Man kann das Neue erwarten, indem man auf den Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen hofft. Man kann das Neue aber auch heute schon einfach tun. Man kann „selbst der Wandel sein“ (Gandhi). Und das passiert in größerem Umfang als allgemein bekannt.
Hinter diesem Begriff (auch Social Entrepreneurship) verbirgt sich ein Anliegen, das der Volkswirt Günter Faltin so umschreibt: „Das Erfüllen der sozialen Aufgabe ist das Ziel, nicht, Überschüsse zu erwirtschaften.“332 Es geht also um gesellschaftlichen Mehrwert und sozialen Wandel. Dieser Wandel soll mit unternehmerischen Mitteln erreicht und gestaltet werden. Die Rechtsform der Unternehmen ist die gemeinnützige gGmbH bzw. Aktiengesellschaft gAG. „Die von dem ehemaligen McKinsey-Berater Bill Drayton gegründete Organisation Ashoka hat den Begriff Social Entrepreneur geprägt und unterstützt seit 1980 weltweit Sozialunternehmer – mit einem dreijährigen Lebenshaltungsstipendium, vor allem aber mit Beratung und Kontakten. Der wohl berühmteste der insgesamt 3000 ‚Fellows‘ ist Jimmy Wales, Gründer von Wikipedia. In Deutschland ist Ashoka erst seit 2005 aktiv, inzwischen werden 45 Fellows unterstützt.“333
Es besteht kein Zweifel daran, dass sich Unternehmen für soziale Nachhaltigkeit einsetzen können. Jeder Einzelfall – und sei er noch so klein – kann Nutzen stiften und einen Beitrag zur Bewusstseinsbildung leisten. Die eigentliche Systemtransformation aber lässt sich davon nicht erhoffen. Abgesehen von der Forderung nach Social Stock Markets (Börsen zum Handel von Anteilen sozial orientierter Unternehmen)334 werden von sozialen Unternehmern kaum systemische Anforderungen formuliert. Es geht ihnen vielmehr um ein soziales Engagement im Kapitalismus.
Anständigkeit und moralisches Handeln ist nie falsch. Es verändert mindestens das Bewusstsein der Handelnden. Falls es jedoch an die Hoffnung geknüpft ist, allein dadurch ließen sich die systemischen Ursachen unserer heutigen Krisen überwinden, so wird daraus eine Fehlorientierung. Hier setzt die Kritik all derer an, die das kapitalistische System nicht abfedern, sondern aus gutem Grunde überwinden wollen.
Das Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie geht auf den Autor und ATTAC-Österreich-Mitbegründer Christian Felber zurück. Es „will den Werte-Widerspruch zwischen der Wirtschaft und der Gesellschaft auflösen“ sowie den „Geist, die Werte und Ziele unserer Verfassungen“ in der Wirtschaft konsequent durchsetzen.335 Die Grundidee ist so einfach wie einleuchtend: Felber hat dazu detaillierte Anforderungen formuliert, hier ein Auszug:336
Gemeinwohl-Ökonomie möchte das Wirtschaften einer ökologisch und sozial nachhaltigen Orientierung unterstellen, indem genau jene Werte auf die Ökonomie übertragen werden, die auch im persönlichen Leben unsere Beziehungen gelingen lassen: Vertrauen, Kooperation und gegenseitige Wertschätzung.
„2. Der rechtliche Anreizrahmen für die Wirtschaft wird von Gewinnstreben und Konkurrenz umgepolt auf Gemeinwohlstreben und Kooperation. Unternehmen werden für gegenseitige Hilfe und Zusammenarbeit belohnt. Kon(tra) kurrenz ist möglich, bringt aber Nachteile.
3. Wirtschaftlicher Erfolg wird nicht länger mit (monetären) Tauschwertindikatoren gemessen, sondern mit (nichtmonetären) Nutzwertindikatoren. Auf der Makroebene (Volkswirtschaft) wird das BIP als Erfolgsindikator vom Gemeinwohl-Produkt abgelöst, auf der Mikroebene (Unternehmen) die Finanzbilanz von der Gemeinwohl-Bilanz [dargestellt in der sog. Gemeinwohlmatrix]. Diese wird zur Hauptbilanz aller Unternehmen. Je sozialer, ökologischer, demokratischer und solidarischer Unternehmen agieren und sich organisieren, desto bessere Bilanzergebnisse erreichen sie. Je besser die Gemeinwohl-Bilanz-Ergebnisse der Unternehmen in einer Volkswirtschaft sind, desto größer ist das Gemeinwohl-Produkt.
4. Die Unternehmen mit guten Gemeinwohl-Bilanzen erhalten rechtliche Vorteile: niedrigere Steuern, geringere Zölle, günstigere Kredite, Vorrang beim öffentlichen Einkauf und bei Forschungsprogrammen et cetera. Der Markteintritt wird dadurch für verantwortungsvolle AkteurInnen erleichtert; und ethische, ökologische und regionale Produkte und Dienstleistungen werden billiger als unethische, unökologische und globale.
