© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022
S. Boblest et al.Spezielle und allgemeine Relativitätstheoriehttps://doi.org/10.1007/978-3-662-63352-6_23

23. Hinführung zur Kosmologie

Sebastian Boblest1  , Thomas Müller2 und Günter Wunner3
(1)
Dürnau, Deutschland
(2)
Max-Planck-Institut für Astronomie, Haus der Astronomie, Heidelberg, Deutschland
(3)
Universität Stuttgart, 1. Institut für Theoretische Physik, Stuttgart, Deutschland
 

Die Kosmologie beschäftigt sich mit dem Aufbau sowie der Entstehung und Entwicklung des Kosmos als Ganzem. Sie versucht zu verstehen, wie sich das Universum in den Zustand entwickelt hat, den wir heute beobachten, und wie die zukünftige Entwicklung aussehen wird.

Der Mensch hat sich über diese Fragen in der einen oder anderen Form schon immer Gedanken gemacht. Bereits in der Antike gab es Modelle für unser Universum, insbesondere die Philosophen in Griechenland beschäftigten sich mit solchen Fragen. Ptolemäus1 entwickelte ein Weltbild, in dem sich die Erde im Mittelpunkt des Weltalls befindet und vom Mond, der Sonne und allen Planeten umkreist wird. Diese Vorstellung setzte sich durch, obwohl zum Beispiel Aristarchos von Samos2 bereits ein heliozentrisches Weltbild vertrat. Erst Kopernikus3 und Kepler entdeckten das heliozentrische Weltbild mit der Sonne im Mittelpunkt des Weltalls wieder.

23.1 Überblick

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist es mit Hilfe immer leistungsstärkerer Teleskope im Zusammenspiel mit der neu entwickelten ART möglich geworden, die Kosmologie als auf Beobachtungen basierte Naturwissenschaft zu betreiben, nachdem sie vorher eher eine philosophische Disziplin war. Einen besonders starken Einfluss auf die Entwicklung der Kosmologie hatten die Galaxienbeobachtungen von Hubble. Er konnte nachweisen, dass sich praktisch alle Galaxien von uns wegbewegen und zwar umso schneller, je weiter sie von uns entfernt sind. Auf seine Beobachtungen gehen wir in Abschn. 23.3 ein.

Die ART wurde im kosmologischen Rahmen erstmals von Einstein 1917 angewendet [2]. Da auf kosmologischen Längenskalen die Gravitation die dominierende Wechselwirkung ist, fußt die Kosmologie auf der ART, denn sie ist nach derzeitigem Wissen diejenige Theorie, die die Gravitation am besten beschreibt. Bei unserer Behandlung der ART haben wir gesehen, dass diese uns mit den Feldgleichungen eine Relation zwischen der Geometrie des Raumes und der Materie-, bzw. allgemeiner der Energieverteilung im Raum vorgibt. Allerdings legt die ART die Energieverteilung im Universum nicht fest. Durch Symmetriebetrachtungen werden wir in Kap. 24 die Menge der möglichen Energieverteilungen auf eine physikalisch begründete Untermenge einschränken, die wir dann mathematisch genauer untersuchen können. Die entsprechenden Überlegungen hat bereits Einstein im oben zitierten Artikel [2] vorgenommen. Wir werden sehen, dass auch nach dieser Einschränkung noch eine Vielzahl an freien Parametern übrig bleibt.

Die ART liefert uns also nicht ein Bild unseres Universums, sondern eine ganze Vielzahl möglicher Modelle. Aus den Einstein'schen Feldgleichungen können wir aber unter den erwähnten Symmetriebetrachtungen einfachere Differentialgleichungen herleiten, die diese Modelle beschreiben. In den Kap. 25 und 26 leiten wir diese Gleichungen her und besprechen verschiedene Lösungen. Die letztliche Auswahl desjenigen Modells, das unser Universum am besten beschreibt, muss anhand von Beobachtungsergebnissen folgen. In Kap. 27 besprechen wir dazu, wie man Beobachtungen des Universums mit diesen Modellen vergleichen kann.

Besonders in den letzten beiden Jahrzehnten haben neue Erkenntnisse unsere Vorstellungen über das Universum sehr erweitert und verändert. Beobachtungen weit entfernter Supernovae mit dem Hubble Space Telescope ließen den Schluss zu, dass unser Universum entgegen allen Erwartungen beschleunigt expandiert. Diesen Beobachtungen ist Kap. 28 gewidmet.

