Als hoch entwickelte Spezies der belebten Natur sind die Menschen vor dem Erreger von Covid-19 gleich. Wenn eine kritische Menge der Viruspartikel an ihren Lungenzellen andockt,1 werden sie infiziert. Doch dieses Risiko ist sehr ungleich verteilt, und damit kommen gesellschaftlich bedingte Faktoren ins Spiel, die die viel beschworene Gleichheit der Menschen vor SARS-CoV-2 zu einem gefährlichen Trugschluss machen.2 Menschen, die in überfüllten Wohnungen und Quartieren hausen, können keine physische Distanz zueinander wahren. Die im Gesundheitswesen und im Pflegebereich Tätigen konnten sich während der ersten Pandemiewelle kaum vor der Übertragung schützen. Sie teilten das Schicksal der zu ›essential workers‹ stilisierten Wenigerqualifizierten, die ihre beruflichen Tätigkeiten nicht von zu Hause fortsetzen konnten. Die gesellschaftlich bedingte Ungleichheit des Infektionsrisikos kombinierte sich darüber hinaus mit der Gefahr, dass Unterprivilegierte, Arme und institutionalisierte alte Menschen weitaus häufiger und schwerer erkrankten als Bessersituierte. Die chronischen Krankheiten – Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislaufschäden usw. – sind unter ihnen besonders stark verbreitet. Die mit der Pandemie einhergehende ökonomische Krise brachte sie um zig Millionen Jobs und erhöhte ihre Einkommensunsicherheit. Lang dauernde Stressreaktionen und psychische Störungen waren die Folge, und dies schwächte ihr Immunsystem. Alle diese Faktoren verstärkten die ohnedies vorhandenen gesellschaftlichen Asymmetrien. In allen Weltregionen verschärftem sich die sozialen Widersprüche – zum Nachteil der Armen, Prekären und großer Teile der Erwerbsabhängigen. Diese Entwicklung wurde von den sozialen Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen und Weltinstitutionen (Vereinte Nationen, International Labour Organization und andere) sorgfältig beobachtet. Deshalb ist es sechzehn Monate nach Pandemiebeginn möglich, eine erste Zwischenbilanz zu ziehen und die weitere Entwicklung abzuschätzen.
Das wichtigste soziale Phänomen der Coronakrise war die weltweite Ausweitung der extremen Armut, der übrigens – im Gegensatz zur Weltwirtschaftskrise 2008/2009 – ein solider Zuwachs des Reichtums gegenüberstand.3 Das ist aus historischer Perspektive nichts Neues. Dem ›Schwarzen Tod‹ waren vor allem die unterernährten und ausgebeuteten Bauern des Spätmittelalters zum Opfer gefallen.4 Während der ›Spanischen Grippe‹ hatten die zusätzlich von Hungerkatastrophen heimgesuchten Kolonialvölker Indiens und Afrikas besonders viele Tote zu beklagen. Sogar die Epidemien der letzten Jahrzehnte hatten die Prekären und Einkommensarmen am härtesten getroffen. Dessen ungeachtet hatten die führenden Weltinstitutionen die Überwindung der extremen Armut bis 2030 zu ihrer wichtigsten Agenda für die kommenden Jahrzehnte erklärt. Zunächst waren auch bemerkenswerte Fortschritte zu verzeichnen gewesen. Dieser Trend hatte sich jedoch seit Mitte der 2010er Jahre verlangsamt, und in allen Messbereichen – minimale Tageseinkommen bis zu 1,90, 3,20 und 5,50 US-Dollar sowie ›multidimensionale Armut‹5 – gerieten die bescheidenen Erfolge ins Wanken. Kurz vor Beginn der Covid-19-Pandemie litten noch immer 630 Millionen Menschen – 8 % der Weltbevölkerung – unter extremer Armut.
Die zur Bekämpfung der Pandemieausbreitung ergriffenen Maßnahmen brachten jedoch eine deutliche Trendumkehr. Es kam zu einem massiven Abbau der Arbeitsplätze in den formellen Wirtschaftssektoren und den Schattenökonomien gleichzeitig, und dies beraubte insbesondere die arbeitenden Armen der Möglichkeit, ihre schrumpfenden Einkommen wie in den vorherigen Krisen durch die Flucht in selbstständige Arbeiten wie Kleingewerbe, Straßenhandel und Tagelöhnerjobs auszugleichen. Die Weltbank errechnete anhand aktueller Daten und Hochrechnungen, dass für 2020 mit einem Anstieg der extremen Armut6 zwischen 88 und 115 Millionen Menschen (8,9 bzw. 9,1 % der Weltbevölkerung) zu rechnen war, und dass sich diese Quote sich 2021 auf 9,4 % erhöhen würde.7
Quellen: ILO, ILO Monitor: COVID-19 and the world of work. Seventh edition. Updated estimates and analysis, 25.1.2021; ILO, ILOSTAT explorer, Inactivity rate by sex and age, ILO modelled estimates, Nov. 2020 (%) – Annual, online in: https://www.ilo.org/shinyapps/bulkexplorer6/?lang=en&segment=indicator&id=EIP_2WAP_SEX_AGE_RT_A (Stand: 29.04.2021); ILO, ILOSTAT explorer: SDG indicator 8.5.2 – Unemployment rate (%) – Annual, online in: https://www.ilo.org/shinyapps/bulkexplorer51/?lang=en&segment=indicator&id=SDG_0852_SEX_AGE_RT_A#, (Stand: 21.4.2021); Andy Summer u. a.: Estimates of the impact of COVID-19 on global poverty, in: WIDER Working Paper 2020/43 (April 2020).
a) Die Zahlen zur extremen Armut 2018 und 2020 beziehen sich für Afrika auf das subsaharische Afrika, für Lateinamerika auf Lateinamerika und die Karibik, und für die arabischen Staaten auf den Mittleren Osten und Nordafrika. Die Zahlen für Europa und Zentralasien beziehen sich auf Osteuropa und Zentralasien. Die Zahlen für »High Income« beziehen sich hier auf die Einteilung der Weltbank in »Other High Income«-Länder.
b) Millionen Personen, die ein Tageseinkommen von unter 3,20 US-Dollar haben.
c) Wie Anm. b) dieser Tabelle.
d) Prozentuale Zunahme von 2018 zu 2020. Schätzungen unter Annahme einer 5- bis 20-prozentigen Schrumpfung des Einkommens oder Konsums infolge der Covid-19-Pandemie. Das Referenzjahr für Südasien (Zahlen unter »Asien-Pazifik« subsumiert) ist 2015.
e) Äquivalente Anzahl der Vollzeitarbeitsplätze (48 h/Woche) in Millionen.
f) In Relation zu Quartal 4/2019.
g) Zunahme in Relation zu 2019 in Millionen.
h) Zu- bzw. Abnahme in Relation zu 2019 in Millionen.
i) Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter, die nicht zur erwerbstätig oder arbeitslos sind, ausgedrückt in Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter.
j) Für das gesamte Europa lagen keine Zahlen vor. Die Inaktivitätsrate in % beträgt für Nordeuropa 37,3, für Osteuropa 41,8, für Südeuropa 47,6 und für Westeuropa 41,4.
