine Vielzahl schwach leuchtender Sterne zu erforschen und matte Flecken in detailreiche Galaxien und Nebel aufzulösen.32 Fotografische Emulsionen sind außerdem empfindlich für Röntgenstrahlen und ermöglichen Ihnen daher, medizinische Bilder zur Untersuchung des Körperinnern anzufertigen.

Die chemischen Grundlagen der Fotografie sind recht einfach: Bestimmte Silberverbindungen verfärben sich im Sonnenlicht dunkel und lassen sich daher zur Aufnahme eines Schwarzweißbildes verwenden. Der Trick besteht darin, eine lösliche Form von Silber herzustellen, die sich in einem dünnen Film gleichmäßig verteilen und dann in ein lösliches Salz umwandeln lässt, das an der Außenfläche Ihres fotografischen Mediums haftet und nicht wieder fortgespült wird.

Überziehen Sie zunächst ein Blatt Papier mit Eiklar (Albumin), das Sie mit etwas Salzlösung versetzt haben, und lassen Sie es dann trocknen. Lösen Sie jetzt etwas Silber in Salpetersäure auf, die das Metall zu löslichem Silbernitrat oxidiert,33 und verteilen Sie die Lösung auf Ihrem präparierten Papier. Das Natriumchlorid wird in Silberchlorid umgewandelt, das sowohl lichtempfindlich als auch nichtlöslich ist, und das Eiklar sorgt dafür, dass die fotografische Emulsion nicht die Papierfasern durchtränkt. Ein Teelöffel aus gediegenem Silber enthält eine ausreichende Menge des reinen Elements, um über 1500 fotografische Abzüge herzustellen.

Wenn Lichtstrahlen auf dieses sensibilisierte Papier treffen, stellen sie die Energie bereit, die in den Körnern Elektronen freisetzt und so das Silberchlorid zu metallischem Silber reduziert. Große Silberobjekte wie etwa eine polierte Servierplatte haben einen strahlenden Glanz, aber ein Sprenkel aus winzigen metallischen Kristallen streut das Licht und sieht daher dunkel aus. Andererseits behalten Bereiche des fotosensibilisierten Blatts, die keinen Lichtstrahlen ausgesetzt sind, die weiße Farbe des Papiers darunter. Der Schlüsselschritt nach der Belichtung besteht darin, diese fotochemische Reaktion zu unterbrechen und so die eingefangenen Schatten zu stabilisieren. Natriumthiosulfat ist als Fixiermittel auch heute noch gebräuchlich und lässt sich relativ leicht herstellen. Lassen Sie Schwefeldioxidgas (S. 140) durch eine Soda- oder Ätznatron-Lösung perlen, kochen Sie die Lösung dann mit Schwefelpulver und lassen Sie sie verdunsten, um »Hypo«- beziehungsweise Natriumthiosulfat-Kristalle zu ernten.

Wenn man eine Linse in einer lichtdichten Kiste verwendet, um ein Bild auf lichtempfindliches Papier auf der Rückwand zu projizieren, hat man einen Fotoapparat, aber selbst bei strahlendem Sonnenschein kann es Stunden dauern, ehe diese einfache Apparatur auf silberchemischer Grundlage ein Foto macht. Glücklicherweise können Sie die Empfindlichkeit Ihrer Kamera mit einem Entwickler enorm erhöhen – eine chemische Behandlung, die die Umwandlung teilbelichteter Körner abschließt und sie vollständig zu metallischem Silber reduziert. Eisen(II)-sulfat eignet sich gut für diesen Zweck und lässt sich recht leicht dadurch synthetisieren, dass man Eisen in Schwefelsäure löst. Und wenn dann das chemische Know-how der postapokalyptischen Gesellschaft zunimmt, können Sie Chlorsalz durch eines seiner atomaren Geschwister, Jod oder Brom, ersetzen, die viel lichtempfindlichere fotografische Emulsionen erzeugen.