5. Die Finanzbilanz wird zur Mittelsbilanz. Finanzgewinn wird vom Zweck zum Mittel und dient dazu, den neuen Unternehmenszweck (Beitrag zum allgemeinen Wohl) zu erreichen. Bilanzielle Überschüsse dürfen verwendet werden für: Investitionen (mit sozialem und ökologischem Mehrwert), Rückzahlung von Krediten, Rücklagen in einem begrenzten Ausmaß; begrenzte Ausschüttungen an die MitarbeiterInnen sowie für zinsfreie Kredite an Mitunternehmen. Nicht verwendet werden dürfen Überschüsse für: Investitionen auf den Finanzmärkten (diese soll es gar nicht mehr geben), feindliche Aufkäufe anderer Unternehmen, Ausschüttung an Personen, die nicht im Unternehmen mitarbeiten, sowie Parteispenden. Im Gegenzug entfällt die Steuer auf Unternehmensgewinne.“
Weitere Merkmale des Konzepts sind eine nicht profitorientierte demokratische Bank, welche die bisherigen Finanzmärkte ersetzt, ebenso Regiogeld sowie eine überregionale Währung im Sinne von Keynes. Die Geldschöpfung erfolgt nach dem Vollgeldsystem, Kredit- und Sparzinsen werden abgeschafft. Größere Unternehmen gehen teilweise oder ganz in das Eigentum der Beschäftigten oder der Allgemeinheit über. Einkommens- und Vermögensungleichheiten werden begrenzt. Die repräsentative Demokratie wird um Elemente von Beteiligungs- und direkter Demokratie ergänzt.
Das Konzept wird vor allem in zweierlei Hinsicht kritisiert. Zum einen hinterfragt Niko Paech, wie das angepeilte Monatseinkommen von 1.250 Euro bis zum Zwanzigfachen „auch nur annähernd mit einer Einhaltung ökologischer Grenzen vereinbar“ sein soll.337 Auf diese Kritik hat Felber reagiert und schlägt mittlerweile ein Maximaleinkommen in Höhe des Zehnfachen des gesetzlichen Mindestlohns vor. Ausdrücklich sollen Lebensstile angestrebt werden, die unter gegebenen ökologischen Grenzen für alle Menschen gleichermaßen gelten können.338
Zum anderen besteht das Problem, dass trotz gewaltiger Vorhaben (Entmachtung des Finanzsektors und der Großkonzerne!) das kapitalistische System scheinbar rudimentär erhalten bleibt: Nach wie vor gibt es private Kapitaleigner (auch wenn sie an die Unternehmen gebunden sind), deren Kapital Rendite tragen kann (auch wenn diese Rendite als Eigenkapital im Unternehmen verbleiben soll).339 Die Kapitaleigenschaft privater Geld- und Sachwerte wird hier nicht grundsätzlich angetastet, sondern Bedingungen unterstellt. Damit bleibt der Drang zur privaten Anhäufung des Mehrwerts im Hinterkopf. „Felbers Gemeinwohlökonomie würde diesen Drang zwar begrenzen, indem Gewinne und Einkommen von UnternehmensteilhaberInnen gedeckelt werden. Er bestünde jedoch fort.“340 Auch zu diesem Kritikpunkt gibt es Entwicklung in der Gemeinwohlökonomie. So wurde in der neuen Gemeinwohlmatrix 4.1 das Kriterium „Sinkende/Keine Gewinnausschüttung an Externe, Ausschüttung an Mitarbeiter“ aufgenommen, womit sich solcherart geführte Unternehmen genossenschaftlichen Prinzipien annähern.341 Ebenso schlägt Christian Felber degressive Kapitalaneignung342 während einer Übergangszeit vor und formuliert als Ziel ganz klar das Ende aller Kapitaleinkommen.343
Stand 2013 bekennen sich immerhin 1.340 Unternehmen zu den Prinzipien der Gemeinwohl-Ökonomie. Das heißt, Leitung und Belegschaft dieser Unternehmen versuchen heute schon gemeinsam – und noch ohne dass es rechtliche Vorteile erbringt! –, durch Anwendung der Nachhaltigkeitsbilanz ihrer Verantwortung für Gemeinschaft und Umwelt zu entsprechen. Dies geschieht freilich in unterschiedlich hohem Maße und nur so gut es die (nach wie vor kapitalistischen!) Umfeldbedingungen zulassen. Dennoch kann man die damit verbundene Bewusstseinsentwicklung nicht hoch genug bewerten! Besonders wichtig ist die Entwicklung „von unten“; die Bewegung gibt sich in einem demokratischen Prozess selbst ihre Ziele.