Die Entdeckung des Mikrowellenhintergrundes in den sechziger Jahren lieferte starke Hinweise darauf, dass das Universum aus einem Urknall hervorgegangen ist, und die genaue Analyse des Mikrowellenhintergrundes insbesondere mit den Satelliten COBE, WMAP und vor kurzem Planck lieferte und liefert detaillierte Informationen über das junge Universum, wie wir in Kap. 29 sehen.

Selbst über die allerersten Sekundenbruchteile nach dem Urknall werden heute Überlegungen angestellt und mit Beobachtungen verglichen. Wir werden aber sehen, dass für die Entwicklung des ganz jungen Universums, aber auch bei der Diskussion der möglichen Zukunft unseres Universums, noch weitere Überlegungen notwendig sind, die zum Teil auch über die ART hinausgehen und die Berücksichtigung von quantenmechanischen Effekten nötig machen, für die noch keine umfassende Theorie vorliegt. Mit diesen Überlegungen befassen wir uns in Kap. 30.

Beginnen möchten wir unsere Diskussion aber mit einem jahrhundertealten Problem, das im Laufe der Zeit einer großen Zahl von Forschern Kopfzerbrechen bereitet hat und ein erstes Gefühl für die Problemstellungen in der Kosmologie vermitteln soll.

23.2 Olbers’ Paradoxon

Dieses nach Heinrich Olbers4 benannte Problem können wir vereinfacht in Form einer Frage formulieren: Warum ist es in der Nacht dunkel? Olbers beschäftigte sich anfangs des 19. Jahrhunderts mit diesem Problem, vor ihm war es aber schon vielen anderen Forschern bekannt, und es lässt sich mindestens bis Thomas Digges und Johannes Kepler im 16. Jahrhundert zurückdatieren.

Auf den ersten Blick mag die Antwort auf diese Frage offensichtlich sein: Nachts ist es dunkel, weil die Sonne hinter der Erde steht und uns ihr Licht nicht erreichen kann. Gleichzeitig sind die anderen Sterne viel zu weit entfernt, um eine, im Vergleich zur Sonne, nennenswerte Lichteinstrahlung zu verursachen. Allein zu erkennen, dass die Antwort auf diese Frage bei weitem nicht so einfach ist, ist daher schon eine Leistung, die großen Respekt verdient.

Bei einer genaueren Betrachtung ergeben sich nämlich für diese Argumentation Probleme. Angenommen, unser Universum sei unendlich groß und die Dichte n der Sterne sei im Mittel konstant im ganzen Universum. Wir wollen auch die unterschiedlichen Sterntypen vernachlässigen und annehmen, alle Sterne im Universum hätten die gleiche Leuchtkraft L. Der uns von einem Stern in der Entfernung r erreichende Strahlungsstrom S hängt dann über
$$ S(r)=\frac{L}{4\pi {r}^2} $$
(23.1)
mit der Entfernung zusammen. Wir kennen diesen Zusammenhang bereits aus Kap. 1, wo wir analog in (1.​59) die Solarkonstante aus der Sonnenleuchtkraft berechnet haben.
Um den gesamten Strahlungsstrom dSges aller Sterne in einer Entfernung zwischen r und r + dr zu berechnen, müssen wir den Strahlungsstrom eines dieser Sterne mit der Anzahl der Sterne dN = n dV in der Kugelschale zwischen r und r + dr multiplizieren. Da die Oberfläche der Kugel O = 4πr2 quadratisch mit r steigt (s. Abb. 23.1), erhalten wir dV = 4πr2 dr und weiter
$$ \mathrm{d}{S}_{\mathrm{ges}}\sim S(r)\mathrm{d}N(r)\sim \frac{n4\pi {r}^2}{4\pi {r}^2}\mathrm{d}r=n\, \mathrm{d}r. $$
(23.2)
Für alle Sterne des von uns angenommenen Universums erhalten wir dann den Strahlungsstrom
$$ {S}_{\mathrm{ges}}\sim \underset{0}{\overset{\infty }{\int }}n\, \mathrm{d}r\to \infty . $$
(23.3)
Nach unserer einfachen Überlegung müsste der Nachthimmel also unendlich hell sein. Wie können wir diese offensichtliche Diskrepanz zum beobachteten, dunklen Nachthimmel erklären?
Abb. 23.1

