Die Lorentz-Invarianz der physikalischen Gesetze führt zu einer Vielzahl von Phänomenen, die in der nichtrelativistischen, durch die Galilei-Transformation bestimmten Physik nicht auftreten. Praktisch alle diese Konsequenzen der SRT widersprechen unserem Alltagsverständnis, weil sie erst bei hohen Geschwindigkeiten große Effekte aufweisen.
4.1 Verlust der Gleichzeitigkeit
Wir haben alle ein elementares Verständnis, was es bedeutet, wenn zwei Ereignisse „gleichzeitig“ stattfinden. Praktisch jeder von uns besitzt heute mindestens eine sehr genau gehende Uhr und wir müssen nur die jeweiligen Uhrzeiten vergleichen, die z. B. zwei Beobachter an unterschiedlichen Orten bei bestimmten Ereignissen gemessen haben, und können dann entscheiden, ob diese beiden Ereignisse, innerhalb der Messgenauigkeit, gleichzeitig stattgefunden haben.
Woher wissen wir aber, dass beide Uhren wirklich synchron gehen? Bei den Genauigkeiten, die im Alltag wichtig sind, ist diese Frage nebensächlich, wir können die beiden Uhren einfach zusammenbringen und vergleichen. Auf einer fundamentaleren Ebene ist diese Frage aber überhaupt nicht trivial, denn um die beiden Uhren zusammenzuführen, muss mindestens eine aus ihrem Ruhsystem herausbewegt werden, dabei transformieren sich ihre Koordinaten entsprechend der Lorentz-Transformation. Weil dabei die Zeit mittransformiert wird, zerstört dieser Vorgang tatsächlich die Synchronität.
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Schema zur Uhrensynchronisation. Zwei Uhren im Abstand d werden genau dann auf t = 0 gestellt, wenn der Lichtstrahl, der in der Mitte gleichzeitig zu beiden Uhren ausgesendet wurde, sie erreicht
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Das System Sʹ bewege sich mit der Geschwindigkeit β = 0,5 relativ zu S. Zwei Ereignisse E1 und E2, die im System Sʹ zur gleichen Zeit, aber an unterschiedlichen Orten stattfinden, finden im System S nicht gleichzeitig statt. Die grauen, gestrichelten Linien geben Orte gleicher Zeit in Sʹ an, wohingegen die schwarzen, gepunkteten Linien Orte gleicher Zeit in S bestimmen
Wenn die Gleichzeitigkeit von Ereignissen vom Inertialsystem abhängt, so kann auch die zeitliche Abfolge von Ereignissen in unterschiedlichen Systemen verschieden sein. Auf den ersten Blick erscheint das unphysikalisch, denn eine willkürliche zeitliche Abfolge von Ereignissen scheint das Kausalitätsprinzip von Ursache und Wirkung zu verletzen. Die Lösung für dieses Problem liegt darin, dass die hier betrachteten Punkte jeweils raumartige Intervalle bilden. Zwei in einem Inertialsystem zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten stattfindende Ereignisse sind nicht kausal verbunden. Die Abfolge zeitartiger, d. h. möglicherweise kausal verknüpfter, Ereignisse dagegen ist in jedem Inertialsystem gleich, auch wenn hier verschiedene Zeitdifferenzen möglich sind.
4.2 Lorentz-Kontraktion bewegter Maßstäbe
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Längenkontraktion eines in Sʹ ruhenden Stabes der Länge lʹ. Die in S ruhenden Beobachter OA und OB messen zur Zeit ct0 die Länge l. Sʹ bewegt sich gegenüber S mit β = 0,5
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
Wir betrachten später noch genauer, was die Lorentz-Kontraktion für die Beobachtung schnell bewegter Körper bedeutet. Dabei wird durch unterschiedliche Lichtlaufzeit von verschiedenen Punkten eines Objektes die Lorentz-Kontraktion nicht direkt beobachtbar.
4.3 Bewegte Uhren: Zeitdilatation
Der Verlust der Gleichzeitigkeit, den wir in Abschn. 4.1 besprochen haben, widerspricht unserer alltäglichen Erfahrung vom Ablauf der Zeit. Noch unverständlicher wird es, wenn wir Zeitdifferenzen von unterschiedlichen Bezugssystemen aus untersuchen.
