Zwischen Vannes und Étel pendelte 2017 »Eine bretonische Liebe«, der Film über ein Paar, das fürchten muss, Bruder und Schwester zu sein. Bei allem Reiz der ausgeklügelten Geschichte war es auch die bretonische Landschaft, die das Publikum begeisterte. Viele Aufnahmen entstanden am Fluss Étel und in der gleichnamigen Kleinstadt an dessen Ufer. Dieser Ort fiel mit dem Niedergang seiner Thunfischflotte in einen tiefen Schlaf, der Hafen beheimatet jetzt vorwiegend Freizeitkapitäne. Deren große Herausforderung ist die Wandersandbank Barre d’Étel, die sich in die Mündung schiebt. An die Thunfischära erinnert ein Museum, vor allem aber der bizarre Schiffsfriedhof am anderen Ufer des Étel in Le Magouër.
Die größte Attraktion befindet sich allerdings weiter nördlich und gehört schon zur Nachbargemeinde Belz: die Île de St-Cado. Alles an dieser Insel mit ihren alten Fischerhäuschen und der romanischen Kapelle St-Cado ist malerisch, aber den schönsten Anblick bietet das Haus mit blauen Fensterläden, das einsam auf dem vorgelagerten Felsrücken Nichtarguer steht. Wer es von der Steinbrücke aus sieht, die das Festland mit der Insel verbindet, beneidet sogleich die Bewohner um ihre Traumlage. Doch das Haus, das einst einem Austernzüchter gehörte, ist heute unbewohnt und nur noch Motiv für Postkartenansichten. Geblieben sind die Austern in der Ria, eine jener schmalen Meeresbuchten, die im Unterschied zu Fjorden nicht von Gletschern gebildet wurden, sondern überflutete Flusstäler sind und sich wegen ihrer geringen Tiefe gut für die Muschelzucht eignen. Ria sagt man im Süden der Bretagne, Aber hingegen im Norden.
Man könnte Flüssen unterstellen, stets den kürzesten Weg zum Meer nehmen zu wollen. Der Blavet ist da von ganz anderer Natur: Statt von der Quelle in Bourbriac aus über 40 km nach Nordosten bis St-Brieuc zu fließen, wälzt er sich 150 km durchs Hinterland nach Süden bis Port-Louis. Der Ort mit heute etwa 2600 Einwohnern trug ursprünglich den Namen des Flusses, wurde dann aber nach König Ludwig XIII . umbenannt. Solche Ehre für so ein unscheinbares Nest? Man versteht es nur, wenn man die Geschichte einige Jahrhunderte zurückspult, zur Ära des Sonnenkönigs. Dessen absolutistische Herrschaft verlangte ein schlagkräftiges Heer und eine zuverlässige Beamtenschaft, die bezahlt werden wollte – so, wie auch die Prunksucht des Königs eine volle Staatskasse erforderte. Mit dem Merkantilismus entwarf Ludwigs Finanzminister Jean-Baptiste Colbert ein neuartiges Wirtschaftssystem, das den kostspieligen Apparat in Gang halten sollte. Ein Baustein darin war Frankreichs Beteiligung am Asienhandel, mit dem es bislang nicht sonderlich gut geklappt hatte, weil der Erzfeind England mit seiner starken Flotte immer wieder die Nase vorn hatte. Trotz langer Küstenlinie fehlte den Franzosen ein wirklich tauglicher Hafen am Atlantik. Eben diese Rolle sollte nun Port-Louis an der geschützten Bucht des Blavet übernehmen. Colbert gründete dort eine Ostindienkompanie und schützte ihren Sitz mit einer Zitadelle. Etwa ein Jahr benötigten die Schiffe von dort bis zu ihrer wichtigsten Faktorei Pondicherry an der indischen Südostküste. Die Unterwasserwelt entlang der Route ist Thema des Musée de la Marine, während das Musée de la Compagnie des Indes den Indienhandel beleuchtet. Beide Museen befinden sich in der Zitadelle und sind gute Gründe, einen Halt in Port-Louis einzulegen (www.musee-marine.fr ).