„Solidarische Ökonomie ist eine alternative Form des Wirtschaftens. […] Sie orientiert sich an bedürfnisorientierten, sozialen, demokratischen und ökologischen Ansätzen. […] Der Begriff Solidarökonomie ist bewusst nicht eng eingegrenzt, um möglichst vielen Bereichen, sehr unterschiedlichen Konzepten, Theorien und Ansätzen Platz zu geben.“344 Die Vielfalt der solidarökonomischen Ansätze wird als großer Reichtum begriffen. Und über alle Vielfalt hinweg gibt es ein gemeinsames Grundverständnis, welches Fairbindung e.V. wie folgt umschreibt: „Unter einer Solidarischen Ökonomie verstehen wir solche Formen des Wirtschaftens, die nicht den individuellen Vorteil und Profitstreben zum Ziel haben, sondern die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse auf der Basis von Solidarität, Kooperation und demokratischer Teilhabe in den Mittelpunkt stellen.“ Das bedeutet insbesondere:
•„nicht für den persönlichen Profit zu wirtschaften, sondern sich an den Bedürfnissen der Mitarbeiter_innen sowie der Gemeinschaft zu orientieren,
•nicht zu konkurrieren, sondern zu kooperieren und sich im Sinne der Solidarität gegenseitig zu unterstützen,
•aus eigener Initiative und basierend auf Selbstorganisation und gegenseitiger Hilfe zu wirtschaften.“345
Einschränkend ist festzuhalten, „dass Solidarische Ökonomie nicht jede beliebige Form ökonomischer Selbstorganisation umfasst, vielmehr müssen bewusst solidarische Ziele durch wirtschaftliches Handeln verfolgt werden. Solidarische Ökonomie besitzt dabei zwei Facetten: Zum einen die Kritik am bestehenden ökonomischen System, sowie zum anderen die praktische Erprobung von Alternativen“.346 Diese zwei Facetten werden auch von anderen Autoren deutlich gesehen: „Solidarische Ökonomie kann sich als humanere Ergänzung kapitalistischer Marktwirtschaften verstehen oder das Ziel der Überwindung des Kapitalismus verfolgen“.347
Solidarische Ökonomie entsteht in unscheinbaren Nischen und an bröckelnden Rändern des alten Systems, z. B. bei der Übernahme insolventer Betriebe durch die Belegschaft, oder wenn sich arbeitslose Menschen zusammenfinden, um ein solidarisches Wirtschaftsunternehmen zu gründen. Allein in Nordhessen existierten 2008 insgesamt 142 solidarische Unternehmen; die Schwerpunkte liegen in der Land- und Forstwirtschaft sowie im Dienstleistungssektor.348 Solidarische Ökonomie stellt „eine Strategie für die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung, Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und Naturzerstörung dar. Solidarische Wirtschaftsunternehmen, die solidarisch umweltbewusst handeln, haben die nächsten Generationen im Blick und sind daher umweltbewusste Wegbereiter einer humanen Gesellschaft im Einklang mit der Natur.“349
Aber auch die Solidarische Ökonomie wird kritisiert. So schreibt der Philosoph Robert Kurz: „Was dabei im deutschsprachigen Raum als ‚solidarische Ökonomie‘ firmiert, ist nichts als ein Sammelsurium kleinbürgerlicher Vorstellungen, die historisch längst gescheitert sind und unter den neuen Krisenbedingungen keinerlei Perspektive bieten. Solche Ideen sind eine bloße Ausflucht. Sie wollen sich nicht dem Konflikt mit der Krisenverwaltung stellen, sondern ‚neben‘ der wirklichen gesellschaftlichen Synthesis durch das Kapital ihre eigene vermeintliche Idylle pflegen. Praktisch sind diese Projekte völlig irrelevant. Sie stellen nur eine ‚Wohlfühl‘-Ideologie von desorientierten Linken dar, die sich am Krisenkapitalismus vorbeimogeln wollen und selber zu einer Ressource der Krisenverwaltung zu werden drohen. Es kommt im Gegenteil darauf an, die vergesellschaftete Reproduktion vom Fetisch des Kapitals und seiner basalen Formen zu befreien.“350
Gegenstand der Kritik ist ein tatsächliches Problem solidarwirtschaftlicher Projekte (wie der Gemeinwohlökonomie ebenso), nämlich dass sie sich „neben“ der noch kapitalistischen Wirtschaftsordnung etablieren. Ihre Praxis wird von den kapitalistischen Umfeldbedingungen mitbestimmt und teilweise korrumpiert – selbst dann, wenn diese Projekte im Grunde die Überwindung des Kapitalismus zum Ziel haben. Solidarwirtschaftliche Unternehmen sind gezwungen (ebenso wie andere auch), unter den Bedingungen des kapitalistischen Marktes zu existieren und beispielsweise Kapitalentgelt für Investitionskredite zu erwirtschaften – usw. Dieser Zwiespalt lässt sich in der Tat nicht überwinden, solange der „Fetisch des Kapitals“ nicht überwunden ist. Und die Kritik an solidarwirtschaftlichen Projekten ist immer dann umso berechtigter, wenn in den Projekten die kritische Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen System unterbleibt.
Dennoch übersieht die Kritik einen entscheidenden Punkt: Solidarische Ökonomie kann sich mindestens binnensolidarisch verhalten. Sie ermöglicht damit den Beteiligten eine andere Entwicklung und andere Einsichten als das in kapitalistischen Unternehmen möglich wäre. Auch hier wieder wird man die damit verbundene Bewusstseinsbildung nicht hoch genug bewerten können, und in diesem Sinne zumindest sind die Projekte gerade nicht „völlig irrelevant“. Wie schon bei der Gemeinwohlökonomie geht es doch nicht allein um astreine Systementwürfe, sondern auch darum, dass sich Menschen für die neue und profitlose Zukunft überhaupt öffnen. Ohne Akteure, die in einer nichtkapitalistischen Ökonomie tatsächlich leben wollen, werden es am Ende die Systementwürfe sein, die „völlig irrelevant“ waren.