Doch die Tatsache, dass die Belichtung die fotosensitiven Körner durch metallisches Silber dunkel färbt, während Schatten in der Szene blass bleiben, hat zur Folge, dass die Tonwerte des Fotos genau umgekehrt zu dem Sinneseindruck sind, den Ihr Auge empfängt – Sie erhalten also ein »Negativ«. Es gibt keine schnelle chemische Reaktion, die ein permanentes positives Bild erzeugt – keine ursprünglich schwarze Substanz, die im Sonnenlicht rasch ausbleicht –, und daher muss sich die Fotografie mit diesem negativen Ergebnis herumschlagen. Der notwendige konzeptionelle »Sprung« besteht in der Erkenntnis, dass, wenn dieses umgekehrte, negative Bild auf einem transparenten Medium in der Kamera erzeugt wird, lediglich eine zweite Phase des Auskopierens notwendig ist, bei der das Negativ als eine Maske auf lichtempfindlichem Papier benutzt wird, so dass sich das Muster der hellen Stellen und Schatten abermals umkehrt und der normale Zustand wiederhergestellt wird. Das nasse Kollodiumverfahren verwendet in einer Mischung aus Äther- und Ethanol-Lösungsmitteln aufgelöste Schießbaumwolle – alles Substanzen, die wir in diesem Buch bereits kennengelernt haben –, um eine sirupartige, durchscheinende Flüssigkeit zu erzeugen. Sie eignet sich perfekt zum Beschichten einer Glasplatte mit fotochemischen Stoffen, woraufhin diese belichtet und das Bild entwickelt wird, bevor die Flüssigkeit zu einem beständigen, wasserabweisenden Film trocknet. Und wenn Sie stattdessen Gelatine verwenden (aus Tierknochen ausgekocht, wie wir in Kapitel 5 sahen), können Sie eine Trockenplatte herstellen, die noch lichtempfindlicher ist und auch viel längere Belichtungszeiten erlaubt.

Die Fotografie ist ein großartiges Beispiel für eine neuartige Anwendung, die durch die Verschmelzung mehrerer vorhandener Technologien erschaffen wurde, und zwar mit Hilfe relativ einfacher Materialien und Substanzen. Bauen Sie einen mit Schamottesteinen ausgekleideten Brennofen, um Glas selbst herzustellen, indem Sie Quarzsand oder Quarz mit dem Flussmittel Ätznatron (Natriumhydroxid) einschmelzen. Nehmen Sie einen Tropfen davon, lassen Sie ihn erstarren und schleifen Sie ihn zu einer Fokussierungslinse. Nehmen Sie einen weiteren Tropfen und flachen Sie diesen zu einer dünnen rechteckigen Tafel ab, Ihrer Negativplatte, und nutzen Sie Ihre Fertigkeiten im Bereich Papierherstellung, um glatte Abzüge herzustellen. Die Fotografie macht sich die gleichen Säuren und Lösungsmittel zunutze, denen wir in diesem Buch schon mehrfach begegnet sind, und Sie können mit Hilfe von Substanzen, die Sie aus einem Silberlöffel, einem Misthaufen und gewöhnlichem Salz gewonnen haben, ein primitives Foto herstellen. Wenn Sie durch eine Zeitschleife ins 16. Jahrhundert zurückversetzt würden, könnten Sie sich ohne weiteres sämtliche Chemikalien und optischen Bauteile beschaffen, die Sie benötigen, um eine rudimentäre Kamera zu bauen. Sie hätten Hans Holbein dem Jüngeren also zeigen können, wie er Heinrich VIII. im Handumdrehen hätte ablichten können, statt ihn mühselig in Öl zu porträtieren.

Das Auffüllen des Periodensystems der Elemente, die Nutzung von Sprengstoffen und die Anwendung der Fotografie als ein Werkzeug der Wiederentdeckung werden für eine Zivilisation, die nach der Apokalypse neu startet, wichtige Aktivitäten sein. Aber in dem Maße, wie sich die Gesellschaft erholt und wieder aufblüht, wird sie immer größere Mengen der in diesem Buch erörterten Substanzen benötigen. Und um diesen Bedarf zu befriedigen, muss die Zivilisation die fortgeschrittenen Verfahren der industriellen Chemie neu entwickeln.

 

Industrielle Chemie

 

Wir hören oft, die industrielle Revolution und die Erfindung ausgeklügelter mechanischer Apparate, die dem Menschen mühevolle Arbeiten abnahmen, hätten das Tempo des Fortschritts enorm beschleunigt und die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts von Grund auf verändert. Der Übergang zu einer fortgeschrittenen Zivilisation hängt jedoch mit der Erfindung chemischer Verfahren zur großtechnischen Synthese der notwendigen Säuren, Alkalien, Lösungsmittel und anderer Stoffe, die für das reibungslose Funktionieren einer technisierten Gesellschaft unabdingbar sind, genauso zusammen wie mit der Verfügbarkeit von Maschinen zur Automatisierung des Spinnens und Webens, aber auch von Dampfmaschinen.