Die Stadt, die man auf der anderen Seite des Blavet sieht und mit der Fähre von Port-Louis aus erreicht, bietet trotz ihrer Größe (etwa 58000 Einwohner) hingegen nicht ganz so viele Argumente für einen Besuch, es sei denn, man hegt eine ausgeprägte Liebe zur Architektur der 1950er-Jahre. Ihr Name Lorient verrät die Affinität zum Indienhandel. In den erfolgreichen Jahren der Kompanie erwies sich die Zitadelle von Port-Louis als viel zu klein, um die wachsende Zahl an Händlern, Matrosen, Hafen- und Werftarbeitern aufnehmen zu können. Deshalb wurde Lorient im frühen 18. Jahrhundert als Reißbrettstadt neu gegründet. Doch wieder hatten die Briten den längeren Atem. Frankreichs Ostindienkompanie ging 1793 bankrott, Lorient wechselte in den Staatsbesitz über und wurde Marinestützpunkt. Weil die deutschen Besatzer dort einen U-Boot-Hafen einrichteten, wurde die Stadt im Zweiten Weltkrieg Ziel alliierter Bomber. Später baute man sie entlang der alten Straßenzüge im Stil der Nachkriegszeit gänzlich neu auf.
Dass ausgerechnet dort mit dem Festival Interceltique 1971 das größte keltische Musik- und Kulturfest entstand, wirkt vor diesem Hintergrund nahezu skurril. Hervorgegangen aus einem Wettbewerb um die Meisterschaft der bagadoù – Dupin begegnet solchen Dudelsackformationen und ihrem traditionellen Liedgut in »Bretonischer Stolz« –, hat sich das Interceltique sehr schnell allen keltischen Nationen und auch anderen Sparten der Kultur geöffnet. Alt und neu wurden munter verknüpft, moderne Instrumente ergänzten oder ersetzten die traditionellen, Pop und viele weitere Stilrichtungen hielten Einzug. Nach dem Auftritt von Joan Baez 1978 folgten Stars wie die Cranberries, der Gitarrist Rory Gallagher oder die Sängerinnen Loreena McKennitt und Sinéad O’Connor. Inzwischen werden Besuchermarken von bis zu 800000 erreicht und damit die Vieilles Charrues in Carhaix-Plouguer (siehe hier) um Längen übertroffen. Seit 1976 ist die Festivaldauer auf zehn Tage festgelegt, beginnend am ersten Wochenende im August. Mehr als die Hälfte aller Veranstaltungen ist für die Besucher kostenlos, möglich wird das durch Spenden und unzählige Hände ehrenamtlicher Helfer. Der materielle Gewinn strömt am Ende durch die Nebeneinnahmen herein, die für Lorient zu einem tragenden Wirtschaftspfeiler geworden sind. Manche Gastronomiebetriebe geben an, während des Festivals ein Drittel ihrer Jahreseinnahmen zu erzielen. Das Erlebnis ist grandios, die Top Acts finden im Stade du Moustoir vor bis zu 18000 Zuschauern statt, weitere im Hydrophone (im einstigen U-Boot-Bunker), im Grand Théâtre, im Fischereihafen Keroman, in der Uni oder im Festzelt in Kergroise. Höhepunkt des gesamten Festivals ist die Grande Parade des Nations Celtes, die über mehrere Kilometer durch die Stadt zieht.