„ ‚Es gibt keine Inseln im Falschen!‘ Nein, aber Halbinseln: [...] Räume, in denen Menschen sich ein Stück weit eine andere Wirklichkeit erschaffen und ausprobieren, wohin es gehen könnte. Räume, die es Menschen durch die darin gelebten anderen Selbstverständlichkeiten erlauben, sich anders zu entwickeln, als dies außerhalb solcher Halbinseln möglich ist. [...] Materielle Verhältnisse und unseren gesellschaftlichen Kontext verändern bedeutet auch, den eigenen Alltag nach seinen ‚dissidenten Praktiken‘ (Carola Möller) auszuloten, das eigene Leben als potentiell revolutionär zu begreifen.“351
Eine wesentliche Keimzelle solidarökonomischer Entwicklung bilden die Genossenschaften. In ihnen sollen grundsätzlich keine Profite an Außenstehende fließen. Sie stellen schon heute einen beachtlichen Wirtschaftsfaktor dar. In der EU gibt es 300.000 Genossenschaften mit 140 Millionen Mitgliedern sowie 2,3 Millionen Arbeitsplätzen (Stand 2004). Weltweit sind es 800 Millionen Mitglieder und 100 Millionen Arbeitsplätze.352 Konsumgenossenschaften befassen sich mit der Verbraucherseite, Produktionsgenossenschaften mit der Produktionsseite. Beide agieren am Markt. Ganz anders ist die Situation bei Reproduktionsgenossenschaften: „Sie befinden sich auf der Nachfrageseite des Marktes am Ende der Produktionsketten, wo Produktion und Konsumtion, Produzent und Konsument zusammentreffen.“353 Die beiden (durch den kapitalistischen Markt getrennten) „ökonomischen Rollen des Individuums – die des Konsumenten und die des Produzenten – [sind] in einer Organisation vereint. Konsumenten werden so ihr eigener Kreditgeber, Organisator und Produzent.“ Beispiele sind Wohnungs(bau)genossenschaften, Genossenschaftsbanken oder Wasser- und Energiegenossenschaften: „der Verbraucher wird zum Produzent“.354
Die meisten der heutigen Genossenschaften agieren gewiss nicht in jeder Hinsicht solidarwirtschaftlich. Dennoch ist bei ihnen grundsätzlich etwas anders als bei kapitalistischen Unternehmen. Vergleichen wir z. B. den Lebensmitteldiscounter Aldi und die Schweizer Konsumgenossenschaft Migros. Aldi hatte 2010 einen Umsatz von 52,8 Milliarden Euro weltweit355 und die Familien der Gebrüder Albrecht (Aldi-Besitzer) verfügen zusammen über ein Vermögen von 32,6 Milliarden Euro.356 Die Migros-Gruppe dagegen hatte 2010 einen Umsatz von 24,1 Milliarden SFR,357 doch die Gewinne werden „bei Migros entsprechend den Grundsätzen von Genossenschaften nicht wie bei Aldi privatisiert, sondern sind den Preisen, den Gehältern, den Lieferanten und Erzeugern sowie der Infrastruktur zugutegekommen“.358 Das ist ein Unterschied!
Commons (engl. common: „gemein(sam)“) sind von der „Gemeinschaft geteilte Werte oder Interessensgegenstände. […] ‚Commons‘ bezieht sich auf alles, was zum Erhalt derer beiträgt, die eine Identität teilen: Biodiversität, Land, Wasser, Handlungswissen, (Transport-)Netzwerke, Sprache oder kulturelle Rituale. Ohne diese Gemeingüter gibt es keinen sozialen Zusammenhalt, keine Gemeinschaft.“359 Der Begriff Commons bezeichnet dabei weniger das konkrete Gemeingut (etwa einen Fischteich), sondern mehr die soziale Beziehung zwischen Gemeingut und Gemeinschaft.
Commons stellen eine soziale Organisationsform oder Produktionsweise dar, die sich einerseits mit Subsistenzwirtschaft (Selbstversorgung) und andererseits mit Solidarischer Ökonomie überlappt – zumindest insofern, als Nonprofit-Orientierung, Selbstorganisation und Ziele solidarischen Wirtschaftens gelten. So z. B. in der Peer-Produktion, zu Deutsch etwa: Gemeingutfertigung durch Ebenbürtige. „Peer-Produktion basiert auf dem Bedürfnisprinzip: Am Anfang steht ein Bedürfnis, das man sich erfüllen, oder eine Idee, die man gerne realisieren möchte. Dann sucht man sich andere Leute, die mehr oder weniger dasselbe Problem oder Ziel verfolgen, und widmet sich gemeinsam der Verwirklichung.“ Die heute schon greifbaren Resultate sind freie Software-Projekte wie Linux und Firefox, die freie Enzyklopädie Wikipedia, lizenzfreie Texte, Musik, Filme usw.,360 ferner auch „Rechtsformen zur gemeinsamen Nutzung von Wohnraum und Land (Land Trusts, Mietshäusersyndikate)“.361
Auch bei der Peer-Produktion ist die Trennung von Produzent und Konsument überwunden. Die Beteiligten produzieren – ohne Hierarchie und Machtstrukturen – in freiwilliger Kooperation das, was sie und andere haben wollen. Peer-Produktion verdient insofern besonderes Augenmerk: Hier findet eine nichtkommerzielle Produktion statt, deren Antriebe mit den gängigen Theorien des ausschließlich von „wirtschaftlichen Zweckmäßigkeitserwägungen geleiteten Menschen“ nicht erklärbar sind! Insbesondere verliert der soziale Status einer Person offensichtlich an Bedeutung – zugunsten der öffentlichen Reputation, die aus den jeweiligen Beiträgen der Person erwächst.362 Das nun könnte nicht nur zur Grundlage einer anderen Kultur werden, sondern es ist bereits eine andere Kultur!
In welch verblüffendem Maße all das heute schon funktioniert, zeigt die Entwicklung freier Software. Wer hätte 1995 zu prophezeien gewagt, dass weltweit schon bald die kommerziellen Server-Betriebssysteme durch Linux bedrängt würden? Es ist dies ein Musterbeispiel von Unterhöhlung der alten Ordnung durch neue und selbstorganisierende Strukturen. Scheinbar unverwundbare UNIX-Derivate (von IBM, HP, Sun, Siemens usw.) sind in die Bedeutungslosigkeit versunken – und mit ihnen der Profit aus Systemlizenzen und kostenpflichtigen Updates.