Dabei würden allein auf Südasien mindestens 49 und höchstens 57 Millionen entfallen, und im subsaharischen Afrika wären zwischen 26 und 40 Millionen Menschen zusätzlich betroffen. Zusätzlich müsse man in den Schwellenländern von weiteren 72 Millionen Menschen ausgehen, die von extremer Armut betroffen seien. Ein Arbeitsteam der Vereinten Nationen präzisierte diese Bestandsaufnahme, wobei es nicht die Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts, sondern den Rückgang der verfügbaren Haushaltseinkommen und Verbrauchsmöglichkeiten zugrunde legte.8 Nach seinen Schätzungen konzentrierten sich zwei Drittel des Anstiegs der globalen Massenarmut auf Südasien und das subsaharische Afrika, Südostasien und die Pazifikregion folgten in deutlichem Abstand. Bis Ende 2020 bestätigte die globale Entwicklung diese Befürchtungen. Die verfügbaren Daten wiesen einen Rückgang der verfügbaren Haushaltseinkommen um etwa 10 % aus. Die extremste Variante der Massenarmut – Tageseinkommen bis zu 1,90 US-Dollar ist um mehr als 100 Millionen auf mindestens 870 Millionen Menschen – knapp 11,3 % der Weltbevölkerung – angestiegen.
Was besagen diese Daten und Zahlen für die soziale Wirklichkeit der Coronakrise? Sie beginnen sich mit Leben zu füllen, sobald wir berücksichtigen, aus welchen Schichten und Lebenslagen die Menschen stammen, die im Gefolge der Covid-19-Pandemie extrem verarmt sind. Die überwiegende Mehrheit der schon zuvor von extremer Armut Betroffenen lebt in den ländlichen Regionen der unterentwickelten Länder und Schwellenländer mit niedrigem Einkommen. Zu ihnen gesellten sich im Lauf des Jahrs 2020 die arbeitenden Armen aus den überfüllten großstädtischen Agglomerationen, allein im subsaharischen Afrika waren es bis zu 40 Millionen und in Südasien bis zu 57 Millionen Menschen.9 Sie stammten überwiegend aus den informellen Sektoren der Bauwirtschaft, des Dienstleistungsgewerbes und Kleinhandels sowie der arbeitsintensiven Industrieproduktion. Im Vergleich zu den chronisch Armen der ländlichen Regionen sind sie besser ausgebildet und verfügen auch über einen besseren Zugang zur Infrastruktur und zum Gesundheitswesen. Auch die Übergänge zu den in der Transatlantikregion ablaufenden Verarmungsprozessen waren fließend. Hier handelte es sich überwiegend um Kleingewerbetreibende, Straßenhändler, selbstständige Arbeiter der unteren Qualifikationsstufen und Taxifahrer. Aber auch arbeitende Arme, die ihre regulär bezahlten Teilzeit- und Minijobs verloren und in die ›Kurzarbeit‹ geschickt wurden, waren betroffen. Ihre Monatslöhne betrugen durchschnittlich 500 Euro, nun wurden sie auf 330 gekürzt. Zusätzlich verschwanden die Arbeitsstellen in den informellen Sektoren. Sie wurden über Nacht extrem arm und waren wie die übrigen neuen Armen auf karitative Hilfsorganisationen und Suppenküchen angewiesen. Das nahmen sie nicht immer apathisch hin. Ende Oktober 2020 kam es beispielsweise in Turin zu Sozialrevolten in den Armutsquartieren und zu Demonstrationszügen in die wohlhabende Innenstadt, wobei nicht wenige versuchten, ihre geschrumpften Einkommen durch die Plünderung renommierter Geschäftshäuser aufzubessern.10
Wo sich die extreme Armut ausbreitet, sind Hungerkatastrophen und beschleunigte Kinderarmut nicht weit – dies war vielleicht die drastischste Folge der Pandemiewellen und der gegen sie gerichteten Bekämpfungsversuche. In den 70 ärmsten Ländern waren nach übereinstimmenden Berichten des UN-Kinderhilfswerks und beteiligter Nichtregierungsorganisationen 45 % aller Kinder vom Zugang zu einer ausreichenden Ernährung, zu elementarer Hygiene und Gesundheitsversorgung und zum Schulunterricht abgeschnitten. Die Kinderarmut stieg weltweit auf 690 Millionen.11 Aber auch für die Zunahme des Hungers galt Covid-19 als ausgesprochener ›Brandbeschleuniger‹.12 Die einschlägigen Weltinstitutionen rechneten bis Ende 2020 mit einem Anstieg der Hungernden und vom Hungertod Bedrohten von 80 auf 130 Millionen Menschen, und der Anteil der von Unterernährung Betroffenen wurde auf über 250 Millionen geschätzt.
