Die Freiheit, die nur Sie meinen
Ihr Ruhestand: Jetzt sind Sie frei für Experimente!
Zugegeben: So richtig subversiv klingt es nicht, wenn ich Ihnen im Folgenden vom Kochen, Golfen oder Tanzen erzähle. Und Zeitlöcher will ich auch nicht füllen.
Eher so: Einzigartig und besonders wird die jetzt vor Ihnen liegende Zeit, wenn Sie sich auf Neues einlassen und es sich zu eigen machen. Sich herantasten, probieren, ohne festes Ziel rummachen, ein Gefühl dafür bekommen, um irgendwann zu entscheiden: Schmeckt es mir?
Ja, Kochen ist eine spannende, vielfach unterschätzte Sache: Da ist zunächst die handwerkliche Seite, die bei Ihnen bisher zu kurz kam, wenn Sie Nahrungsaufnahme nur bei Muttern oder in der Kantine zelebriert haben. Das Kochhandwerk ist spannend, gerade auch bei den einfachen Tätigkeiten. Wie kriegt man nun die Zwiebeln richtig fein geschnitten? Wie macht man einen Fond? Wie würzt man mit Kreuzkümmel oder Kardamom? Wie wird der Fisch nicht faserig? Das ist die Pflicht, und schon die kann tagesfüllend sein, vor allem wenn Sie von der mutigen Sorte sind und in vier Wochen eine kleine Abendgesellschaft einladen, um denen mal was vorzukochen. Ich bin da schon ganz schön ins Rotieren gekommen.
Noch aufregender wird es, wenn Sie es so angehen, wie es in dem Interview mit den Redzepis21 beschrieben ist: Kochen als ausprobieren, als herausfinden, was Ihnen alles schmecken könnte, als Zugang zu Ihrer Sinnlichkeit, als eine Möglichkeit, zu experimentieren.
Kochbücher kaufen ist lustvoll, Kochbücher lesen auch, vor allem, wenn Sie gerade abnehmen und sich das Knäckebrot durch Phantasien von künftigen Höhepunkten Ihrer ganz persönlichen nouvelle cuisine süß kauen. Kochen Sie nicht nur nach fremden Rezepten, sondern fangen Sie irgendwann an, Eigenes zu entwickeln.
Endlich können Sie Italienisch, Spanisch, Russisch, Chinesisch lernen: Das ist einfach geworden, fast für jede denkbare Sprache gibt es hervorragende CDs. Sie können sich aber auch Lehrer suchen. Meine Tochter hat mit einer Lehrerin Khmer gelernt, eine Freundin Türkisch, mein Bruder lernt Italienisch in der VHS. Ich halte es mehr mit der Italienisch-CD, weil ich immer wieder längere Strecken Auto fahren muss und dann gut hören kann.
Abstrakt lernen geht – »ich wollte immer schon mal wissen, wie Japanisch funktioniert« –, aber motivierender ist es, wenn Sie mit der Sprache etwas anfangen können: Wenn Sie zum Beispiel im Piemont wandern, kommt es gut, sich mit den Leuten auf Italienisch unterhalten zu können. Arabisch ist mehr als hilfreich, wenn Sie ehrenamtlich Flüchtlinge betreuen. Ein schon lange frühverrenteter Bekannter hat sich auf die nordischen Sprachen gestürzt, Norwegisch, Isländisch, ein Höhepunkt war der Besuch auf den Faröern, und ich habe gelernt, dass die dortige Hauptstadt Thorshavn heißt; macht ganz schön was her. Sie tun nicht nur etwas für Ihr Gehirn, was für sich genommen schon ein guter Grund wäre, sondern Sie finden Zugang zu Provinzen der Welt, von denen Sie vorher nichts ahnten. Ich habe das bei meiner Tochter erlebt, als ich sie in Kambodscha besuchte, wenn sie die Dorfbewohner auf Khmer (kmai gesprochen) ansprach: Wie die erst staunten, dass eine Europäerin ihre Sprache fließend sprach, dann lächelten, ganz viel wissen wollten und begeistert waren. Die Welt besteht eben nicht nur aus Hamburg, München oder gerade mal New York!
Golf, der Klassiker! Viele machen die Erfahrung, dass Tennis nicht mehr gut geht über sechzig, oder der Orthopäde meint, dass diese unkontrollierten Drehbewegungen Gift für die Facettengelenke – schlagen Sie mal nach! – sei. Da gäbe es doch eine Alternative mit kontrollierten Bewegungen. Golf eben. Also, um es klar zu sagen: Meisterschaftsverdächtig werden Sie nicht mehr spielen, wenn Sie mit sechzig anfangen. Falls Sie mir das nicht glauben, schauen Sie sich mal ein Turnier mit 16-Jährigen an. Aber der sechzigjährige Bernhard Langer ist ein gutes Vorbild, mit seiner Demut, seiner Akzeptanz für versemmelte Bälle – vor allem der anderen, er schlägt ziemlich gerade! –, und seinem geradezu unglaublichen Übungseifer. Golf kann richtig gut für Sie sein, weil es in jeder Hinsicht anspruchsvoll ist: motorisch, geistig, mental. Selbst wenn Sie ja immer »nur« gegen sich spielen, müssen Sie üben, vorher Gymnastik machen, sich dehnen. Und Sie brauchen schon Ausdauer – das heißt, Sie können Ihre Ausdauer zu einem guten Zweck trainieren, denn das ist besser, als stumpfsinnig auf dem Zimmerfahrrad oder der Rudermaschine vor sich hin zu trainieren. Und wenn Sie zwischendurch hinschmeißen wollen, weil Sie sich doch im Ruhestand nicht mehr so – über sich! – ärgern wollten, befinden Sie sich in guter Gesellschaft: Beckenbauer soll einmal sein Golfbag im Wasserhindernis versenkt haben! Sie sollten aber nicht nur auf den Ball starren, das Beste ist das Drumherum: Wenn Sie an einem schönen Sommermorgen als Erste/r auf dem Platz sind (ja, der Tau lässt die Bälle beim Putten nicht so gut rollen), sehen Sie Vögel, Hasen, Rehe, die Sie schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen haben.
Klavier spielen wollten Sie immer schon, und nie glaubten Sie, Zeit dafür zu haben. Aber jetzt! Jetzt ist Ihre Zeit: Auch wenn Sie wissen, dass Sie nicht mehr wie Lang Lang spielen werden; die Erziehungsmethoden seines Vaters wollen Sie ja auch nicht erleben. Aber aktive Musiker werden viel seltener dement als andere Menschen, und Klavierspielen ist wie Golf eine komplexe Herausforderung. Sie machen die Erfahrung, wie es ist, etwas vollständig neu zu lernen. Erst wissen Sie nicht, wie Sie die Finger halten sollen, die Akkorde klappern. Kontrolle sieht anders aus. Üben! Das ist auch eine Reminiszenz an längst vergangene Tage. Zuerst verzweifeln Sie, nichts klappt. Trotz zwei Stunden üben pro Tag. Dann lassen Sie’s für ein paar Tage sein, und plötzlich – diese schwierige Stelle, die Sie zum Wahnsinn getrieben hat, klingt astrein. Für solche Erfahrungen lohnt sich der Ruhestand! Musik! Jetzt haben Sie die Chance, zu erfahren, dass diese Verbindung von Klang, Seele und Rhythmus – haben Sie mal genau auf die Bässe bei Bach gehört? – das Größte überhaupt sein kann. Es muss auch nicht unbedingt Klassik sein, Jazz, Keith Jarrett oder Leonard Cohen – wenn Sie selber spielen, bekommen Sie einen ganz anderen Zugang, hören ganz anders hin. Ohne Leistungsanspruch können Sie sich zuhören, erleben, wie die Klänge auf Sie wirken, was sie in Ihnen auslösen. Ein Freund, Universitätsmediziner, entdeckte, wie schön es ist, dem 11-jährigen Sohn, auch nicht Lang Lang, beim Klavierspielen zuzuhören.
Sie wohnen in einer Etagenwohnung und glauben, das Klavierspiel sei zu laut? Es gibt inzwischen qualitativ ordentliche elektrische Klaviere, mit akzeptablem Anschlag, die Sie mit Kopfhörer spielen können. Die Qualität ist nicht die eines Steinway-Konzertflügels, aber den würden Sie sich ja sowieso nicht anschaffen. Übrigens: In einen Klavierladen gehen und ein Klavier kaufen – oder mieten, das hat was!
Natürlich können Sie auch andere Instrumente spielen. Geige, Cello, Trompete, Saxophon. Probieren Sie ruhig alles aus. Sie sollten nur bedenken, dass der technische Anspruch bei diesen Instrumenten meist erheblich höher ist, unter anderem, weil Sie die Töne ja selber halbwegs zutreffend hervorbringen müssen. Beim Klavier schlagen Sie eine Taste an, und der Ton ist da.
Tanzen!
In Ihrem Alter? Aber ja! War da nicht was? »Zwei alte Tanten tanzen Tango mitten in der Nacht …« von Georg Kreisler! Lilaschwarz! Tango, das wärs.
Was ist am Tanzen gut?
Sie machen etwas zu zweit und bringen ein paar frische Melodien in die Beziehung. Es sei denn, Sie sind schon in der Stress-Streit-Konflikt-Phase: Dann kriegen Sie das mit dem Tanzen nicht mehr hin, weil permanente Führungsprobleme nur nerven. In solchen Situationen hilft – wenn überhaupt – nur eine Paartherapie.
Interessant: Tanzen ist im Gehirn in den Basalganglien organisiert, einer Hirnstruktur, die auch dann noch funktioniert, wenn das Großhirn allmählich nachlässt. Sogar Demente können sich unheimlich am Tanzen freuen, wenn sie es beizeiten gelernt haben.
Tango ist deswegen so gut, weil eigentlich keiner führt – na ja, vielleicht der Mann ein bisschen. Statt führen ist aufeinander achten angesagt, spüren, was der andere macht. Sie tun was – für den Gleichgewichtssinn, für die Ausdauer, für das Gedächtnis und nicht zuletzt für die Beziehung. First of all: Es macht Spaß!
Malen, Aquarell, für den entschlossenen Pinselstrich, Öl, wenn Sie lieber rumbazeln – allein schon das Kaufen von Farben und Pinseln ist ein Genuss, der Sie in eine neue Welt eintauchen lässt.
Das ist beileibe noch nicht alles: Ein enger Freund, der bis dato nur Computertastaturen bearbeitet hatte, wollte gerne was mit Holz machen. Da gibt es ja sooo tolle Geräte, kleine und größere! Sägen, Hobel, Messer!
Dann kam die Phase des Holzsammelns inklusive einer kurzen Ehekrise, weil seine Frau die (un-)heimliche Schönheit der gesammelten Baumstümpfe und knorrigen Äste nicht so richtig würdigen konnte. Jetzt ist er so weit, dass er richtig tolle Kunstgegenstände macht, die er gut verkauft. Und manchmal bemalt sie die dann noch, weil das offenbar ihre Stärke ist.
Der Phantasie sind, wie Sie sehen, keine Grenzen gesetzt. Vorausgesetzt, Sie lassen sich auf das Neue in diesem Leben ganz ein: herantasten, probieren, schmeckt es?
Interview mit Wanda Fahrenkrog, Golf-PGA Professional
Wir kennen uns seit elf Jahren, als ich mit dem Golfen anfing.
Bernhard Langer ist sechzig Jahre alt und spielt wie ein junger Gott. Aber er spielt auch schon seit 45 Jahren. Macht es Sinn, mit sechzig plus noch mit Golf anzufangen?
Aber sicher! Golf verbessert in den meisten Fällen die Lebensqualität und verlängert oftmals sogar das Leben.
Denn die Beweglichkeit, Konzentration, Ausdauer und noch vieles mehr werden durch den Golfsport gefördert.
Klingt gut. Gibt es Vorbedingungen?
In erster Linie sollte man Spaß haben. Auch Freude, sich zu bewegen, und natürlich gerne an der frischen Luft sein. Auch ist es nicht schlecht, wenn man sich schon vorher mit irgendeinem Sport auseinandergesetzt hat, da ein gewisses Maß an Körpergefühl lohnenswert ist. Ist aber keine Vorbedingung.
Muss man für Golf begabt sein?
Nicht speziell, mit sechzig möchte man wahrscheinlich keine Profikarriere mehr starten.
Viele kommen sich doof vor, in diesem Alter noch mit einer neuen Sportart anzufangen und erst mal gar nichts zu können.
Jedes Alter hat seine Vor- und Nachteile. Ab sechzig hat man mehr Lebenserfahrung (denke ich), ist ruhiger geworden und kann sich seine Ziele realistischer setzen. Daher wird man eher in der Lage sein, das zu genießen – was man kann.
Aber ist Ehrgeiz nicht positiv?
Natürlich muss man üben, da es eine ganze Weile dauern kann, bis eine Bewegung automatisch funktioniert, von der Planung im Kopf bis zur Ausführung durch die Muskeln kann ein langer Weg sein. Daher würde ich es eher Geduld nennen.
Es bringt also nichts, besonders weit schlagen zu wollen?
Weite ist leider nicht das ganze Paket. Wenn die Bewegung aber technisch ganz gut ist und eine Portion Selbstvertrauen hinzukommt, erreicht jeder Spieler ausreichend Länge.
Wenn der Schwung stimmt, kommt die Weite von selbst – klingt fast meditativ! Wie ist es mit dem Zusammenspielen?
Das ist das Besondere am Golf. Zwei Personen, die ziemlich unterschiedlich gut sind, können problemlos zusammen spielen.
Im Tennis – zum Beispiel – wird es für einen guten Spieler schnell langweilig, wenn er gegen einen deutlich schlechteren Spieler antreten muss, und der schlechte ist schnell frustriert. Im Golf ist es eben auch möglich, dass der weniger Qualifizierte gewinnt, weil das Handicap den Unterschied ausgleicht.
Ich kann ja auch alleine spielen …
Auch das ist möglich. Im Grunde spielt jeder immer nur gegen sich selbst. Weswegen man sich auch nicht über den Mitspieler beschweren kann, über den falsch angeschnittenen Ball – wie beim Tennis – oder andere angebliche Ungerechtigkeiten.
Brauche ich einen Trainer oder ist es nicht einfacher, ohne viel Grübeln auf den Ball zu hauen?
Am Anfang ist ein Trainer auf jeden Fall besser, um die wichtigsten Bewegungsgrundlagen zu lernen und sich keine Fehler anzugewöhnen, die gesundheitliche Probleme mit sich bringen können. Aber selbst wenn man schon jahrelang spielt, machen regelmäßige Kontrollen Sinn. Selbst Spitzenspieler arbeiten ständig mit einem Trainer zusammen.
Hat man denn überhaupt eine Chance, noch ein passabler Golfer zu werden, wenn man erst mit 60+ anfängt?
Diese Chance ist sogar ziemlich gut. Es kommt allerdings darauf an, wie man einen passablen Golfer definiert. Wenn man mit sechzig anfängt und regelmäßig spielt und auch Trainerstunden nimmt, kann man es innerhalb einiger Jahre schon auf ein Handicap von 18 bis 20 bringen. Das ist ziemlich ordentlich; es würde bedeuten, dass man an jedem Loch einen Schlag über PAR braucht, um einzulochen. Ein einstelliges Handicap ist ein hohes Ziel.
Sicherlich gibt es auch – wie in allen Lebenslagen – Ausnahmegolfer.
Was heißt PAR?
Professional Average Result – die Zahl an Schlägen, die ein Profispieler – die haben meist ein Handicap von 0 – braucht, um den Ball vom Abschlag bis in das Loch zu spielen. Auf jedem Golfplatz gibt es eine bestimmte Zahl von PAR 3-, PAR 4-, und PAR 5-Löchern.
Und weil wir gerade bei den Begriffen sind: Spielt man ein Loch mit einem Schlag unter PAR, so nennt man das Birdie, 2 unter PAR heißt Eagle und 3 unter PAR Albatros. Wenn man umgekehrt einen Schlag über PAR braucht, so ist das ein Bogey, 2 Schläge darüber sind ein Doppel-Bogey und so weiter.
… und das Handicap?
Das Handicap errechnet sich aus der Differenz zwischen dem PAR eines Platzes und der Schlagzahl, die ein Spieler benötigt, um alle 18 Löcher einzulochen. Das PAR eines Golfplatzes ist meist 72; wer dafür durchschnittlich 72 Schläge braucht, hat ein Handicap von 0, wer 90 braucht, eines von 18 und so weiter.
Klingt etwas kompliziert. Und wofür ist das nun gut?
Um die verschiedenen Spielstärken auf ein Level zu bringen. Wenn ein sehr guter (Handicap 0) und ein mittlerer Spieler (Handicap 18) gegeneinander spielen, bekommt der mittlere Spieler gegenüber dem guten 18 Schläge vor.
Letzten Endes heißt das doch, dass man immer gegen sich selbst spielt?
Genau. Und das ist auch das Gute am Golf: Man hat es immer mit sich selbst zu tun. Es sind immer meine guten oder meine schlechten Schläge.
Aber es gibt doch jede Menge Regeln beim Golf, und bevor man auf den Platz darf, die »Platzreife« bekommt, muss man ja auch einen Regelkurs absolvieren.
Wichtiger sind die »Etikette« auf dem Gelände, den Platz zu schonen und natürlich auch das Verhalten den anderen Spielern gegenüber. Die sogenannten Golfregeln helfen mir als Spieler. Und wenn ich diese als Spieler kenne, kann ich sie mir zunutze machen. Oder möchtest du gerne aus dem Wasser spielen oder auf den Baum klettern?
Was findest Du am Golf so toll?
Draußen sein, in der Natur.
Natürlich auch der Kontakt zu interessanten Menschen.
Beim Golf lerne ich viel über mich selber, kann besser mit Stress umgehen, meine Konzentration und mentale Stärke werden gefordert sowie die Beweglichkeit gefördert.
Ist es nicht das, was im Alter auch trainiert werden sollte? Also ist Golf die ideale Sportart!
Eine gute Struktur und genügend Schlaf
Mich erstaunt immer wieder, warum die Menschen so wenig über den Zustand wissen, in dem sie die Hälfte ihrer Zeit zubringen – über den Schlaf. Vielleicht, weil uns das Meiste am Schlaf nicht bewusst ist. Dabei ist der ganz normale Schlaf ein wunderbarer, süchtig machender Zustand!
Aber fangen wir von vorne an.
Der Schlaf ist ein wesentlicher Teil Ihrer Tagesstruktur, und nur wenn Sie eine geordnete Tagesstruktur leben, haben Sie eine Chance auf guten Schlaf.
Welche Tagesstruktur ist die richtige?
Diese Frage kann ich Ihnen leider nicht beantworten, denn meine richtige Tagesstruktur ist nicht die richtige für Sie, und umgekehrt. Wie alles Wichtige in unserem Leben ist es eine höchst individuelle Angelegenheit, wie Sie Ihren Tag leben.
Sie sind ja schon etwas älter und haben in puncto Tagesstruktur einiges erlebt. Denn seit den goldenen Jugendtagen mussten Sie Ihre Tage stets nach anderen ausrichten: Schon die Grundschule fing für Sie eine Stunde zu früh an. Um 10 Uhr wären Sie so weit und fit genug gewesen, um alles zu geben. Aber Schulbeginn um acht, was bedeutete, um halb sieben aufstehen, frühstücken, obwohl Sie nichts runtergebracht haben, und um 7:15 Uhr auf den Schulweg schleichen – hätten Sie gewusst, dass es eine Kinderrechtskonvention gibt, so hätten Sie sich Beistand von der UNO geholt.
Und das ging so weiter: Gymnasium, Studium und erst recht im Berufsleben. Sie sympathisieren vermutlich mit einer meiner Sekretärinnen, die es trotz des unerschrockenen Einsatzes von fünf Weckern nie schaffte, pünktlich um 8:30 Uhr an ihrem Schreibtisch zu sitzen. Sie beide gehören offenbar zu den Eulen. Das ist nicht despektierlich gemeint, sondern charakterisiert Menschen, die ihren Aktivitätshöhepunkt am Abend erreichen.
Ich bin eine Lerche. Nicht in meinem Äußeren, aber weil auch ich, wie die Lerche, zum Tagesanbruch am fittesten bin und am Nachmittag anfange, mich allmählich auf den Nachtschlaf zu freuen.