Inzwischen fasst die Peer-Produktion auch in der materiellen Welt Fuß. Die sog. Fab Labs „sind offene Werkstätten, die über ein reichhaltiges Sortiment von Produktionsmaschinen verfügen, die die Menschen in ihrer Nachbarschaft nutzen können“ (CNC-Maschinen usw.). Noch müssen die Fab Labs gesponsert werden, da sie die nötigen Maschinen am Markt kaufen. Doch sobald „Maschinen selbst das Ergebnis von Peer-Produktion sind und im Rahmen selbstorganisierter Fab Labs und anderer Makerspaces (‚Gemeinschaftswerkstätten‘) nicht nur genutzt, sondern auch selbst hergestellt und vervielfältigt werden können, wird es spannend. Denn das ermöglicht, zumindest teilweise, die Abkoppelung vom Markt.“ Die Peer-Produktion ist also längst mehr als nur ein Nischenphänomen und entwickelt sich zu einer gesamtgesellschaftlichen Alternative.363
Ob sich die industrielle Produktionsweise allerdings vollständig durch Peer-Produktion ablösen lässt, darf bezweifelt werden. Bei zwar rückläufigen, aber weiterhin notwendigen Vorhaben wie etwa dem Schienenfahrzeugbau usw. werden wohl auch künftig Industriestrukturen das Mittel der Wahl sein (doch ist die Entfremdungssituation der industriellen Arbeit dann unter nichtkapitalistischen Bedingungen eine ungleich geringere als heute!). Entmonetarisierte Lokalversorgung sowie regionalökonomische und globale Industriesysteme werden vermutlich gemeinsam die Zukunft bestimmen. So viel aber scheint wahrscheinlich: Die klassische Industrieproduktion wird weiterhin Anteile an die Peer-Produktion verlieren und ihre verbleibenden Strukturen werden durch den Einfluss dieser Organisationsform eine stärker kooperative Einfärbung erfahren.
Fazit: Nichtkapitalistische Ökonomie gibt es in der Praxis schon längst. Die Utopie besteht demnach gar nicht in der Verwirklichung einer Wirtschaft ohne Profit – die ist partiell bereits Realität. Die Utopie besteht in der Ausweitung der partiellen Realität auf die Gesamtgesellschaft. Damit dies möglich wird, müssten wir Menschen es mehrheitlich wollen. Aber können wir das mehrheitlich überhaupt wollen? Scheitert nicht alles an der Natur des Menschen, so wie sie nun mal ist?
„Könnte man die Menschheit vollkommen machen, so wäre auch ein vollkommener Zustand denkbar; so aber wird es ewig herüber- und hinüberschwanken, der eine Teil wird leiden, während der andere sich wohl befindet, Egoismus und Neid werden als böse Dämonen immer ihr Spiel treiben, und der Kampf der Parteien wird kein Ende haben.“ So Goethe zu Eckermann am 25. Februar 1824.364
Wenn schon kein vollkommener Zustand denkbar ist (und wer wollte dem widersprechen?), dann wäre doch wenigstens ein besserer Zustand wünschenswert. Wie aber kann man, um in Goethes Bild zu bleiben, die „Menschheit besser machen“? Es ist ein alter Streit, ob zuerst der Wandel des Individuums nötig sei, damit sich die Gesellschaft verändern könne, oder ob im Gegenteil zuerst die Gesellschaft verändert werden müsse, damit sich das Individuum wandeln kann. Was also ist wichtiger: Ei oder Henne? Natürlich beides zugleich! Wir brauchen den Wandel des Systems und des Individuums. Sie bedingen einander; beide schreiten gemeinsam fort oder gar nicht. Gesellschaftliche Entwicklung ist doch letztlich nur der Vektor im Kräfteparallelogramm der Individuen, und die Individuen wiederum werden durch gesellschaftliche Entwicklung geformt.
Wenn also gesellschaftlicher Wandel nicht ohne Wandel des Individuums möglich sein wird, so gilt das auch für den erhofften Wandel in Richtung mehr Kooperation. Damit erlangt die Frage Gewicht, ob das Individuum denn zum Wandel überhaupt fähig sei.
Ohne Zweifel gehören Egoismus und Neid zum Menschen. Wir konkurrieren um Macht und Besitz, sind bisweilen voller Rivalität. Aber wir haben auch andere Seiten. Menschen verfügen ebenso über die Gabe von Solidarität, Kooperation und Verantwortung, über den Wunsch nach spiritueller Sinngebung. Wir bewegen uns immer irgendwo zwischen diesen beiden Polen. Zum Menschsein gehören Liebe und Hass ebenso wie Fürsorge und Selbstsucht. Doch welche von diesen Eigenschaften dominiert? Treibt uns die Biologie unterm Strich zum Egoismus? Sind wir durch unser Genom hoffnungslos festgelegt? Ist Kooperation unnatürlich? Bekanntlich werden diese Fragen kontrovers diskutiert. Die Forschungsergebnisse der letzten Jahre geben neue Antworten.