Ansonsten besitzt Lorient besonderen Reiz für geübte Taucher, denn vor der Küste liegt eine ganze Armada versenkter Schlachtschiffe am Meeresgrund. Ein ungleich bequemer zu erreichendes Pendant wäre der malerische Schiffsfriedhof von Kerhervy im Vorort Lanester. Für Bretonen haben Schiffe eine Seele, man gönnt ihnen also eine letzte Ruhestätte, anstatt sie brachial auszuschlachten. So liegen dann auch dort am Blavet seit dem frühen 20. Jahrhundert die erschöpften Recken einer vergangenen Ära. Ende Juni sind sie Kulisse eines Festivals (http://festival.kerhervy.com ). Aber auch eine literarische Vorgängerin von Dupin, Kommissarin Mary Lester, war mit den hölzernen Gerippen vertraut. »Les Bruines de Lanester« heißt der Krimi, mit dem der bretonische Autor Jean Failler 1992 eine lange Romanserie um Mary Lester eröffnete.
Ein geschlossenes keltisches Volk oder gar eine Nation hat es wohl nie gegeben, vielmehr nur einzelne, weit über Europa verstreute Stämme mit verbindenden Kulturelementen, darunter die Sprache. In Frankreich hat der zentralistische Staat das Bretonische gezielt unterdrückt, bis nur noch im Finistère Enklaven blieben. In den 1960er-Jahren erstand ein Verein namens Diwan, der sich um Wiederbelebung bemühte und die Gründung von Vorschulen mit ausschließlich bretonischem Unterricht forderte. Auch die Eltern der Sängerin Gwennyn Louarn gehörten der Bewegung an. »1974 wurde ich in diese Entwicklung hineingeboren. Bretonisch war meine erste Sprache, Französisch kam erst später hinzu. Meine Schulerziehung begann bei Diwan in Rennes.« Damit ist Gwennyn zweifellos eine besonders authentische keltische Musikerin. Für ihre weitaus besser bekannte Kollegin Nolwenn Leroy hat sie 2012 das bretonische Lied »Ahès« geschrieben und später mit »Avalon« eine CD publiziert, die komplett auf keltischen Legenden beruht. »Während meiner gesamten Kindheit hat meine Großmutter mir diese Legenden erzählt. Für mich wurden sie damit zur Historie. Imaginäres und Reales verschmelzen, man weiß nie, ob etwas noch Wahrheit ist oder nicht mehr.« Dass ihre bretonischen Texte von den meisten Zuhörern gar nicht verstanden werden, erachtet Gwennyn als unerheblich. »Es ist die Musik, die zählt. In meinem Fall eine Musik zum Hineinhorchen. Gefühle passieren vor der Sprache. Außerdem ist Bretonisch eine melodiöse Sprache, die sich gut in die Rhythmen schmiegt.« Spektakuläre Auftritte von Gwennyn gab es bei den Vieilles Charrues in Carhaix-Plouguer, bei den Tombées de la Nuit in Rennes und 2017 beim Festival Interceltique in Lorient, als dort auch die Britin Amy Macdonald auftrat.
Ab zwanzig Euro legt man auf den Tisch des Hauses Escal’Ouest (www.escal-ouest.com ), dann ist der Deal perfekt: eine 45-minütige Überfahrt mit dem Schnellboot vom Gare Maritime in Lorient zur Insel Groix, Rückfahrt inbegriffen. Und was gibt es dort zu sehen? Nur 8 mal 2,5 km misst die Insel, man kann sie vom Fähranleger Port Tudy auf einem 25 km langen Wanderweg umrunden. Unterwegs trifft man auf ein Schutzgebiet für Seevögel an der Pointe de Pen-Men, dann auf den imposanten Felseinschnitt Trou de l’Enfer und an der Pointe des Chats auf ein weiteres Schutzgebiet, das aber nicht Vögel, sondern Mineralien behütet. Plage des Grands Sables heißt schließlich der bilderbuchschöne Strand am Ende der Wanderung. Was Dupin immer wieder anmerkt: Die Bretonen haben den Hang zum Superlativ und Alleinstellungsmerkmal und pochen hier darauf, dass dies Europas einziger konvexer Strand sei – was dem Besucher allerdings keine Vorteile verschafft. Zurück in Port Tudy, kann man am Kirchplatz täglich bis 13 Uhr den Fischmarkt erleben und nach der Wetterfahne hoch oben auf der Kirche Ausschau halten. Sie stellt ausnahmsweise keinen Hahn dar, sondern einen Fisch, der daran erinnert, dass von Port Tudy einst die Thunfischfänger ausliefen. Die ehemalige Fischkonservenfabrik beherbergt heute ein Museum zur Inselgeschichte. Dass auch Claude Monet ein Kapitel dazu beigetragen habe, beruht auf einer Verwechslung. Denn es war Monets Zeitgenosse Henry Moret, der impressionistische Gemälde der Insel hinterließ. Seinen Sujets ist man bei der Inselrunde begegnet, nur die Thunfischflotte, die auch der Kollege Paul Signac malte, gibt es nicht mehr.