An diesem Muster können Sie und ich nur wenig ändern, weil es wohl genetisch festgeschrieben zu sein scheint. Und weder das eine noch das andere ist wertvoller, Sie müssen sich nur einfach darauf einstellen.
Das ist schon wieder so eine Sache, bei der das Wort »einfach« nicht angemessen ist. Denn wenn Sie alles unter einen Hut bringen wollen, den frühen Arbeitsbeginn, »um den Wurm zu fangen«, das erfüllte Familienleben mit Menschen, die leider zu Hälfte einen anderen Rhythmus haben, ein tolles social life mit Partys, Theater und Konzert und auch noch gut schlafen wollen, dann ist das alles andere als einfach.
Also Prioritäten setzen! Und zwar solche, die Ihnen entsprechen. Und wann könnten Sie das besser als jetzt.
Möglicherweise überkommt Sie mit dem Eintritt in den Ruhestand der Impuls, sich treiben zu lassen, ohne feste Zeiten, nur Ihrer Lust zu folgen. Hab ich auch gemacht, aber nach zwei Wochen bin ich völlig durcheinander gewesen und habe mir Schritt für Schritt wieder eine Struktur aufgebaut, mit der ich gut leben kann.
Ich habe rausgefunden, dass ich morgens nach dem Aufstehen am besten geistig arbeiten kann. Da es mir keine Probleme macht, vor allem im Sommer früh aufzustehen, 5:30 Uhr, im Juni/Juli manchmal noch eher, lese oder schreibe ich zwischen 6:00 und 10:00 Uhr. Das versuche ich ziemlich konsequent durchzuhalten, außer in den Ferien. Da stehe ich zwar auch meistens früh auf, aber lasse mich tatsächlich treiben, gehe früh auf den Golfplatz oder ins Café, was ich sonst eher nachmittags oder abends mache.
Ich habe meine festen Zeiten für Patientengespräche, fürs Einkaufen, für Spaziergänge mit dem Hund und für Sport. Und wenn ich tagsüber müde werden, mache ich einen nap, ein Nickerchen: 10 Minuten und nicht länger, weil das meinen Schlaf-Wach-Rhythmus nicht durcheinanderbringt. Höchstens einmal am Tag. Ich habe mich auch schon auf dem Golfplatz für 10 Minuten in den Schatten gelegt!
Wenn Sie eher eine Eule sind, können Sie alles anders machen. Nur machen Sie es regelmäßig! Darin liegt das Geheimnis.
Also, bei der Neuplanung Ihrer Tagesgestaltung müssen Sie vor allem wissen, wann und wie lange Sie schlafen. Den Zeitpunkt können Sie beeinflussen, die Dauer nicht.
Ihren Tagesrhythmus können Sie verschieben. Das haben Sie erlebt, wenn Sie schon mal in anderen Zeitzonen waren. Fliegen Sie in die USA, so verschiebt sich Ihr soziales Leben nach hinten, sechs Stunden später, wenn Sie in New York sind, neun Stunden in San Diego, sechs Stunden nach vorne, wenn Sie nach Kambodscha reisen. Um dort mit Ihrem eigenen Rhythmus anzukommen, brauchen Sie Zeit, pro Tag können Sie anderthalb Stunden ausgleichen, was bedeutet, dass Sie an der Ostküste vier Tage brauchen, um wieder in Ihrem Rhythmus zu sein, an der Westküste sechs Tage. Vorausgesetzt, Sie sinken nicht nach Ankunft und Immigration gleich in das Hotelbett, nachdem Sie sich noch schnell einen Burger reingezogen haben – alles selbst ausprobiert! –, sondern versuchen, erst um die Zeit ins Bett zu gehen, zu der Sie das auch zu Hause tun würden. Von Ost nach West geht es schneller als in der Gegenrichtung. Es hilft, wenn Sie viel in die Sonne gehen können, weil Licht immer noch der zweitwichtigste Zeitgeber ist. Der wichtigste ist das soziale Leben.
Sie können also den Schlafbeginn nach Ihren Vorstellungen verschieben, und das funktioniert auch zu Hause, was Sie mit den Zeitumstellungen im Frühling und Herbst in jedem Jahr zweimal erleben. Mit Reibungen, aber es geht. Ihre Schlafdauer können Sie nicht oder nur ganz wenig verändern, sie ist individuell.
Wie Sie rausfinden, wie viel Schlaf Sie brauchen?
Am besten im Urlaub, wo Sie bezüglich Ihrer Zeitfenster frei sind. Lassen Sie sich treiben, halten Sie keinen Mittagsschlaf, weil gerade ein Urlaubsmittagsschlaf von 2 Stunden vom Nachtschlaf abgeht. Gehen Sie dann ins Bett, wenn Sie müde werden. Nicht eher und nicht später. Dabei merken Sie vielleicht auch, dass Sie am besten schlafen, wenn Sie gerade müde geworden sind und es nicht noch eine oder mehr Stunden rausgezögert haben. Dann schlafen Sie Ihre individuelle Schlafdauer von sechs, sieben, acht Stunden, selten weniger oder mehr. Es sei denn, Sie schieben ein großes Schlafdefizit vor sich her. Sie können das ja noch einige Nächte testen, aber nun wissen Sie Bescheid.
Und so sollten Sie leben, regelmäßig. Wenn Sie Ihren Rhythmus neu setzen müssen, bekommen Sie das am besten hin, indem Sie die Aufstehzeit festlegen, ganz einfach mithilfe des Weckers. Der restliche Rhythmus stellt sich dann innerhalb einiger Tage von selber ein.
Langweilig? Also, wenn Sie einmal in der Woche einen drauf machen, kühn und subversiv sind und erst drei Stunden später ins Bett kommen, geht die Welt nicht unter. Wundern Sie sich nur nicht, dass der Tag danach etwas seltsam ist, denn Ihre Tiefschlafphase liegt in den ersten Schlafstunden, und die haben Sie sich ja weggefeiert und können sie in dieser Nacht nicht wieder reinholen. Wenn Sie allerdings dauernd zu anderen Zeiten ins Bett gehen, werden Sie nicht gut schlafen. Erst recht nicht, wenn Sie Pillen nehmen. Schlaftabletten sind nämlich ein heikles Thema, mit dem Sie vorsichtig umgehen müssen und für das Sie einen guten (!) Arzt brauchen. Aber dazu kommen wir gleich.
Wie sieht nun normaler Schlaf aus?
Schlaf lässt sich in drei Arten einteilen:
Tiefschlaf, leichterer Schlaf und REM-Schlaf.
Schlafforschern würde diese Aufteilung nicht genügen, aber für den Hausgebrauch reicht es.
Das erste Nachtdrittel wird vom Tiefschlaf dominiert, in den Sie ziemlich schnell nach dem Einschlafen reinrutschen. Er gilt als der Schlafanteil, den Sie brauchen, um erquickt und ausgeruht zu sein.
Nach eineinhalb bis zwei Stunden kommen Sie aus dem Tiefschlaf raus in den leichteren Schlaf. Bei diesem und den im Weiteren folgenden Wechseln zwischen den verschiedenen Schlafstadien werden Sie gelegentlich auch wach – ohne dies richtig zu merken und zu erinnern. Besonders leicht passiert das aus dem REM-Schlaf: Der ähnelt in den Hirnstromkurven sehr dem Wachzustand, mit dem einen Unterschied, dass die Muskulatur praktisch völlig inaktiviert ist. Aufgrund des häufigen Aufwachens wird das in dieser Schlafphase Geträumte besonders leicht erinnert, weswegen der REM-Schlaf auch als Traumschlaf bezeichnet wird. Träumen tut man aber wohl auch in anderen Schlafphasen. Der Ausdruck REM kommt von Rapid Eye Movements, den schnellen Augenbewegungen, die diese Schlafphase charakterisieren und die man dem Schläfer ansehen kann, wenn man bei leichter Beleuchtung auf die geschlossenen Augenlider schaut, hinter denen sich die Augäpfel in Pendelbewegungen hin- und herbewegen.
Gegen Morgen werden Sie häufiger wach, und schließlich ist der Schlaf irgendwann vorbei.
Diese rhythmische Abfolge kann durch viele Einflüsse gestört werden. Die wichtigsten sollten Sie kennen.
Die Stunden vor dem Einschlafen prägen Ihren Schlaf:
Auch wenn es sich manchmal so anfühlt, schlafen Sie nicht übergangslos ein und stürzen in den Tiefschlaf, sondern die Schlafbereitschaft entsteht schon in den Stunden vorher und nimmt kontinuierlich zu. Ein wichtiges, schlafbahnendes Ereignis ist die Absenkung der Körpertemperatur. Dafür brauchen Sie nichts tun, dass macht Ihr Hypothalamus von selbst.
Der Hypothalamus ist eine Hirnstruktur an der Unterseite des Gehirns, in der Hormone, Temperatur und so elementare Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Müdigkeit, Schlaf und grundlegendes emotionales Verhalten wie die Bindung zwischen Eltern und Kindern oder die Sexualität reguliert werden. Diese Regulation erfolgt in unterschiedlicher Weise rund um den Tag, und tatsächlich finden sich die körpereigenen Uhren auch in dieser Struktur. Die Kommunikation mit der Körperperipherie erfolgt im Wesentlichen über die direkt unter dem Hypothalamus gelegene Hypophyse, die Signalstoffe zur Hormonregulation freisetzt. Der Hypothalamus integriert zudem Einflüsse von übergeordneten Hirnzentren.
Diese Hirnstruktur reguliert nicht nur die Abfolge der verschiedenen Schlafstadien, sondern bereitet Sie auch auf den Schlaf vor, indem sie die Körpertemperatur absenkt, worauf Sie müde werden. Sie brauchen das eigentlich nur zuzulassen, indem Sie die Temperatur Ihres Schlafzimmers auf 18 Grad und nicht wärmer einstellen. Wenn Sie mit offenem Fenster und ohne Klimaanlage schlafen, ändert sich die Raumtemperatur natürlich in Abhängigkeit von der Umgebungstemperatur, im Winter wird sie kälter, im Hochsommer gelegentlich wärmer. Das gleichen Sie mit entsprechenden Decken aus.
Ihr Schlafzimmer sollte ruhig und abgedunkelt sein. Letzteres im Sommer, vor allem wenn Sie im Norden leben, wo es zeitweise ja schon um vier Uhr morgens hell wird. Da Licht ein entscheidender Zeitgeber ist, würde sich Ihr Tagesrhythmus nach vorne verschieben, wenn Sie das zulassen.
Auch was Sie vor dem Einschlafen tun, beeinflusst Ihren Schlaf, vor allem, wenn Sie sich mit Themen beschäftigen, die Sie ängstigen oder nerven. Solange Sie beruflich tätig sind, nehmen Sie oft Arbeitsthemen mit in den Schlaf, wenn Sie keine vernünftige Distanz, zeitlich und inhaltlich, zwischen Arbeit und Schlafbeginn aufbauen. Und wenn Sie Pech haben, träumen Sie auch noch von den Themen des Tages. Was nicht immer schlecht sein muss: Manchmal kommen im Traum Lösungen für Probleme, an denen Sie lange herumgedoktert haben. Das kann hin und wieder bereichernd sein, wenn Sie diese Art von Kreativität nicht jede Nacht heraufbeschwören.
Fernsehen ist so eine Sache. Natürlich gibt es schlaffördernde Sendungen, während denen Sie wunderbar einschlafen. Sie bekommen ein Problem, wenn Sie aufwachen und sich ins Schlafzimmer schleppen, um hellwach im kühlen und dunklen Bett zu liegen, weil Sie die Einschlafphase verpasst haben. Aufregende Sendungen und vor allem solche, über die Sie sich ärgern, wie die eine oder andere Talkshow, die gerade ganz andere als Ihre politischen Überzeugungen transportiert, können Ihren Schlaf zumindest für diese eine Nacht ruinieren. Und wenn Sie das öfters machen, kann sich das zu einer veritablen Schlafstörung auswachsen.
Sie schlafen schlecht.
Und ob dies so ist oder nicht, ist zunächst einmal Ihre Entscheidung.
Natürlich gibt es Gründe, und sehr häufig geht die Schlafstörung weg, wenn die Gründe weg sind. Banale Krankheiten, wie Erkältungen oder Grippe, vorübergehende Sorgen, um die Steuererklärung oder den Liebeskummer der Kinder, schlechte Angewohnheiten, wie Fernsehen oder Krimis im Bett lesen. Die schlechten Angewohnheiten sind wahrscheinlich noch am schwierigsten, weil Sie sich die wieder abgewöhnen müssen. Und das dauert ein paar Tage.
Aber ich will Schlafstörungen nicht verharmlosen, überhaupt nicht! Denn sie können ein großes Problem im Leben älterer Menschen sein.
Ein paar Fakten:22
Die 3 P’s: predisposing, precipitating and perpetuating factors.
Prädisponierend: genetische Einflüsse oder Persönlichkeits-eigenschaften wie Perfektionismus; precipitating = auslösend, akute Stressoren in der Arbeit oder der Beziehung; perpetuierend sind vor allem fehlanpassende Verhaltensweisen, zum Beispiel zu viel Zeit im Bett oder zu viele naps, um den fehlenden Nachtschlaf auszugleichen. Solche Verhaltensweisen erscheinen auf den ersten Blick vernünftig, verringern aber den Schlafdruck in der Nacht und können so Ihren Schlafrhythmus durcheinander bringen.
Auch Überaktivität in kognitiver, emotionaler oder physischer Hinsicht kann Schlafstörungen dauerhaft machen ebenso wie körperliche Erkrankungen.
Was tun?
Zu einem Arzt gehen, der sich auf Schlafmedizin spezialisiert hat, einem Lungenfacharzt oder Psychiater. Der sollte auf jeden Fall eine gründliche Diagnostik machen, die eine eingehende Anamnese umfasst. Das Schlaflabor ist sicher nicht die wichtigste Maßnahme und kommt erst ins Spiel, wenn zum Beispiel nächtliche Atemstillstände diskutiert werden.
Wie häufig sind Schlafstörungen?
Sechs von 100 Menschen in den Industrieländern leiden an chronischen Schlafstörungen, mit einem klaren Übergewicht bei Frauen und einer Zunahme mit dem Alter. Bei 70 Prozent der Patienten halten die Symptome ein Jahr an, bei 46 Prozent über drei Jahre.
Warum sollten Sie etwas gegen Schlafstörungen tun?
Schlafstörungen gehen mit einem hohen Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, für Bluthochdruck, Herzinfarkt oder chronische Herzerkrankungen einher. Außerdem sind sie ein Risikofaktor für Übergewicht und Typ-2-Diabetes, und sie erhöhen die Sterblichkeit. Wenn Sie also chronisch schlecht schlafen, laufen Sie Gefahr, richtig üble Krankheiten zu bekommen, die Sie an einem guten Alter hindern. Schlafstörungen beeinträchtigen außerdem Ihre Fähigkeit zu denken: Sie merken schon nach einer durchwachten Nacht, dass Sie nichts auf die Reihe kriegen. Dauerhafte Schlafstörungen begünstigen die Demenz und führen zur Hirnatrophie. Schlafstörungen sind also ganz klar Ihr Thema, wenn Sie älter werden.
Schlafstörungen können außerdem ein Hinweis auf psychische Erkrankungen sein, denn fast alle psychischen Erkrankungen gehen mit Schlafstörungen einher, insbesondere die häufige Depression. Allein schon deswegen sind Sie bei einem Psychiater mit Ihrer Schlafstörung nicht so schlecht aufgehoben, weil der nämlich in der Lage ist, eine Depression zu erkennen.
Die Behandlungsmöglichkeiten sind sehr übersichtlich und kommen Ihrer Situation als älterer Mensch entgegen, denn Sie haben zum Beispiel genügend Zeit, sich mit Psychotherapie zu beschäftigen:
Die erste Wahl sind psychotherapeutische Verfahren.
Am Anfang stehen Informationen über richtiges Schlafen (Psychoedukation) und Schlafhygiene. Dann kommen Entspannungsverfahren, wie autogenes Training oder progressive Muskelrelaxation, und spezifische Methoden wie Schlafrestriktion. Wenn das alles nichts bringt, ist kognitive Verhaltenstherapie angesagt. Neu im Spektrum der Behandlung von Schlafstörungen sind Achtsamkeitsverfahren und Hypnose.
Also zuerst Psychotherapie – und danach lange nichts. Das heißt, dass Sie Ihren Körper, der im Alter deutlich empfindlicher auf Medikamente reagiert, wegen Schlafstörungen eigentlich überhaupt nicht medikamentös belasten müssten.
Aber gibt es da nicht ein Problem?
Schon. Die Verfügbarkeit von Psychotherapeuten. In unserem relativ reichen Land haben es die zuständigen Ärzte- und Therapeutenkammern, die Krankenversicherungen und die Gesundheitsminister, die es im Bund und in jedem Bundesland noch mal gibt, versäumt, einen vernünftigen, zeitnahen Zugang zu Psychotherapeuten zu schaffen. Versuchen Sie es mal und telefonieren Sie herum! Neuerdings gibt es Notfalltermine, die Sie relativ schnell bekommen. Aber bei einem solchen Termin sagt Ihnen dann ein freundlicher Mensch, dass es doch zwei Jahre dauern wird, bis Sie mit der Therapie anfangen können. Das ist für Sie in Ihrem Alter und mit einer potenziell lebensverkürzenden Störung nicht hinnehmbar.
Aber so ist es.
Manchmal ist ein Ausweg, dass die Schlafmediziner und Psychiater die ersten Schritte, vor allem die Psychoedukation, anbieten, manchmal auch in Gruppen. Weil das oft genug nicht klappt, werden hierzulande viel zu viele Schlafmittel verschrieben. Medikamente wie Benzodiazepine – also zum Beispiel Tavor, Valium et cetera –, Zolpidem oder Zopiclon. Anwendungsdauer: nicht länger als vier Wochen! Nur unter diesen Bedingungen überwiegen die positiven Effekte die negativen. Antihistaminika, wie das unverständlicherweise sehr beliebte Hoggar Night, haben nur einen geringen Effekt und ein starkes Gewöhnungspotenzial.
Pflanzliche Schlafmittel kommen über den Plazebo-Effekt nicht hinaus, der allerdings bei Schlafmitteln mit 60 Prozent gewaltig ist. Das heißt, dass Ihre Einstellung mehr als die halbe Miete ist! Umso tragischer ist es, wenn Sie abhängig machende Mittel nehmen und sich dadurch oft ein ernstes medizinisches Problem an den Hals holen. Für alle anderen Medikamente, aber auch für die Lichttherapie ist die Studienlage so dünn, dass man keine Empfehlungen aussprechen kann.
Was, wenn Ihre Schlafstörung länger als vier Wochen dauert?
Wenn Sie die Benzodiazepine, Zolpidem oder Zopiclone absetzen, kehrt die Insomnie meistens zurück; darum sollte man die Dosis nur langsam reduzieren. Nebenwirkungen dieser Medikamente sind Hangover, nächtliche Verwirrung, Stürze, Schlaflosigkeit nach Reduktion, Toleranz und Abhängigkeit.
Diese Medikamente sind so beliebt, weil Sie die Nebenwirkungen direkt bei der Einnahme nicht merken. Im Gegenteil: Alles erscheint rund und friedlich. Ebenfalls unbemerkt bleibt oft, dass die kognitiven Fähigkeiten am Tag nach der Einnahme – und wenn Sie diese länger einnehmen, immer – deutlich reduziert sind.
Manche Präparate steigern die Suizidneigung, die Fähigkeit zum Fahren eines Kraftfahrzeugs ist reduziert, Unfälle sind häufiger. Autofahren ist für Sie sowieso ein Thema, um das Sie ringen, und eine erhöhte Unfallneigung können Sie gar nicht brauchen.
Teilweise sind Nebenwirkungen noch sechs (!) Monate nach dem Absetzen nachweisbar.
Kurz: nichts für Sie als älterer Mensch!
Eine Alternative, aber eben nicht rezeptfrei, sondern nach ausführlicher Untersuchung und Beratung durch den Psychiater: schlafanstoßende Antidepressiva wie Mirtazapin oder Trazodon, für die es sogar positive Daten bei Patienten mit Alzheimer-Demenz gibt.