Viele der lebensnotwendigen Güter, die wir in diesem Buch behandelt haben, basieren auf denselben Reagenzien, die die Umwandlung von in der Umwelt gesammelten Rohstoffen in die benötigten Konsumgüter oder sonstigen Produkte ermöglichen. Und in dem Maße, wie die Bevölkerung im Lauf der Generationen wächst, wird Ihre Fähigkeit, den Bedarf an diesen Schlüsselsubstanzen mit Hilfe der einfachen Verfahren, die wir bislang betrachtet haben, zu decken, nicht mehr ausreichen. Dies droht den weiteren Fortschritt aufzuhalten.

Wir konzentrieren uns hier auf die Herstellung zweier Substanzen, bei denen es in der Geschichte der westlichen Industrieländer zu schwerwiegenden Versorgungsengpässen kam: Soda Ende des 18. Jahrhunderts und Nitrat Ende des 19. Jahrhunderts. Auch eine postapokalyptische Gesellschaft muss unbedingt eine ausreichende Versorgung mit beiden Stoffen sicherstellen. Wie also kann eine sich erholende Zivilisation die Beschränkungen abstreifen, die damit verbunden sind, dass sie für die Soda-Herstellung auf Asche und für die Nitrat-Gewinnung auf Dung angewiesen ist? Beginnen wir mit der großtechnischen Herstellung von Soda, die den eigentlichen Beginn der industriellen Chemie markierte.

Wie wir gesehen haben, ist Soda (Natriumcarbonat) eine äußerst wichtige Verbindung, die bei einer Vielzahl grundlegender chemischer Prozesse eingesetzt wird. Soda ist unverzichtbar als Flussmittel zum Schmelzen von Sand bei der Glasherstellung (über die Hälfte der weltweiten Produktion von Natriumcarbonat wird heute zur Glasherstellung verwendet), und wenn es in Ätznatron (Natriumhydroxid) umgewandelt wird, ist es das beste Agens, um die zentralen chemischen Reaktionsschritte bei der Herstellung von Seife und der Aufspaltung der Pflanzenfasern, die zur Papierherstellung benötigt werden, zu beschleunigen. Glas, Seife und Papier sind Säulen der Zivilisation, und seit dem Mittelalter sind wir für ihre Produktion auf eine kontinuierliche, kostengünstige Versorgung mit Alkali angewiesen.

Traditionell wurde der Bedarf an Alkali durch Pottasche aus verbranntem Holz gedeckt, und im 18. Jahrhundert führte die ausgedehnte Entwaldung Europas dazu, dass Pottasche aus Nordamerika, Russland und Skandinavien eingeführt werden musste. Doch für viele Anwendungen wird Soda bevorzugt (das daraus hergestellte Ätznatron ist ein wesentlich stärkerer hydrolisierender Wirkstoff als Ätzkali), das man in Spanien durch Verbrennung des einheimischen Salzkrauts und an der schottischen und irischen Küste aus Seetang (Kelp), der bei Stürmen an Land gespült wurde, gewann. Natriumcarbonat wurde auch aus getrockneten Seeboden-Ablagerungen des Minerals Natron in Ägypten gewonnen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann aber mit dem starken Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum in Europa die Nachfrage nach Soda das Angebot aus diesen natürlichen Quellen zu übersteigen, was zwangsläufig auch in einer sich erholenden Gesellschaft der Fall sein wird. Da gewöhnliches Meersalz und Soda chemisch miteinander verwandt sind,34 stellt sich die Frage, ob man eine in fast unbegrenzter Menge verfügbare Substanz in einen ökonomisch äußerst wichtigen Rohstoff umwandeln kann.