Bei homogener Sterndichte im Universum steigt die Anzahl dN der Sterne im Volumen zwischen den Kugeln mit Radius r und r + dr quadratisch mit r, während der Fluss pro Stern quadratisch mit r abnimmt. In der Abbildung gilt also $$ \mathrm{d}{N}_2/ \mathrm{d}{N}_1={r}_2^2/ {r}_1^2 $$ aber für einen Stern bei r2 und einen Stern bei r1 ergibt sich das Strahlungsstromverhältnis $$ {S}_2/ {S}_1={r}_1^2/ {r}_2^2 $$ bei der Erde. Für den gesamten Strahlungsstrom Sges auf der Erde liefert daher jede Kugelschale den gleichen Beitrag und dieser divergiert daher

Ein erster Schritt ist zu erkennen, dass wir gerechnet haben, als wenn Sterne punktförmige Gebilde wären. Wenn wir berücksichtigen, dass reale Sterne ausgedehnte Objekte sind, dann ändert das unsere Vorhersage erheblich. Sehr weit entfernte Sterne werden jetzt mit einer mit der Entfernung steigenden Wahrscheinlichkeit von näher bei uns gelegenen Sternen verdeckt. Egal wohin wir schauen, nach einer bestimmten Entfernung landen wir auf der Oberfläche eines Sterns. Damit können weiter entfernte Sterne nicht mehr zum Strahlungsstrom auf der Erde beitragen. Ein anschauliches Analogon zu dieser Situation ist ein Wald. Egal in welche Richtung man schaut, irgendwann steht ein Baum im Weg und verhindert, dass man aus dem Wald herausschauen kann, solange der Wald nur groß genug ist. Bei einem unendlich großen Wald spielt es keine Rolle, wie dünn verteilt die Bäume sind oder ob sie in Gruppen angeordnet sind, so wie Sterne sich in Galaxien sammeln. Irgendwann kommt in jeder Richtung ein Baum. In Abb. 23.2 ist diese Situation für einen Himmelsausschnitt veranschaulicht. In diesem Fall könnten wir aber dann immer noch einen Nachthimmel erwarten, der in jeder Richtung etwa so hell ist wie die Sonne. Hier ist die Entfernung zu den Sternen nicht entscheidend, wie man sich leicht klarmachen kann. Befindet man sich nämlich im Inneren einer Kugel, deren Innenoberfläche homogen mit konstanter Leistung leuchtet, so erscheint diese Kugel einem unabhängig von ihrem Radius mit einer bestimmten Helligkeit. Die Argumentation ist auch hier die, dass von einer doppelt so großen Kugel pro Fläche nur ein Viertel der Strahlungsleistung bei uns ankommt, gleichzeitig die Fläche der Kugel aber viermal so groß ist. Da die Sonne nur etwa 1∕180.000 des Himmels ausfüllt, würde auf die Erde in diesem Fall das 180.000-fache ihrer Strahlungsleistung fallen, genug um alle Ozeane zu verdampfen und auch die Erde in kurzer Zeit zu schmelzen.
Abb. 23.2

In einem unendlich großen Universum mit ausgedehnten Sternen liegt in beliebiger Blickrichtung irgendwo die Oberfläche eines Sterns, ähnlich wie in einem Wald in jeder Richtung irgendwo ein Baum im Blick steht

Allein die Berücksichtigung der endlichen Größe von Sternen hilft uns also nicht, das Paradoxon aufzulösen. Auch die Annahme, dass etwa interstellarer Staub unsere Sicht auf weit entfernte Sterne verdunkelt, hilft uns nicht weiter. Dieser Staub würde sich solange erhitzen, bis er die gleiche Temperatur wie die Sternoberflächen hätte und dementsprechend gleich hell strahlen würde.

Wir müssen also noch zusätzliche Annahmen ins Spiel bringen, um das Paradoxon aufzulösen, diese gehen aber letztlich alle in die gleiche Richtung: Wenn der Himmel dunkel ist, dann liegt nicht in jeder Richtung am Himmel ein Stern, den wir sehen können.