Ja, Schnarchen hört man nur die anderen. Mein E-Mail-Konto wurde seit Monaten mit Mails geflutet, die mir Heilmittel gegen Schnarchen, vor allem wegen der negativen Effekte auf die Partnerschaft, verkaufen wollten. Dabei schnarche ich noch nicht einmal. Das kann aber in der Tat ein Problem sein, denn der Schnarcher erlebt die von ihm generierten akustischen Genüsse nicht selber, sondern leiden tut die Umwelt, also meistens die Partnerin. Den ultimativen Thrill bekommt sie, wenn sie bemerkt, dass der heftig schnarchende Liebste nun auch noch Atemaussetzer hat: Die bange Frage »Ist er jetzt tot?«, weicht einer genervten Erleichterung, wenn die Atmung mit einem gewaltigen Initialschnarcher wieder einsetzt.
Das ist nun in der Tat Grund genug für eine eingehende internistisch-HNO-ärztliche Diagnostik, denn nächtliche Atemstörungen verkürzen das Leben und führen zu gefährlicher Tagesmüdigkeit.
Grande Traversale degli Alpi … Juli 2016:
Ich bin 68, wiege 98 Kilo bei einer ursprünglichen Größe von 1,91 Meter, jetzt eher 1,89 Meter, was einem BMI von 27,76 entspricht, typisch Mann mit dem zu großen Bauchumfang.
Und gehe mit meiner acht Jahre jüngeren, ranken und schlanken Freundin diese große Tour, pro Tag zwischen 1000 und 2000 Höhenmeter, rauf und runter. Und wundere mich, dass ich nicht, wie früher immer, der Tempomacher bin, sondern als Schlusslicht hinterherdackele.
Früher?
In den Bergen bin ich seit 18 Jahren nicht mehr kletternd unterwegs gewesen, und solche – ja schon! – gewaltigen Touren bin ich überhaupt noch nie gegangen. Noch nie!
Bin ich verrückt, so etwas mit 68 zum ersten Mal zu machen? Über ausgesetzte Grashänge balancieren, über rutschige, mit einer rostigen Kette »gesicherte« Felsen klettern, wofür mir die gymnastischen Fähigkeiten ziemlich sicher fehlen. Eigentlich – immer schon gefehlt haben.
Vielleicht hätte ich vorher mehr trainieren sollen? Habe ich doch: Ich bin jeden zweiten Tag eine halbe Stunde gejoggt. Nur eben auf 0 Meter Meereshöhe. Aber die GTA spielt sich zwischen 300 und 2900 Metern ab! Und eine halbe Stunde ist für sieben Stunden Gehzeit pro Tag etwas mager. Ja klar, ich hätte meine Wampe etwas beherzter reduzieren sollen, so sind es 10 Kilo zu viel, zu denen noch 10 Kilo Rucksack kommen. Das Idealgewicht für solche Unternehmungen ist anders.
Ich bin ambivalent: Ist es eine dieser Herausforderungen, die »anti-aging« wirken? Oder gefährde ich mich, indem ich unkontrolliert über meine Grenzen gehe?
GTA 2016 – die Zweite:
Der 4. Tag. Irgendwann ist alles nicht gut, alles tut weh, ich kann nicht mehr. Und fange an, nach Schuldigen zu suchen.
Wenn Sie reifer sind als ich, fangen Sie bei sich selbst an: Sie hätten mehr trainieren können, sich besser vorbereiten. Oder Sie hätten – verdammt noch mal – doch einfach mal 10 Kilo abnehmen können. Ist aber nicht einfach. Trotzdem täten Sie sich leichter. Stimmt.
Aber eigentlich sind solche Überlegungen brotlose Kunst, denn keiner kann sich auf alle Eventualitäten des Lebens vorbereiten. Wenn ich mich aus der Komfortzone herausbegebe und dem Leben stelle, komme ich an meine Grenzen und schnell darüber hinaus. Und dann erlebe ich Situationen, die ich schwer ertragen kann, weil sie mir wehtun. Buchstäblich. Aber der Anstieg zur Hütte hat keinen Ausgang. Ich muss durch.
Wenn Sie unreifer sind – und das hängt nicht vom Alter ab –, suchen Sie die Schuld für Ihr schlechtes Befinden bei jemand anderem. Zum Beispiel bei Ihrer Partnerin/Ihrem Partner. Sie sind schnell dabei, eine Erklärung zu finden, warum sie oder er an dem Schlamassel schuld sein könnte: Sie/er hat Ihnen nicht deutlich genug gesagt, wie schlimm es werden würde. Das ist erst recht brotlos, selbst wenn die oder der andere irgendwann etwas zu der Situation beigetragen haben könnte: Sie, schon lange erwachsen, haben »ja« gesagt, haben mitgemacht, und solche Überlegungen führen höchstens dazu, dass Sie Ihre Beziehung ruinieren, vergiften und dann eines langsamen Todes sterben lassen.
Achten Sie mal darauf, wie viele alte Paare sich das Leben zur Hölle machen, indem sie ihre Partner für die eigenen Entscheidungen verantwortlich machen.
Also bleibt nur eines: ertragen! Sie sind der Schmerz, die Angst und die Anspannung, so wie Sie das Wohlbefinden und das Glück sind.
An meine Grenzen gehen, damit lässt sich wohl am besten zusammenfassen, was ich bei dieser Tour erlebt habe. Das ist nicht angenehm, weder die letzten 300 Höhenmeter zur Hütte, noch der Grashang, auf dem ich mich wirklich konzentrieren musste und lieber nicht denken wollte, was ein Fehltritt für Folgen hätte, und auch nicht der ellenlange Abstieg durch die Weinberge, nach dem mir die Beine ab den Oberschenkeln abfallen wollten.
Aber heute fühle ich mich sicherer und besser auf den Beinen als die letzten sieben Jahre zuvor, vielleicht sogar länger. Gut, dass ich das gemacht habe! Meine Motivation? Die kam durch meine Freundin, die wie eine Gemse vor mir herschwebte. Irgendwoher muss der Mensch ja seine Motivation nehmen.
Moderne Bewegungsmuster 1:
Ich fahre mit dem Fahrrad eine schmale Straße entlang. Die Gegenseite ist unregelmäßig vollgeparkt. Also müssen entgegenkommende Autos jeweils an einer Lücke warten, bis ich durch bin. Das funktioniert so lala. Bis aus einer Seitenstraße die Luxusversion eines Range Rovers einbiegt und mit 50, 60 km/h auf mich zufährt. Das Tempo kann ich auf die Schnelle nicht so richtig einschätzen. Aber sehr schnell einschätzen kann ich, dass ich blitzartig runter vom Rad muss, auf den Gehweg neben mir springen, das Rad mitziehen, sonst hätte sie mich erwischt. Sie: eine zarte, junge Frau, hübsches Profil, sehe ich im Vorbeifahren. Wie kann das angehen? Warum verhält sie sich, als wenn sie mir ans Leben wollte? Hätte ich sie ansprechen können, wäre sie wohl voller Unverständnis gewesen. Die fahrende Burg, mit der sie unterwegs ist, verändert alles: Wahrnehmung, Einschätzung, Verhalten gegenüber anderen. Zu Fuß oder auf dem Rad hätte sie anders gehandelt.
Moderne Bewegungsmuster 2:
Ein Audi Kombi, dynamisches Design, Breitreifen, biegt nach links ab. Obwohl ihre Ampel gerade auf Rot gesprungen ist, sind noch Fußgänger auf dem Übergang. Der Audi-Pilot, ein Herr mit grauen Schläfen, so viel kann ich erkennen, hupt sie laut weg, sie springen, und er beschleunigt mit quietschenden Reifen. Als ich mit dem Rad an der nächsten Ampel ankomme, steht der Graumelierte noch da. Ich bin so wütend, dass ich ihm am liebsten die Karosserie demolieren würde.
Das wäre nicht der Weg des buddhistischen Meisters Thich Nhat Hanh gewesen. Nicht urteilen! Einfühlen, sagt er. Den anderen verstehen. Und mir wird klar, dass das Verhalten in unserer Gesellschaft durch kaum etwas so beeinflusst wird wie durch die Möglichkeit, in einem eindrucksvoll geformten, großen, breiten und beschleunigungsstarken Auto durch die Gegend rasen zu können. Das verändert eben Wahrnehmung, Verhalten und natürlich unsere Gefühle. Ich nehme mich selbst da gar nicht aus: Wenn ich am Steuer sitze, schimpfe und fluche ich. Manchmal kriege ich einen Schreck und schaue, ob das Verdeck offen ist.
Wir sind, was wir tun. Das betrifft Seele, Geist und vor allem unseren Körper. Autofahren ist ein markantes Beispiel, was in unserer ach so zivilisierten Gesellschaft mit unserer Beweglichkeit passiert: Sie wird reduziert! Diese Reduktion verändert meinen Körper, er baut ab. Wer steigt denn aus den muskulös geformten Karosserien? Runde Bäuche, dünne Beine. Auf der Fitness-Skala stehen die Marathonläufer ganz oben, gefolgt von Joggern, Radfahrern, Bergwanderern; notorische Pkw-Fahrer stehen am untersten Ende der Fitness-Skala, egal, wie viel PS ihre Blechlaube hat.
Fitness? Nein, ich mache mein Geld nicht mit der Werbung für Fitness-Studios. Mit Fitness meine ich den körperlichen Alltagszustand, der uns in die Lage versetzt, mit Herausforderungen umzugehen. Was ist heute noch eine »Herausforderung«? Das Auto springt nicht an. Schieben? Schon seit Jahrzehnten nicht mehr, es gibt ja den ADAC! Schneeschippen macht der Hausmeisterdienst, den Garten pflegen die Gärtner und mein Aufsitzrasenmäher. Unser Bewegungspensum wird durch die individuellen Alltäglichkeiten geprägt: die Bedienung von Smartphone, Laptop, Anlasser, Aufzugknopf.
Wenn wir alt werden, hatte dieser konkret gelebte Alltag viele Jahre lang Zeit, sich auf unseren Körper und unseren Geist auszuwirken. Das ist das große Problem des Alterns, nicht irgendwelche Telomere!
Anders ausgedrückt: Geist und Körper werden immer bequemer. In fast allen S-Bahn-Stationen können Sie diesen Test machen: Rolltreppe oder Treppe? Na? Nach jahrelangem Rolltreppentraining stellen Sie irgendwann fest, dass Ihnen das Treppensteigen, rauf oder runter, schwer fällt. Das Alter! Neee! Ihre Bequemlichkeit. Klar, wenn Sie mit einem dicken Koffer von der Tiefgarage im Flughafen in die Abflughalle wollen, sind Aufzug oder Rolltreppe nützlich. Trotzdem führen diese Manifestationen menschlicher Bequemlichkeit zu verminderter Funktion, was Sie spätestens dann merken, wenn die Rolltreppe ungeheuerlicherweise defekt ist.
Okay, Sie haben die Botschaft verstanden: mehr Bewegung in den Alltag einbauen. Das klingt richtig, geht aber immer noch am Kernproblem vorbei. Sie – und ich, wir alle – setzen heute immer die falsche Priorität: Bewegung war mal alles, damals, als unsere Vorfahren hungrig durch die Gegend rannten. Es gab kein Leben ohne Bewegung: Sie rannten, sprangen, kletterten, sind aufgestanden, nachdem sie gefallen waren, sie flohen, jagten immer irgendetwas hinterher. Sie bauten Pyramiden oder gotische Kirchen, nur mit ihrer Körperkraft. Wenn Sie’s gerne etwas weniger heroisch hätten: Es ist noch gar nicht so lange her, dass Menschen Holz hacken oder Kohle und Wasser schleppen mussten, wenn sie baden wollten. Bewegung war die Grundlage des menschlichen Alltags, ja des Überlebens. Heute ist nicht mal mehr angesagt, volle Einkaufstüten zu schleppen, seitdem Sie alles in die Wohnung geliefert bekommen. Körperlichkeit ist nicht mehr angesagt.
Sie meinen, das sei ja nun auch eine erfreuliche Entwicklung? Es spräche nichts dagegen, dass wir uns heute von Maschinen, zum Beispiel auf der Rolltreppe, im Range Rover, vom Mähroboter … helfen ließen? Kann man so sehen. Das Problem: Unsere Ausstattung, unsere Muskeln, Gelenke, Knochen, das Herz, die Lungen, last, not least das Gehirn – all das ist noch so, wie es bei unseren Vorfahren war. Wir sind nach wie vor Bewegung, die nichts mehr zu tun hat. Etwas poetischer hat das der schon erwähnte Thich Nhat Hanh ausgedrückt:
»Die Fähigkeit, zu gehen und zu laufen, diente dem Menschen der Frühzeit für die Jagd oder zur Flucht. Diese Energie des Jagens oder Rennens ist in jeder einzelnen unserer Zellen tief eingepflanzt. Aber heute kommen wir kaum noch in die Lage, physisch jagen, kämpfen oder fliehen zu müssen, und dennoch laufen wir immer noch mit dieser Energie herum.«23
Lassen Sie sich diesen Satz auf der Zunge zergehen:
»Dennoch laufen wir immer noch mit dieser Energie herum.«
Und machen außer Pöbeln und aufs Gaspedal treten wenig daraus! Am Ende der Pubertät verfügen die meisten über eine ziemlich gute, alltagstaugliche Ausstattung. Wenn wir sie auch in einem Alter noch nutzen wollen, von dem unsere Vorfahren nie auch nur geträumt hätten, müssen wir uns fit halten, und das geht nur, wenn wir diesen unseren Alltag ändern.
Aber die Alltagszwänge! Als Sie daran dachten, mehr Bewegung in den Alltag »einzubauen«, war das ja durch die Erkenntnis geprägt, dass Ihr Lebenszentrum der Job ist, mit festen Zeiten, Überstunden, Zeit zum Pendeln et cetera et cetera – und sehr wenig Zeit für Bewegung. Doch das ist jetzt vorbei! Sie werden 65+, und die einmalige Chance, die Ihnen nur das Alter bietet, ist nicht der sogenannte Ruhestand, weil »Stand« einfach falsch ist: Gehen, rennen, fallen, aufstehen, balancieren, springen, heben sind bessere Begriffe! Setzen Sie sich in Bewegung! Seien Sie Bewegung!
»Ihre neue Bewegungsroutine, täglich, ist mindestens so wichtig wie das Zähneputzen!«*
Also bewegen. Wirklich immer, jeden Tag bewegen? Dazu Kraftübungen. Hanteln und so?
Bewegen. Bewegen können: Kraft und – Gleichgewicht! Länger bewegen können: Ausdauer. Überhaupt bewegen können: Schmerzfreiheit. Bewegung sollte spätestens jetzt Ihr Mantra sein.
Über den ungehobenen Schatz Bewegung gibt es Studien, allerdings nicht genügend. Nicht alles, was ich Ihnen jetzt schreibe, ist evidenzbasiert. Das sind die Studien mit der härtesten Aussagekraft. Davon gibt es im Bereich der Beweglichkeit im Alltag nicht so viele; zu teuer, zu anspruchsvoll. Deswegen ist vieles, was jetzt folgt, schlicht Intuition oder Selbsterfahrung. Können Sie glauben – oder es lassen.
Ich habe noch eine bessere Idee: Sie können es selber ausprobieren. Das hätte den großen Vorteil, dass dieser Probelauf Ihre ganz persönliche Individualität berücksichtigen würde. Das kriegen Sie bei keiner Vorsorgemethode geboten, bei keiner Operationstechnik, keinem Medikament. Spezifisch Sie!
Das entscheidende Argument dafür, dass Sie sich künftig mehr bewegen, hat aber sowieso nichts mit Studien zu tun: Bewegung kann dazu führen, dass Sie sich besser fühlen und Ihren Körper wieder genießen. Und das mit 70?
Aber hallo, Alter!
Bestandsaufnahme 65+:
Worum geht es?
Bewegung zur Grundlage Ihres Alltags zu machen. Um Ihnen die Entscheidung zu erleichtern, rekapitulieren wir noch mal drei typische Situationen aus Ihrem Alltag:
Sie (65) stellen fest, dass Sie nur noch schwer aus dem bequemen Fernsehsessel hochkommen. Oder Ihnen fällt der Weg ins Schlafzimmer im ersten Stock Ihres Reihenhauses plötzlich schwer. Das Alter?
Ja und nein. Ja, weil wir mit jedem Lebensjahr ein Prozent unserer Muskulatur einbüßen. Nein, weil Sie diesen Prozess auch im Alter aufhalten oder umkehren können, wenn Sie regelmäßig trainieren.
Sie wohnen im dritten Stock und stellen irgendwann fest, dass Sie jetzt nur noch den Aufzug nehmen, weil Sie auf der Treppe ganz gewaltig ins Schnaufen kommen. Das Herz? Kann sein, aber wahrscheinlicher ist, dass Ihre Ausdauer weggeschmolzen ist, weil Sie nichts getan haben.
Wahrscheinlich kennen Sie auch das: Sie sind mit der S-Bahn gefahren und wollen nun die Treppen vom Bahnsteig hinuntergehen. Am rechten Geländer kommen Sie nicht weit, da sitzt ein Obdachloser und ist mit sich beschäftigt. Sie müssten also in der Mitte gehen, aber da ist kein Geländer. Das verunsichert Sie ungemein. Sie schaffen es schließlich, peinlich langsam, aber fragen sich, wohin die Leichtigkeit ist, mit der Sie doch noch vor kurzer Zeit die Treppe runtergetänzelt sind.
Der Grund für Ihr unkomfortables Gefühl ist komplex: Wahrscheinlich spielt die Abnahme Ihres nicht trainierten Gleichgewichtssinns eine Rolle. Der ist neben Kraft und Ausdauer ein wesentlicher Faktor Ihrer Beweglichkeit und nimmt im Alter ab, wenn Sie ihn nicht üben. Beim normalen Gehen auf einer Ebene merken Sie das gar nicht, beim Treppensteigen oder beim Gehen in unebenem Gelände aber sehr wohl.
Eine andere Gelegenheit, bei der Ihnen Ihre verlangsamte Gleichgewichtsreaktion sogar zum Verhängnis werden kann, ist das schnelle Aufstehen aus dem Sitzen, vor allem wenn Sie sich dabei noch umzudrehen versuchen, weil etwas hinter Ihnen Ihre Aufmerksamkeit erregt hat. Plötzlich müssen Sie um Ihr Gleichgewicht ringen, beinahe wären Sie gestürzt.
Verstärkt wird diese Unsicherheit, vor allem die auf Treppen, durch Gleitsichtbrillen. Natürlich sind die praktisch, weil Sie nicht ständig mit zwei Brillen hantieren müssen. Aber eine Gleitsichtbrille fokussiert in der unteren Hälfte auf die Nähe, weil sich dort normalerweise das befindet, was Sie nah sehen müssen, zum Beispiel Buch oder Zeitung oder, etwas weiter weg, der Computerbildschirm. Wenn Sie diese Brille auch draußen tragen, sehen Sie in dem Bereich unscharf, auf den Sie treten wollen. Sie werden von der visuellen Wahrnehmung her verunsichert, und das gerade dann, wenn Ihnen das Sehen den unsicher gewordenen Gleichgewichtssinn ersetzen soll. Die schwächer gewordene Rumpfmuskulatur tut ihr Teil dazu, nur merken Sie auch dies meistens nicht.
So. Was sollen Sie jetzt konkret machen, um aus diesem Jammertal rauszukommen?
Beim Zähneputzen auf einem Bein stehen und so? Sie sind froh, dass Sie mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen, Sie haben noch nie gejoggt und wollen es jetzt mit über sechzig auch nicht tun. Sie haben sich lange genug von der Arbeit stressen lassen und halten es für Ihr Recht, den Ruhestand jetzt wörtlich zu nehmen. Natürlich ist es Ihr Recht. Aber ob es eine gute Idee ist, müssen Sie selber entscheiden. Ich hege da meine Zweifel.
Dabei kann ich Sie gut verstehen. Auch ich muss mich überwinden, wenn ich mir bei 4 Grad Außentemperatur warme Unterwäsche, eine lange, regendichte Hose, ein Fleece-Oberteil, den dicken Anorak, Mütze und die schwereren Laufschuhe anziehen sollte, um joggen zu gehen. Und joggen reicht ja nicht, Kraft und Gleichgewicht müssen auch trainiert werden.