Wie viele Arbeitsplätze gingen durch den Lockdown verloren? Was geschah mit den einkommenslos Gewordenen, und wie entwickelten sich ihre Einkommen? Zur Klärung dieser Fragen stehen ständig aktualisierte Berichte der Weltinstitutionen, insbesondere der Internationalen Arbeitsorganisation und der OECD, zur Verfügung.13
Weltweit waren die arbeitenden Klassen von den mit der Pandemiebekämpfung einhergehenden Betriebsschließungen und Kontaktbeschränkungen betroffen, und zwar die sozial Abgesicherten genauso wie die Prekären und in den informellen Sektoren Beschäftigten. Im ersten Quartal 2020 wurden 5,6 % aller Arbeitsstunden gestrichen, und dies entsprach dem Abbau von 160 Millionen Vollzeitstellen bei 48-stündiger Wochenarbeitszeit. Dabei waren die Arbeiterinnen und Arbeiter Chinas und der übrigen Länder der asiatischen Pazifikregion mit 7,3 % bzw. 125 Millionen Arbeitsplätzen besonders betroffen.14 Im zweiten Quartal verschoben sich die territorialen Schwerpunkte nach Westen und Süden, und der Abbau der Arbeitsstunden und Arbeitsplätze erreichte mit 17,3 % bzw. 495 Millionen Arbeitsplätzen Dimensionen, die an die Große Depression der frühen 1930er Jahre heranreichten. Im dritten Quartal lockerten die meisten Regierungen die Restriktionen und erlaubten teilweise auch die Wiedereröffnung solcher Betriebe, die nicht als ›essenziell‹ bzw. ›systemwichtig‹ deklariert waren. Mit 12,1 % blieb der Rückgang der geleisteten Arbeitsstunden jedoch erheblich, sodass auch jetzt noch 345 Millionen Vollzeitarbeitsplätze vakant blieben; besonders betroffen waren wie im zweiten Quartal Südasien, Lateinamerika und die Karibik, das subsaharische Afrika und einige Länder des europäischen Kontinents. Für das letzte Quartal 2020 wurden unter der Annahme einer sich fortsetzenden Stabilisierung der Lage eine Arbeitsstundenlücke von 8,6 %, das Äquivalent von 245 Millionen Vollzeitjobs, vorausgesagt. Das war zweifellos zu optimistisch, denn unter dem Eindruck der dritten Pandemiewelle dürfte sich die tatsächliche Entwicklung eher der pessimistischen Prognosevariante (18,0 % bzw. 515 Millionen Arbeitsplätze) angenähert haben.15
Das war eine massive Verschlechterung der globalen Arbeitsverhältnisse. Sie war völlig abrupt gekommen, hatte alle Weltregionen und Arbeitsmärkte erfasst und übertraf die im Gefolge der Wirtschaftskrise von 2008/2009 entstandene Konstellation um das Zehnfache. Entscheidend war nun, was mit den um ihre Arbeitsmöglichkeiten gebrachten Erwerbsabhängigen geschah. Auf diesem sozialpolitisch brisanten Terrain ereignete sich Außergewöhnliches. Ein erheblicher Teil der aus dem Arbeitsprozess Ausgeschiedenen wurde nicht entlassen. Er behielt seinen Beschäftigtenstatus trotz der partiell oder vollständig unterbrochenen Verausgabung des Arbeitsvermögens. In vielen Fällen wurde die wöchentliche Arbeitszeit heruntergefahren, häufig blieben die Arbeiterinnen und Arbeiter ihrer Beschäftigung vollständig fern. Andere wurden durch die Quarantänemaßnahmen und andere Restriktionen isoliert und verschwanden eine Zeitlang als ›Inaktive‹ aus den Arbeitsverhältnissen. Nur ein kleiner Teil erlitt das klassische Krisenschicksal der abhängig Beschäftigten und tauchte in der Arbeitslosenstatistik auf.
Derartige sozialpolitische Maßnahmen hatte es auch schon früher gegeben, aber sie waren in ihrem Ausmaß neuartig und weltweit verbreitet. In den hochindustrialisierten Ländern Ostasiens und Europas blieb die überwiegende Mehrheit der Beschäftigungsverhältnisse intakt, obwohl die Betroffenen kaum oder überhaupt nicht arbeiteten. In Schwellenländern wie beispielsweise Mexiko, wo strikte Vorbeugemaßnahmen eingeführt wurden, blieb etwa die Hälfte der Arbeitsplätze erhalten, obwohl die Erwerbsabhängigen nicht arbeiteten. In den USA führten die Jobverluste zu einem erheblichen Anstieg der Arbeitslosigkeit und wurden nur zu einem Viertel durch Kurzarbeit abgefedert. Auch in Kanada war es ähnlich, jedoch verschwanden hier viele stillschweigend aus dem Arbeitsmarkt. Diese Option zur ›Inaktivität‹wurde sicher durch den Rückzug in die ländliche Subsistenzwirtschaft erleichtert. Ganz anders war es dagegen in den Entwicklungs- und Schwellenländern mit niedrigen Einkommen. Hier schied die überwiegende Mehrheit als ›Inaktive‹ aus den zumeist informellen Arbeitsverhältnissen aus, weil sie keinen Zugang mehr zu ihren kleingewerblichen Produktions- und Handelsbetrieben hatte. Quantifizieren lassen sich diese Befunde noch nicht ausreichend, aber die teilweise schon vorliegenden Länderstatistiken vermitteln erste Eindrücke.16 Dass es sich bei der fälschlich als ›Kurzarbeit‹ bezeichneten arbeitslosen Weiterbeschäftigung um ein Massenphänomen handelte, beweist vor allem die Entkopplung der Arbeitslosenstatistik vom drastischen Abbau der realen Arbeitsprozesse.
Infolgedessen spielte die Arbeitslosigkeit im ersten Jahr der Coronakrise mit Ausnahme der USA nur eine untergeordnete Rolle. Trotzdem sollte ihr Ausmaß nicht unterschätzt werden.17 Bis Juli 2020 stieg die Arbeitslosigkeit in Lateinamerika und der Karibik um 5 % und erreichte mit 41 Millionen Erwerbslosen einen noch nie zuvor registrierten Höchststand. In Schwellenländern wie der Türkei und Südafrika kletterte die Quote bis Herbst 2020 auf 14 bzw. 30,8 %, und in den noch immer unter der Austeritätspolitik der Eurozone leidenden Ländern Südeuropas näherte sie sich wieder den dramatischen Quoten der letzten Wirtschaftskrise. Das blieben bis Ende 2020 zwar Ausnahmen, aber selbst in den 33 OECD-Mitgliedsländern war im Herbst 2020 ein neuerlicher Anstieg zu verzeichnen. Bis Juni hatte sich die Arbeitslosenquote im Vergleich zu 2019 um 2,7 Punkte auf 8 % erhöht und war anschließend wieder leicht rückläufig. Dies änderte sich jedoch wieder ab Oktober, und nun rechneten die Experten bis Ende 2020 mit einem Anstieg auf annähernd 10 % sowie im Fall einer weiteren Pandemiewelle auf 12 %. Das war im Vergleich zu den einkommensarmen Schwellenländern ein eher bescheidener Zuwachs, der vor allem mit den Rückgängen der Arbeitslosenzahlen in den USA und Kanada sowie dem Aufbau eines umfassenden Systems der Ersatzentgelte für nicht arbeitende Weiterbeschäftigte in den fortgeschrittenen Schwellenländern und den meisten Industrienationen zu tun hatte.
Aus dem Wechselspiel von Arbeitsplatzabbau, arbeitsloser Weiterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit erklärt sich auch die Einkommensentwicklung in den Arbeiterhaushalten.18 Aufgrund der Betriebsschließungen und Kontaktbeschränkungen gingen in den ersten drei Quartalen des Jahrs 2020 Masseneinkommen im Umfang von 3,5 Billionen US-Dollar oder 5,5 % des in derselben Zeitspanne des Vorjahrs erzeugten globalen Bruttoinlandsprodukts verloren.19 Dieser gigantische Fehlbetrag musste durch die öffentliche Hand zumindest teilweise ersetzt werden, wenn er nicht auf die Arbeiterhaushalte durchschlagen sollte. Dies geschah auf dreierlei Weise: durch Kompensationszahlungen an die weiterbeschäftigten Nichtarbeitenden, durch die Zahlung von Arbeitslosengeld und das Wegsperren eines Teils der informell arbeitenden Armen, die als ›Inaktive‹ aus dem Arbeitsmarkt eliminiert wurden. Den nicht arbeitenden Weiterbeschäftigten wurden von den Arbeitsbehörden weltweit zwischen 60 und 80 % ihrer Einkommensausfälle erstattet, quantitative Angaben waren bis Frühjahr 2021 nicht erreichbar.20 Diese Beträge waren teilweise großzügiger bemessen als die Arbeitslosengelder und schlossen in den hoch entwickelten Nationalökonomien auch die höher qualifizierten Kategorien der selbstständigen Arbeiter ein.