Wenn das so ist, dann muss eine unserer Vorbedingungen falsch sein. Es könnte etwa sein, dass die Strahlungsleistung von Sternen schneller als mit dem Quadrat des Abstandes abnimmt. Wie wir sehen werden, ist das in gewissen kosmologischen Modellen aufgrund der Raumkrümmung tatsächlich so. Oder es gibt ab einer bestimmten Entfernung von der Erde keine Sterne mehr. Eine Lösung des Paradoxons könnte also ein endlich großes Universum sein. Kepler ging von diesem Fall aus [6]. Es ist aber auch möglich, dass unser Universum zwar unendlich groß, aber nicht unendlich alt ist, sodass das Licht sehr weit entfernter Sterne noch nicht genug Zeit hatte, um uns zu erreichen. Aus dem Olber'schen Paradoxon erhalten wir also bereits einen Hinweis darauf, dass unser Universum möglicherweise nicht unendlich groß, bzw. nicht statisch oder nicht unendlich alt ist. In Abb. 23.3 finden sich Skizzen, die die gerade diskutierten Fälle veranschaulichen.
Abb. 23.3

Skizzen zur Erklärung des Olber'schen Paradoxons. (a) In einem unendlich ausgedehnten Universum mit punktförmigen, unendlich alten Sternen wäre der Himmel unendlich hell. (b) Durch die endliche Ausdehnung der Sterne ist die Sicht zu weiter hinten liegenden Sternen durch weiter vorn liegende verdeckt. (c) In einem endlich großen Universum gibt es in manchen Richtungen am Himmel keinen Stern. (d) Ähnliches gilt auch in einem endlich alten Universum, dort hatte das Licht weit entfernter Sterne nicht genug Zeit, den Beobachter zu erreichen

Wie bereits erwähnt, hat das Olber'sche Paradoxon im Laufe von Jahrhunderten sehr viele Forscher beschäftigt und es wurden die unterschiedlichsten Lösungsansätze vorgeschlagen. Der interessierte Leser findet in einem Artikel von Harrison [5] einen kurzen geschichtlichen, aber auch wissenschaftlichen Überblick. Wer sich noch mehr in das Thema vertiefen möchte, dem sei das Buch ,,Darkness at Night: A Riddle of the Universe“ [6] des selben Autors empfohlen.

23.3 Edwin Hubbles Entdeckungen

Die Entdeckungen Hubbles5 haben in den 1920er und 1930er Jahren starken Einfluss auf das Bild, das sich die Wissenschaft vom Universum machte, gehabt. So konnte er eine damals zentrale Frage der Kosmologie beantworten: Besteht das Universum nur aus der Milchstraße oder gibt es noch andere Galaxien? Seine wohl wichtigste Beobachtung aber war die Feststellung, dass weit entfernte Galaxien sich von uns fortbewegen. Damit legte er den Grundstein für die Idee eines expandierenden Universums. Der erste, der sich mit dieser Idee beschäftigte, war er allerdings nicht, bereits 1927 hatte sich Lemaître Gedanken über ein expandierendes Universum gemacht. Hubble benutzte für seine Arbeit das 1917 in Betrieb genommene Hooker Teleskop am Mt. Wilson Observatorium mit einem 2,5 m großen Spiegel, das bis 1948 das größte Teleskop der Welt war [9].

23.3.1 Entdeckung anderer Galaxien

Als Hubble 1919 an das Mt. Wilson Observatorium kam, war die vorherrschende Meinung, dass das Universum nur aus der Milchstraße bestehe. Hubble gelang es, in mehreren Spiralnebeln, von denen damals unklar war, ob sie einfach Nebel innerhalb der Milchstraße oder eigene Galaxien waren, veränderliche Sterne, so genannte Cepheiden , zu entdecken. 1908 hatte Leavitt6 mehrere Cepheiden in der großen und kleinen Magellanschen Wolke beobachtet. Dabei hatte sie bemerkt, dass eine enge Relation zwischen der Periodendauer P der Sterne und ihrer absoluten Helligkeit M in der Form
$$ M={M}_0-f\log P $$
(23.4)
besteht [3, 8]. Die Konstante f lässt sich dabei leicht aus der Messung mehrerer Cepheiden bestimmen. Für Distanzbestimmungen ist dieser Zusammenhang aber erst geeignet, wenn auch die absolute Helligkeit M0 eines Referenz-Cepheiden mit Periode P0 bestimmt werden kann. Dazu muss die Entfernung zu diesem Stern bestimmt werden. Eine erste solche Messung führte Shapley [12] durch. Damit können Cepheiden als Standardkerzen verwendet werden. Darunter versteht man Objekte, deren absolute Helligkeit aus bestimmten Eigenschaften hergeleitet werden kann, ohne ihre Entfernung zu uns zu kennen. Aus der scheinbaren Helligkeit kann man dann die Entfernung zu einem solchen Objekt bestimmen. Dafür spielen Cepheiden bis heute eine wichtige Rolle. Eine weitere Standardkerze sind die in Abschn. 20.​4 angesprochenen Supernovae Typ Ia, auf deren kosmologische Anwendung wir in Kap. 28 eingehen.