Ein einfaches zweistufiges Verfahren, das im 18. Jahrhundert von dem französischen Chemiker Nicolas Leblanc entwickelt wurde, besteht darin, Salz mit Schwefelsäure reagieren zu lassen und das Produkt dann mit grob zerkleinertem Kalkstein und Holzkohle in einem Brennofen bei etwa 1000°C zu rösten, wobei man eine schwarze, aschige Substanz erhält. Da das Natriumcarbonat, das Sie interessiert, wasserlöslich ist, können Sie es mit genau der gleichen Technik, die Sie bei Seetang anwenden würden, ausschwemmen. Aber auch wenn dieses Leblanc-Verfahren eine leicht durchführbare Methode zur Umwandlung von Salz in Soda ist, die Sie von den Beschränkungen verbrannter Pflanzen oder Minerallagerstätten befreit, ist es überaus ineffizient und geht mit der Freisetzung giftiger Abfallprodukte einher.35 Die neustartende Zivilisation sollte also im Idealfall das einfache, aber verschwenderische Leblanc-Verfahren überspringen und direkt ein effizienteres Verfahren nutzen.

Das Solvay-Verfahren ist etwas komplizierter, nutzt aber in genialer Weise Ammoniak, um den Kreis zu schließen: Die Reagenzien, die dabei zum Einsatz kommen, werden innerhalb des Prozesses wiederverwertet, was die nicht verwertbaren Abfallprodukte und damit auch die Umweltverschmutzung auf ein Minimum reduziert. Im Zentrum des Solvay-Verfahrens steht folgende chemische Reaktion: Wenn eine konzentrierte Kochsalzlösung mit einer Verbindung namens Ammoniumbicarbonat versetzt wird, verbindet sich das Bicarbonat-Ion mit Natrium zu Natriumhydrogencarbonat (identisch mit dem Backtriebmittel), das dann einfach durch Erhitzen in Soda umgewandelt werden kann. Der erste Schritt besteht darin, die konzentrierte Kochsalzlösung durch zwei Türme zu leiten, wobei man zuerst Ammoniakgas und dann Kohlendioxid durch das Salzwasser hindurchperlen lässt, in dem sie sich lösen und zu dem gewünschten Ammoniumbicarbonat verbinden. Die Austauschreaktion geschieht mit dem Salz, wobei Natriumhydrogencarbonat entsteht, das nichtlöslich ist und sich daher als Bodensatz ablagert, der aufgefangen werden kann. Das Ammoniak ist der wichtigste Zusatzstoff in dieser Phase, da es die Kochsalzlösung alkalisch hält und so dafür sorgt, dass sich das Natriumhydrogencarbonat nicht lösen kann, wodurch die beiden Salze fein säuberlich getrennt bleiben.

Das für diesen ersten Schritt benötigte Kohlendioxid wird in einem Hochofen aus Kalk ausgebrannt (in genau der gleichen Weise, wie Kalk zur Herstellung von Mörtel und Beton gebrannt wird). Der zurückbleibende Branntkalk (Calciumoxid) wird der Kochsalzlösung zugeführt, nachdem das Soda entnommen wurde, und frischt das Ammoniak auf, das ursprünglich durch die Lösung gesprudelt wurde und jetzt wiederverwendet werden kann. Das Solvay-Verfahren verbraucht also insgesamt bloß Kochsalz und Kalkstein und produziert neben dem gewünschten Soda lediglich Calciumchlorid als Abfallstoff, das seinerseits als Streusalz für eisglatte Straßen genutzt werden kann. Dieser elegante, in sich geschlossene Kreisprozess, der die Schlüsselsubstanz Ammoniak geschickt wiederverwertet und sich nur auf recht einfache chemische Reaktionsschritte stützt, ist weltweit noch immer das wichtigste chemische Verfahren zur Sodaherstellung (außer in den Vereinigten Staaten, wo in den 1930er Jahren in Wyoming ein großes Vorkommen des Natriumcarbonatminerals Trona entdeckt wurde). Und für eine neustartende Zivilisation stellt das Solvay-Verfahren eine hervorragende Gelegenheit dar, weniger effiziente und umweltbelastende, gesundheitsgefährdende Alternativen zur Herstellung des so wichtigen Grundstoffs Soda zu überspringen.

 

 

 

Eine Sodafabrik der Solvay Process Co. in New York im späten 19. Jahrhundert (oben).

Die vier Teilschritte des Solvay-Verfahrens zur künstlichen Synthese von Soda (unten).

Man sieht, dass die Wiederverwertung von Ammoniak im Zentrum dieses überaus

wichtigen chemischen Prozesses steht.