Die große Frage: Warum sollten Sie, der Sie bisher wenig, keinen oder nur in der lange vergangenen Jugend Sport gemacht hat, mit 55, 60, 65 anfangen, sportlich aktiv zu werden?
Die klare Antwort: Weil Sie sonst weniger werden und bald auch die Dinge nicht mehr können, die Ihnen immer selbstverständlich waren. Mit jedem Jahr reduzieren sich Ausdauer, Kraft, Koordination – wenn wir sie nicht trainieren. Training hält diesen Abbauprozess auf. Er kann sogar umgekehrt werden: Wenn Sie in Ihrer Jugend und im Erwachsenenalter keinen Sport gemacht haben und zum Beispiel mit sechzig anfangen, können Sie ein besseres Niveau erreichen, als Sie es jemals hatten.
Und das Verblüffendste: Bewegung hat ungeahnte positive Effekte. Sie steigert Ihr Wohlbefinden und wirkt präventiv gegen Depression und Demenz. Bewegung ist, wie oben bemerkt, eine Grundbefindlichkeit von uns Menschen, und die Energie ist in jeder Zelle gespeichert.
Aber wie bekommen Sie diese Energie mobilisiert?
Um das zu beantworten, hilft, sich klarzumachen, was wir bei den verschiedenen Sportarten wirklich trainieren.
Jede Bewegung wirkt sich auf verschiedene Komponenten aus:
Knochen, Bindegewebe, Muskeltonus und Muskelkraft, Ausdauer, Koordination.
Alles ist gleich wichtig, aber da die meisten von uns aus einem Zustand kommen, in dem sie sich zu wenig bewegt haben, lohnt es sich, die verschiedenen Komponenten einmal genau anzuschauen:
Unsere Knochenstruktur wirkt auf den ersten Blick statisch, starr. Aber das ist sie nicht. Der Zustand unserer Knochen und Knorpel wird durch unsere Beweglichkeit bestimmt, die von der Muskulatur ausgeübte Kraft wirkt sich unmittelbar auf die Knochenstruktur aus. Das Knochenproblem im Alter, die Osteoporose wird wesentlich dadurch beeinflusst, wie wir uns bewegen, bewegt haben, bewegen werden.
Die Muskulatur hat zwei Komponenten:
Ihre Ausdauer hat auch wieder zwei Komponenten, den Trainingszustand Ihrer Muskulatur und Ihres Herz-Kreislauf-Systems:
Die Koordination ist noch komplexer: Sie sorgt dafür, dass das Verhältnis der verschiedenen Körperteile bei Bewegung geordnet abläuft, dass Sie aufrecht bleiben und nicht aus dem Gleichgewicht geraten, sie regelt die Abfolge der verschiedenen Bewegungen. Dabei spielen Muskulatur, Rezeptoren in der Muskulatur und in den Sehnen, das Gleichgewichtsorgan in den Innenohren und die Verarbeitung im Gehirn zusammen. Die Koordinationsfähigkeit ist besonders übungsabhängig; wenn Sie bestimmte Haltungen oder Bewegungsmuster lange nicht gemacht haben, müssen Sie sie wieder üben:
Zum Beispiel: Ein Freund war sieben bis zehn Jahre nicht mehr auf seinem Rad gesessen, so genau wusste er das nicht mehr, aber an einem schönen Samstagmorgen überkam es ihn: Er wollte zum Bäcker und die Frühstücksbrötchen mit dem Fahrrad holen. 1,5 Kilometer in einer Richtung, nichts Besonderes. Er holte sein italienisches Rad aus der Garage, den Stolz seiner Jugend, dessen Bremsen er gestern noch überprüft, dessen Reifen er prall aufgepumpt hatte. Die Hände an den Lenker, den rechten Fuß aufs Pedal, mit dem anderen kurz angeschoben und dann elegant das linke Bein über den Sattel schwingen: Können Sie es sich vorstellen? Wie gewohnt starten. Eben nicht mehr gewohnt. Er blieb völlig unerwartet mit dem Schwungbein am Sattel hängen, kippte um und fand sich auf dem Gehweg vor der Garage wieder, auf dem Rücken liegend, das Fahrrad auf ihm. Mehr Schaden war nur deshalb nicht entstanden, weil er noch kein Tempo hatte. Radfahren verlernt man nicht, heißt es, aber offenbar kann man komplexe Koordinationsaufgaben doch verlernen.
Wann haben Sie zuletzt flach auf dem Boden gelegen, ohne Unterstützung des Kopfes? Und wann sind Sie aus dieser Haltung zuletzt aufgestanden? Wann haben Sie Ihre Socken zuletzt im Einbeinstand angezogen?
Brauchen Sie das? Sie können sich ja auch setzen. Für die Socken ja, aber Ihre Koordinationsfähigkeit brauchen Sie ständig, und zwar in unerwarteten Situationen.
All das klingt wahrscheinlich ziemlich kompliziert. Vergessen Sie es. Das Wichtigste ist, was Sie spüren: Sie fühlen sich besser!
Welche Art von Sport können Sie machen?
Sieht man von diesem Einzelschicksal meines Freundes ab, so eignet sich Radfahren gut als Grundlage für Ihr Bewegungsprogramm: Sie können morgens 20 Kilometer zu dem französischen Bäcker mit diesen ganz besonderen Croissants fahren – deren Extraportion Butter haben Sie sich dann verdient. Damit haben Sie schon ein beachtliches Bewegungspensum für diesen Tag geschafft. Am Samstag auf den Wochenmarkt, abends ins Kino. Und natürlich können Sie auch solch ambitionierte Touren wie den Elbe-Radweg oder sogar die Alpenüberquerung planen. Es gibt hübsches Zubehör, bei dem Ihre Neigung zum Shoppen voll auf ihre Kosten, ja Kosten, kommt.
Falls Sie ihn noch nicht haben, kaufen Sie sich bitte einen Helm. Sie brauchen so etwas nicht? Kaufen Sie sich einen Helm, verdammt noch mal!! Und wenn Sie glauben, dass so ein Teil Ihre wunderbare Kopfform nicht zur Geltung kommen lässt, dann kaufen Sie sich für über 200 Euro ein Teil, das sich bei Kollisionen von selbst aufbläst, den Kopf-Airbag fürs Fahrrad. Sie gönnen sich ja sonst nichts. Aber fahren Sie nicht ohne Kopfschutz.
Ein entfernter Freund – was ich für Freunde habe! – fuhr in alter italienischer Radrenn-Tradition immer mit einem Stoffkäppi, den Schirm nach oben gebogen. Sah schnittig aus. Er wurde zu schnell, stürzte und touchierte mit seinem durchaus edel geformten Kopf einen Baum, nicht einmal so schnell. Er lag sechs Wochen auf Intensiv, war drei Monate in der Reha, hat immer noch Lähmungserscheinungen, leider nicht nur motorisch, sondern auch beim Sprechen und durchaus auch beim Denken. Ein Helm …
Für große Tourenpläne bieten sich heute die E-Bikes an. Tolle Sache, schnelle Sache. Probieren Sie vor dem Kauf aus, ob Sie dem zusätzlichen Schub gewachsen sind, auch unter den Bedingungen des Straßenverkehrs. Und dann ist da noch was: Weiter oben hatte ich es mit dem Bequemwerden. E-Bikes sind ein Mittel zur Bequemlichkeit. Mein Onkel fuhr von Frankfurt bis Venedig, mit einer ganz ollen 3-Gang-Nabe, alten Felgenbremsen, einem Reifendynamo. Er war fit.
Aber das müssen wieder Sie entscheiden.
Welche sonstigen Sportarten eignen sich für ein gutes Bewegungsprogramm im Alter? Joggen, Bergwandern, Schwimmen: Letzteres ist wohl am wenigsten verletzungsanfällig, auch Rudern, da dürfen Sie nur nicht im März in die Alster fallen. Dann noch Fußball, Tennis, Golf.
Fußball? Sagen wir’s mal so: Für Boateng bedeutete der Kreuzbandriss am Ende der Saison eine mehrmonatige Zwangspause. Für Sie mit 65 ist eine Immobilisierung von nur wenigen Wochen ein ziemliches Desaster, weil Sie vielleicht nicht so einen charismatischen Arzt wie Müller-Wohlfahrt finden und viel länger als Boateng brauchen, um diesen Rückstand aufzuholen, auch weil Sie keinen professionellen Trainer in Anspruch nehmen können, der allmählich Ihre Muskelkraft und Ihre Koordination wieder aufbaut.
Verletzungen im Alter von 67 beeinflussen Ihr Bewegungspotenzial nachhaltig negativ. Das gilt im Prinzip für jede Sportart. Mit Unterschieden. Sie müssen selbst beurteilen, gegen wen und mit welchem Einsatz Sie Fußball spielen, in welchem Skigebiet Sie sich skifahrend von einem alkoholisierten Österreicher umnieten lassen. Nicht politisch korrekt? Ich ziehe es zurück. Könnten auch Deutsche, Niederländer oder Russen sein …
Aber denken Sie mal dran.
Golf: Ich spiele gerne, wenn auch nicht gut, bin gerne draußen, besonders frühmorgens, und weiß nach dem 18. Loch schon, was ich getan habe. Über die Vorteile können Sie etwa auf den Seiten 49 oder 52 einiges lesen. Aber als Konditionssportart reicht es nicht aus. Wenn Sie 27-Loch-Golf spielen, sind Sie mental erschöpft, aber Ihr Kreislauf könnte noch mehr.
Bewegung wird also zur Grundlage Ihres neuen Alterslebens. Wenn Sie sich mehr bewegen wollen, mit 40, 50, 60 oder 70, sollten Sie allerdings zuerst eine grundsätzliche Frage beantworten: Sind Sie überhaupt gesund genug, um sich zu bewegen?
WEG 1: Sie hatten schon seit längerer Zeit regelmäßig Bewegungssportarten in Ihren Tagesablauf integriert, die Sie nun, da Sie Zeit haben, intensivieren wollen. Regelmäßig bedeutet täglich, alle paar Tage, wöchentlich; in diesem Fall können Sie davon ausgehen, dass 1. Ihr Herz-Kreislauf-System diese Belastung gewohnt ist, dass 2. Sie diese Sportart »beherrschen«, also darin geübt sind, und dass 3. Ihre Koordination und Ihr Körpergefühl dafür ausreichen.
WEG 2: Sie folgten in Ihrem bisherigen Leben dem irrtümlich Churchill zugeschriebenen Ausspruch: no sports! Jetzt wollen Sie neu anfangen, haben aber einige Jahre nichts mehr gemacht, vielleicht auch nur ein halbes Jahr.
In dieser Lage wäre ein Check-up mal angebracht. Check-ups sind bei Ärzten sehr beliebt, weil sie gut Geld daran verdienen. Manche sind sinnvoll, manche weniger. Ganz allgemein muss man davon ausgehen, dass Medizin ihre Stärken im Bereich der Krankheiten und nicht von Gesundheiten hat, denn die Medizin hat die meisten Erfahrungen mit kranken Menschen gesammelt.
Bei Ihnen geht es jetzt ums Herz, und da ist der Check-up total sinnvoll, denn Sie sollten lieber genau wissen, was Ihr Herz verträgt, wenn Sie ohne bisherige Trainingsvorerfahrung mit einer sportlichen Tätigkeit anfangen. Normalerweise ist Ihr Herz in der Lage, mit hohen Belastungen zurechtzukommen, und Sie merken, dass Sie an die Belastungsgrenze kommen, weil Sie sich nicht mehr belasten können. Doch in Deutschland nehmen Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu und sind mittlerweile die häufigste Todesursache, vor allem im Alter. 30 bis 40 Prozent der Menschen in der Bundesrepublik haben einen erhöhten Blutdruck, bei den über 60-Jährigen hat das jeder Zweite. Und obwohl Sie bisher keine Zeichen einer Herz-Erkrankung hatten, kann es sein, dass Sie bereits an einem Vorstadium leiden, von dem Sie nur noch nichts merken, zum Beispiel wenn Sie eine genetische Belastung tragen. Andererseits können Sie Ihre Herzfunktion durch ein paar einfache Untersuchungen unproblematisch erfassen lassen: durch das EKG, das Belastungs-EKG und die Ultraschalluntersuchungen unter Belastung.
So, wenn Sie gesund sind, können Sie jetzt mit dem von Ihnen gewünschten Training anfangen.
Wenn wir schon beim Wünschen sind: Alles ohne Schmerzen wäre gut.
Aber das geht nicht: Da wäre zum ersten der Muskelkater.
Sie haben wieder zu Joggen angefangen (Joggen können Sie durch Rudern, Schwimmen oder sonst etwas ersetzen). Sie haben sich richtig verausgabt und sind bis zur Leistungsgrenze gegangen. Toll hat sich das angefühlt.
Als Sie am nächsten Tag die Treppen von Ihrer Wohnung runterlaufen wollten, spürten Sie Ihre Oberschenkel, wobei spüren milde ausgedrückt ist: Sie taten Ihnen weh, so weh, dass Sie kaum runterkamen. Am nächsten Tag war es noch schlimmer. Das ist der sogenannte Muskelkater, ein Zeichen, dass Sie Ihren Muskeln deutlich mehr zugemutet haben als bisher.
Muss Training wehtun? Nicht unbedingt. Sie erreichen etwas über die Wiederholung, 15- bis 25-mal!
Wenn Sie das wissenschaftlich ausgedrückt haben wollen, ist der mechanische Pathway wichtig, der zu einer Steigerung der Proteinbiosyntheserate führt, indem Satellitenzellen mit der Muskelzelle fusionieren. Dadurch nimmt die Gesamtmenge an DNA in der Zelle zu, und das Hypertrophiepotenzial steigt. Diese Satellitenzellen sind eigentlich die Zellkerne der Muskelzellen, die im Alter weniger werden. Ohne Training sind sie inaktiv. Muskelkater hat also etwas mit mechanischen Anreizen zu tun, die zu Mikrotraumen führen, die wohl der entscheidende Reiz für das Muskelwachstum sind. Ich finde, mehr brauchen Sie von der Theorie nicht zu wissen; machen ist wichtig! Wenn bei Ihnen ohne Theorie nichts läuft – es gibt genügend Fachliteratur.24
Was machen Sie jetzt mit Ihrem Muskelkater?
Weitermachen, langsam anfangen, bis Sie wieder Ihr Tempo von vorgestern erreichen. Sie werden schnell merken, dass der Schmerz weniger wird, je mehr Sie tun. Das nennt man Training.
Sie können aber Prophylaxe betreiben, gegen die trainingsbedingten Schmerzen: aufwärmen und dehnen! Erst Aufwärmen. Fürs Aufwärmen ist Radfahren ohne große Kraftanstrengung, leichtes Laufen, ein paar Minuten auf der Rudermaschine gut. Sie sollen nicht außer Atem kommen, sondern einfach nur Ihren Kreislauf in Gang bringen, dann wird es Ihnen schon warm. Das Schwierigere kommt jetzt:
Sie müssen sich dehnen!
Vor und nach der Belastung sollten Sie die Muskeln, die Sie beanspruchen oder beansprucht haben, dehnen. Über das Dehnen gibt es jede Menge Literatur25, denn man kann es auch falsch machen. Richtig geht es so: Für die wichtigsten Muskeln, Beine, Rücken, Schultergürtel, die geeignete Dehnungsbewegung suchen und dann ganz langsam mithilfe des eigenen Körpergewichts dehnen. Ungefähr 20 Sekunden, länger bringt wohl nichts, obgleich es auch dazu Weltanschauungen gibt. Nicht wippen! Probieren Sie es aus.
Als Weiterentwicklung aus dem mal sehr populären »Rolfing« können Sie Ihre schmerzenden Muskeln auch auf einer Styropor-Rolle langsam ausquetschen. Selbst wenn es nicht so klingt: Es hilft ungemein. Wenn Sie unsicher sind – das bin ich bei sportlichen Fragen fast immer –, sollten Sie sich für das erste Mal einen Trainer oder eine Trainerin suchen, zu der/dem Sie vertrauen haben. Wahrscheinlich werden Sie merken: Aufgewärmt und gedehnt läuft es sich besser. Eine sehr clevere Idee ist, das Dehnen als erste Tätigkeit – vielleicht als zweite, nach dem Kaffeemachen – am Morgen anzusetzen. Denn nach dem Schlafen sind die Faszien besonders steif, manchmal so sehr, dass Sie noch nicht mal meditieren können, weil Sie keine Chance haben, auch nur in den halben Lotussitz zu kommen.
Ruhen Sie sich nicht auf Ihren Lorbeeren aus. Nicht pausieren, denn Sie bauen wieder ab. Ich weiß, es ist eine Gemeinheit! Aber Sie müssen dran bleiben. Möglicherweise geht das im Alter noch schneller als in der Jugend, ein weiterer Grund, warum das Wort »Ruhestand« irreführend ist.
Depressive Patienten erzählen es immer wieder: »Ja, ich bin regelmäßig gejoggt, und das hat mir auch gutgetan. Aber dann wurde der Druck durch die Arbeit, oder … so groß, dass ich mir die Zeit nicht mehr genommen habe.« Und wenn ich nachfrage, dann stellt sich heraus, dass es mit dem Aufhören der regelmäßigen sportlichen Aktivität erst richtig schlimm wurde. Sport hat antidepressive Wirkung, möglicherweise weil dabei aktivierende Neurotransmitter freigesetzt werden. Nur Patienten mit sehr schweren Depressionen schaffen es aufgrund ihrer Antriebsstörung nicht mehr, Sport zu machen.
Es ist immer noch besser, ein Erhaltungsprogramm zu versuchen, als mit Ihrem Training ganz auszusetzen. Mit diesem Thema werden Sie vor allem bei Verletzungen, Operationen oder schweren Erkrankungen konfrontiert. Wenn Sie sich den Fuß gebrochen haben und nun wirklich nicht mehr joggen können, sollten Sie versuchen, für das andere Bein, für den Rumpf und für die Arme Übungen zu finden, mit denen Sie sich in der Phase der erzwungenen Immobilisierung bezüglich Muskelkraft und Ausdauer fit halten können. Wenn Sie wegen einer bösartigen Krankheit Chemotherapie oder Bestrahlung ertragen müssen, ist das für Ihre körperliche Fitness sicher schwer. Aber selbst dann wäre es gut, ein reduziertes Programm körperlicher Aktivität weiterzuführen, an das Sie anschließen können, wenn es Ihnen wieder besser geht. Sie brauchen jetzt keine Pokale gewinnen, sondern sollen nur in Bewegung bleiben.
Lassen Sie sich Ihre Aktivität nicht einfach verbieten! Ärzte sind große Verbieter. Fragen Sie nach, und lassen Sie sich sagen, welche Evidenz (!) es gibt, dass Sie bestimmte Belastungen ganz vermeiden sollen.
Gerade bei älteren Menschen über 65, 70 sollte das Ziel, eine Immobilisierung kurzzuhalten, auch eine Rolle bei der Auswahl des Operationsverfahrens spielen. Die sehr in Mode befindlichen minimalinvasiven Operationsverfahren sind nicht für alle Erkrankungen das Gelbe vom Ei, aber ein unbestreitbarer Vorteil ist die viel schnellere Möglichkeit der Mobilisierung. Das wäre auch ein guter Grund für die operative Versorgung von Knochenbrüchen. Ein guter Grund dagegen ist die Gefahr von Infektionen. Sprechen Sie mit Ihrem Arzt darüber!
Nehmen wir an, Sie gehen inzwischen regelmäßig ins Fitness-Studio, machen sich an der Rudermaschine warm, und dann geht’s an die Geräte. Sie legen moderate Gewichte auf, zweimal in der Woche gehen Sie zum Joggen. Alles im grünen Bereich. 9-Loch-Golf spielen Sie inzwischen just for fun. Aber nach einem Turnier am Wochenende merken Sie einen Schmerz in der linken Schulter. Vielleicht haben Sie etwas zu verbissen geschwungen, es wird schon wieder vergehen. Es vergeht aber nicht. Eine kleine Diclofenac vor dem ersten Abschlag? Für Ihre Niere keine so gute Idee: Sie können das mal machen, aber gerade bei körperlicher Aktivität, die mit gesteigerter Durchblutung in allen Organen einhergeht, wirkt sich Diclofenac sehr negativ auf die Nierendurchblutung aus. Falls Sie zu Herzrhythmusstörungen neigen, sollten Sie es übrigens auch meiden. Dass ich neulich am ersten Abschlag auf dem Golfplatz jede Menge gebrauchte Diclofenac-Blister gefunden habe, zeugt also eher von einem problematischen Verhalten.