»Es war Viertel nach zwölf, als Dupin in Le Pouldu ankam, er hatte die Strecke in siebenundzwanzig Minuten geschafft, er hatte Riwals knallroten Renault schon von Weitem gesehen, er stand genau neben dem Ortsschild, so nah, dass es aussah, als habe er das Schild gerammt. ›Le Pouldu‹, darunter der keltische Name: ›Poull du‹, schwarzes Meer. Und in ebenso großer Schrift: Der Weg der Maler. Das war der Marketing-Spruch geworden, für den man, Dupin erinnerte sich genau, über eineinhalb Jahre einen Wettbewerb ausgeschrieben hatte; die Bretagne hatte beschlossen, mit breiterer Brust auf ihr künstlerisches Erbe hinzuweisen – da nun aber sehr viele Maler in der Bretagne an sehr vielen Orten gewesen waren, war das Schild jetzt folglich sehr viel zu sehen.«
Bretonische Verhältnisse, Seite 265
Nach unserer Station auf der Belle-Île kommen uns Begegnungen mit berühmten Künstlern fast alltäglich vor. In Le Pouldu würde man ein solches Rendezvous dennoch nicht erwarten. Zu weit abseits der Hauptrouten liegt der Ort westlich der ihrerseits schon kaum besuchten Laïta-Mündung. Doch genau diese Abgeschiedenheit war für Paul Gauguin der Grund, sich im Oktober 1889 dort für einige Monate in der Buvette de la Plage einzuquartieren. Pont-Aven, das er bei früheren Aufenthalten in der Bretagne ruhiger erlebt hatte, war ihm zu betriebsam geworden (siehe hier) . Für Kommissar Dupin ist diese Buvette am Strand der zentrale Bezugspunkt bei seiner Suche nach einem Gauguin-Gemälde, das in einem nahen Schuppen versteckt sein soll.
Die Originalpension, in der Gauguin und seine Malerkollegen Paul Sérusier, Meyer de Haan und Henry Moret wohnten, ist heute ein Café. Das Maison-Musée wenige Meter weiter an der Straße wurde exakt einhundert Jahre nach Gauguins Einzug in die benachbarte Buvette mit Nachbildungen des einstigen Inventars als Museum hergerichtet (10, Rue des Grands Sables, https://maisonmuseegauguin.blogspot.com ). Weil den Malern das Geld für Kost und Logisfehlte, beglichen sie ihre Rechnungen mit Gemälden. So kam die Pensionsinhaberin Marie Henry (1859–1945) in den Besitz von Bildern, die später ein Vermögen wert waren. Während Marie mit Gauguin nicht allzu gut klarkam, verliebte sie sich in Meyer de Haan, der sie aber vor der Geburt einer gemeinsamen Tochter verließ. Im April 1891 reiste Gauguin nach Tahiti ab, wo er seinen Lebenstraum verwirklichen wollte. Drei Jahre später veranlasste ihn der gestiegene Wert seiner Arbeiten zur Rückkehr in die Bretagne mit dem Plan, jene Gemälde, die er allzu leichtfertig hergegeben hatte, wieder in seinen Besitz zu bringen. Einen Rechtsstreit gegen Marie Henry verlor er jedoch. Lange nach Gauguins Tod, um 1924, ließ Marie den Großteil ihrer Sammlung durch ein Pariser Auktionshaus versteigern.