 

Das Solvay-Verfahren wandelt eine reiche Quelle des Elements Natrium (gewöhnliches Kochsalz) in die so vielseitig verwendbare alkalische Verbindung Soda um. Aber eine fortschreitende Zivilisation wird schon bald bei einem anderen wichtigen Grundstoff mit Versorgungsengpässen konfrontiert sein. Einer der chemischen Prozesse, der für alle heute lebenden Menschen von zentraler Bedeutung ist, betrifft das Element Stickstoff und eine weitere wundersame Umwandlung einer gewöhnlichen Substanz in eine vielseitig anwendbare anorganische Grundchemikalie.

Bezogen auf die bloße Anzahl von Menschen, die in ihrem Alltagsleben direkt davon betroffen sind, war der tiefgreifendste technologische Fortschritt des 20. Jahrhunderts nicht die Erfindung des Flugzeugs, der Antibiotika, elektronischer Rechner oder der Kernenergie, sondern das Verfahren zur Synthese einer einfachen, übelriechenden Chemikalie: Ammoniak. Wie wir bereits mehrfach gesehen haben, sind Ammoniak und die verwandten (und daher chemisch ineinander umwandelbaren) stickstoffhaltigen Verbindungen Salpetersäure und Nitrate gewissermaßen die chemischen Grundsteine der Zivilisation. Nitrate sind unverzichtbar für die Herstellung von Düngemitteln und Sprengstoffen; in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts kam es jedoch in den Industrieländern zu Versorgungsengpässen. Die Nachfrage begann das Angebot zu übersteigen, und die USA und europäische Staaten befürchteten nicht nur, den Munitionsbedarf ihrer Armeen nicht mehr decken zu können, sondern auch, weit schlimmer, ihre Bürger nicht mehr ausreichend mit Lebensmitteln versorgen zu können.

Jahrtausendelang reagierte eine wachsende Bevölkerung auf ihren zunehmenden Nahrungsmittelbedarf automatisch damit, noch mehr Land für den landwirtschaftlichen Anbau zu roden. Doch sobald das verfügbare Land erschöpft ist, kann man den Lebensmittelbedarf einer wachsenden Zahl hungriger Mäuler nur noch dadurch decken, dass man den Ertrag der gleichen Anbaufläche steigert. Wie wir in Kapitel 3 sahen, kann man dies erreichen, indem man entweder den Boden mit Mist düngt oder Leguminosen anpflanzt. Wenn aber die Bevölkerung eine bestimmte Grenze erreicht – wenn das Boot voll ist, sozusagen –, stößt die Zivilisation unweigerlich auf Schwierigkeiten. Man kann nicht mehr Dung produzieren, da man das Vieh mit Pflanzen füttern müsste, das zuvor auf dem Land angebaut worden ist, und man kann nicht mehr Felder mit Leguminosen bepflanzen, da dies die für den Anbau von Ährenfrüchten verfügbare Fläche verringern würde. Sie haben die Tragfähigkeitsgrenze der organischen Landwirtschaft erreicht.

Die einzige Abhilfe besteht darin, Stickstoff von außerhalb des landwirtschaftlichen Kreislaufs zuzuführen. Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch war die westliche Landwirtschaft in hohem Maße abhängig von importiertem Guano und Salpeter, der in der chilenischen Wüste abgebaut wurde. Aber diese Quellen waren bald erschöpft, und der Präsident der British Association for the Advancement of Science, Sir William Crookes, warnte im Jahr 1898: »Wir zehren vom Kapital der Erde, und unsere Wechsel werden nicht ewig eingelöst werden« (eine Warnung, die wir vernünftigerweise heute befolgen sollten, da der unersättliche Appetit unserer Zivilisation auf Rohöl und andere Bodenschätze deren Vorkommen zu erschöpfen droht). Die Welt, die wir hinterlassen, wird diese natürlichen Nitratvorkommen bereits aufgezehrt haben, und eine reifende postapokalyptische Zivilisation wird früh genug an diese Mauer stoßen.