Das Beispiel mit der Schulter ist mein eigenes, und ich erzähle Ihnen, wie es weiterging. Ich gehe zum Orthopäden, der röntgt, macht ein MRT: Der Acromio-Clavicular-Spalt sei zu klein; er schlägt eine kleine Operation vor, etwas vom Acromion wegnehmen. Jetzt, zu Beginn der Golfsaison? Ich mache einfach weiter, aber so richtig toll ist es nicht.
Ein halbes Jahr später fällt mir beim Aussteigen aus dem Auto auf, dass ich auf der Außenseite der rechten Hüfte Schmerzen habe. Ohne klaren Anlass. Besser wird auch das nicht; allmählich fällt mir zudem das Treppensteigen schwer; hoch komme ich schon noch, natürlich!, aber es tut einfach weh, ich stütze mich auf dem Geländer ab. Auf Empfehlung gehe ich ins Rückenzentrum26. Ausführliches Gespräch, manuelle Untersuchung, MRT der Lendenwirbelsäule. Mit der Hüfte ist alles in Ordnung, ich habe da zwei kleine Bandscheibenprolapse. Die sollen den Schmerz auslösen? Eher nicht. Therapeutisch wird Wärme und Physiotherapie verordnet, zweimal pro Woche. Die Physiotherapie fängt mit Massage, Dehnübungen für die Hüftmuskulatur an. Nach der dritten Sitzung kommt der Physiotherapeut zur Sache: zur tiefen Rumpfmuskulatur. Es gibt einen gerätegestützten Test: Ich fühle mich eingespannt, kann an den verschiedenen Geräten nur ganz bestimmte Rumpfbewegungen machen. Das Ergebnis ist – na ja, nicht so dolle: Trotz Fitness-Studio, Sit-ups, Joggen, Golf, Radfahren ist meine tiefe Rumpfmuskulatur, vorsichtig ausgedrückt, schwach.
Ein Trainingsprogramm folgt. Anfangs mit dem Medizinball und auf der Matte. So was habe ich noch nie gemacht. Ich komme mir vor wie ein Walross auf dem Trockenen. Dann geht es mit Geräten weiter und einer Trainerin, die den Finger in die Wunden legt. Bis zur Erschöpfungsgrenze und ein bisschen darüber. Und immer wieder auf die Haltung achten: Wirbelsäule gerade, Brust raus, Schultern zurück, Bauch anspannen.
Allmählich entwickle ich eine Wahrnehmung für Haltung und für Muskeln, wo ich vorher nichts wahrgenommen hatte, für meine Rumpfmuskulatur. Ich halte mich anders, beim Stehen, beim Gehen, bei der Küchenarbeit, aber auch beim Golfen. Noch lange bevor wir mit dem Training durch sind, bemerke ich, dass die Hüfte nicht mehr wehtut, obwohl wir mit der doch gar nichts gemacht haben. Und meine guten alten Bekannten, die Schmerzen in der linken Schulter, die ich nur am Rande erwähnt hatte, weil ich nicht schon wieder eine OP-Empfehlung bekommen wollte: weg.
Auf der Rechnung stand als Diagnose etwas mit … Dysbalance.
Ich habe mir das später noch mal erklären lassen: Irgendwann im Verlauf meiner typischen Berufsweise, viel Sitzen, wenig Bewegung, hat sich meine Haltemuskulatur immer mehr abgeschwächt. Das habe ich aber gar nicht bemerkt, und ich dachte, ich könne ohne ein spezifisches Training Golf spielen und vor allem diese grenzwertige Wanderung im Sommer machen. Da ich von diesen Muskeln nichts wusste, blieb mir natürlich auch ihre Abschwächung verborgen. Ich habe versucht, die Abschwächung meiner Haltemuskeln so zu kompensieren, dass ich die Bewegungsmuskeln vermehrt belastet habe. Die sind aber für Haltung nicht gemacht und reagieren auf diese unpassende Belastung mit dem üblichen Überforderungsmuster, sie verkürzen und verspannen sich – und tun weh! Welch ein Glück, dass niemand auf die Idee kam, mir eine Operation der Bandscheibe oder der Hüfte vorzuschlagen, sondern dass ich üben musste.
An dieser Stelle ist es vielleicht sinnvoll, etwas Generelles zum Thema Schmerz zu sagen. Welche Alternativen haben Sie bei Schmerz?
Bei der Betrachtung des Körpers und seiner Funktionsweisen spielen Strukturen und Funktionen eine Rolle. »Struktur« ist das Thema der Anatomie, oder, wenn sie krankhaft verändert ist, der Pathologie. »Funktionen« beschreibt die Physiologie, sie werden von den anatomischen Strukturen »getragen«: Zum Beispiel kann ein Gelenk nicht mehr normal bewegt werden, wenn es kaputt ist. Klar. Nur – so einfach ist es selten; meist haben wir es nicht mit völlig zerstörten Strukturen und den dadurch ebenfalls gestörten Funktionen zu tun, sondern beide sind verändert – aber nicht so eindeutig, dass eine klare kausale Zuordnung möglich wäre. Denn wenn die Strukturen schlechter werden, versuchen die Muskeln, das auszugleichen, und es ist sehr schwer, in solch einer Situation auf die Henne oder das Ei zu schließen. Solch uneindeutige Ursachen sind ein wunderbarer Anlass für Glaubenskriege.
Hinzu kommen zwei Besonderheiten in der Entwicklung der Medizin:
Die Methoden der modernen Bildgebung begünstigen strukturelle Betrachtungen. Untersuchungen mithilfe von Röntgenstrahlen, von Ultraschall und vor allem von den durch Körperzellen ausgelösten Magnetfeldern erlauben eine unglaublich detaillierte Beurteilung von anatomischen Strukturen und ihren pathologischen Veränderungen. Wenn Sie sich solche Bilder anschauen, kriegen Sie oft einen Schreck! Und nicht nur Sie, sondern leider auch die Fachleute. Dabei sollten die es besser wissen. Denn die Bildgebung sagt oft nichts Klares über die Funktion. Es gibt Patienten mit einer desolaten Knochenstruktur, die kaum Beschwerden haben, weil sie das alles muskulär aufgefangen haben, und es gibt das Gegenteil. Deswegen liegt die Versuchung nahe, die desolate Struktur, Funktion hin oder her, durch eine Operation zu verbessern.
Dazu passt, dass sich die Orthopädie immer stärker in Richtung eines operativen Fachs entwickelt, wogegen die konservative, auf übenden Verfahren basierende Orthopädie oft, nicht immer, ins Hintertreffen gerät. In dieser Konstellation liegt es nahe, patho-anatomisch veränderte Strukturen zu operieren in der Hoffnung, dass die Funktion der strukturellen Bereinigung folgt.
Tatsächlich ist diese Überlegung keineswegs zwingend, denn der moderne Ansatz geht heute davon aus, dass chronischer Schmerz sich in den Ursachenfeldern Psyche, Funktion und Struktur entwickelt, es also am sinnvollsten ist, chronische Schmerzpatienten mit einer Kombination aus psychotherapeutischen und physiotherapeutisch-übenden Verfahren zu behandeln. Psychotherapie? Ganz recht! 70 Prozent der chronischen Schmerzpatienten haben Depressionen – und Ängste! Kein Wunder! Diese über Jahre an ihren Muskelschmerzen und der fehlenden Besserung verzweifelnden Menschen können nicht allein durch Schmerzmittel und Bewegung in die Lage versetzt werden, sich besser zu fühlen. Man muss auch der Seele helfen. Erst wenn solche kombinierten Maßnahmen nicht greifen, sollte ein operatives Vorgehen erwogen werden. Umgekehrt ist es so, dass eine Operation ja nur die Struktur verändert und sich daran zwingend eine Wiedereinübung der Funktion anschließen muss.
Was sollten Sie also machen, wenn Sie Schmerzen haben, die Sie nicht einem gravierenden akuten Ereignis, einem Bänderriss, einem Bruch, et cetera zuordnen können?
Schmerz ist ein Signal, dass irgendetwas in Ihrem Körper falsch läuft, und damit ist er etwas, was Sie ernst nehmen und nicht einfach mit Schmerzmitteln überdecken sollten. Ernst nehmen bedeutet, dass Sie einen Arzt aufsuchen und Diagnostik machen. Wenn es eine behandelbare Erkrankung gibt, wird der Schmerz schnell vergehen. Er kann aber auch chronisch werden, was besonders bei Muskelschmerzen oft der Fall ist.
Muskelschmerzen entstehen aus dem Muskel und der umgebenden Bindegewebsschicht, der Faszie. Ursache kann eine Überforderung, eine nicht von dem Muskel in seinem gegenwärtigen Trainingszustand zu erbringende Leistung sein oder eine Überdehnung. Folge ist eine Steigerung der Muskelanspannung, die dann die Durchblutung des Muskels vermindert. Muskeln reagieren auf eine verminderte Durchblutung mit Schmerzen, die mitunter auch sehr stark sein können. Dann verkürzt sich der Muskel, was wiederum Folgebeschwerden in den Ansatzpunkten oder Sehnen auslösen kann.
Was tun mit diesem Wissen?
Sehr verkürzt: Tango statt Fango – Bewegung statt Ruhe.
Früher wurden Medikamente in Form von Spritzen und Tabletten sowie Ruhe und Wärme für sinnvolle Behandlungsmöglichkeiten gehalten. Davon hat sich nur die Wärme gehalten. Sie und Bewegung mit wenigen Ruhephasen, vielleicht ein einfaches Schmerzmittel, bringen es. Sie haben das sicher schon erlebt. Am stärksten ist der Schmerz nach einer längeren Ruhephase, wenn Sie aber mal in die Gänge gekommen sind, nimmt der Schmerz ab.
Das Problem bei den Muskel- und besonders Rückenschmerzen ist, dass ihre tatsächliche Ursache oft nicht verstanden wird:
Die liegt in der »Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität«, wie auf der Homepage des Rückenzentrums am Michel in Hamburg zu lesen ist.27 Ich fand, dass das ziemlich »psychotherapeutisch« klingt. Und da ist tatsächlich eine ganze Menge dran, denn eine moderne Behandlung von chronischen Schmerzen ist im Idealfall multimodal und interdisziplinär, unter Einbeziehung von Orthopäden, Physiotherapeuten und – Psychotherapeuten. Denn wenn Schmerzen chronisch werden, kommt es zu vielen Wechselwirkungen zwischen der Seele und körperlichen Prozessen, die sinnvoll nur dann behandelt werden können, wenn man beides behandelt.
Dass das ein enormes Problem der Volksgesundheit ist, zeigen die vielfältigen Angebote, mit denen Ärzte, Heilpraktiker und viele andere um die Patienten konkurrieren. Sinnvoll scheint allein ein multimodaler interdisziplinärer Ansatz zu sein, bei dem die genannten Disziplinen über eine längere Trainingsphase miteinander kooperieren.
Spritzen sind allenfalls kurzfristig sinnvoll, um die Muskeln wieder trainierbar zu machen. Stetig wiederholte Injektionsserien bringen eher eine feste Verankerung der chronischen Störung.
Operationen haben nur eine sehr eingeschränkte Indikation:
Für Sie folgt aus alledem, dass Sie chronische Schmerzen zuallererst multimodal interdisziplinär, das heißt übend, konservativ und unter Einbeziehung von psychotherapeutischen Verhaltenstherapeuten behandeln lassen sollten.
Sollten Sie an Kollegen geraten, die Ihnen die Operation als erste Wahl vorschlagen, ohne dass ein Bandscheibenvorfall oder eine trotz längerem Training instabile Wirbelsäule vorliegt, dann sollten Sie unbedingt eine zweite Meinung bei einem schwerpunktmäßig konservativ arbeitenden Orthopäden-Team einholen.
Jetzt ist das schöne Thema Bewegung im Alter zu einer Beratung über richtige oder nicht so richtige Behandlungen von Schmerzen geworden. Aber selbst wenn Sie sich das so nicht vorgestellt haben, es passt schon zusammen. Denn einfach losrennen hilft den meisten nicht. Es gibt Krisen, die aus der Diskrepanz zwischen – unserem – Anspruch und – auch unserem – Trainingsdefizit entstehen. Entscheidend ist, dass Sie nicht gleich aufgeben, sondern sich in der Krise kompetente Hilfe suchen und danach schlauer und trainierter weitermachen. Warum spielt die Zusammenarbeit mit dem richtigen Arzt bei Sportlern wohl eine so große Rolle?
Noch ein Zitat von Thich Nhat Hanh, der nun wirklich kein Fitnesstrainer ist:28
»Ich bewege mich nicht, um fitter und gesünder zu werden, sondern weil ich das Leben so mehr genieße.«
Das Leben genießen! Und das sagt ein Buddhist.
Glauben Sie mir, Ihre Waage löst das Problem nicht! Aber auf die kommen wir nachher noch zu sprechen.
Bauch, Hüften und Po sind schon lange Ihr Thema. Sonst sehen Sie ja noch ganz passabel aus. Sorry, können Sie das wirklich beurteilen? Mir wenigstens ist aufgefallen, dass mein eigener Blick nach unten die Realität nur unvollständig wiedergibt. Fotos, die per WhatsApp auf meinem Handy auftauchten, offenbar unbemerkt geschossen, wenn ich den Bauch nicht reflexhaft einziehen konnte, zeigten Wölbungen eines mir fremden Menschen, der seltsamerweise meine Gesichtszüge trägt. Kennen Sie das auch? Bei Männern ist es eher der Bauch, bei Frauen Oberschenkel und Po.
So wollen Sie nicht aussehen! Diese Wülste sollen weg!
Sie wollen also abnehmen. Ohne Zweifel: Der Entschluss ist nicht nur ästhetisch, sondern auch medizinisch sinnvoll.
Aber wie in die Tat umsetzen? Sie melden sich im nächsten Fitness-Studio an? Leider wird Sie das nicht weiterbringen.
Gewicht und Beweglichkeit** sind zwei Ihrer Eigenschaften, die vor allem im Alter in enger Wechselwirkung zu stehen scheinen: Eines Tages können Sie nicht mehr übersehen, dass Ihr Gewicht zu-, die Beweglichkeit abgenommen hat. Sie vermuten eine kausale Verknüpfung und glauben, Sie hätten zugenommen, weil Sie sich zu wenig bewegt haben, und wären unbeweglich, weil Sie zu schwer wären. Diese Theorien von Ursache und Wirkung schlagen offenbar in weiten Teilen der Bevölkerung voll durch, wenn sich nach den Weihnachtsfeiertagen Scharen im Fitnessstudio anmelden, um den Weihnachtsspeck abzutrainieren.
Obwohl es diesen Zusammenhang gibt, sollten Sie sich fragen, ob Sport tatsächlich ein taugliches Mittel zum Abnehmen ist.
Schauen wir doch mal, wie viele Kalorien Sie verbrauchen, wenn Sie Sport machen:
Die folgende Tabelle gilt für einen 80 Kilo schweren Mann, der die jeweilige Sportart 30 Minuten ausübt.
Laufen 5 min/km | 500 |
Radfahren 25 km/h | 410 |
Schwimmen | 350 |
Rudern | 350 |
Golf | 200 |
Tanzen | 280 |
Der Wert für das Laufen entspricht beispielsweise einem Tempo von 12 Kilometer pro Stunde. Für einen Marathonlauf würden Sie bei diesem Tempo 3:31 Stunden brauchen, was für einen Freizeitläufer sehr ordentlich ist. Aber Sie würden nur 1758 Kalorien verbrauchen. Ernüchtert? Sie dachten sicher, das wäre mehr.
Und außerdem wollen Sie ja nicht fasten, nachdem Sie sich sportlich verausgabt haben: Wenn Sie mit einer Sportart neu anfangen, bekommen Sie meist tierischen Appetit! Später, wenn sich Ihre Muskulatur an diesen Sport gewöhnt hat, gibt sich das.
Also, ich muss Sie enttäuschen: Tanzen, Golf & Co. und sogar Laufen sind gut für die Beweglichkeit und sogar für Ihr Gehirn, aber abnehmen tun Sie damit nicht. Sie nehmen oft sogar zu, wenn Sie nach Jahren der Pause wieder mit Sport anfangen, weil Muskeln mehr wiegen als Fett.
Tatsächlich wiegen Sie zu viel, weil Sie zu viel und das Falsche gegessen haben. Zu wenig fit sind Sie, weil Sie sich zu wenig bewegt und zu wenig für Ihre Muskulatur getan haben.
Sie können es ja so sehen: Als Gesamtkunstwerk brauchen Sie mehrere Programme, wenn Sie mit 65 und einem Body Mass Index von über 27 dastehen, die Treppe nicht mehr schnell hoch, aber leider auch nicht schnell runterkommen und obendrein Schmerzen in Rücken, Schulter und Hüfte haben.
Konkret brauchen Sie:
Sie sind skeptisch und fragen sich, wofür das denn nun alles gut sein soll?
Die Gewichtsabnahme steigert Ihr Wohlbefinden und entlastet die Gelenke. Außerdem sprechen alle wissenschaftlichen Untersuchungen dafür, dass Normalgewicht besser als Übergewicht ist und Ihr Leben verlängert. Ihr Leben wird also im direkten und übertragenen Sinn leichter, wenn Sie weniger wiegen. Außerdem haben Sie es wahrscheinlich schon oft gelesen: Übergewicht ist auch ein Risiko für Krankheiten, an die Sie überhaupt noch nicht gedacht haben! Zuckerkrankheit, Bluthochdruck, Fettleber, Gefäßerkrankungen, Herzinfarkt, Schlaganfall und – überraschenderweise – Krebs.
Und es fühlt sich unerwartet gut an, ein paar Kilo leichter zu sein. Auch wenn Sie daran gar nicht gedacht haben: Sogar der Sex ist besser, was der schon erwähnte Bertolt Brecht mit den Worten zum Ausdruck brachte: »… und mitunter stört ein dicker Bauch«.
Wichtig ist, dass Sie selbst entscheiden, wie viel weniger Sie wiegen wollen.
Für die Umsetzung müssen Sie sich klarmachen, dass Sie sich einen Essensstil angewöhnt haben, mit dem Sie zu viel Körpergewicht aufgebaut haben: Sie haben es also mit Gewohnheit zu tun und mit einer Normabweichung.
Gewohnheit bedeutet Alarm, will sagen: Einfach wird das nicht. Denn nichts ist so schwer zu ändern wie Verhaltensweisen, die wir uns angewöhnt haben. Sie passieren nämlich automatisch, also ohne dass sie uns bewusst werden. Und wie soll ich etwas verändern, das ich gar nicht mitkriege? Sie müssen nichts weniger tun, als Ihr Leben zu ändern! Stellen Sie sich auf eine Lebensphase ein, in der Sie kontrolliert und achtsam leben und vor allem achtsam essen. Leicht ist das nicht, aber wenn Sie sich ernst nehmen, können Sie es schaffen.
Schwerer zu akzeptieren finde ich persönlich die Sache mit der Norm. Normen haben mit dem Durchschnitt zu tun, mit irgendwelchen unbekannten anderen Menschen, und ich könnte gut verstehen, wenn es Ihnen widerstreben würde, sich in einem so persönlichen Bereich wie dem Gewicht nach anderen zu richten. Woher kommt denn solch eine objektive Vorgabe, wie viele Kilo »richtig« oder »zu viel« sind?
Normen beruhen auf Messungen, die in Bezug zur jeweiligen Bevölkerung gesetzt werden. Eine solche Norm ist der Body Mass Index (BMI):
Der BMI legt fest, ob Sie im Vergleich mit einer als normal definierten Mehrheit der Bevölkerung Übergewicht haben, unabhängig von Ihrer Größe und Ihrem Geschlecht. Sie teilen Ihr Körpergewicht (Kilogramm) durch Ihre Körpergröße (Meter) zum Quadrat. Zum Beispiel: Sie sind ein stattlicher Mann, wiegen 98 Kilo. 98 : 1,912 = 27! Etwas zu stattlich. Bei einem Alter unter 45 gilt ein BMI zwischen 18,5 und 24,9 als normal, zwischen 25 und 29,9 als Übergewicht und ab 30 als Fettsucht, netter ausgedrückt als Adipositas.