Hubble beobachtete in den Jahren 1922–23 mehrere solcher veränderlichen Sterne, unter anderem im Andromedanebel, und konnte nun nachweisen, dass diese viel zu weit entfernt waren, als dass sie Teil der Milchstraße sein konnten. Hubble stellte seine Ergebnisse 1925 bei einer Konferenz der American Astronomical Society vor und veränderte damit die Vorstellung über unser Universum einschneidend.

23.3.2 Entfernungsabhängige Rotverschiebung

Bereits 1912 hatte Slipher7 begonnen, die spektrale Verschiebung von Galaxien zu beobachten. Seine erste Messung, die er 1913 veröffentlichte, führte er am Andromedanebel durch. Zufälligerweise ist dies eine der wenigen blauverschobenen Galaxien, da der Andromedanebel sich auf uns zubewegt [13]. In den Folgejahren analysierte Slipher aber die Spektren vieler Galaxien und entdeckte, dass die meisten rotverschoben waren.

Hubble machte sich 1929 daran, eine mögliche Relation zwischen der Rotverschiebung von Galaxien und ihrer Entfernung von uns zu finden. Während die Messung der Rotverschiebung einer Galaxie relativ leicht möglich ist, ist die Bestimmung ihrer Entfernung eine sehr viel schwierigere und mit größeren Fehlern behaftete Aufgabe. Eine der Methoden, mit der Hubble dies versuchte, basierte auf der gerade erwähnten P-M-Relation [7]. Hubble fand tatsächlich einen einfachen linearen Zusammenhang zwischen Rotverschiebung und Entfernung, und zwar waren die Galaxien umso stärker rotverschoben, je größer ihre Entfernung war. Bei den Objekten, die Hubble beobachtete, war die Rotverschiebung klein, etwa in der Größenordnung z < 0,04 ≪ 1. Wenn man, wie Hubble es tat, als Ursache für die Rotverschiebung den Dopplereffekt annimmt, so kann man einer bestimmten Rotverschiebung über den in Abschn. 8.​1.​3 gefundenen Zusammenhang zβ (s. (8.​17)) eine Geschwindigkeit, mit der sich die entsprechende Galaxie von uns entfernt, zuordnen.

Hubble fand also heraus, dass sich alle Galaxien, bis auf wenige nicht sehr weit entfernte Ausnahmen, von uns entfernen, und zwar um so schneller, je weiter sie von uns entfernt sind. Dabei gilt zwischen dieser Fluchtgeschwindigkeit genannten Geschwindigkeit v und der Entfernung d der lineare Zusammenhang
$$ v={H}_0d. $$
(23.5)
Der Proportionalitätsfaktor H0 heißt Hubble-Konstante . Aus (23.5) sieht man sofort, dass die Hubble-Konstante die Einheit s−1 (eins pro Sekunde) haben muss. Aus historischen und praktischen Gründen gibt man ihren Wert aber meist in der etwas ungewohnten, aber natürlich äquivalenten, Einheit km s−1 Mpc−1 an. Abb. 23.4 zeigt eine Skizze aus Hubbles Veröffentlichung von 1929. Aus dem Bild wird die große Streuung der gemessenen Geschwindigkeiten im Vergleich zur für die jeweilige Entfernung erwarteten Geschwindigkeit deutlich. Dies liegt daran, dass die Galaxien zufällige Geschwindigkeitsanteile aufweisen können, so wie sich der Andromedanebel etwa auf uns zubewegt. Diese nicht von der Expansion des Universums herrührenden, für jedes Objekt verschiedenen, Geschwindigkeiten heißen Pekuliargeschwindigkeit, in der englischen Literatur wird von ,,peculiar velocity“ gesprochen. Der Ursprung dieser Bezeichnung ist das lateinische Adjektiv ,,peculiaris“, das mit ,,eigentümlich“ übersetzt werden kann. Die Pekuliargeschwindigkeit ist also eine jedem Objekt eigentümliche Geschwindigkeit und unabhängig von der Dynamik des Universums. Objekte, die keine Pekuliarbewegung durchführen, bzw. solche, die so weit von uns entfernt sind, dass ihre Pekuliargeschwindigkeit vernachlässigbar ist gegen die Fluchtgeschwindigkeit, heißen mitbewegte Objekte bzw. englisch ,,comoving objects.“ Die Pekuliargeschwindigkeit kann benutzt werden, um Strukturen im Universum zu definieren. So wurde ganz aktuell in [14] untersucht, wie groß der Bereich um unsere Galaxie herum ist, in dem die Pekuliargeschwindigkeiten nach innen zeigen. Diese uns umgebende Region des Universums erhielt den Namen Laniakea. Sie hat einen Durchmesser von etwa 160 Mpc.
Abb. 23.4