Die Erdatmosphäre ist reich an Stickstoffgas (molekularem Stickstoff, Distickstoff) – jeder unserer Atemzüge besteht zu fast 80 Prozent aus Stickstoff –, aber es ist auch in widerspenstiger Weise reaktionsträge. Die beiden Stickstoffatome werden durch eine Dreifachbindung fest zusammengehalten; und tatsächlich ist Distickstoff (N2) die am wenigsten reaktionsbereite zweiatomige Substanz, die wir kennen. Deshalb lässt er sich nur sehr schwer in zugängliche Formen umwandeln – »fixieren«. Ende des 19. Jahrhunderts war man sich darüber im Klaren, dass es für den weiteren zivilisatorischen Fortschritt selbst von entscheidender Bedeutung war, eine Methode zur Fixierung von Stickstoff zu finden – anders gesagt, dass die Chemie die Menschheit retten musste.

Die Lösung, die 1909 entdeckt wurde und noch heute weithin angewendet wird, besteht im Haber-Bosch-Verfahren. Auf den ersten Blick wirkt das Verfahren bestechend einfach. Stickstoff, das häufigste Gas in der Erdatmosphäre, und Wasserstoff, das häufigste Element im gesamten Universum, sind die einzigen Rohstoffe, die in einem Reaktionsbehälter im Verhältnis eins zu drei gemischt werden und sich zu NH3 verbinden – Ammoniak. Stickstoff lässt sich einfach aus der Luft saugen, und Wasserstoff wird heute aus Methan hergestellt, aber er lässt sich auch durch Elektrolyse aus Wasser gewinnen. Um molekularen Stickstoff dazu zu bringen, sich an der Reaktion zu beteiligen, müssen die robusten Bindungen, die die Zwillingsatome zusammenklammern, aufgetrennt werden, und dazu bedarf es eines Katalysators. Eine poröse Form von Eisen, die mit Kaliumhydroxid (dem Ätzkali, das wir auf S. 132 behandelt haben) als Katalysator versetzt wird, um dessen Wirksamkeit zu steigern, eignet sich gut, um diese Reaktion anzutreiben. Da die Reaktion niemals zum Abschluss kommt, werden die Gase abgekühlt, damit sich das gewünschte Produkt als Ammoniakregen niederschlägt, der abgeleitet und gespeichert werden kann. Die Gase, die noch nicht chemisch umgesetzt wurden, werden wiederholt in den Reaktor eingeleitet, bis praktisch alles erfolgreich umgewandelt wurde. Doch steckt auch hier, wie bei so vielen Dingen, der Teufel im Detail, und das Haber-Bosch-Verfahren lässt sich eigentlich nur schwer in Gang setzen.

Viele chemische Reaktionen verlaufen in der Regel nur in eine Richtung: Sie sind eine Einbahnstraße von Reaktionspartnern, die sich zu Produkten rekombinieren. So werden zum Beispiel in einer brennenden Kerze die Kohlenwasserstoffmoleküle im Wachs durch den Verbrennungsprozess zu Wasser und Kohlendioxid oxidiert, während die umgekehrte Umsetzung niemals spontan ablaufen würde. Andere chemische Prozesse hingegen sind umkehrbare Reaktionen, und die beiden gegenläufigen Umwandlungen finden gleichzeitig in beide Richtungen statt. »Reaktanten« werden in »Produkte« umgewandelt, aber diese werden gleichzeitig zurückverwandelt. Die Umwandlung zwischen einem Stickstoff-Wasserstoff-Gemisch und Ammoniak ist ein derartiger umkehrbarer Prozess, und um das gewünschte Endprodukt zu erhalten, müssen Sie daher die Bedingungen innerhalb des Reaktors entsprechend sorgfältig gestalten. Für die Herstellung von Ammoniak bedeutet dies, dass Sie für eine hohe Betriebstemperatur (um 450°C) und einen enorm hohen Druck (um 200 Atmosphären) sorgen müssen. Und diese extremen Bedingungen für den Reaktor und die Rohrleitungen sind der Grund dafür, dass das Haber-Bosch-Verfahren so schwer zu steuern ist. Weit mehr als die anderen Schlüsselverfahren, die die Hitze eines Hochofens erfordern – wie die Glasherstellung oder das Metallschmelzen –, ist die Stickstofffixierung eine absolute technische Meisterleistung. Wenn Ihre postapokalyptische Gesellschaft keinen geeigneten Reaktionsbehälter auftreiben kann, müssen Sie lernen, wie man einen industriellen Dampfdruckkochtopf baut.