So sind wir offenbar gar nicht so starr genetisch vorgezeichnet wie bislang angenommen. Vielmehr zeigen die Ergebnisse der Epigenetik, dass unsere Gene in Abhängigkeit von Lebensumständen wirksam werden. Der zugehörige Vorgang heißt Genregulation.365 Sogenannte Schlüsselproteine – das sind Signalstoffe, die der Körper im Ergebnis von Umwelteinflüssen produziert – ermöglichen den Zellen, Gene an- oder abzuschalten, sodass unser Organismus in der Lage ist, die Aktivität der Gene an die jeweiligen äußeren Bedingungen anzupassen. Ohne Zweifel ist unser Verhalten durch die Genaktivität in einem gewissen Maße vorbestimmt (z. B. das im Durchschnitt erhöhte Aggressionspotenzial beim Eintritt der Geschlechtsreife männlicher Individuen). Aber trotzdem werden wir uns in unterschiedlichen Lebensumständen verschieden entwickeln; „die Gesellschaft formt uns maßgeblich“ (Maurice Sapolsky).
Auch zur Kooperation gibt es neue Erkenntnisse. Kooperation ist nicht etwa unnatürlich, sondern ein grundlegendes Merkmal der biologischen Entwicklung. Der Biomathematiker Martin Nowak nennt Kooperation neben Mutation und Selektion den „dritten Eckpfeiler der Evolution […]. Die Entstehung der Vielzeller ist darauf aufgebaut, dass sich Zellen nicht nur so schnell als möglich teilen, wie etwa bei Bakterien, sondern auch noch andere Aufgaben für den Organismus übernehmen. Vielzelligkeit ist ein Kooperationsphänomen […] Letztlich wäre die Welt, so wie wir sie sehen, ohne Kooperation nicht denkbar.“366 Da verwundert es nicht, dass Menschen über ein komplexes System von „Wohlfühlbotenstoffen“ regelrecht zur Kooperation motiviert werden. Die Wirkungsweise dieses Motivationssystems lässt sich kaum anders erklären, als dass das natürliche Ziel der Entwicklung darin besteht, „soziale Gemeinschaft und gelingende Beziehungen mit anderen Individuen“ zu erreichen.367 Interessanterweise finden sich diese Einsichten mittlerweile auch auf den Internetseiten von Unternehmensberatern:
„Zur Ausschüttung von Dopamin kommt es durch ‚Gesehen werden‘, Anerkennung und Wertschätzung sowie Empfangen und Geben (!) von Zuwendung. Opioide werden freigesetzt bei Nähe und Zuneigung durch Menschen, mit denen eine vertraute Bindung besteht oder die in sowohl physischen als auch psychischen Schmerzsituationen Hilfe in Aussicht stellen. Zur Freisetzung von Oxytozin kommt es bei allen Formen freundlicher oder gar zärtlicher Interaktion (psychisch und/oder physisch) sowie bei realem oder imaginärem Kontakt mit Menschen, von denen solche Handlungen erwünscht werden. Im Falle Vertrauen stiftender oder bindungseinleitender Begegnungen wird Oxytozin verstärkt produziert. […] Unser Motivationssystem scheint in erheblichem Maße auf soziale Interaktion sowie die Anbahnung und Bewahrung zwischenmenschlicher Bindungen ausgelegt zu sein.“368
Nun ist der Mensch zwar alles andere als immer kooperationsbereit. Wir brauchen Egoismus zur Erreichung unserer Ziele, und auch Aggression ist ein biologisch fundiertes Verhaltensmuster zur Situationsbewältigung (das ebenso wie Kooperation durch biochemische Motivationssysteme gesteuert wird). Aber es gibt wohl kein biologisches Argument, das einen einseitig egoistischen oder aggressiven Schwerpunkt des Menschen begründen könnte. Im Gegenteil: Während Aggression als Rudiment unserer frühen biologischen Entwicklung gelten kann, führt Kooperation uns aus diesem Stadium heraus und hat insofern das größere evolutionäre Gewicht.
So erscheint es mehr als fraglich, Darwins Begriff der besten Anpassung als Überlegenheit des Stärkeren zu deuten und dann ausgerechnet dieses (zu) eng interpretierte biologische Naturprinzip zu benutzen, um den aggressiven Verdrängungswettbewerb marktradikaler Ökonomie als „naturgegebenen Kampf ums Dasein“ zu rechtfertigen – abgesehen davon, dass sich biologische Argumente nicht auf gesellschaftliche Phänomene anwenden lassen. Wo Menschen einseitig rücksichtslos und nach nüchternem Nutzenkalkül agieren, geschieht das nicht entsprechend biologischer Vorbestimmung, sondern im Ergebnis eines persönlichen Werdegangs, bei dem Geld und Verwertbarkeit alles andere überschatten. Uns bestimmen auch die Umfeldeinflüsse – und nicht nur die Biologie.
Hinlänglich bekannt ist ein Experiment mit Kleinkindern, welche ihrem Gegenüber ganz selbstverständlich beim Aufheben eines heruntergefallenen Gegenstands behilflich sind (das entspricht unserer biologischen Vorbestimmung!). Erhalten die Kinder aber nach jeder Hilfeleistung eine Spielzeugbelohnung, helfen sie schon bald nur noch, wenn die Belohnung in Aussicht steht.369
Sobald wir nun die biologische Argumentationsebene verlassen und den Menschen als gesellschaftliches Wesen betrachten, so wird Kooperation als regelrechtes Erfordernis deutlich. Allein schon die weltweite Rüstungssituation zeigt, dass nur Kooperation überhaupt noch ein Weiterleben der Gattung ermöglicht (Konfrontation unter Einsatz der Atomwaffenarsenale hätte jedenfalls das schiere Gegenteil zur Folge). Der alte „rational und eigennützig“ handelnde Homo oeconomicus ist in Wahrheit längst auf gelingende Beziehungen und Kooperation angewiesen. Und was jene Menschen betrifft, die sich mit dem Begriff des Homo oeconomicus gar nicht mehr erfassen lassen: die Commoners (s. o.) – die nun begeben sich uneigennützig in ökonomische Kooperation und haben auch noch Spaß daran!