Es flossen somit erhebliche Entgeltersatzleistungen, aber sie kompensierten die krisenbedingten Einkommensverluste keineswegs vollständig. Die weltweiten Arbeitseinkommen gingen in den ersten drei Quartalen des Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 10,7 % zurück.21 Sie fielen in den Schwellenländern mit niedrigen Einkommen mit 15,1 % am stärksten, gefolgt von den höher entwickelten Schwellenländern mit 11,4 % und den Industrieländern mit 9 %. Diese Unterschiede verweisen darauf, dass die Kompensation der Einkommensverluste der nichtarbeitenden Weiterbeschäftigten in den meisten OECD-Ländern deutlich höher ausfiel als in der übrigen Welt.
Durch die Pandemiebekämpfung wurden nicht nur die Arbeitsmärkte auseinandergerissen, sondern es kam auch zu Asymmetrien zwischen den sektorspezifischen Beschäftigungsverhältnissen.22 Zahlreiche Branchen wurden komplett oder weitgehend lahmgelegt, weil sie nur im Kontext persönlicher Kontakte funktionieren. Zu ihnen gehörten der Tourismus, das Beherbergungs- und Hotelgewerbe, die Gastronomie, die Sport-, Unterhaltungs- und Freizeitwirtschaft, aber auch große Teile des Transportwesens (Luftverkehr und Kreuzfahrtschiffe), des Handels und des arbeitsintensiv produzierenden Gewerbes. Diesen Hauptobjekten der Lockdowns standen andere Bereiche der gesellschaftlichen Reproduktion gegenüber, deren Weiterbetrieb im Verlauf der ersten Pandemiewelle für ›systemwichtig‹ erklärt wurde, insbesondere das Gesundheitswesen und der Pflegebereich, die Versorgungs- und Kommunikationsinfrastruktur, die öffentliche Verwaltung und der Lebensmittelsektor. In diesen unterschiedlich behandelten Branchen waren überwiegend Menschen beschäftigt, die über keine unbefristeten und sozial abgesicherten Arbeitsverträge verfügten. Sie hatten infolgedessen die Hauptlast zu tragen. Zugleich gehörten sie zu denjenigen Sektoren der arbeitenden Klassen, die sich am wenigsten wehrten, weil sie seit längerem über keine ins Gewicht fallende gewerkschaftlich-politische Repräsentation zur Wahrung ihrer kollektiven Interessen mehr verfügten.
Die Folgen waren für alle, die in diesen Branchen als selbstständige Arbeiter, Leiharbeiter, befristet Beschäftigte, niedrig Entlohnte und sozial Ungesicherte tätig waren, verheerend. In den ›nicht essenziellen‹ Sektoren wurden sie als Erste nach Hause geschickt, und damit endete auch ihr Beschäftigungsverhältnis. Ihre Haushaltseinkommen sanken überproportional stark. Da sie in der Regel wenig qualifiziert waren, kam für sie eine Übernahme in Telearbeit nicht in Frage. Aber auch für die einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzten Beschäftigten der ›systemwichtigen‹ Branchen gab es nur symbolische Dankesgesten. Den neu entdeckten ›Helden des Alltags‹ wurden lange Zeit die einfachsten Mittel der Basishygiene vorenthalten. Dazu gehörten nicht nur die Beschäftigten des Gesundheits- und Pflegesektors, sondern auch die Bau- und Landarbeiter, die Arbeiter der Reparatur- und Instandhaltungsbetriebe, die Leih- und Zeitarbeiter des produzierenden Gewerbes, die Bus- und LKW-Fahrer sowie die Kontraktarbeiter der Lebensmittel- und Fleischindustrie. Wenn sie erkrankten, verloren sie ihre Arbeitskontrakte und wurden in ihren Massenunterkünften eingeschlossen.
Besonders hart setzte die Coronakrise den im informellen Sektor Beschäftigten zu. Dabei handelte es sich um ein ausgesprochenes Massenphänomen: Allein von den 1,2 Milliarden ungesichert Beschäftigten der G20-Gruppe wurden 70 % (850 Millionen) schwer von den Folgen der Pandemiebekämpfung getroffen.23 Durchschnittliche 61 % mussten erhebliche Einkommensverluste hinnehmen, in der Gruppe der Schwellenländer waren es sogar 76 %. Fast 36 % ihrer Haushaltseinkommen fielen unter die relative Armutsgrenze.24 Für diesen massiven Rückschlag waren drei Faktoren maßgeblich. Erstens dominierten die informellen Arbeitsverhältnisse ausgerechnet in den am härtesten betroffenen Sektoren. In ihnen überwogen zweitens Einmann- oder Mikrobetriebe mit weniger als zehn Beschäftigten, die über keinerlei Krisenreserven verfügten. Drittens hatten die arbeitenden Armen keine oder nur minimale Zugänge zu den Arbeitslosen- und Krankenversicherungen, sodass sie keine Ansprüche auf Kompensationsleistungen geltend machen konnten.
Die zweite soziale Gruppe, die weltweit überproportional stark unter den Folgen der Pandemiebekämpfung zu leiden hatte, waren die Jugendlichen – die nachwachsende Generation der 15–24-Jährigen.25 Für die Annahme, dass sie zu den größten Verlierern der Coronakrise gehören, sprachen gegen Ende des Jahrs 2020 mehrere sozioökonomische Trends. Schon vor Beginn der Krise waren weltweit 76,7 % aller arbeitenden Jugendlichen (328 Millionen) im informellen Sektor beschäftigt, und davon waren 39,8 % als selbstständige Arbeiter registriert. Wenn wir bedenken, dass diese Quote in den Entwicklungsländern (95,4 %) und Schwellenländern mit niedrigen Durchschnittseinkommen (91,4 %) schon deutlich über dem globalen Durchschnitt lag und den Anteil der Erwachsenen um jeweils etwa 8 % übertraf, können wir abschätzen, welche soziale Katastrophe sich hier anbahnte. Zudem waren die jugendlichen Arbeiter weltweit in denjenigen Sektoren beschäftigt, die durch die Krise am schwersten getroffen wurden, nämlich in Kleinhandel und Reparaturgewerbe (74,8 Millionen), in den arbeitsintensiven Segmenten der gewerblichen Produktion (59,2 Millionen), im Unterhaltungs- und Freizeitgewerbe (28,4 Millionen), im Beherbergungsgewerbe (28,1 Millionen) sowie im Transportwesen (21 Millionen). In diesen fünf von der Krise am härtesten getroffenen Branchen waren fast alle Jugendliche informell beschäftigt, d. h. mit schlechten Arbeitsbedingungen, fehlender sozialer Absicherung, extrem niedrigen Entgelten und blockierten Bildungschancen konfrontiert. Es kann deshalb nicht verwundern, dass sich die aktivsten von ihnen trotz der Grenzschließungen dorthin auf Wanderschaft begaben, wo sie sich bessere Überlebensbedingungen erhofften. Dabei gerieten sie jedoch erst recht in eine ausweglose Situation: Sie wurden entweder in Internierungslager gesteckt oder in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Was dort auf sie wartete, wissen wir nicht. Vielleicht haben ihnen die Lockerungsmaßnahmen zumindest teilweise eine Rückkehr in die informellen Beschäftigungsverhältnisse ermöglicht. Mit Sicherheit werden sie aber zur Masse derjenigen prekären Jugendlichen gehören, denen auch in den wohlhabenderen Weltregionen der Zugang zu den inner- wie außerbetrieblichen Bildungseinrichtungen erschwert ist, weil sie nicht über die Hard- und Software verfügen, die für die Teilnahme an den zunehmend digitalisierten Unterrichts- und Trainingsveranstaltungen erforderlich ist.