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Die Uhr, die im Koordinatenursprung des Systems S′ ruht, zeigt eine Zeitdifferenz cΔt′ an. Im System S entspricht das einer Zeitdifferenz cΔt
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
Ohne weitere Anmerkungen würden wir mit dem bisher Gesagten in ein Paradoxon laufen, denn wir könnten die Situation auch so betrachten, dass Sʹ ruht und S sich bewegt, was aufgrund des Relativitätsprinzips vollkommen legitim wäre. Dann würde aber die Zeitdifferenz im System S kürzer dauern als in Sʹ und wir hätten einen Widerspruch. Der entscheidende Punkt ist, dass wir die Zeitdifferenz in S nicht vom Ort der Uhr im Ursprung beurteilen können. Tatsächlich brauchen wir, wie im Beispiel der Lorentz-Kontraktion, mindestens zwei synchronisierte, ruhende Uhren in S, die an den Orten und
die jeweilige Zeit
und
der bewegten Uhr ablesen.
Der Effekt der Zeitdilatation kann sehr gut bei kurzlebigen Elementarteilchen nachgewiesen werden. Beim Auftreffen der kosmischen Strahlung auf die Atmosphäre entstehen z. B. sich mit sehr hoher Geschwindigkeit bewegende Myonen. Diese haben eine mittlere Lebensdauer Δt ≈ 2 · 10−6 s.
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Skizze zum Experiment von Rossi und Hall [5]. Beim Auftreffen der kosmischen Strahlung auf die Atmosphäre entstehen kurzlebige Myonen (μ−) mit einer Lebensdauer von etwa 2 · 10−6 s. Je nach Meereshöhe eines Beobachtungspunktes erreichen unterschiedlich viele dieser Teilchen den Erdboden
Ein sehr schöner Versuch mit echten Uhren wurde 1972 von Hafele und Keating [3, 4] durchgeführt. Sie schickten Atomuhren in Linienflügen um die Welt einmal in Ost- und einmal in Westrichtung. Bei diesem Versuch treten auch allgemein-relativistische Effekte aufgrund der Erdgravitation auf (s. Abschn. 13.4.6).
4.4 Paradoxa der SRT
Die Eigenschaften der Lorentz-Invarianz führen sehr leicht zu scheinbaren Widersprüchen. Widersprüchliche Vorhersagen würden die SRT aber „ad absurdum“ führen, d. h. als physikalische Theorie unbrauchbar machen.
Die SRT ist vermutlich diejenige Theorie, in der die größte Anzahl solcher Paradoxa diskutiert wird. In diesem Abschnitt besprechen wir einige solcher scheinbaren Widersprüche. Mit den gerade diskutierten Problemstellungen sind wir aber gut gerüstet, diese aufzulösen.
4.4.1 Das Stab-Rahmen-Paradoxon
Wir betrachten einen bewegten Stab der Länge l und einen ruhenden Rahmen mit derselben Länge l. Wegen der Längenkontraktion hat der Stab im Ruhsystem des Rahmens die Länge l∕γ und passt daher bequem in den Rahmen. Wir sehen jedoch sofort einen scheinbaren Widerspruch:
„Im Ruhsystem des Rahmens erfährt der Stab eine Längenkontraktion und passt in den Rahmen. Im Ruhsystem des Stabes dagegen erfährt der Rahmen eine Längenkontraktion. Der Stab passt nicht in den Rahmen.“
Um dieses Paradoxon aufzulösen müssen wir präzise darlegen, was die Sprechweise „passt in den Rahmen“ bedeutet. Wir verstehen darunter, dass sich Anfangs- und Endpunkt gleichzeitig innerhalb des Rahmens befinden. Wie wir gesehen haben ist aber Gleichzeitigkeit eine inertialsystemabhängige Eigenschaft. Darin liegt der Schlüssel zur Auflösung unseres Problems.
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
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

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Stab-Rahmen-Paradoxon aus Sicht des Ruhsystems S des Rahmens. Die Weltlinien und
kennzeichnen die Randpunkte des Rahmens, wohingegen die Weltlinien
und
die Endpunkte des Stabes angeben
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

Stab-Rahmen-Paradoxon aus Sicht des Ruhsystems S′ des Stabes
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
Das scheinbare Paradoxon zeigt sich nun darin, dass der Stab länger ist als der gemessene Abstand zwischen den Rändern des Rahmens, zum Beispiel zur Zeit und daher nicht hineinpasst. Um dieses Paradoxon zu lösen, verabschieden wir uns zunächst von der Vorstellung eines starren Stabes und eines soliden Rahmens und betrachten die jeweiligen Endpunkte und Randpunkte als Punktereignisse. Dies ist schon allein deshalb notwendig, da wir nur eine räumlich eindimensionale Bewegung betrachten und daher ein solider Rahmen schon bei der ersten Berührung unseren Stab aufhalten würde.