Die Möglichkeit des Individuums, sich in Richtung mehr Kooperation zu entwickeln, ist weder mit biologischen noch soziologischen Argumenten in Abrede zu stellen. Im Gegenteil, wir sind regelrecht „auf Kooperation geeicht“. Der Mensch kann sich selbstverständlich wandeln, und wo immer dabei Kooperation gelingt, fühlt er sich gut.
Was nun noch zu sagen übrig bleibt, das ist nicht viel. In Worten des Politikwissenschaftlers John Holloway lautet es so:
„Wir machen den Kapitalismus. Und jetzt müssen wir aufhören, ihn zu machen.“370
Unbestritten: Die Lösung gesellschaftlicher Probleme lässt sich nicht von Individualethik erhoffen, ohne dass die Systemfrage gestellt wird. Unter 4.2 wurden deshalb die beispielhaften Umrisse eines künftigen Systems skizziert. Doch dies ist das Papier nicht wert, falls nicht Individuen unter den Bedingungen des skizzierten Systems tatsächlich leben wollen. Das heißt, indem über ein künftiges System auch nur nachgedacht wird, werden zugleich Anforderungen an die Individualethik formuliert. Und das hat gute Gründe: Der Sturm, der sich in Form von Krisen vor unseren Augen zusammenbraut (und der in der Tat Systemänderungen fordert) – dieser Sturm beginnt als lauer Wind, zu dem wir das Unsere beitragen. Damit müssen wir aufhören. Es gibt kein Wachstumsproblem, wenn wir nicht immer mehr verbrauchen. Es gibt keinen Kapitalismus, wenn wir uns nicht als Konsumenten instrumentalisieren lassen. Und das können wir nicht von Politikern fordern oder von Entwicklungsingenieuren. Diese Forderung geht an uns selbst.
Im zweiten und dritten Kapitel haben wir gesehen, dass sich von Effizienzsteigerung allein – so nötig sie ist – die Lösung der bestehenden Umweltprobleme keinesfalls erhoffen lässt. Der positive Beitrag technischer Innovation wird durch Rebound-Effekte aufgezehrt und darüber hinaus summiert sich der Ressourcenbedarf innovativer Technologie zum bisherigen, anstatt den Gesamtbedarf zu senken. Das Ergebnis ist ein fortwährendes Immer-Mehr, das sich gegen die Umwelt und gegen uns selbst richtet. Wenn wir das nun im Ernst nicht mehr wollen, dann verbleiben als mögliche Lösungen „allein Reduktionsstrategien. Davon würden unsere Lebensstile unweigerlich angetastet.“371 Es gibt keine Lösung des Wachstumsproblems ohne Systemwechsel, und es gibt keinen Systemwechsel ohne Änderung unserer Lebensstile. Beides zusammen: Das System und wir müssen sich ändern. Genauer gesagt: Zuerst müssen wir uns ändern. Denn sobald das geschieht, erlebt der Kapitalismus seine allerletzte Krise. Nämlich:
Für die Ablösung des kapitalistischen Systems müssen wir weiter nichts tun, als das Wachstum unseres Konsums zu verweigern. Das allerdings müssten wir wirklich wollen. Anders geht es nicht.
Und gerade das nun fällt schwer. Wir lassen uns fatalerweise gern und täglich einreden, wie sich unser natürlicher Wunsch nach Glück und gelingenden Beziehungen doch am besten durch immer mehr materiellen Wohlstand sicherstellen ließe. Und zunächst hat es ja auch gestimmt. Mit dem Fortgang dieses Immer-Mehr stimmt aber nun das Gegenteil (vgl. Abbildung 49). Wie sehen denn unsere gelingenden Beziehungen heute aus, unter dem Wetteifer täglichen Konsums im Überfluss? Und wie könnten sie aussehen, wenn wir zum Beispiel wieder mehr Zeit füreinander hätten anstatt Überstunden und Überangebot? Nein, unsere heutigen Lebensentwürfe sind ein Irrtum. Irrtümer können passieren. Aber nun müssen wir damit aufhören.
Was auf uns zukommt, falls wir dieser Argumentation folgen wollen, sind beileibe keine Heldentaten. Unsere Vorfahren haben gelitten für ihre Überzeugungen: Zuchthaus, Folter, Tod – all das müssen wir wahrscheinlich nicht auf uns nehmen. Es geht nur um winzige Schritte, um Schritte, die jeder sofort beginnen kann und die überhaupt nicht wehtun. Zum Beispiel, wenn man statt einer kleinen Festgeldanlage einen Genossenschaftsanteil zeichnet: Das ist im Alltag gar nicht zu spüren. Doch was für ein Unterschied im Ergebnis, wenn nun Bereiche der Energieversorgung oder des Wohnens den Profitinteressen entzogen werden!372 Ein anderes Beispiel sind unsere Verbrauchsgewohnheiten. Wir wissen, dass die Massentierhaltung unter unsäglichen Bedingungen stattfindet und die Erzeugung von Fleischprodukten die etwa siebenfache landwirtschaftliche Nutzfläche benötigt wie jene von pflanzlichen Nahrungsmitteln. Was für ein Unterschied, wenn wir nur noch die Hälfte Fleisch essen! Oder die CO2-Emission, sie ist ein ziemlich zuverlässiger Indikator für Umweltverbrauch. Wenn wir wirklich weniger Umweltschäden wollen, so reichen ein paar Mausklicks in einem CO2-Rechner – und schon können wir zunächst einmal vor der eigenen Tür kehren. Abbildung 50 zeigt ein Beispiel mit mustergültigem Energieverbrauch und aber einem Konsum- und Mobilitätsanteil, über den man nachdenken könnte:373
Wir werden dann vielleicht trotzig sein oder erschrocken. Aber wir können – wenn wir wollen – anfangen, die ersten Flug- und Autokilometer oder die ersten Kilowattstunden Energie weniger zu verbrauchen. Wir können versuchen, uns wenigstens dem weltweiten Durchschnitt anzunähern. Auch das wäre im Alltag gar nicht so sehr zu spüren (z. B. ob wir nun in Neuseeland oder an der Ostsee Urlaub machen). Aber was für ein Unterschied im Ergebnis der Umweltbelastung!