Und wie erging es den arbeitenden Frauen? Auch hier waren gegen Ende des ersten Pandemiejahrs dank der Feldstudien und statistischen Erhebungen zahlreicher Institutionen einige orientierende Aussagen möglich.26 Der Trend ist eindeutig: Die Dreifachbelastung der Frauen als Arbeiterinnen, Hauptträgerinnen des Gesundheitswesens und der unbezahlten Haus- und Reproduktionsarbeit hat die Fortschritte, die in den letzten Dekaden bei den Bemühungen um die Gleichstellung der Geschlechter gemacht worden waren, ernsthaft in Frage gestellt. Wie die Jugendlichen waren die arbeitenden Frauen in solchen Sektoren beschäftigt, in denen besonders viele Arbeitsplätze gestrichen wurden: Hotel- und Beherbergungsgewerbe, Gastronomie, kleingewerblicher Einzelhandel und Freizeit- und Unterhaltungsindustrie, aber auch in den arbeitsintensiven Segmenten der gewerblichen Produktion. Hier waren zu Krisenbeginn weltweit 510 Millionen Frauen (40 % aller weiblichen Arbeitskräfte) beschäftigt gewesen. Zudem teilten sie mit den Jugendlichen das Schicksal einer nach wie vor starken Lohndiskriminierung im Vergleich zu den fest angestellten Männern und waren überwiegend als Teilzeitarbeiterinnen, Minijobberinnen oder selbstständige Arbeiterinnen engagiert. Sie verloren infolgedessen als Erste ihre Arbeitsplätze und landeten überproportional häufig in der Arbeitslosigkeit. Diese Entwicklung war in allen Weltregionen zu beobachten. In Kolumbien differierte der Rückgang der Erwerbstätigkeit von April 2019 bis April 2020 zwischen Frauen und Männern um 8,3 % (29,3/21,0 %), in den USA um 3,2 % (16,6/13,4 %) und in Kanada um 2,7 % (16,5/13,8 %).27 Da sie überdies häufiger als männliche Arbeiter entlassen und vom Bezug der öffentlichen Kompensation der nichtarbeitenden Weiterbeschäftigten ausgeschlossen blieben, sanken auch ihre Einkommen deutlich stärker.
Auch für die überwiegend weiblichen Hausangestellten hatten die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie weitreichende Folgen. 55 Millionen (72,3 %) der niedrig entlohnten familiären Reproduktionsarbeiterinnen verloren bis Juni 2020 ihre Arbeitsplätze. Da sie überwiegend informell beschäftigt waren, hatten sie in der Regel keinen Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen der jeweiligen Nationalökonomien, zumal es sich in den meisten Fällen um Migrantinnen handelte. Für sie war der Verlust ihrer Arbeitsplätze besonders gravierend, weil sie nach ihrer Entlassung mit vielfältigen Reisebeschränkungen konfrontiert waren und nur unter großen Schwierigkeiten in ihre Herkunftsländer zurückkehren konnten.
Im Gegensatz zu den gewerblichen Arbeiterinnen und den Hausangestellten standen die im Gesundheitswesen tätigen Frauen seit dem Höhepunkt der ersten Welle im Rampenlicht der Medien. Das war aufgrund der zu Krisenschwerpunkten der Pandemie gewordenen Hospitäler und Altenheime leicht nachvollziehbar. Durchschnittlich 70 % aller im Gesundheits- und Pflegesektor Beschäftigten sind Frauen, die Quote schwankt zwischen 35 % in Saudi-Arabien und 80 % in Kanada, Russland und Südkorea. Zusätzlich sind sie in den weniger qualifizierten Segmenten überproportional stark vertreten und verdienen deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen (29 % weniger in den fortgeschrittenen Entwicklungsländern und 21 % in den hoch entwickelten Nationalökonomien). Im Verlauf der Pandemie waren sie immer häufiger an der Behandlung und Versorgung schwerkranker Covid-19-Patienten beteiligt. Ihre Arbeitsbedingungen waren hart und zudem gefährlich, weil es monatelang an den Ressourcen und Schutzvorkehrungen der Basishygiene mangelte. Darüber hinaus machten die überlangen Arbeitszeiten und der emotionale Stress die Gesundheitsarbeiterinnen besonders infektionsanfällig, und sie mussten vor allem in den weniger entwickelten Weltregionen einen schrecklichen Preis für ihr Engagement bezahlen.28
Zusätzlich zu ihren unterbezahlten Berufstätigkeiten erbringen die arbeitenden Frauen gewaltige Mengen an unbezahlter Haus- und Pflegearbeit. Vor dem Ausbruch der Pandemie entfielen drei Viertel dieser Tätigkeiten auf sie, wobei die Bandbreite zwischen 60 % in Kanada und 90 % in Indien schwankte. Die in diesen Daten zum Ausdruck kommende Überbelastung im Vergleich zu den männlichen Lebenspartnern verschlimmerte sich während der ersten Pandemiewelle dramatisch, weil weltweit die Kinderkrippen, Kindertagesstätten und Schulen geschlossen wurden. Auch nach der partiellen Zurücknahme dieser Restriktionen blieb die Zusatzbelastung hoch, insbesondere für alleinerziehende berufstätige Mütter. Die Frauen mussten in diesen Monaten ihre von der Außenwelt abgeschnittenen Kinder nicht nur verstärkt betreuen, sondern sich auch um ihren Schulunterricht kümmern. Hinzu kam die Versorgung erkrankter oder pflegebedürftiger Familienangehöriger, die häufig aus den Altenheimen zurückgeholt wurden. Zwar unterstützten die älteren Kinder und die Partner die Frauen bei diesen gewaltig angewachsenen Haus- und Sorgearbeiten. Aber sie hatten die Hauptlast zu tragen und mussten häufig ihre bezahlte Berufstätigkeit einschränken oder aufgeben, soweit sie nicht ohnehin schon ihre Arbeitsplätze verloren hatten. Das alles führte zu extremen psychischen Belastungen und hatte auch Spannungen in den partnerschaftlichen Beziehungen zur Folge. Weltweit nahm die innerfamiliäre Gewalt zu, und auch in diesen Fällen waren vor allem Frauen die Leidtragenden.29