Die schnellere Reise von Lorient Richtung Westen hätte über Quimperlé geführt, das außer hübschem Renaissancefachwerk noch eine gotische und eine romanische Kirche zu bieten hat. In bezaubernder Umgebung an verträumten Wasserläufen rings um den Ort stehen weitere Kirchen, Abteiruinen und Kapellen, denen man eine eigene Tagestour widmen könnte. Beschränken wir uns hier auf ein Exempel: die Abbaye St-Maurice-de-Carnoët. Diese Abtei am idyllischen Unterlauf der Laïta, 7 km nördlich von Le Pouldu, war 1177 von Zisterziensern gegründet und erst kurz vor der Revolution verlassen worden. In den wilden Jahren nach 1789 diente sie als Steinbruch, aber die Blessuren sind nach denkmalpflegerischer Hochleistung inzwischen zu einem großen Teil beseitigt und die Abtei von einem herrlichen Park umgeben (https://abbayesaintmaurice.blogspot.com ).
»›Sie wissen nicht viel über die Austernzucht, oder?‹, die Frage war nicht hämisch formuliert gewesen, Kolenc seufzte jetzt dennoch hörbar.
Dupin hatte nicht die allergeringste Ahnung von Austernzucht; sicher hatten ihm in den letzten fünf Jahren etliche Leute etliche Male etwas darüber erzählt, aber er hatte ebenso sicher oft nicht zugehört; allgemein war das eine seiner größten Stärken: das mehr oder weniger elegante Nicht-Zuhören, wenn ihn etwas nicht interessierte.
›Sie müssen die Reproduktion, die Zucht und die Veredelung unterscheiden.‹
›Ja?‹
Dupin wollte vor allem das mit der Veredelung verstehen.
›Die Reproduktion findet nur in wenigen Gebieten statt, in der Bretagne zum Beispiel in Cancale oder in den Parks zwischen dem Couesnon und der Loire. Dann weiter unten am Atlantik, im Arcachon-Becken. – Die Creuses kommen mit achtzehn Monaten zur Zucht zu uns, einschließlich der Veredelung. Das dauert noch mal achtzehn Monate. Die Plates holen wir, wenn sie ausgewachsen sind – nur noch zur Veredelung. Zur richtigen Veredelung.‹«
Bretonischer Stolz, Seite 143
Wir unterbrechen Mr. Kolenc an dieser Stelle, denn was er über Austern zu berichten hat, gerät ins Wissenschaftliche. Wichtig für die Allgemeinheit ist auch eher, dass zwei Fraktionen wohl für alle Ewigkeit bestehen werden: die einen, die von der Austernspeise nicht genug bekommen können, und die anderen, die es schon beim Anblick ekelt. Auch Dupin hat da seine Anlaufschwierigkeiten, aber »er fand das Äußere des Schalentieres sehr hübsch, die dunkle, schrundige, scharfkantige Schale in aparten Grautönen, die die Austern wie bizarre Steine aussehen ließen. Die Schale von innen war noch hübscher, das schillernde Perlmutt«. Diese Diskrepanz zwischen Äußerem und Innerem spiegelt auf erstaunliche Weise das Wesen der Orte, die von der Austernzucht leben. Mögen sie auch eine beliebte Delikatesse in die Welt hinaus befördern, präsentieren sie sich doch äußerlich in genau dieser »schrundigen Schale in aparten Grautönen«.