Es geht ganz und gar nicht um einen Katalog quälender Verhaltensregeln, die man sich abzuverlangen hätte. Es geht vielmehr um ein anderes Sich-in-Beziehung-Setzen zur Welt und den Mitgeschöpfen. Es geht um eine neue spirituelle Dimension, um eine tiefere Wahrnehmung dieser doch im Grunde wunderschönen Erde. Aus veränderter Wahrnehmung heraus kann sich in uns ein verändertes Verhalten entwickeln, das eben keinen mühsamen Verzicht abverlangt, sondern vielmehr wohltuende Befreiung ermöglicht. Es ist ein unglaublich gutes Gefühl, wenn wir endlich einmal das machen, was wir tief in uns längst schon als stimmig empfinden – und aber unter Verweis auf sogenannte Sachzwänge bisher nie zu tun gewagt haben.
Die Wahrheit ist immer ganz einfach. Manchmal ist sie so einfach, dass man sie beinahe nicht glauben mag. Aber es sind tatsächlich die kleinen Schritte, die am Ende das Große bewirken. Keineswegs gelingt das immer. Aber es ist zumindest noch nie Großes erwachsen ganz ohne das Kleine. Und dass jeder von uns selbst mit kleinen Schritten beginnt, wäre die einzig legitime Form, auf die Verbreitung solcher Schritte zu hoffen. Und genau hier liegt das scheinbar größte Hindernis. Dem Kapitalismus die Konsumgefolgschaft zu verweigern – das kann ja nur mehrheitlich und weltweit gelingen. Wie aber soll man verhindern, dass die anderen umso mehr verbrauchen, wenn wir etwas weglassen? Wäre unser Einlenken dann nicht umsonst? Und wie soll es gehen, dass letztlich alle Völker binnen kurzer Zeit zu solcherart Vernunft gelangen? Keiner kann sagen, ob das gelingen wird.
Was man aber sagen kann, ist das: Fragen dieser Art fallen bereits wieder in die alten kleinlauten Denkmuster zurück. Es ist doch gar kein Zwang, gar kein schlechteres Leben, das wir uns antun, wenn wir zu einem nachhaltigen Maß zurückfinden. Es wird uns besser gehen. Später (hoffentlich in einer Gesellschaft ohne Sozial-, Schulden- und Ökokrise) sowieso, aber doch auch vorher schon. Wenn wir wieder mehr Zeit haben. Wenn wir mit der Natur und uns in Einklang kommen. Wenn wir nicht im Überfluss versinken, nicht im Hamsterrad rennen. Wir werden uns dann wohler fühlen. Dies ist die letzte Einsicht, die uns noch von der Lösung trennt.
Es gibt eine Alternative zum Kapitalismus. Eine andere Welt ist möglich – und sie ist in den Halbinseln nichtkapitalistischer Ökonomie sogar schon Realität. Die Ausweitung dieser partiellen Realität auf die Gesamtgesellschaft hängt vom Wechsel der systemischen Rahmenbedingungen ebenso ab wie vom Wandel der Individuen.
Zum Systemwechsel gibt es eine Vielfalt von Ansätzen, Kontroversen und Debatten. Sie reichen von der vollen Ausfaltung des Staates bis zu dessen Negation, von der Geld- und Eigentumsreform bis zur Ablehnung der Geld- und Marktwirtschaft. Alle zusammen eint das Ziel der Überwindung privaten Profitstrebens. Und sie alle sind für die Katz, wenn Mehrheiten so nicht leben wollen. Es wird sich am Ende jenes Konzept durchsetzen, das die Akzeptanz der Individuen findet.
Bisher hat immer der Tanz ums Goldene Kalb die breiteste Akzeptanz gefunden. Es gäbe wenig Grund anzunehmen, es müsse diesmal anders ausgehen. Doch neben Sozial- und Finanzproblemen sowie militärischen Gefahren riskieren wir ein immer größeres Umweltdebakel, wenn die Wirtschaft weiterhin wachsen soll. Ohne fortdauernd wachsende Wirtschaft aber lässt sich das kapitalistische System nicht erhalten.
Das heißt, wir stehen vor einer Zäsur. Vielleicht sind wir ja mehrheitlich dafür noch immer nicht bereit, wer weiß. Unsere Hoffnung gilt ausgerechnet einem breiten Bewusstseinswandel, den zu erhoffen sich nach nüchterner bisheriger Erfahrung eigentlich verbietet. Doch genau dazu werden wir uns überwinden müssen – so wie sich unsere frühen Vorfahren während der Eiszeit überwinden mussten, das gefürchtete Feuer mit in ihre Höhle zu nehmen, wenn sie denn überleben wollten …