Die anfängliche Problematik des Paradoxons, ob der Stab nun durch den Rahmen „passt“ oder nicht, können wir wie folgt auflösen. Aus Sicht des Rahmensystems S „passt“ der Stab räumlich durch den Rahmen, da die Stabenden innerhalb der Ereignisse ② und ③ den Rahmen passieren. Aus Sicht des Stabsystems Sʹ „passt“ der Stab zeitlich durch den Rahmen, da wiederum seine Stabenden innerhalb der Ereignisse ② und ③ den Rahmen passieren.
4.4.2 Das Uhrenparadoxon
Betrachten wir zwei baugleiche Uhren. Die erste Uhr befinde sich im System S und die zweite im System Sʹ. Beide Uhren seien in ihrem jeweiligen Bezugssystem in Ruhe. Das System Sʹ bewege sich mit der Geschwindigkeit β entlang der positiven x-Achse des Systems S. Die gängige Aussage lautet nun, dass die zweite Uhr aufgrund der Zeitdilatation langsamer läuft, da sie sich, im Gegensatz zur ersten Uhr, bewegt. Der scheinbare Widerspruch ergibt sich hier, wenn wir die Situation im Ruhsystem der zweiten Uhr betrachten. Dort bewegt sich die erste Uhr und erfährt eine Zeitdilatation. Welche Uhr geht nun langsamer, die erste oder die zweite?
Zuerst müssen wir uns klar machen, dass wir nicht allein mit der ersten Uhr feststellen können, dass die zweite langsamer geht. Wir können nur zu dem Zeitpunkt, an dem sich die zweite Uhr am Ort der ersten befindet, ihre Uhrzeit ablesen. Um ein Zeitintervall messen zu können, müssen wir noch mit einer anderen Uhr vergleichen, die sich im System S an einem anderen Ort befindet. Wir führen also noch eine weitere Uhr im System S ein. Um die Situation in beiden Systemen gleichwertig diskutieren zu können, soll es auch noch eine weitere Uhr im System Sʹ geben. In beiden Systemen sollen die jeweils dort ruhenden Uhren synchronisiert sein und den gleichen Abstand voneinander haben. Unter diesen Voraussetzungen können wir die Ergebnisse des letzten Abschnittes verwenden, wobei Wir denken uns dazu an beiden Enden von Rahmen und Stab jeweils eine Uhr befestigt.
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





Uhrenparadoxon aus Sicht des Ruhsystems S. Die ruhenden Uhren in S folgen den Weltlinien und
. Die sich zu S relativ bewegenden Uhren sind durch die Weltlinien
und
gekennzeichnet



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Uhrenparadoxon aus Sicht des Ruhsystems S′. Hier bewegen sich die beiden Uhren des Systems S entlang der Weltlinien und
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Das Uhrenparadoxon gründet sich alleine darauf, dass sich die beiden Systeme S und Sʹ nicht über eine gemeinsame Zeitsynchronisierung einigen können. Welche Uhr langsamer geht, hängt also davon ab, mit welchem Bezugssystem wir Zeitdifferenzen bestimmen.
4.4.3 Das Zwillingsparadoxon
Dies ist wahrscheinlich das bekannteste Paradoxon der SRT. Betrachtet wird ein Zwillingspaar. Einer der Zwillinge bleibt auf der Erde, der andere reist mit hoher Geschwindigkeit und kehrt zur Erde zurück. Auf der Erde ist aufgrund der Zeitdilatation mehr Zeit vergangen als im Raumschiff. Das Paradoxon bei dieser Situation ergibt sich, wenn man sie aus der Sicht des anderen Zwillings betrachtet. Von dort aus betrachtet bewegt sich der Zwilling auf der Erde mit hoher Geschwindigkeit, es sollte also zu einer Zeitdilatation auf der Erde kommen.
Tatsächlich sind das Ruhsystems des Zwillings auf der Erde und das System des reisenden Zwillings in diesem Fall aber nicht gleichberechtigt. Der reisende Zwilling ist nicht während der gesamten Reise im gleichen Inertialsystem, da er, um zurückzukehren, beschleunigen muss. Aufgrund der dabei wirkenden Kraft ist es eindeutig, welcher der beiden Zwillinge sich bewegt und welcher während der gesamten Zeit ruht. Wir betrachten das Zwillingsparadoxon nochmals quantitativ am Ende von Kap. 6 im Rahmen der relativistischen Mechanik.
4.5 Übungsaufgaben
4.5.1 Das „Myonenparadoxon“
Wenn wir nochmal zu den Myonen zurückkommen, können wir ein scheinbares Problem bemerken. Im Ruhsystem der Myonen haben diese die Lebensdauer τ ≈ 2 · 10−6 s, denn dort geht ihre Uhr ja nicht langsamer. Warum können sie dann trotzdem die Erde erreichen?