Ein einfaches Maß für das Bauchfett, das vom BMI nicht erfasst wird, ist der Taillenumfang in ausgeatmetem Zustand. Männer haben bei mehr als 94 Zentimeter Umfang ein Problem, Frauen ab 80 Zentimetern.
Und nun sind Sie gefragt und müssen herausfinden, wie es Ihnen mit Ihrer Normabweichung geht und was Sie tun wollen. Ich schlage Ihnen einen mittleren Weg vor: Zunächst finden Sie raus, wie viel Ihnen ganz persönlich zu viel ist. Vielleicht erinnern Sie sich an Kleidungsstücke, die Ihnen mal gepasst haben: dieses kleine Schwarze, das schon lange traurig im Schrank hängt, das schicke – und so teure – Jackett, das Sie selbst unter Aufgabe aller Selbstkritik nicht mehr anziehen können, weil es so peinlich spannt, dass Sie befürchten, es im falschen Moment unter Anteilnahme einer verblüfften Öffentlichkeit zu sprengen. Oder an bestimmte Fähigkeiten: Sie möchten ohne Zwischenhalt die drei Treppen zu Ihrer Wohnung hochkommen, Sie möchten wieder Joggen können, ohne sich schinden zu müssen, weil die zu schleppenden Kilos einfach zu viele sind.
Das wichtigste Kriterium ist, ob Sie mit Ihren Zielen im Reinen sind, das zweitwichtigste sind gesundheitsschädliche Normabweichungen, zum Beispiel das berüchtigte Bauchfett, das oft die Männer heimsucht. Männer sind meist an Beinen und Po nicht fett, tragen aber eine Wampe vor sich her, die richtig gefährlich zu sein scheint:
Die Fettzellen in der Bauchhöhle wirken sich negativ auf Blutdruck, Cholesterin- und Blutzuckerwerte aus und steigern die Wahrscheinlichkeit für Zuckerkrankheit, Schlaganfälle, Herzkrankheiten und sogar für Krebs. Bei Stress werden Fettsäuren freigesetzt, die die normale Zuckerverwertung blockieren. Diese Fettzellen können außerdem Hormone produzieren, die chronische Entzündungen begünstigen. Im Bauchfett sitzen zudem enorm viele Immunzellen, die ihrerseits Entzündungen begünstigen und so Gefäßerkrankungen verursachen. Dicke Menschen tragen ein höheres Risiko für Brust-, Darm- oder Bauchspeicheldrüsenkrebs in sich, wahrscheinlich ebenfalls unter Mitwirkung des Bauchfetts.
Falls Sie jetzt glauben, dass die Konsequenzen von Bauchfett objektiv gravierender sind als Ihre fehlende Motivation, so irren Sie: Bei dem, was Sie da vor sich haben, ist die Motivation alles!
So weit, so gut – oder schlecht. Sie haben objektiv einen BMI zwischen 27 und 30 und sind sich subjektiv zu schwer. Das heißt: Sie sollten etwas an Ihrer Ernährung ändern. Was? Dazu gibt es sowohl wissenschaftliche als auch subjektive Antworten.
Womit fangen wir an? Mit der wissenschaftlichen:
Wenn Sie sich die Frage nach den wissenschaftlichen Grundlagen der Ernährung stellen, werden Sie ein verhängnisvolles Merkmal der menschlichen Natur kennenlernen: die Neigung zur Ideologie. Jemand erkennt einen wichtigen Zusammenhang, in diesem konkreten Fall zwischen der Änderung seiner Essgewohnheiten und seinem zunehmenden Wohlbefinden, und macht daraus so etwas Ähnliches wie eine Religion, eine Ideologie eben. Im politischen Bereich kann man immer wieder beobachten, was dann passiert: Marx hat grundlegend richtige Ansichten über den Menschen und sein Verhältnis zum Geld formuliert, die auch heute noch zutreffend sind; die ideologische »Überhöhung« hat zum Kommunismus geführt, einer Art Religion, die Millionen von Menschen ihr Leben genommen und noch mehr ins Elend gestürzt hat. Das ist auf der Gegenseite mit Milton Friedman und dem Neoliberalismus nicht anders.
Dagegen nehmen sich die Ess-Ideologien relativ harmlos aus: low fat, low carb, vegetarisch, vegan, paläo … und und und. Sie können auch ein Anhänger des Heilfastens sein oder bestimmter Körnerdiäten.
Wieso ist es so schwer, das für Sie richtige Essen herauszufinden? Im Grunde geht es um die Frage des Pilatus: Was ist Wahrheit?
Ähnlich wie Psychotherapien sind Diäten ein Tummelplatz genialer Gurus. Atkins, Hildmann, Perlmutter … Eine charismatische Persönlichkeit macht eine interessante Beobachtung, zieht geniale Verallgemeinerungen daraus, und dank des Charismas kommt diese Idee bei einer großen Zahl von Jüngern hervorragend an. Geboren ist die …-Diät. Dass Guru Atkins selber am kranken Herzen gestorben sein soll, wird ins Reich der Verschwörungstheorien verbannt.
Um von den Gurus wegzukommen, müssten Sie eine wissenschaftliche Studie machen. Doch leider sind Studien zum Thema Essen unglaublich schwer durchzuführen. Denn um herauszufinden, ob ein Nahrungsbestandteil auf Menschen positive oder negative Wirkungen hat, muss man zwei Gruppen bilden: eine, die diesen Nahrungsbestandteil regelmäßig in einer bestimmten Dosierung zu sich nimmt, und eine, die auf diesen Nahrungsbestandteil verzichtet, ihn also zuverlässig nicht isst. Stellen Sie sich vor, es ginge um die einfache, und in der Realität schon längst beantwortete, Frage, ob Zucker gesundheitsschädlich ist. Die eine Gruppe darf ihre Nahrung süßen, die andere muss darauf verzichten. Stellen Sie sich weiter vor, Sie wären zufällig für die Gruppe ausgelost worden, die auf Zucker verzichten muss. Leider sind Sie aber selbst ein Süßer, das heißt, Kaffee oder Tee ungesüßt bringen Sie nicht runter, süße Nachspeisen sind Ihr Lebenselixier. Selbst wenn Sie eine unglaublich willensstarke und moralischen Kriterien verpflichtete Persönlichkeit sind, lässt es sich nicht hundertprozentig ausschließen, dass Sie in einem unbeobachteten Moment Ihrer Nahrung nicht doch den einen oder anderen Löffel Zucker zuführen. Bei solchen Studien kann man Sie ja nicht über Monate und Jahre kontrollieren! Und um Monate und Jahre geht es bei Studien über Nahrung. Diese Art von Wissenschaft ist also sehr mühsam in der Durchführung und wegen der nicht hundertprozentigen Kontrolle auch nicht zuverlässig.
Die andere Einschränkung dieser Art von Studien ist interessenbedingt. Da solche Studien lange dauern und deshalb teuer sind, können die Universitäten, einstmals Hort der freien und unabhängigen Forschung, aber seit längerer Zeit unterfinanziert, sich solche Studien nur noch in Ausnahmefällen leisten. Also braucht man Sponsoren, und natürlich sind die Milchindustrie oder Konzerne, die Nahrungsmittel herstellen, an der Studienteilnahme interessiert. Allerdings sind solche Firmen nicht nur den Käufern ihrer Produkte, sondern auch und vor allem ihren Aktionären verpflichtet. Es geht also um den Konflikt zwischen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen. Der Journalist Bas Kast hat 2018 »Das Fazit aller wissenschaftlichen Studien zum Thema Ernährung« unter dem Titel Der Ernährungskompass29 veröffentlicht. Und er kommt zum Beispiel bei der Bewertung von Milch oder Zucker zur Einschätzung, dass die Beteiligung eines Sponsors aus der entsprechenden Industrie die Chance auf ein für diese Industrie günstiges Ergebnis auf das vier- bis achtfache erhöht! Tja.
Was können Sie daraus lernen? Auch über etwas so Grundlegendes wie unser Essen wissen wir ziemlich wenig.
Am besten fahren Sie, wenn Sie der Versuchung widerstehen, ein weiteres Mitglied der Schar der follower dieses oder jenes charismatischen Gurus zu werden, und stattdessen mit einer gesunden Portion Skepsis an dieses Thema herangehen. Prüfen Sie alles Geschriebene auf Plausibilität, ruhig unter Zuhilfenahme des gesunden Menschenverstandes. Bedenken Sie, dass die Redakteurin dieser mit hoher Auflage erscheinenden Frauenzeitschrift auf der Suche nach einem »Aufreißer« in einer gesundheitsträchtigen Frühjahrsausgabe wahrscheinlich weniger Zeit für die Recherche hat als ein Journalist, der hauptsächlich Bücher schreibt und viel Aufwand bei der Datenfindung betreibt. Vielleicht denken Sie auch daran, dass Zeitschriften von Werbekunden leben, die natürlich nicht begeistert sind, wenn ihre Nahrungsprodukte in der Zeitschrift runtergemacht werden, für die diese Firma gerade viel Geld überwiesen hat.
Diese Zusammenhänge gelten übrigens in gleicher Weise für ein Thema, das Sie als ältereren Menschen fast ebenso beschäftigen sollte wie das richtige Essen: die Wirkungen und die Nebenwirkungen von Medikamenten!
Aber bleiben wir erst mal bei den Nahrungsprodukten. Der französische Journalist Michael Pollan hat einmal geschrieben, dass man nichts essen solle, was die eigene Großmutter nicht spontan als Nahrung erkannt hätte. Er bezieht sich auf die Tatsache, dass Nahrung in den letzten Jahrzehnten von etwas, das in der Natur wuchs, zu einem Produkt der Nahrungsmittelindustrie geworden ist, dessen Zusammensetzung als Firmengeheimnis gehandelt wird. Wir kommen beim Thema Fette noch einmal darauf zurück.
Meine Empfehlung: Entwickeln Sie Ihre individuelle Sensibilität, welche Nahrungsmittel Ihnen guttun, welche Sie in vernünftigen Mengen sättigen und Ihnen zu einem guten »Bauchgefühl« verhelfen.
Wahrscheinlich werden Sie zu dem Schluss gelangen, dass das die Nahrungsmittel sind, die Sie selber zubereiten. Meine Empfehlung »Kochen lernen!« deckt also verschiedene Aspekte Ihres Lebens als älterer Mensch ab.
Abnehmen zu wollen, hat, wie schon bemerkt, wenig mit Diät und viel mit der Änderung von Gewohnheiten zu tun. Den gleichen Stiefel weiterzumachen und »nur« weniger zu essen, wird unvermeidlich zu vermehrtem Hungergefühl führen – ein Zustand, den Sie nicht lange aushalten werden, auch wenn Sie ihn freiwillig herbeigeführt haben, weil Hunger ein enormer Stressfaktor ist. Und Stress löst schädliche Seelenzustände aus, die ihrerseits zu Bluthochdruck oder zu aggressivem Verhalten führen, sodass es niemand mit Ihnen aushalten mag.
Ich habe das hinter mir, 1000 Kalorien aufgeteilt auf zwei Mahlzeiten, intensive Gelüste in den Phasen, in denen ich gar nichts essen sollte, so reizbar, dass ich meine wirklich freundliche Partnerin zusammenfaltete – und nach einer Woche kein Gramm weniger wog. Ich war davon überzeugt, dass diese Mistwaage aus dem Baumarkt defekt wäre, und kaufte mir eine teure im Versand. Leider war die neue ebenso defekt wie die alte!
Dann habe ich Freunde in Südostasien besucht, für zweieinhalb Wochen. Natürlich habe ich keinen Sport gemacht, denn zum Joggen war es viel zu heiß. Aber ich habe ganz anders gelebt. Und gegessen. Aber das fiel mir erst gar nicht auf: Zum Frühstück ein Omelett und ein halbes Baguette, Kaffee, Fruchtsaft. Tagsüber habe ich nur getrunken und am Strand eine Ananas gekauft. Abends gab es wechselnde Khmer-Food, wie das auf der Speisekarte hieß, Vorspeise, keinen Nachtisch, aber ein bis zwei 0,3 Liter-Biere. Die Portionen waren überschaubar, doch wenn ich aufstand, war ich satt. Das Erstaunlichste: Mich, der ich Mousse au chocolat liebe, ließ Pineapple cake homemade, am besten mit Sahne, nicht nur kalt, sondern die Vorstellung, ich müsste ein solches Stück in mich reinschaufeln, war auch ausgesprochen abtörnend. Regelmäßig habe ich nachgeschaut, was für ein Nachtisch angeboten wurde, um dann keinen zu bestellen. Meine Freundin ließ sich nichts anmerken, aber sie war vollkommen baff. Nur zwei Mahlzeiten, und ich hatte keinerlei Hunger. Nach acht Stunden spürte ich den Magen, das schon, aber dieser imperative Drang fehlte, der mir sonst signalisierte: Du musst dringend was essen! Nach zweieinhalb Wochen wieder zu Hause, habe ich mich auf diese defekte Waage gestellt. Sie zeigte 1,7 Kilogramm weniger. Solche Ziffern hatte ich im Zusammenhang mit meinem Gewicht seit fünf Jahren nicht mehr gesehen.
Was habe ich daraus gelernt?
Abnehmen wird erleichtert, wenn ich, und sei es auch nur vorübergehend, meinem Lebensstil die Chance auf Änderung gebe. Wenn Sie einfach nur Kalorien vermindern, kommt in Ihrem Gehirn das Signal »Mangel« an, das als Katastrophe interpretiert wird und Ihren Organismus dagegen Sturm laufen lässt. Wenn Sie Ihr Gehirn aber mit einer Menge neuer Eindrücke konfrontieren, dann hat es Besseres zu tun, als Ihnen Katastrophenszenarien vorzuspielen. Und ehe Sie sichs versehen, haben Sie sich an den neuen Essensstil gewöhnt, sodass die Kalorienreduktion erst einmal nicht auffällt. Als Ouvertüre ist das ganz gut. Für die Akte eins, zwei und drei müssen Sie sich allerdings noch etwas mehr einfallen lassen.
Denn nachhaltige Gewichtsreduktion ist kein triviales Unterfangen. Die Kombination aus guten Vorsätzen und irgendeiner Diät aus Brigitte oder GQ wird es nicht bringen. Sie müssen sich informieren und dann eine sinnvolle Strategie wählen, die – und das ist das Wichtigste – quasi maßgeschneidert zu Ihnen passt.
Ihr aktuelles Gewicht, das Sie nicht erst seit zwei Monaten, sondern seit den letzten fünf bis zehn Jahren haben, das also Ergebnis Ihres Lebensstils und Ihrer zum größten Teil unbewusst ablaufenden Gewohnheiten ist, können Sie nicht einfach so ändern. Sie geraten in ein furchtbares emotionales Fiasko, wenn Sie es mit der Brechstange versuchen.
Nahrungsaufnahme hat ja unterschiedliche Funktionen: Der Beseitigung von Hunger dient sie in unserer Gesellschaft nur noch selten. Oder essen Sie vielleicht nur, wenn Sie Hunger verspüren? Essen dient der Stressbeseitigung, funktioniert als Belohnung oder als Signal, dass jetzt der gemütliche Teil des Tages beginnt. Und vor allem: Gegessen, was auf den Tisch kommt, haben Sie vielleicht in der Kindheit. Heute bestehen Sie auf der Errungenschaft des Erwachsenenalters, dass Sie auswählen können, was Ihnen gut schmeckt. Am besten schmecken leider Fett und Kohlenhydrate, ja, in dieser Kombination! Gratin dauphinois, Nudeln mit Sahnesoße und diverse Nachspeisen.
Dagegen ist auch nichts einzuwenden, wenn Sie demnächst zum Triathlon starten, Bäume im Bergwald fällen oder ähnliche kalorienverzehrende Tätigkeiten planen. Für den zweistündigen Spaziergang mit Ihrem Labrador ist diese Kalorienmenge weit überdimensioniert. Erst recht bei der normalen Arbeit, wenn Sie fünf, sieben, neun Stunden in Ihrem Büro sitzen!
Stopp!
Gehen Sie denn nicht gerade in den Ruhestand? Sie müssen doch gar nicht mehr acht Stunden sitzen? Tatsächlich wäre der Einstieg in den Ruhestand eine wunderbare Gelegenheit, die Gewohnheiten zu ändern. Wir sitzen aber nicht nur bei der Arbeit, sondern beim Essen, beim Fernsehen, Computerspielen, Autofahren …
Was wollen Sie eigentlich erreichen? Sie wollen ihren Organismus dazu bringen, dass er die angesammelten Fettreserven antastet und sukzessive vermindert, am besten ohne Hunger zu bekommen. Das geht. Sie müssen es nur etwas geschickt anfangen.
Geschickt heißt Intervallfasten.30 Ob und welche Art von Intervallfasten ist Ihre Privatangelegenheit, das heißt, Sie müssen selbst herausfinden, welche Art Ihnen am besten gelingt.
Ihre Fettreserven werden angetastet, wenn Sie mehr als zwölf Stunden nichts essen. Zwölf Stunden, besser vierzehn Stunden, super wären sechzehn Stunden.
Wann merken Sie am wenigsten davon? Wenn Sie schlafen. Konkret kann das so aussehen, dass Sie um 18:00 Uhr das letzte Mal essen. Schon schwieriger: Das letzte Glas Rotwein sollten Sie auch um diese Zeit trinken. Wie viel Sie trinken können, sage ich Ihnen.
Die Essensmenge können Sie so wählen, dass Sie satt werden. Was für eine gute Botschaft! Aber nicht ganz einfach umzusetzen. Denn Sättigung hängt davon ab, was Sie essen und in welchem Tempo Sie das tun: Was Sie essen, hängt von der Tageszeit ab, gut wären morgens mehr Kohlenhydrate und abends mehr Proteine, wobei Proteine generell schneller zu Sättigung führen als Fette und Kohlenhydrate. Das Tempo sollte langsam sein, damit Ihr Gehirn mitbekommt, wenn Sie genügend Nahrung aufgenommen haben. Sie haben das wahrscheinlich schon mal gehört, denn das ist keine neu erfundene Weisheit: gründlich kauen, und auf den Geschmack achten.
Gegen 22:00 Uhr gehen Sie ins Bett. Bitte regelmäßig! Und schlafen bis 6:00 Uhr (acht Stunden sind ein Mittelwert). Wenn Sie um 6:00 Uhr aufstehen, können Sie nicht nur den Gesang der Vögel genießen, sondern auch die Tatsache, dass Sie schon zwölf Stunden ohne Essen hinter sich gebracht haben. Der Ansturm auf Ihre Fettreserven ist bereits in vollem Gange. Wasser, Kaffee, Tee trinken, – keine Milch, die stoppt die Fettverbrennung ebenfalls. Frühsport, die Zeitung, die Runde mit dem Labrador, so bringen Sie die Zeit bis 10:00 Uhr herum – und haben sechzehn Stunden geschafft. Jetzt dürfen Sie richtig frühstücken, auf die Inhalte kommen wir nachher noch, am besten so viel, dass Sie bis zur Abendmahlzeit um 17:15 Uhr durchhalten. Und wenn Sie das drei Monate schaffen, können Sie stolz auf sich sein und Ihren Astralleib im Spiegel bewundern.
Es kann sein, dass Sie die sechzehn Stunden nicht schaffen. Wenn Sie vorher alle vier Stunden etwas gegessen haben, sind schon acht Stunden eine ziemliche Leistung. Aber wie bei jeder Form von Training können Sie sich steigern. Haben Sie etwas gemerkt? Sie verändern gerade Ihre Gewohnheiten!
Drei Monate sind Ihnen zu lange, Sie wollen schneller? Das ist, bei allem Respekt, nicht schlau. Wenn Sie Ihr Gewicht schnell runterdrücken, besteht die Gefahr, dass Ihre Waage sich wie ein – etwas langsames – Jo-Jo verhält: runter und rauf.