»Port Bélon lag in der Mündung des Bélon, der hier, nur noch ein paar Hundert Meter vor dem offenen Atlantik, bereits sehr breit war. Bei Flut schob der Atlantik sein Wasser kilometerweit ins Land hinein. Von der anderen Seite, vom Land, kam der Bélon, der als Bach durch bilderbuchartige Wiesen und Wälder floss, über dunkle, nährstoffreiche Böden, von denen er immer ein wenig mittrug. Bei Le Guily, wo es noch acht Kilometer bis zum Meer waren, floss er als kleiner Bach unter einer malerischen Brücke hindurch und war auf der anderen Seite jäh ein Fluss, ein Meeresfluss. Süße und salzige Wasser mischten sich in immer wechselnden Verhältnissen. Und etwas Einzigartiges entstand.«
Bretonischer Stolz, Seite 35
Ansonsten wäre über Port Bélon zu sagen, dass es zur Gemeinde Bannalec gehört, die uns wegen ihrer Namensgleichheit mit dem Autor Jean-Luc Bannalec auffällt. In der Verfilmung von »Bretonische Geheimnisse« taucht kurz ein Straßenschild Richtung Bannalec auf, das aber real nicht an dieser Stelle stehen kann. Dupin fährt telefonierend an der Kirche von Tréhorenteuc vorbei, die sich im Wald von Paimpont befindet (siehe hier) , passiert aber noch während des Gesprächs das Schild, das eine Kommunalstraße markiert. Solche C-Straßen sind indessen kurz und queren keine Departement-Grenzen, was in diesem Fall erforderlich wäre.
Doch zurück zum Austernhafen: Vedettes Aven Bélon bieten von der Mole in Pont Bélon aus Minikreuzfahrten Richtung Pont-Aven an, die man sich nicht entgehen lassen sollte (www.vedettes-aven-belon.com ). Der Landweg führt derweil etwa 2 bzw. 4 km nach Süden zu den Stränden Kerfany-les-Pins und Trenez, Nebenschauplätze des vierten Bandes, weil Inspektor Kadeg dort Sandräubern nachstellt. Auch im echten Leben werden an vielen Küsten, nicht nur Frankreichs, Sand und Kies für die Bauindustrie gestohlen, der weltweite Bedarf beläuft sich auf immerhin 40–50 Mrd. Tonnen. Wie betrüblich es wäre, wenn die Strände durch illegale Machenschaften ihrer Pracht beraubt würden, können Badeurlauber leicht nachempfinden. Noch aber steht die Auberge de la Mer, ein kleines Traditionsrestaurant in Traumlage am Strand von Kerfany, das mit seiner Südwestausrichtung den perfekten Rahmen für ein Abendessen bei Sonnenuntergang liefert. Dupin hat allerdings andere Prioritäten:
»Obwohl ganz Port Bélon berückend schön war, so war die direkt in den Fluss gebaute Terrasse des La Coquille vielleicht der berückendste Platz hier. Man saß auf Barhockern entlang einer Theke aus Holzplanken, an deren Ende ein echter Schiffsmast emporragte und stolz die bretonische Flagge trug; im überdachten Teil der Terrasse waren die beiden Meerwasserbecken eingelassen. Man blickte auf den Bélon, seine allerletzte Strecke vor dem offenen Atlantik, die sich kein Maler pittoresker hätte ausdenken können: Von beiden Seiten fielen dicht bewaldete Hügel sanft zum Fluss hinab, gleichmäßig, symmetrisch nahezu. Jede einzelne Baumspitze zeichnete sich scharf vor dem Himmel ab. Eine perfekte Inszenierung der Natur. Dahinter begann das gewaltige Meer. Dupin blickte Richtung Westen, die Sonne stand noch deutlich über dem Horizont, hatte aber bereits angefangen, den Himmel um sie herum einzufärben. Die orange Stunde hatte begonnen.«
Bretonischer Stolz, Seite 50/51