Stickstoffgas dazu zu bringen, sich mit Wasserstoff zu Ammoniak zu verbinden, ist lediglich der erste Schritt. Sobald der Stickstoff fixiert wurde, müssen Sie ihn in eine allgemein nützlichere Chemikalie umwandeln: Salpetersäure. Das Ammoniak wird in einem Hochtemperatur-Konverter oxidiert – dies ist nicht bloß ein Hochofen, sondern ein Gefäß, das Ammoniakgas selbst unter Verwendung eines Platin-Rhodium-Katalysators als Energieträger verbrennt. Dies ist auch die Legierung, die sich in dem Katalysator im Auspuff von Pkws findet, der die Schadstoffemissionen verringert, und sie sollte sich daher relativ leicht auftreiben lassen. Das produzierte Stickstoffdioxid wird dann in Wasser gelöst, um Salpetersäure zu erzeugen.

Keines dieser Produkte – Ammoniak und Salpetersäure – kann direkt auf das Feld eines Landwirts ausgebracht werden, um dort das Pflanzenwachstum zu fördern: Das erste ist zu alkalisch, das zweite zu sauer. Aber wenn die beiden einfach zusammengemischt werden, neutralisieren sie sich und bilden das Salz Ammoniumnitrat, und dieses ist ein hervorragender Dünger, da es eine doppelte Dosis leicht erschließbaren Stickstoffs enthält. Wie wir in Kapitel 7 gesehen haben, wird Ammoniumnitrat auch in der Medizin angewendet, da es unter Freisetzung des anästhetisch wirkenden Distickstoffoxids (Lachgas) zerfällt. Es ist außerdem ein starkes Oxidationsmittel und kann daher zur Herstellung von Sprengstoffen genutzt werden.36 Das Haber-Bosch-Verfahren wird eine postapokalyptische Gesellschaft, die zu einer industrialisierten Zivilisation heranreift, also von der Abhängigkeit befreien, Dung oder Guano zu sammeln, Holzasche zu wässern oder Salpetervorkommen abzubauen, um eine ausreichende Versorgung mit der höchst wichtigen Grundchemikalie Nitrat zu gewährleisten, und Ihnen stattdessen erlauben, das praktisch unbegrenzte Reservoir an Stickstoff in der Atmosphäre anzuzapfen.

Heute werden mit dem Haber-Bosch-Verfahren jährlich etwa 100 Millionen Tonnen synthetisches Ammoniak erzeugt, und daraus hergestellte Dünger ernähren ein Drittel der Weltbevölkerung – etwa 2,3 Milliarden Menschen. Und da die in der Nahrung, die wir essen, enthaltenen Rohstoffe in unsere Zellen eingebaut werden, besteht etwa die Hälfte des Eiweißes in unserem Körper aus Stickstoff, der dank der technologischen Fähigkeiten unserer Spezies auf künstlichem Wege fixiert worden ist. In gewisser Weise ist unser Körper also teilweise industriell hergestellt.

 

 

30 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veranstaltete der französische Kaiser Napoleon III. ein Bankett mit Aluminiumbesteck, um seine illustren Tischgäste zu beeindrucken. Dabei ließ er statt mit Tafelsilber mit Aluminiumzeug eindecken. Paradoxerweise war Aluminium zugleich das häufigste und das wertvollste Metall auf der Erde. Aber nach der Entwicklung eines geeigneten Flussmittels und des Einsatzes der Elektrolyse zur Massenproduktion erlebte Aluminium einen jähen Absturz vom prestigeträchtigen königlichen Tafelservice zur Trivialität von Getränkedosen, die millionenfach weggeworfen werden.

 

31 Seit den 1930er Jahren sind wir einen Schritt weiter gegangen und haben weitere Zeilen am unteren Ende des Periodensystems mit Elementen aufgefüllt, die nicht in der Natur vorkommen, sondern technisch hergestellt wurden – Atome mit einem Kern, der so dicht mit Protonen und Neutronen bepackt ist, dass sie äußerst instabil sind und in einem radioaktiven Schauer praktisch augenblicklich zerfallen. Daher haben wir unsere gesamte Geschichte hindurch nicht nur neue Werkstoffe – Keramiken wie Glas oder Metallgemische wie Stahllegierungen – oder neuartige Moleküle wie die organischen Kunststoffpolymere zusammengebraut, sondern auch gelernt, wie man Elemente selbst umwandelt und so den Traum der Alchemisten verwirklicht. Und eine Zivilisation, die in unsere Fußstapfen tritt, könnte das Gleiche erreichen, wenn sie tatkräftig genug zu Werke geht.