Originaldarstellung von Edwin Hubble zur entfernungsabhängigen Fluchtgeschwindigkeit von Galaxien. Später zeigte sich, dass die von ihm angenommenen Entfernungen viel zu klein waren. (Aus Hubble [7], mit freundlicher Genehmigung)

Aus seinen Messwerten bestimmte Hubble den Wert von H0 auf etwa 500 km s−1 Mpc−1. Die von ihm bestimmten Entfernungen zu den beobachteten Galaxien waren allerdings viel zu klein, sein Wert war daher deutlich zu groß. Der genaueste Wert für H0, der im Wesentlichen mit Hubbles Methode bestimmt wurde, lautet H0 = 72 ± 8 km s−1 Mpc−1 [4]. Für diese Beobachtungen wurde das Hubble Space Teleskop benutzt. Noch genauere Werte ergeben sich aus Beobachtungen der kosmischen Mikrowellenhintergrundstrahlung, und zwar aus den 9-Jahresdaten der WMAP-Mission [1] sowie den Messungen des Planck-Satelliten [10] mit (s. Kap. 29)
$$ {\displaystyle \begin{array}{rll}{H}_{0,\mathrm{WMAP}}&amp; =69,32\pm 0,80\, \mathrm{km}\, {\mathrm{s}}^{-1}\, \mathrm{M}{\mathrm{pc}}^{-1}&amp; \\ {}{H}_{0, Planck}&amp; =67,66\pm 0,042\, \mathrm{km}\, {\mathrm{s}}^{-1}\, \mathrm{M}{\mathrm{pc}}^{-1}.\end{array}} $$
(23.6)

Bei diesen Beobachtungen blickt man in das frühe Universum zurück. Bestimmungen der Hubble-Konstanten im lokalen Universum haben dagegen in jüngster Zeit zu dem viel größeren Wert 74,22 ± 1,82 km s−1 Mpc−1 geführt [11]. Wir werden auf diese sogenannte Hubble-Kontroverse in Kap. 29 zurückkommen.

Bei den kleinen Rotverschiebungen, die Hubble beobachtete, lag die Interpretation als Dopplerverschiebung nahe. Wir werden sehen, dass mit heutigen Instrumenten Objekte beobachtet werden, für die z ≫ 1 gilt. In diesem Fall entspräche dies einer Geschwindigkeit v > c. Eine Fluchtgeschwindigkeit größer als die Lichtgeschwindigkeit steht allerdings nicht im Widerspruch zur SRT, weil wir als Ursache die Ausdehnung des Raumes betrachten, relativ zu dem die jeweiligen Galaxien in Ruhe sind. Außerdem ist die Definition einer Geschwindigkeit zweier Beobachter an verschiedenen Orten nur im flachen Raum trivial möglich, wie wir in Abschn. 11.​2.​7 bereits diskutiert haben. Wir gehen auf dieses Thema später nochmals genauer ein, wenn wir die Rotverschiebung quantitativ diskutieren.