Dies waren gravierende Rückschläge für die Emanzipationsbestrebungen der arbeitenden Frauen. Aber es gab auch deutliche Unterschiede. In den hoch entwickelten Regionen des Weltsystems konnten die Frauen wenigstens für die Zukunft vorsorgen und ihre generativen Funktionen stilllegen.30 Der Verbrauch von Verhütungsmitteln nahm ab Frühjahr 2020 schlagartig zu, und die Einrichtungen der Reproduktionsmedizin meldeten Leerstände. Sobald die Akteure der politischen Regime den sich anbahnenden Gebärstreik wahrnahmen, versuchten sie mit Geburtsprämien und dem kostenlosen Zugang zur künstlichen Befruchtung gegenzusteuern – so etwa in Singapur und Japan. Aber sie vermochten den Trend nicht zu stoppen. In den ärmeren Weltregionen schlug das Pendel hingegen in die entgegengesetzte Richtung aus. Dort hatten die Frauen keinen oder nur sehr eingeschränkt Zugang zu Verhütungsmitteln, und die durch die Einschließungen bewirkte Steigerung der sexuellen Aktivitäten führte zu zahlreichen ungewollten Schwangerschaften. Insbesondere in den Ländern Südasiens und des subsaharischen Afrikas wurde ab der Jahreswende 2020/21 ein ausgesprochener Babyboom erwartet. Das hatte auch damit zu tun, dass die Töchter der Armutsfamilien wieder deutlich früher verheiratet wurden als in den Jahrzehnten zuvor, um ihre Ernährung zu sichern und das Haushaltseinkommen mithilfe des Brautgelds aufzustocken.
Die Coronakrise hat die Menschheit völlig unerwartet in eine soziale Krise gestürzt, deren Ausmaß nach dem Beginn des zweiten Pandemiejahrs die gesellschaftlichen Konvulsionen der Weltwirtschaftskrise von 2008/2009 übertraf. Das war vor allem den umfassenden Kontakt- und Mobilitätsbeschränkungen geschuldet, die immer wieder ergriffen wurden, um die Pandemiewellen einzudämmen. Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise von 2008/2009 hatten die Regierungen und Weltinstitutionen umfangreiche Sozialprogramme im Umfang von etwa 600 Milliarden US-Dollar aufgelegt, um die Unterklassen vor dem Absturz zu bewahren und den Massenkonsum zu stabilisieren. Unmittelbar danach – 2010/2011 und dann nochmals 2015/2016 – hatten sie jedoch eine Kehrtwende zur Austeritätspolitik vollzogen und waren zu den Deregulierungs- und Privatisierungsprogrammen der letzten Jahrzehnte zurückgekehrt. Die Demontage sozial gesicherter und auskömmlicher Arbeitsplätze ging weiter, und weltweit vergrößerte sich der Anteil der informellen, prekären und unterbezahlten Beschäftigten auf über zwei Drittel. In der beschleunigten Ungleichverteilung des gesellschaftlichen Reichtums spiegelte sich die Polarisierung der neuen Klassengesellschaft: Die reichen und wohlhabenden Oberschichten (20 %) verfügten vor dem Ausbruch der Pandemie über 69 % der Einkommen, während sich die arbeitenden 80 % mit 31 % begnügen mussten.31 Mit dieser Umverteilung von unten nach oben verschlechterten sich für die breite Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung die Möglichkeiten zur Absicherung ihrer Existenz gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität und Alter. Besonders gravierend waren die Hürden beim Zugang zum deregulierten Gesundheitswesen.32 Ausgerechnet die arbeiten Armen waren verstärkt darauf angewiesen, für ihre Behandlungskosten bar aufzukommen, weil sie sich private Krankenversicherungen nicht leisten konnten. Für die Haushalte informell Arbeitender oder prekär Beschäftigter wuchs sich eine mittelschwere Erkrankung zu einer sozialen Katastrophe aus, und viele rutschten in die Armut ab.
Die SARS-CoV-2-Pandemie stellte die Gesundheits- und Sozialsysteme durch ihr plötzliches Auftreten und ihre rasante Ausbreitung vor gewaltige Herausforderungen. Um die seitherige Entwicklung zu verstehen, dürfen wir jedoch die konkrete Ausgangssituation nicht ausklammern. Aufgrund der Austeritätspolitik der Vorjahre war das öffentliche Gesundheitswesen bereit stark skelettiert.33 Eine offene Diskussion über die strukturellen Kontexte der sich anbahnenden Misere fand nicht statt. Die Krisenstäbe traten die Flucht nach vorn an und entdeckten die Sozialpolitik wieder. Seit dem Höhepunkt der ersten Pandemiewelle und der Stilllegung des gesellschaftlichen Lebens avancierte sie zu einem integralen Bestandteil des nationalen und internationalen Krisenmanagements.34 Innerhalb weniger Monate wurden über 1.000 soziale Hilfsprogramme gestartet. Bis September 2020 waren es 1.407 und bis Jahresende kamen weitere 300 dazu. Auch die mobilisierten Summen waren bemerkenswert. Bis Juli 2020 erreichten sie ein Volumen von mehreren Billionen US-Dollar.35 Die dabei angewandten Verfahren und die damit verbundenen Zielstellungen waren äußerst komplex. Es handelte sich um einmalige Direktzahlungen und Zuschüsse, um neuartige oder erweiterte Sozialhilfeprogramme, um Mietstundungen und Kreditnachlässe, um Lohnersatzleistungen zur Aufrechterhaltung der Arbeitsplätze und um verbesserte oder neu eingeführte Arbeitslosenbezüge. Aus diesen kaum überschaubaren sozialen Unterstützungsprogrammen kann ich nur einige markante Beispiele herausgreifen.