La Coquille ist mehrfach Schauplatz in Dupins viertem Kriminalfall, doch vor Ort sucht man dieses Restaurant vergebens, denn das Haus am anderen Ufer des Bélon trägt in der Realität den Namen Chez Jacky (siehe hier) . Gar nicht weit vom Haus, nahe der Landspitze Pointe de Penquernéo, wird in »Bretonischer Stolz« die erste Leiche gefunden. Weil der Fundort aber nicht exakt beschrieben wird und der Tote auch gleich wieder verschwindet, lohnt die Suche nicht weiter. Wenden wir uns lieber den greifbaren Objekten zu, etwa dem Château de Bélon, das im Buch beschriebene Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert. So wie es etwa im Bordelais die Weinschlösser gibt, ist dies seit 1864 quasi ein Austernschloss. Dort ist man herzlich zum zünftigen Probieren an Holztischen mit Blick auf den Bélon eingeladen (https://belon.bzh ). Adresse all dieser Schauplätze ist Riec-sur-Bélon, der Hauptort gleich nördlich der Flussmündung, wo sich am Kirchplatz Nadège und Julien Le Quintrec einen beachtlichen Ruf als Bäcker erworben haben. Aus ihrer Petite Boulangerie, die auch Dupin kennt, ist mittlerweile die Holding N&J mit Niederlassungen in anderen Orten Frankreichs erwachsen. Zugleich hat der einst verträumte Stammsitz in Riec sein nostalgisches Flair verloren. Auch die Fromagerie von Isabelle und Patrick Baratte, wo laut Dupin »die allerbesten Käse Frankreichs verkauft« wurden, hat ein neues Kapitel aufgeschlagen. »Man hat ja gar nicht mitbekommen, wie die Zeit verging. Unsere Kunden brachten ihre Kinder mit, dann ihre Enkelkinder«, so erzählten die Barattes 2018 in der Ouest-France, als sie in Rente gingen. Dabei passte ihr Familienname so glänzend zu ihrem Gewerbe: Beurre de baratte ist handgeschlagene Rohmilchbutter.
Fluss und Meer, Süßwasser und Salzwasser, Land oder: ganz Ländliches, Küste oder: kräftig Atlantisches – alles mischt sich auf diesem Spaziergang von Port Bélon bis zur Bélon-Mündung. Hin und zurück sind es vielleicht zwei Stunden, immer am Bélon entlang. Bei Flut strömt der Atlantik kilometerweit ins Land, bei Ebbe plätschert der Fluss in einer schmalen Rinne bis zum Meer. Eine typische Landschaftsform der Bretagne: diese weit ins Landesinnere reichenden Meeresarme, fjordartig, aber anderen Ursprungs. Mit steigendem Meeresspiegel hat sich der Atlantik in den letzten paar Tausend Jahren immer tiefer in Bach- und Flusstäler gefressen und solche Rias geschaffen. Meist sind sie flach, anders als Fjorde.
Allenthalben am Bélon zu entdecken: krass gelb blühender Ginster, lila Heide, alle Grüntöne, die es gibt. Ein Spaziergang wie durch einen wilden botanischen Garten. Der Weg windet sich hin und her, auf und ab, bis Sie die Mündung erreichen. Dort ist dann alles purer Atlantik, die gigantische Brandung rollt gegen die Steilküste. Sie stehen 20, 30 m über dem Meer, die Felsen sind ideal für ein Picknick, vorzugsweise mit Brot aus der Bäckerei N&J in Riec-sur-Bélon (siehe hier) . Wenn das Wetter es will, reicht der Blick bis zu den Glénan! Wer außer uns Menschen den Bélon innig liebt: die Austern. Hier vermischen sich grünes und blaues Plankton, grüne und blaue Aromen. Das macht die Austern überaus speziell. Und weltberühmt. Zurück in Port Bélon nehmen Sie Platz an den einfachen Holztischen des Château de Bélon und genießen eben jene besonderen Austern (unbedingt die plates ). Der Blick von dort folgt dem Funkeln des Bélons bis zur Mündung. Unvergesslich, alles!