Wenn sich alle Galaxien voneinander mit einer zu ihrer Entfernung proportionalen Geschwindigkeit entfernen, so müssen sie früher offensichtlich näher beisammen gewesen sein. Wenn wir annehmen, dass ihre Geschwindigkeit sich nicht verändert hat, so können wir über die Bedingung
(23.7)
berechnen, wie lange sie jeweils gebraucht haben, um ihre heutige Entfernung von uns zu erreichen. Wir finden also
$$ t={H}_0^{-1}. $$
(23.8)
Anders gesagt: Vor einer Zeit $$ t={H}_0^{-1} $$, die Hubble-Zeit heißt, waren alle Galaxien in Kontakt, vorausgesetzt, dass sie sich seitdem mit konstanter Geschwindigkeit voneinander entfernen. Die Zeit $$ {H}_0^{-1} $$ kann daher als Abschätzung für das Alter des Universums verwendet werden. Die Metriken, die wir zur Beschreibung des Universums verwenden (s. Abschn. 24.​2), enthalten einen zeitabhängigen Skalenfaktor a(t). Der Abstand zwischen Galaxien beispielsweise ist dann proportional zu diesem Skalenfaktor, da(t), und die Fluchtgeschwindigkeit zur Zeitableitung, $$ v\sim {a}_{,t}(t)=\dot{a}(t) $$. Analog zur Hubble-Konstante können wir dann den Hubble-Parameter definieren als
$$ H(t)=\frac{a_{,t}(t)}{a(t)}. $$
(23.9)
Der Wert der Hubble-Konstante ergibt sich dann als Wert des Hubble-Parameters heute:
$$ {H}_0=H\left({t}_0\right). $$
(23.10)
Wenn wir für ein bestimmtes Modell den Skalenfaktor a(t) haben, so hat die Tangente an die Kurve a(t) an einer Stelle t0 die Steigung a,t(t0). Der Wert von $$ {H}_0^{-1} $$ wäre also das Alter des Universums, wenn es sich für alle Zeit linear ausgedehnt hätte, denn dann wäre a(t0) = a,t(t0)t0. Bei abgebremster Expansion wird bei dieser Abschätzung das Alter des Universums überschätzt, bei beschleunigter Expansion ist sowohl eine Überschätzung als auch eine Unterschätzung möglich. Abb. 23.5 zeigt diese beiden Fälle. Mit dem Wert für die Hubble-Konstante aus (23.6) erhalten wir als Abschätzung für das Alter unseres Universums
Abb. 23.5

Mit der Hubble-Zeit $$ {H}_0^{-1}=a\left({t}_0\right)/ \dot{a}\left({t}_0\right) $$ kann das Alter des Universums abgeschätzt werden. (a) Bei abgebremster Expansion ist der Schätzwert für das Weltalter zu groß. (b) Bei beschleunigter Expansion ist eine Überschätzung, aber auch eine Unterschätzung möglich

$$ {H}_0^{-1}=\left(1,41\pm 0,02\right)\cdotp 1{0}^{10}\, \mathrm{y}. $$
(23.11)
Um diesen Wert zu erhalten, müssen wir H0 in Einheiten von s−1, bzw. y−1 umrechnen, mit Hilfe des Zusammenhangs 1 Mpc = 3,2616 · 10ly. Wie wir später sehen werden, ist (23.11) eine sehr gute Abschätzung.
Wir können noch eine wichtige Größe aus (23.5) ableiten, und zwar sehen wir sofort, dass für d = cH0 die Fluchtgeschwindigkeit, mit der sich eine Galaxie von uns fortbewegt, gleich der Lichtgeschwindigkeit wird. Diese charakteristische Entfernung heißt Hubble-Distanz. Aus (23.11) sehen wir, dass die Hubble-Distanz in unserem Universum
$$ c{H}_0^{-1}=\left(1,41\pm 0,02\right)\cdotp 1{0}^{10}\, \mathrm{ly} $$
(23.12)
beträgt. Da $$ {H}_0^{-1} $$ aber eine Abschätzung für das Alter des Universums ist, ist die Hubble-Distanz auch eine Abschätzung für die maximale Strecke, die ein Lichtstrahl im Universum bisher zurücklegen konnte. Aus Regionen, die weiter von uns entfernt sind, konnte uns noch keine Information erreichen. Sie liegen hinter einem Horizont, ähnlich wie die Regionen mit r < rs in der Schwarzschild-Metrik. Man nennt diesen den Teilchenhorizont.