Besonders augenfällig waren die einmaligen Geldüberweisungen. Sie wurden in 94 Ländern getätigt und wirkten wie ein Vorgriff auf das seit längerem diskutierte bedingungslose Grundeinkommen: Eine pauschale Nothilfe an alle Staatsangehörige, die über eine feste Wohnadresse verfügten. Die Beträge variierten zwischen umgerechnet 75 US-Dollar in den Entwicklungsländern und 1.200 US-Dollar in den industrialisierten Zentren, so etwa den USA. Auch die Bezeichnungen waren phantasievoll gewählt und sollten Zuversicht ausstrahlen oder das reaktionsschnelle Engagement der Regierungen unter Beweis stellen: ›Social Amelioration Program‹ (Philippinen), ›Stimulus Check‹ (USA), ›Ehsaas Emergency Cash Program‹ (Pakistan), ›Ingreso Mínimo Vital‹ (Spanien), ›Ingreso Solidario‹ (Kolumbien) usw.
Einen weiteren Schwerpunkt bildeten neu entwickelte oder erweiterte Sozialhilfeprogramme. Auf diesem Terrain geschah in einigen Ländern Erstaunliches. Beispielsweise beendete die konservative brasilianische Regierung die Demontage des ›Bolsa Familia‹-Programms ihrer Vorgängerin zur Unterstützung extrem armer Haushalte: Sie vereinfachte den Zugang, verkürzte die Wartelisten auf ein Drittel und schoss 213 Milliarden Real (umgerechnet 39 Milliarden US-Dollar – etwa 2 % des Bruttoinlandsprodukts) zu, sodass sie anfänglich 14,29 Millionen Haushalte und zuletzt 67 Millionen Menschen mit 600 Real monatlich unter die Arme greifen konnte.36 Die Regierung Usbekistans mobilisierte den Nationalen Krisenfonds und startete zeitlich befristete Sozialhilfeprogramme für Familienhaushalte unter der Armutsgrenze; bis Ende 2020 wurden die Transferbeträge erhöht, die Bezugsdauer verlängert und die Zugangsbedingungen erleichtert. Auch in Somalia kam es erstmalig zu direkten Hilfszahlungen für 1,3 Millionen arme und besonders gefährdete Haushalte; dabei wurde das Arbeits- und Sozialministerium vom Welternährungsprogramm und dem UN-Kinderhilfswerk unterstützt. Ähnliche soziale Notfallprogramme wurden mit internationaler Unterstützung in anderen Ländern gestartet, die von der Krise besonders betroffen waren, so etwa im Irak, in Costa Rica, auf den Cap Verden, in Namibia und Mozambique. Sie waren in der Regel auf drei Monate befristet, wurden jedoch überwiegend bis Ende 2020 verlängert.
Andere Regierungen verbesserten dagegen die schon bestehenden Sozialprogramme. China verdoppelte in der Zeit von März bis Juni 2020 die den Armen gewährten Zahlungen zum Ausgleich der Preissteigerungen und erhöhte die Grundbeträge des nationalen Sozialhilfesystems, das zugleich auf alle Covid-19-Patienten ausgedehnt wurde. Zahlreiche Entwicklungs- und Schwellenländer erhöhten die seit langem bereitgestellten Zuschüsse zur Beschaffung von Grundnahrungsmitteln um ein Drittel und verlängerten die Bezugsdauer. Zusätzlich lockerten die Sozialbürokratien zahlreicher Länder die Bedingungen, an die sie bislang den Bezug von Unterstützungszahlungen geknüpft hatten. Typisch dafür sind die Philippinen. Dort waren die Transferzahlungen an arme Familien vom Schulbesuch der Kinder, Gesundheitskontrollen und anderen Vorleistungen abhängig. Sie wurden nun befristet ausgesetzt; zusätzlich wurden die monatlichen Bezüge durch eine Nothilfe im Umfang von umgerechnet 72–132 US-Dollar aufgestockt.
Den dritten Ansatzpunkt bildeten die Kompensationsleistungen der öffentlichen Haushalte für die heruntergefahrenen Arbeitsstunden. Die meisten Regierungen der weiterentwickelten Schwellenländer und der Industrienationen verhinderten den Absturz der Mehrheit der sozial abgesicherten Lohabhängigen in die Arbeitslosigkeit durch die Einführung von Lohnersatzleistungen, die mit der Fortdauer des Arbeitsvertrags kombiniert waren (›Kurzarbeit‹). Über die dabei transferierten Geldbeträge, die zwischen 60 und 80 % der vorherigen Nettoverdienste ausglichen, waren bis Frühjahr 2021 noch keine ausreichenden Daten verfügbar. Es handelte sich jedenfalls um riesige Summen. Zur Zeit der Lockdowns (Mitte März bis Ende Mai sowie ab Spätherbst 2020) waren in einigen Nationalökonomien bis zu 60 % des gesamten Arbeitskräftepotenzials in ›job retention schemes‹ geparkt, so etwa im Mai 2020 55 % in Frankreich, 47 % in Italien, 30 % in Großbritannien und Deutschland sowie 20–25 % in Spanien, der Türkei und Australien.37 Damit ließen es zahlreiche Regierungen jedoch nicht bewenden. Sie stellten sich vielmehr den neuen Herausforderungen und lockerten die restriktiven Vorgaben der Arbeitslosenversicherung. Es kam zu zahlreichen zeitlich befristeten Korrekturen, wobei vor allem die Transferleistungen erhöht und die Bezugsdauern verlängert wurden. Hier machten vor allem die USA Schlagzeilen.38 Im März 2020 stockte der Kongress die laufenden Zahlungen der Bundesstaaten um 600 US-Dollar pro Woche auf und verlängerte die Bezugsdauer anschließend mehrfach. Ihren vorläufigen Abschluss fanden die Sozialprogramme schließlich im ›American Rescue Plan Act‹ vom März 2021, durch den weitere 1,9 Billionen US-Dollar zur Aufstockung des Arbeitslosengelds, der Einmalzahlungen an die Familienhaushalte und zur Unterstützung der Kommunalverbände und Stadtverwaltungen bereitgestellt wurden.39
Weitere Nationalökonomien folgten diesem Beispiel und differenzierten es gleichzeitig weiter aus, wobei vor allem die partielle Ausweitung der Bezugsberechtigung auf Prekäre und informelle Arbeiter Bedeutung erlangte. Bis September 2020 stockten 130 Länder ihre Arbeitslosenbudgets auf. Die australische Regierung bezog befristet Beschäftigte, selbstständige Arbeiter und prekäre Gesundheitsarbeiter, die an Covid-19 Erkrankte versorgten, in ihr ›Job Seeker‹-Programm ein. Ähnlich erweiterte und bis Ende 2020 bzw. Frühjahr 2021 befristete Bezugsrechte für bislang sozial ungesichert Beschäftigte gab es auch in Großbritannien, Dänemark, Italien und Frankreich. Andere Länder zogen es vor, ihre selbstständigen Arbeiter (›Soloselbstständige‹) und Mikrounternehmen mithilfe von Zuschüssen und Sonderkrediten separat über Wasser zu halten, so etwa Deutschland und die USA, wo für diese Zwecke ein eigenständiges ›Paycheck Protection Program‹ für nicht rückzahlbare Darlehen im Umfang von 350 Milliarden US-Dollar aufgelegt wurde. In den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern war die Arbeitslosenversicherung dagegen Neuland oder befand sich noch in den ersten Anfängen. Hier eröffnete sich für die Regierungen ein weites Experimentierfeld zur befristeten Absicherung der in den formellen Sektoren beschäftigten Arbeiter. Indonesien führe eine ›Pre-Employment Card‹ ein, die die zeitlich befristeten Geldüberweisungen von der Teilnahme an digitalen Weiterbildungskursen abhängig machte. Für die 1,3 Millionen formell Beschäftigten Thailands wurde eine Arbeitslosenversicherung eingerichtet, die für die Jahre 2020 und 2021 bei einer Laufzeit von maximal 200 Tagen Zahlungen im Umfang von 70 % des Nettolohns vorsah. Im Vergleich dazu mussten sich die regulär beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter Südafrikas mit weitaus geringeren Leistungen begnügen. Im Fall ihrer Entlassung konnten sie eine auf maximal drei Monate begrenzte Unterstützungsleistung beanspruchen, die sich am offiziellen Mindestlohn (umgerechnet 200 US-Dollar monatlich) orientierte. Ähnliche Regelungen wurden bis Frühjahr 2021 in etwa 25 weiteren Entwicklungs- und Schwellenländern auf den Weg gebracht.