Sie müssen vermeiden, dass Ihr Organismus die Gewichtsabnahme als zu großen Stress wahrnimmt. Um das zu verstehen, müssen Sie versuchen, sich in die Situation Ihrer Vorfahren zu versetzen:
Die sind wahrscheinlich die meiste Zeit hungrig durch die Gegend gerannt, mit leerem Bauch, da es nur sporadisch Nahrung gab und diese Nahrung mit großer Anstrengung, gejagt, gesammelt oder erbeutet werden musste. Nicht drei Mahlzeiten am Tag, sondern mit Glück vielleicht zwei in der Woche. Da dieser Zustand auf Dauer mit dem Leben nicht vereinbar war, wurden jede Menge Stresshormone freigesetzt. Die machten Sinn, weil die hoch geschätzten Vorfahren dadurch schneller, aufmerksamer und effektiver in der Jagd und Sammlertätigkeit wurden – Wurzeln, Früchte, Nüsse konnten gesammelt, Tiere gejagt werden. Wenn es höchst selten etwas zu essen gab, war es wichtig, so viel wie möglich davon abzubekommen, nach Möglichkeit so viel, dass es nicht gleich wieder verbraucht wurde, sondern in Fett gespeichert werden konnte, um für die sicher kommenden harten Zeiten Vorrat unter der eigenen Haut mit sich herumzutragen. Das Schönheitsideal der Venus von Willendorf, mit Germany’s Next Topmodel nicht kompatibel, spiegelt sehr gut wider, was für unsere Vorfahren wichtig war.
Dieses auf Mangel ausgerichtete Verhaltens- und Vorratsprogramm funktioniert heute immer noch, auch wenn sich die Zeiten dramatisch geändert haben: Für die Menschen in unserer Zivilisation ist Nahrung auch in hochkalorischer Form regelmäßig verfügbar, Fasten passiert allenfalls freiwillig und ist nicht die Regel. Allerdings gibt es diese Art von Wohlleben noch nicht lange genug, als dass sie sich evolutionär fixiert hätte: Wer sich übergewichtig ernährt, stirbt früher, aber eben meistens erst dann, wenn er seine genetische Ausstattung bereits weitergegeben hat. Es gibt auch keine gnädige Mutation, die verhindert, dass Kohlenhydrate und Fett zum Übergewicht führen. Wir tragen noch immer den Verhaltensplan unserer Vorfahren in uns, die ständig hungrig durch die Gegend liefen. Deshalb können Sie auf dem Weg zum Idealgewicht auch nicht irgendwelchen Instinkten folgen, die Ihrem Körper angeblich schon sagen, was er braucht. Ihr Körper weiß – bei allem Respekt – gar nichts, Ihr Gehirn hat sogar verlernt, wann es satt wäre, und vermittelt dieses Signal erst, wenn Sie schon eine ganze Weile zu viel gegessen haben. Aber wenn Sie es nur eine Woche lang geschafft haben, weniger zu essen, funktioniert dieses Signalsystem schon viel besser, und schließlich sind die 16 Stunden kein Problem mehr.
Dann können Sie auch souverän mit der Waage umgehen. Die brauchen Sie im Grunde erst wieder, wenn Sie Ihr Zielgewicht erreicht haben und aus dem Abfahrtslauf in die Zielgerade einbiegen. Es ist nicht so einfach, den Abnehmvorgang zu stoppen und ein konstantes, aber geringeres Gewicht zu erreichen und zu halten. Stellen Sie sich vor: schon wieder eine Gewohnheit ändern. Mit Ihrem frisch erworbenen Essensplan nehmen Sie seit einiger Zeit circa 400 Gramm pro Woche ab. Mehr sollen es für eine nachhaltige Gewichtsreduktion gar nicht sein. Erreichen wollen Sie ein Zielgewicht von 90 Kilo, bei Ihrer Körpergröße wäre das ein BMI von etwa 25, also ziemlich toll. Jetzt haben Sie’s bald, denn Sie sind bei 92 Kilo angekommen. Aber im Gegensatz zum Marathonlauf müssen Sie jetzt auf der Zielgeraden verlangsamen! Das ist schwierig, weil wir den Endspurt gewohnt sind. Gewohnt! Allmählich gewöhnen Sie sich daran, immer wieder Ihre Gewohnheiten umzustellen. Nicht schlecht! Um nicht noch mehr abzunehmen, sollten sie einfach eine Zwischenmahlzeit tagsüber mehr zu sich nehmen. Die Essenspause in der Nacht behalten Sie bei, damit schlafen Sie auch gleich besser.
Wie Sie gesund essen und auch Ihre subversive Seite füttern
Nachdem Sie jetzt das Gewicht haben, das Sie in den letzten Jahren immer schon mal haben wollten, können wir in aller Ruhe über gesunde Ernährung nachdenken.
Was heißt gesund?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Zum einen liegt das an den schon geschilderten Schwierigkeiten, Untersuchungen zum Essen nach harten wissenschaftlichen Kriterien durchzuführen. Und weiche Kriterien braucht keiner. Zum anderen liegt das an Ihnen.
Die Frage nach dem gesunden Essen ist immer die Frage, welches Essen für Sie gesund ist. Objektive Kriterien können nur ein sehr allgemeiner Anhaltspunkt sein. Wenn Ihnen das, was Sie aus Gesundheitsgründen essen sollten, nicht schmeckt, werden Sie es nicht durchhalten. Natürlich können Sie sich an eine neue Nahrungszusammensetzung gewöhnen, zum Beispiel können Sie arabische oder asiatische Gewürze in Ihren Speiseplan aufnehmen, wenn Sie auf das neue Kochbuch von Ottolenghi stehen oder den Kochkurs bei XY so genossen haben, aber es gibt schon Grenzen.
Und dann gibt es noch Ihre Gesundheit. Die ist zum großen Teil das Ergebnis Ihres bisherigen Verhaltens, Ess-verhaltens, Süßigkeiten-verhaltens, Alkohol-verhaltens, Rauch-verhaltens. Ich komme im Kapitel über »Alter und Ärzte« noch darauf. Aber Sie haben natürlich gerade im Zusammenhang mit dem Essen die Chance, auch was für Ihre Gesundheit zu tun. Wenn Sie an beginnendem Bluthochdruck leiden, wenn Sie zur Arteriosklerose neigen; beim Diabetes Typ 2 müssen Sie sich in die Hände der Mediziner begeben. In vielen Fällen bekommen Sie Medikamente verordnet. Aber warum diskutieren Sie nicht die Möglichkeit, ob eine Veränderung Ihrer Ess- und Bewegungsgewohnheiten Ihnen nach einiger Zeit den Verzicht auf Medikamente erlauben, die ja immer auch Nebenwirkungen haben? Da ist sie wieder, die schwere Veränderung Ihrer Gewohnheiten. Aber es gibt überhaupt keinen vernünftigen Zweifel, dass Ihre durch Hochdruck und, Diabetes, als Folgen des Übergewichts, verkürzte Lebenserwartung höher wäre, wenn Sie wenigstens den Versuch machen, Ihre Nahrungsaufnahme so umzustellen. Sie werden nicht nur weniger wiegen, sondern auch gesünder essen. Wenn Sie entsprechende Vorerkrankungen haben, müssen Sie das gemeinsam mit Ihrem Arzt machen. Eigentlich sollte der von dieser Idee begeistert sein.
Ich bin kein Ernährungsmediziner. Deshalb bin ich auf die Meinung anderer angewiesen, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben. Zum Thema Ernährung habe ich mich vor allem bei Bas Kast und seinem Ernährungskompass«31 informiert, aber auch bei den »Ernährungs-Docs«32 und nicht zuletzt bei Eckart von Hirschhausens Bemerkungen zu dem nicht von ihm erfundenen, aber hervorragend propagierten »Intervallfasten«33.
Ich gebe Ihnen hier eine Zusammenfassung, sozusagen mein Fazit, und Sie sind herzlich eingeladen, Ihr eigenes zu finden.
Gibt es so etwas wie eine »Altersdiät«? Bas Kast wurde von dieser Idee umgetrieben, die ja auch naheliegt. Denn fast alle ernsthaften Erkrankungen häufen sich im Alter. Natürlich können auch in der Jugend ernsthafte Krankheiten auftreten, aber Gefäßerkrankungen von Herz und Kopf, die zu Herzinfarkt, Schlaganfall, Bluthochdruck führen, Diabetes Typ 2, chronisch obstruktive Lungenerkrankungen, Krebs von Brust, Dickdarm und Lunge und nicht zuletzt die Demenz erreichen im Alter ihre Höhepunkte; wie auch Gelenkerkrankungen, Osteoporose und so einiges mehr. Das ist es, was uns das Alter vermiest!
Ein großer Teil dieser Störungen hat einen statistischen oder funktionellen Zusammenhang*** mit der Ernährung, oder beides. Also liegt die Überlegung ja nicht so fern, ob eine Veränderung unserer Ernährung nicht auch unser Alter verbessern könnte.
Einige Hinweise:
Wenn Sie gegessen haben, sollten Sie für längere Zeit keinen Hunger mehr haben, Sie sollten sich satt fühlen. Die Entstehung dieses Gefühls ist, wie fast alles, was uns olle Typen angeht, komplex, aber es hängt von der Menge des Gegessenen ab. Und davon, was Sie gegessen haben: Wenn Sie sich eiweißreich ernähren, werden Sie schneller satt, das heißt essen auch weniger Kalorien, als wenn Sie Ihren Hunger vor allem mit Kohlenhydraten und Fett stillen. Krabben, Lachs und Käse sättigen Sie schneller als Croissant und Honigbrot, und das Sättigungsgefühl hält auch länger an. Proteinreiche Nahrung macht das Abnehmen leichter, vor allem auch im Bereich des Bauchfetts.
Stopp! Hören Sie jetzt nicht auf zu lesen, und rennen Sie noch nicht in den Supermarkt … Denn eine hohe Proteinaufnahme im mittleren Lebensalter verkürzt die Lebensdauer, erhöht die Krebshäufigkeit und die von Diabetes Typ 2.
Zwischen 50 und 65, im »besten Mannesalter«, ist des Mannes liebste Speise, das allabendliche Steak, auch mit Salat verzehrt, eine Katastrophe. Das kommt daher, dass Proteine über verschiedene zelluläre Mechanismen der große Anschub für Zellwachstum und -vermehrung sind. Sinn macht das in Kindheit, Jugend und im Erwachsenenalter, solange es um Reproduktion geht, und auch wieder jenseits der 65, wenn der altersbedingte Muskelschwund einsetzt.
Die gute Botschaft: Proteine sind keineswegs nur im roten Fleisch, sondern auch in Fisch, in Hühnchen und vor allem in Pflanzen: Bohnen, Linsen, Kichererbsen, Weizenkeime, Bulgur, Haferflocken, Quinoa, Amarant, Lein- und Chia-Samen, Sonnenblumenkerne, Nüsse, auch Erdnüsse und die aus ihnen gemachte Butter, Brokkoli, Spinat, Spargel – was für eine Liste! Und pflanzliche Proteine haben offenbar den schädlichen Effekt im mittleren Lebensalter nicht! Auch das regelmäßige Essen von Fisch scheint das gesunde Lebensalter zu verlängern.
Ein Spezialfall ist die Milch: Milch ist ein protein- und fettreicher Powertrank, den Sie allenfalls in der Kindheit brauchen können, aber als Erwachsener nicht mehr. Ein Glas Milch am Tag reicht völlig, wenn Sie keine mögen, ist das auch nicht schlimm. Dieses Bild dreht sich völlig um, wenn Sie Joghurt, Kefir, Käse et cetera zu sich nehmen: In fermentiertem Zustand haben Milchprodukte offenbar lauter positive Wirkungen: Joghurt, auch mit normalem Fettgehalt (!) begünstigt das Abnehmen, bei Frauen mehr als bei Männern. Das heißt, sie können die wichtigen Proteine zu einem großen Teil nicht über Milch, aber über fermentierte Milchprodukte zu sich nehmen.
Kohlenhydrate? Sie wussten nie, woher der Begriff kommt? In der chemischen Formel sind Kohlenstoffatome in unterschiedlicher Form von Wasserstoffatomen umgeben (hydriert!). Konkret geht es vor allem um die Zucker Glukose und Fruktose, die sich beide hinsichtlich ihrer Problematik nicht viel geben. Aber machen wir uns nichts vor: Nicht die Zucker sind das Problem, das Gehirn braucht Glukose dringend, sondern unser Umgang damit. Sie sollten sich klar darüber sein, dass beide Zuckerarten, der sogenannte Fruchtzucker und die Glukose, die in Reinform unter anderem als Traubenzucker verkauft wird, sehr direkt mit wichtigen Organen in Wechselwirkung treten: Die Fruktose, die in allen so beliebten Softdrinks reichlichst vorhanden ist, aber eben auch in Fruchtsmoothies, wird direkt von den Leberzellen aufgenommen, was zu deren Verfettung führt, zur Insulinresistenz und allen möglichen Folgestörungen. Die Glukose wird nicht von der Leber abgefangen, sondern gelangt zu Gehirn und Herz und anderen Organen, wo sie die benötigte Energie bereitstellt. Damit die Glukose in die Zellen hineinkommt, wird durch den Glukoseanstieg Insulin freigesetzt, das die Aufnahme der Glukose in die Zellen ermöglicht. Sinkt der Glukosespiegel dadurch zu schnell ab, entsteht eine Unterzuckerung, die mit einem starken Hungergefühl verbunden ist. Und dieser Zusammenhang zeigt auch sofort, was am Süßkram außer den Kalorien wirklich problematisch ist: Das Ausmaß der Glukosefreisetzung wird auch als glykämischer Index bezeichnet. Je niedriger er ist, desto weniger problematisch sind Kohlenhydrate:
Haferflocken 55, Cornflakes 86, körniges Vollkornbrot 55, Weizenbrot 74, Brezel 80, selbst gemachte Pfannkuchen 66, glutenfreie Pfannkuchenmischung 102; Apfel 38, Banane 52, Karotten 41, Bratkartoffeln 85; Spaghetti 44, Basmatireis 58, Jasminreis 109; Cashews 22, Erdnüsse 23, Walnüsse 0; Coca-Cola 53, Bier 89.
Für Ihre Mahlzeiten sollten Sie die Kohlenhydrate wählen, die einen geringen glykämischen Index haben, allein schon, weil Sie dann nicht sofort Hunger bekommen. Wenn Sie eiweißreich zu Mittag gegessen haben und nachmittags ein Stückchen Kuchen essen – ich liebe Kuchen! –, kurbeln Sie die Insulinsekretion an und bekommen eher wieder Hunger, als es ohne Nachmittagssnack der Fall gewesen wäre. Ganz auf der guten Seite der Kohlenhydrate stehen Hülsenfrüchte und Gemüse, dicht gefolgt vom Obst, ganz auf der schlechten Seite stehen Pommes, Chips und Süßigkeiten sowie Softdrinks.
Die Empfehlungen zu den Fetten sind eine schwierige Geschichte, dadurch belastet, dass man lange Zeit Fette und »Gefäßverfettung« in Zusammenhang gebracht hat. Tatsächlich ist die Situation viel komplexer.
Das gute Fett ist mit hoher Wahrscheinlichkeit das Olivenöl, das unterschiedliche positive Effekte auf verschiedene Organsysteme zu haben und sogar das Brustkrebsrisiko zu senken scheint, vor allem wohl wegen der in ihm enthaltenen einfach ungesättigten Fettsäuren. Die gibt es auch in Avocados, Nüssen (Hasel-, Pekan-, Macadamia-, Cashew-, Erdnüsse und Mandeln) und im Geflügelfleisch. Gesättigte Fettsäuren sind weniger gesund, richtig schlecht sind die Transfette, die sich in Margarine aus ungesättigten Fettsäuren nach deren Härtungsvorgang befinden.
Das Highlight unter den Fetten sind die mehrfach ungesättigten Fettsäuren, insbesondere die Omega-3- oder Omega-6- Fettsäuren; sie senken von allen Fetten das Sterblichkeitsrisiko am stärksten und scheinen auch präventiv gegen Demenz zu wirken: Lachs, Hering und anderer fetter Fisch.
Und die »gute Butter«, das Wirkprinzip unserer Großeltern und fast aller großen Köchinnen und Köche? Vom Teufel? Keineswegs, am ehesten steht Butter in einer neutralen Position zwischen den ungesättigten Fettsäuren und den Transfetten. Sie müssen sie ja nicht mit dem Löffel essen, aber brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn Sie sie, wie die großen Köche, zur Geschmacksverstärkung einsetzen.
Ihnen ist wahrscheinlich nicht klar, dass Wurst überwiegend aus Fett und kaum aus Protein besteht, und zwar nicht aus guten, sondern eher problematischen Fetten. Dieser Fettanteil reduziert das Protein, für das Sie die Wurst wahrscheinlich essen, und zögert so die Sättigung hinaus.
Gute Fette: Nüsse, Leinsamen, Avocados, Olivenöl, Rapsöl, fettiger Fisch; im mittleren Bereich: Käse, Kokosöl, Eier, Butter – zu meiden wären Wurst und Transfette, Margarine allein schon deshalb, weil man praktisch nicht herausbekommt, was alles drin ist.
Eigentlich wissen Sie jetzt schon, welches Essen gesund ist, und können mit der gesunden, altersgerechten Ernährung anfangen. Allerdings, wenn Sie das kontrollieren wollen, sollten Sie selber mit dem Kochen anfangen. Der Speiseplan sollte, Sie haben es ja gelesen, viel Gemüse und Hülsenfrüchte enthalten. Dazu mehr Fisch als Fleisch, besonders Lachs, Hering, Sardinen – wegen der Omega-3-Fettsäuren, in der Woche ein- bis zweimal, alle zwei Wochen Hähnchen, einmal im Monat oder seltener Wild, Steak, Braten. Also in Umkehrung des bekannten Spruchs: »Gemüse ist mein Fleisch«!
Dazu Joghurt, Kefir, Käse, Quark, wenig Milch.
Genießen Sie! Probieren Sie aus, welche dieser neuen Vorschläge Ihnen schmecken. Oft ist das eine Frage der Gewöhnung oder des Würzens.
Ein Globalvorschlag, der mit einer erheblich verbesserten Lebenserwartung einhergeht, betrifft die sogenannte Mittelmeerdiät. Ehe Sie triumphieren: Damit ist nicht Pizza gemeint! Wenn Sie in Italien unterwegs waren und die Augen aufgemacht haben, ist Ihnen sicher aufgefallen, dass die Italiener von der Pizza nur relativ kleine Stücke, mit geringem Teiganteil essen. Die tischdeckende runde Pizza ist ein Zugeständnis an die Touristen.
Die reale Mittelmeerdiät enthält:
viel Olivenöl, zwei Ladungen Gemüse am Tag, davon eine roh, als Salat, dreimal Obst am Tag, wenig Butter, Margarine oder Sahne, ein Glas Wein, à 100 Milliliter pro Tag, öfters Fisch, dreimal Hülsenfrüchte in der Woche, wenig Fleisch und wenn, dann bevorzugt weißes, dazu viel Käse, viel Knoblauch und viele Kräuter.
Was ist Ihnen aufgefallen?
Das waren die Empfehlungen für gesundes Essen, nicht fürs Abnehmen. Aber wenn Sie sich um gesundes Essen bemühen, reduzieren Sie Dickmacher (Pommes, Nudeln, Zucker). Selbst wenn Sie gelegentlich schwach werden, weil die Pommes im Café Paris einfach göttlich sind oder weil Sie vor dem Marathonlauf Nudeln brauchen, um Ihre Glykogenspeicher aufzufüllen, werden Sie allein durch gesunde Ernährung allmählich Ihr Übergewicht reduzieren.
Wenn Ihnen das alles zu wissenschaftlich ist, gefällt Ihnen sicher folgendes Zitat:
»Sich auf seine eigene Erfahrung zu verlassen und daraus zu lernen, wie verschiedene Nahrungsmittel auf einen wirken, ist interessant und fesselnd. Lähmend und manchmal sogar herabwürdigend ist hingegen der Versuch, sich selber wissenschaftliche Erkenntnisse oder anderer Leute Vorstellungen aufzuzwingen.«34
Edward Espe Brown ist Koch und Zen-Meister. Übrigens: Zen-Buddhisten sind schlank! Was hat das mit Ihnen zu tun? Darauf komme ich gleich noch.