 

32 Sie könnten mit Hilfe einer Kamera selbst nach sehr langen Zeiträumen noch die Existenz einer vorausgehenden, technologisch fortgeschrittenen Zivilisation nachweisen. Ein Foto des Nachthimmels, das in der Nähe des Himmelsäquators (90° vom Pol entfernt: siehe Kapitel 12) mit einer Belichtung von einer oder zwei Minuten aufgenommen wurde, wird alle Sterne aufgrund der Erdumdrehung in einen krummen, verschmierten Streifen verwandeln. Aber gelegentlich werden Sie etwas sehr Merkwürdiges erspähen: winzige Lichtpunkte, die überhaupt nicht verschmiert sind. Diese scheinbar am Himmel befestigten Objekte bewegen sich mit genau der gleichen Geschwindigkeit, mit der sich die Erde um sich selbst dreht – künstliche Gebilde, die absichtlich in dieser besonderen Konfiguration rings um die Erde angeordnet wurden. Es sind geostationäre Satelliten, die in einem ganz bestimmten Abstand, in dem die Umlaufzeit genau einem Tag entspricht, einen Ring um den Äquator legen; diese Satelliten verharren über demselben Punkt der Erdoberfläche und eignen sich daher als Relaisstationen für den Nachrichtenverkehr. Ihre Umlaufbahn ist zudem stabil, und lange nachdem all unsere Städte und andere, von Menschenhand erschaffene Gegenstände zu Staub zerfallen sind und begraben wurden, bestehen sie als Monumente unserer technologischen Zivilisation in der unberührten Umgebung des Weltraums fort, leicht auszumachen, wenn man weiß wie.

 

33 Während wir uns mit der Chemie des Silbers befassen, sollten wir eine weitere damit verbundene wichtige Fähigkeit erwähnen: die, einen Spiegel herzustellen, der, jenseits bloßer Eitelkeit, als eine grundlegende Komponente von Hochleistungsteleskopen oder des für die Navigation notwendigen Sextanten unverzichtbar ist. Alkalische Ammoniaklösung (Hirschhorngeist, vgl. Kapitel 5) wird mit dem Silbernitrat und etwas Zucker gemischt und dann über die Rückseite einer sauberen Glasplatte gegossen. Der Zucker reduziert das Silber wieder zu einem reinen Metall und lagert daher eine dünne glänzende Schicht direkt auf der Glasoberfläche ab.

 

34 In der modernen Sprache der Chemie würden wir sagen, dass gewöhnliches Meersalz (Natriumchlorid) und Soda (Natriumcarbonat) Salze derselben Base sind (Natriumhydroxid, traditionell auch Ätznatron genannt).

 

35 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden sie einfach als Giftmüll abgeladen: Wasserunlösliche Haufen aus dunklem, aschigem Calciumsulfid wurden in den Feldern um die Sodafabriken herum aufgeschichtet, und Wolken aus Chlorwasserstoff quollen aus hohen Schornsteinen und verursachten schwere Schäden an den Pflanzen in der Umgebung. Im Jahr 1863 verabschiedete Großbritannien den Alkali Act, der den Eintrag von Chlorwasserstoff in die Luft verbot – das erste moderne Gesetz gegen Luftverschmutzung. Die Sodafabriken begannen daraufhin, dieses wasserlösliche Gas auszuwaschen, indem sie ihre Kaminschlote von oben mit Wasser besprengten und die dabei entstehende Salzsäure direkt in den nächsten Fluss einleiteten, wodurch sie geschickt das Gesetz umgingen, indem sie die Luftverschmutzung in eine Wasserverschmutzung umwandelten!

 

36 Timothy McVeigh lud über zwei Tonnen Ammoniumnitrat-Dünger in den Lkw, mit dem er den Bombenanschlag in Oklahoma City durchführte, und eine der größten nichtnuklearen Explosionen der Welt ereignete sich 1947, als ein Brand auf einem Schiff, das über 2000 Tonnen dieser Verbindung geladen hatte, dazu führte, dass es im Hafen von Texas City in die Luft flog.