Zweifellos war dieser sozialpolitische Aktivismus beeindruckend. Gleichwohl wies er erhebliche Mängel auf, und zwar auch in den führenden Nationalökonomien. Beispielsweise erweckte der im März 2020 in den USA eingeführte ›Coronavirus Aid, Relief, and Economic Security Act‹ (CARES Act) den Eindruck einer Gesetzgebung, die so etwas wie eine sozialstaatliche Wende einzuleiten schien.40 Auf die damit verbundene Einmalzahlung an alle registrierten Erwachsenen (300 Milliarden US-Dollar), die Alimentierung der notleidenden Mikrounternehmen und die Aufstockung der Arbeitslosenversicherung (260 Milliarden US-Dollar) wurde schon hingewiesen. Es gab indessen noch weitere kostspielige Flankierungsmaßnahmen zur Senkung und Stundung der individuellen Einkommensteuern, Moratorien für Mietzahlungen, Sonderzuwendungen an Studierende und Verbesserungen in der Rentenversicherung. Selbstverständlich wurden im Rahmen dieses 2,2 Billionen-Pakets auch die Großunternehmen großzügig bedacht. Aber der Gesamtansatz vernachlässigte die Unterklassen und unteren Mittelschichten keineswegs. Trotzdem befanden sich bis Ende des Jahrs 2020 Millionen US-Amerikaner am Rand des sozialen Absturzes. 13 Millionen Erwerbslose warteten auf die Verlängerung der Arbeitslosenzahlungen, die Ende Dezember ausliefen. 11 Millionen bezogen ihre Lebensmittel von gemeinnützigen Tafeln. Acht Millionen waren zusätzlich in die Armut abgerutscht, und schon im September konnten sechs Millionen Haushalte ihre Mietkosten nicht mehr aufbringen. Hier brachte der ›Biden-Stimulus‹ vom März 2021 erneut befristet Abhilfe.
Die USA waren kein Einzelfall. Der sozialpolitische Aktivismus vieler Regierungen erwies sich jedoch bald als Strohfeuer und schloss zahlreiche Gruppen der Unterklassen aus den Hilfsprogrammen aus.41 Dies war keineswegs immer beabsichtigt. Aber der bürokratische Jargon und die komplizierten Prozeduren schreckten Millionen Bedürftige ab und schlossen die physisch und mental Behinderten, immerhin 15 % der globalen Armutsbevölkerung, aus. Auch die Steuernachlässe gingen an der Masse der arbeitenden Armen vorbei, denn sie gehörten nicht zu den Steuerzahlern. Alle, die nicht registriert waren und über keine Wohnadresse verfügten, blieben in ihren Notunterkünften und Schlafstellen unerreichbar. Darüber hinaus wurden in vielen Sozialprogrammen die Papierlosen und informellen Arbeiter explizit ausgeschlossen, so etwa im CARES-Programm der USA, aber auch in Spanien und Japan. Auch junge Erwachsene unter 25 Jahren waren häufig nicht antragsberechtigt, und die mit den Entgeltleistungen verbundenen Verpflichtungen zur Registrierung und zur Teilnahme an digitalen Schulungsprogrammen wirkten abschreckend.
Es gab aber noch weitere Hindernisse für viele Hilfsbedürftige. Dazu gehörte erstens, dass auch die Sozialverwaltungen der Entwicklungsländer auf Online-Betrieb umgeschaltet hatten. Sie wickelten also ihre Operationen über digitalisierte Erfassungssysteme und Internetportale ab. In den besonders betroffenen Weltregionen – Südasien, subsaharisches Afrika und in Teilen Lateinamerikas – verfügte jedoch erst knapp die Hälfte der armen Haushalte über einen Internetzugang, in Bolivien, Paraguay und Peru waren es sogar nur 3–5 %. Zweitens waren die Transferleistungen häufig viel zu niedrig angesetzt und lagen unter dem physischen Existenzminimum, wobei die Sozialbürokratien Chiles, Pakistans und Südafrikas mit schlechtem Beispiel vorangingen. Gravierend war drittens die zeitliche Befristung. Als die Hilfsprogramme im Frühjahr 2020 eingeführt wurden, rechneten die Regierungen mit einer raschen Eindämmung der Pandemie. Sie betrachteten ihre Aktivitäten als reine Überbrückungsmaßnahmen und begrenzten sie in der Regel auf drei Monate. Bis Frühjahr 2021 mussten die Transferleistungen mehrfach verlängert werden, und dies führte nicht selten zu erheblichen Einschränkungen.
Die hier zusammengetragenen Fallbeispiele erwecken den Eindruck, als ob die politischen Entscheidungszentren in diese sozialpolitischen Maßnahmen zur Abfederung der Lockdowns hineingestolpert wären. Wann und wie sie aus dieser unverhofft entstandenen ›sozialreformerischen‹ Handlungsebene wieder herauskommen, war im Frühjahr 2021 unklar. Die internationalen Akteure – allen voran die Internationale Arbeitsorganisation, die Vereinten Nationen und die Weltbank – drängten zu einer Weiterentwicklung der Stützungsprogramme in die Richtung einer umfassenden neuen Sozialstaatlichkeit. Ob es tatsächlich zu einem solchen Paradigmenwechsel kommt, ist ungewiss. Wir befinden uns in einer Übergangssituation, in der die sozialen Auseinandersetzungen und globalen Kräfteverhältnisse über die weitere Entwicklung entscheiden werden.