Diese ganze Ernährungsgeschichte klingt zugegebenermaßen schon ziemlich anstrengend. Ständig auf etwas achten, ist nicht so einfach – es sei denn, Sie haben ein Faible für Achtsamkeit. Achtsamkeit ist eine spirituelle Übung, Achtsamkeit ist Teil vieler moderner Psychotherapien.
Achtsam essen bedeutet:
Nur zu essen, wenn Sie essen – also nicht zu lesen, fernzusehen oder zu twittern. Das ist nicht leicht.
Sich auf das Essen konzentrieren, langsam und gründlich kauen, auf den Geschmack achten.
Das Essen wertschätzen, nur so viel aufladen, wie Sie essen zu können glauben.
Das sind alles Maßnahmen, durch die Sie Ihre Kalorienaufnahme reduzieren und schneller satt werden können (s. o.).
Eine Zusammenfassung der Auswege aus jener gefühlten Hoffnungslosigkeit, die den negativen Folgen von Nahrungsaufnahme anhaftet, könnte so aussehen:
Sie haben es geschafft: Sie haben Ihr Gewicht langsam, über sechs Monate runtergefahren, Sie leben überwiegend vegetarisch und fühlen sich total wohl damit. Dann gehen Sie mit einer Freundin in dieses angesagte Lokal und bestellen nach ausführlichem Studium der Speisekarte das vegetarische Menü, das Ihnen wirklich den totalen Geschmacksgenuss vermittelt, zumal Sie finden, dass alles viel besser schmeckt, seit Sie diese tierischen Fette vermeiden.
Abends, als Ihre Aufmerksamkeit schon vor Ihnen am einschlafen ist, drängelt sich ein Wort von dieser fancy Szenespeisekarte penetrant in den Vordergrund: … Burger!
Jählings wird Ihnen klar, dass Sie jetzt nichts so begehren wie einen dieser satten, frischen, dampfenden und duftenden Burger, den Sie am Nebentisch zwar gesehen, aber schnell wieder verdrängt, ausgelöscht, aus Ihrer Wahrnehmung getilgt hatten! Nach Vertilgen wäre Ihnen jetzt schon … Sie sind schließlich doch eingeschlafen, aber dieser Burger verfolgt Sie seitdem. Sie stellen sich vor, dass Sie wieder in dieses Lokal wollen, diesmal alleine, keiner soll Zeuge werden, wenn Sie diesen Burger bestellen und nicht nur bestellen.
Krank? Machen Sie alles zunichte, wenn Sie schwach werden?
Weder noch. Das ist Ihre subversive Seite.
Ich erinnere mich an einen amerikanischen Zen-Meister, der nach Deutschland zu Besuch kam und über seine Eindrücke in der wunderbaren deutschen Stadt berichtete. Er war sehr angetan von allem, was er erlebt hatte; Zen-Meister halt, ganz im Hier und Jetzt. Gegessen habe er auch gut. Jeder spitzte die Ohren, welches vegetarische Restaurant der Meister wohl den staunenden Zuhörern offenbaren würde. Er sagte: Besonders habe er diesen fantastischen Burger genossen, so etwas Gutes hätte er in den USA noch nicht bekommen!
Nehmen Sie sich ein Beispiel an ihm, und füttern Sie hin und wieder auch Ihre subversive Seite.
Ich sagte es ja bereits: Zen-Buddhisten sind schlank.
Alkohol ist kein Grundnahrungsmittel
Aber trotzdem können wir zunächst mal im Zusammenhang mit dem Thema Übergewicht anfangen. Ihnen sollte klar sein, dass Sie über alkoholhaltige Getränke ganz schön Kalorien zu sich nehmen:
1 Glas (0,3 l) Bier | 129 |
1 Hefeweizen | 215 |
1 Glas (100 ml) Weiß-/Rotwein | 67 |
Whisky 4 cl | 100 |
Klarer Schnaps 2 cl | 42 |
Nicht zu vernachlässigen! Schwere Alkoholiker essen kaum noch normale Nahrung, sondern decken fast ihren gesamten Kalorienbedarf über den Alkohol. Das wird ihnen nicht selten zum Verhängnis, weil sie auf diese Weise in einen Mangelzustand an lebenswichtigen Vitaminen geraten, die man sonst, ohne es zu merken, selbstverständlich mit der Nahrung aufnimmt.
Das ist nicht Ihr Problem. Okay. Sie trinken regelmäßig zum Essen Wein, Bier, danach den Grappa, je nach Neigung und Stimmung. Das macht dann um die 400 Kalorien. Dafür sparen Sie an den Kartoffeln. Alles klar.
Nein, leider noch nicht.
Alkohol ist toxisch, also giftig. Mit der Wahrnehmung dieser Information tun sich vor allem die Gourmets schwer, während Schüler das bei einer Informationsveranstaltung über das »Komasaufen« schnell begriffen haben. Auch der fruchtige Weißwein und der tolle Rote, samtig, Johannisbeeren-Aroma mit dunkler Schokolade und diesem grandiosen Abgang, sind toxisch. Größere Mengen Alkohol erhöhen das Risiko für verschiedene Krebsarten, vor allem im Mund- und Rachenbereich und in der Speiseröhre, bei Frauen auch für Brustkrebs.
In großen Mengen ist Alkohol giftig für Herz, Lunge, Leber, Gehirn, um nur die wichtigsten Organe zu nennen, die durch Alkohol geschädigt werden können. Wie viel Sie von dieser Toxizität merken, ist individuell sehr unterschiedlich, giftig ist der Alkohol trotzdem. Früher konnte ich allein an einem netten Abend mit guten Freunden auch mal mehr als eine Flasche guten Rotwein wegputzen; wenn ich das heute versuche, kann ich den nächsten Tag vergessen.
Wenn Sie regelmäßig angetrunken sind – bedoodelt, beschwippst, angeheitert wird das umgangssprachlich gern verharmlost –, betreiben Sie nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) Alkoholmissbrauch. Anders ausgedrückt: Sie schädigen Ihren Organismus in Maßen. Wenn Sie im (Be-)Trinken maßlos werden, nennt das die ICD10 Alkoholabhängigkeit.
Wann sind Sie alkoholabhängig? Wenn Sie täglich Ihr Quantum Alkohol brauchen, um keine Entzugssymptome (Zittern, Schwitzen, Pulsjagen, Angst …) zu bekommen. Sie haben dann eine Alkoholtoleranz entwickelt. Das heißt nicht etwa, dass Sie toleranter wären, ganz im Gegenteil! Nein, Sie brauchen, Sie »tolerieren« also mehr Alkohol, um den gewünschten Effekt der Beruhigung oder Entspannung, des »Runterkommens« oder was Ihre persönlichen Wunscheffekte sind, zu erreichen, also vier Bier statt zwei, aber beim Bier bleiben Sie in dieser Phase sowieso nicht mehr lange.
Wenn Sie abhängig sind, kommen Sie aus dem körperlichen und psychischen Alkoholgefängnis nicht mehr ohne stationäre (!) ärztliche Behandlung raus – auch wenn aus der Welt der schönfärbenden Mythen immer mal wieder die Geschichte von dem Onkel herüberklingt, der täglich eine Flasche Wodka gekillt hatte und trotzdem von einem Tag auf den anderen damit aufhörte.
Alkoholentzug ist trotz der Segnungen der Medizin nach wie vor eine ziemlich lebensgefährliche Angelegenheit, weiterzutrinken ist lebensverkürzend beziehungsweise tödlich – also auch keine überzeugende Aternative.
Übrigens: Menschen, die regelmäßig Alkoholexzesse zelebrieren, brauchen, selbst wenn sie vollkommen nüchtern leben, ungefähr ein Jahr, um die Hirnleistung vor dem Alkohol – wann war das noch mal? – wieder zu erreichen.
Ich erlaube mir hier die Behauptung, dass Alkohol in der Form von Wein, Bier, Schnaps niemals zugelassen worden wäre, hätte man ihn einer Zulassungsstudie unterzogen, wie sie bei Medikamenten üblich ist: viel zu gefährlich und nicht kontrolliert zu handhaben.
Und ich gebe es zu: Ich bin Psychiater und, was den Alkohol angeht, befangen. Fünf Millionen Menschen in Deutschland sind schwer alkoholkrank, ruinieren ihre Gesundheit und ihr Leben und meistens auch noch das Leben ihrer Angehörigen, weil sie nicht vom Alkohol wegkommen.
Ich selber trinke gerne hin und wieder ein Glas Bier oder Wein und habe in meiner Jugend sicher mehr getrunken. Beim Alkohol gibt es also offenbar zwei Gruppen von Menschen: diejenigen, die ihn genießen können, und diejenigen, die daran zugrunde gehen.
Aber so einfach ist die Geschichte nicht.
Auch für diejenigen, die Alkohol genießen können, weil sie nicht abhängig werden, ist der Alkohol problematisch, denn, wie Sie gerade gelesen haben, verkürzt er Ihr Leben – es sei denn, Sie trinken ihn in einer bestimmten Altersstufe in genau definierten Mengen; dann, und nur dann wirkt er lebensverlängernd.
Der Wissenschaftsjournalist Bas Kast zitiert »Hunderte von epidemiologischen Studien aus den unterschiedlichsten Weltregionen, die konsistent darauf hinweisen, dass leichter bis moderater Alkoholkonsum speziell das Herz-Kreislauf-Risiko senkt«35. Aber Sie müssen genau auf diese Daten schauen, die an 2 Millionen Briten gewonnen wurden: Der positive Effekt ist bei Frauen an eine tägliche Alkoholmenge von 12 Gramm, bei Männern an das Doppelte gebunden. 12 Gramm entsprechen etwa 120 ml Wein oder 0,33 l Bier. Ein kleines Bier am Abend? Ein Patient, der heute ohne Alkohol lebt, sagte mir, so was habe er früher »weggeatmet«, bevor er überhaupt zu trinken begonnen habe.
Noch komplizierter wird die Geschichte, wenn Sie sich klarmachen, dass diese Alkoholmenge Ihnen nur ab einem Alter von fünfzig bis sechzig etwas bringt, wenn Sie ein nennenswertes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben, und nicht, wenn Sie jünger sind.
Was also sollten Sie angesichts dieser verrückten Datenlage tun?
Wenn Sie über 60 sind und nicht an einer Alkoholabhängigkeit leiden, können Sie maßvoll Alkohol trinken – nicht eine Maß voll, sondern die oben für Frauen beziehungsweise Männer angegebenen Mengen, die Ihnen wahrscheinlich sehr gering vorkommen werden.
Rauchen sollten Sie bitte lassen!
Das »bitte« stammt aus dem Buch von Cameron Diaz36. Dass diese toughe Dame von den katastrophalen Folgen des Rauchens so betroffen ist, dass sie bittet, hat mich derart verblüfft, dass ich das »bitte« übernommen habe. Das Buch handelt davon, wie man lange lebt; das kann man in aller Regel nicht, wenn man raucht. In aller Regel heißt auch, dass es immer wieder sehr vereinzelte Menschen gibt, die dieser Regel nicht entsprechen. Schon wieder Helmut Schmidt. Gibt es sonst irgendwas an Ihnen, das Helmut Schmidt gleicht?
Rauchen ist ein »Altersbeschleuniger«, wie es in dem sehr alters-informativen Buch Tag für Tag jünger37 genannt wird. Denn Rauchen begünstigt nicht nur Herz- und Gefäß-Krankheiten, erhöht die Wahrscheinlichkeit für Krebs-Erkrankungen aller Art, ruiniert Ihre Lunge, sondern macht Sie auch äußerlich älter, indem es die sichtbaren Alterungsprozesse der Haut, vor allem die Faltenbildung, begünstigt. Impotent macht es auch. Rauchen wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Ihr Leben verkürzen: Mehr als zehn Zigaretten pro Tag reduzieren bei Männern die Lebensdauer um 9,4 und bei Frauen um 7,3 Jahre. Männer! Mit sechzig statt mit siebzig, oder Frauen mit siebzig statt mit achtzig! Rauchen wird das Sterben ziemlich unangenehm machen. Selbst Fachleute, die Empfehlungen von Ärzten, das Leben zu ändern, ziemlich kritisch sehen38, können dem Rauchen nichts, aber auch gar nichts Positives abgewinnen. Über Blutzuckerspiegel, Cholesterin und Übergewicht kann man mit Recht streiten. Über Rauchen nicht.
Es ist ziemlich widersinnig, in einem Buch über gutes Altern ein Kapitel über das Rauchen schreiben zu müssen, denn die Notwendigkeit, mit dem Rauchen aufzuhören, besteht natürlich nicht erst im Alter, sondern in der Jugend – je eher, desto besser.
Sie wären besser dran, wenn Sie schon mit zwanzig nicht mehr geraucht hätten. Denn seitdem haben Sie jede Menge fieser Probleme eingesammelt. Und trotzdem gibt es Risiken, wenn Sie mit 55 aufhören, weil Ihr bester Freund am Lungenkarzinom gestorben ist. Risiken? Ja, natürlich! Wenn Sie sich bestimmte, abhängig machende Verhaltensweisen angewöhnen, ist es schwierig bis unmöglich, damit aufzuhören, und es hat auch Risiken.
Das Risiko besteht nicht darin, dass die 3000 bis 5000 schädlichen Inhaltsstoffe einer Zigarette nicht mehr auf Ihren Organismus wirken. Das ist der richtige Ansatz, total! Aber Nikotin & Co. haben durch den jahrelangen Missbrauch in Ihrem Gehirn so massive Veränderungen verursacht, dass Sie jede Menge Scherereien bekommen können, wenn Sie aufhören.
Zum Beispiel: Ein 55-jähriger Mann kam mit einer schweren Depression stationär in die Psychiatrie. Sein Freund war an Lungenkrebs gestorben, und ihn hatte daraufhin die Panik gepackt. Sechs Wochen, nachdem er abrupt mit dem Rauchen aufgehört hatte, bekam er nichts mehr auf die Reihe, konnte nicht mehr arbeiten, nicht mehr schlafen, die Stimmung war katastrophal, der Antrieb auch, und seine Frau brachte ihn in die Klinik, weil er lebensmüde Gedanken äußerte. In langen Gesprächen arbeiteten wir heraus, dass er nichts mehr hatte, was ihm Freude machte. Ganz einfach nichts. Seiner Frau konnten wir das gar nicht sagen. Wie kam das? Er war genügsam und brauchte nicht viel, war gewohnt, hart zu arbeiten. Auch genügsame, hart arbeitende Menschen kommen hin und wieder nicht ohne Belohnung aus, irgendwas Schönes, was mit unmittelbarem Wohlgefühl verbunden ist. In der Verhaltenspsychologie nennt man diese Belohner »Verstärker«, weil sie das an sie gekoppelte Verhalten verstärken. Ich fragte ihn nach seinem. Sie brauchen nicht zu raten, es gab nur einen Verstärker: die Zigaretten! Am Morgen und beim Arbeiten, zum Kaffee und nach dem Essen, und vor allem immer, wenn er eine kleine Arbeitspause machte. Letztere gab es reichlich, denn er war Programmierer und musste mit voller Konzentration arbeiten. Aber die Zeitspanne, die man mit voller Konzentration arbeiten kann, liegt bei zwanzig Minuten. Eine Zigarette – und schon konnte er sich wieder mit voller Power auf den Rechner stürzen.
In unserem therapeutischen Dialog arbeiteten wir heraus, dass Zigaretten in fast idealer Weise als Verstärker geeignet sind. Man weiß, dass selbst kleine Dosen Nikotin zu einem Dopaminanstieg führen, mit kleinen Glücksgefühlen einhergehen und nahezu unbegrenzt wiederholt werden können. Und sie bessern die Konzentration. Dazu kommt der Geschmack, der als angenehm empfundene Geruch beim Anzünden, das Ritual des Auspackens oder selber Drehens. Der abrupte Verzicht, so vernünftig er aus präventiv-medizinischer Sicht war, führte bei unserem Patienten zu einem kompletten Verlust seiner Verstärker.
Wenn Sie das durchhalten wollen, auf alles verzichten, was Sie an Belohnern haben, brauchen Sie einen Charakter wie ein Felsblock. Den haben Sie wahrscheinlich nicht, und er hatte ihn auch nicht. In den folgenden drei Jahren wurde er immer wieder schwer depressiv und öfters auch suizidal, er wollte nicht mehr leben. Hätte man ihn vor dem Entschluss, mit dem Rauchen aufzuhören, medizinisch aufgeklärt, so hätte man dieses Risiko erwähnen müssen. Als sein Therapeut durchlief ich immer wieder Phasen, in denen ich mich fragte, ob der Anstieg des Suizidrisikos die Abnahme des Lungenkrebs-Risikos aufwiege. Dazu kommt, dass nach medizinischer Einschätzung das Lungenkrebs-Risiko bei einem starken Raucher erst nach zehn bis fünfzehn Jahren wieder auf das Level eines Nichtrauchers absinkt. Die Atmung bessert sich nahezu sofort, das Herzinfarkt-Risiko wird nach fünf Jahren wieder normal. Sie werden also eine Durststrecke vor sich haben.
Trotzdem gibt es keine Alternative zum Aufhören, wenn Sie mit sechzig immer noch rauchen. Auch wenn Sie eine Frau sind, denn der Östrogenschutz ist mit der Menopause passé. Wenn Sie eine Chance haben wollen, müssen Sie es richtig angehen. Was können Sie tun? Wie können Sie sich motivieren?
Fangen Sie mit einer kleinen Verhaltensanalyse an: Schreiben Sie auf, wann Sie rauchen, zu welchen Zeiten, in welchen Situationen. Versuchen Sie sich zu erinnern, wann Sie die Zigarette besonders dringend brauchen, wann der Belohnungseffekt besonders stark, eigentlich unverzichtbar ist. Überlegen Sie sich Alternativen. Was kann Ihnen helfen? Statt einer Zigarette jedes Mal ein Eis oder einen Lolli zu essen, ist keine wirkliche Alternative.
Machen Sie sich klar, dass die ersten Wochen hart sein werden und dass es auch danach immer wieder Momente geben wird, in denen Sie plötzlich ein ganz starkes Verlangen bekommen. Für jeden dieser Momente müssen Sie sich eine Alternative ausdenken. Ein wichtiger Aspekt ist zum Beispiel: Zeit gewinnen! Wenn ein paar Minuten vergangen sind, ist der stärkste Drang schon weg. Wichtig ist auch, dass Sie an sich glauben, sich gewiss sind, dass Sie etwas schaffen können.
Sie brauchen unbedingt eine positive Motivation; nur weil etwas schlecht ist, werden Sie nicht damit aufhören. Also lassen Sie die wunderbaren Perspektiven ohne Zigaretten auf sich wirken:
Sie werden wieder frei atmen, Sie kommen wieder die Treppe hoch, dieser Gestank in der Wohnung, der Mundgeruch werden kein Thema mit Ihrer Partnerin/Ihrem Partner mehr sein.
Sie kennen die Risiken und handeln umsichtig: Risiken gehören zum Leben, und warum sollten Sie nicht damit umgehen können? Depressionen kann man behandeln.
Falls Sie noch arbeiten: Möglicherweise nimmt Ihre Arbeitsfähigkeit ab; klar, das ist nicht so einfach. Aber bei Licht betrachtet hat auch das Vorteile, denn Sie haben ohnehin zu viel malocht, für den Betrieb, nicht für Sie, das ist Ihnen schon lange klar. Ach so, Ruhestand! Den sollten Sie sich nicht noch vergiften.
Informieren Sie sich, welche Unterstützungsmaßnahmen es gibt, Entspannungstechniken, Meditation, vielleicht auch Hypnose: Es ist Ihr Entzug! Sie können Ihren Weg finden. Nikotinpflaster sind ein Übergangsweg.
Finden Sie heraus, was in Ihrem Leben toll ist, und kultivieren Sie das! Wenn Sie den Dopamin-Flush toppen wollen, müssen Sie sich schon etwas einfallen lassen. Schaffen Sie das?
Nicht nur ich wäre stolz auf Sie!
Wir haben Angst, es könnte uns schaden, wenn andere unser Alter erfahren. Eine 86-Jährige macht sich fünfzehn Jahre jünger; Bemerkungen wie »über das Alter spricht man nicht« oder »Sie sehen locker zehn Jahre jünger aus!« gehören zum Alltag, wenn man nicht mehr zwanzig ist. Niemand sagt zum Coach: »Erfreulicherweise sind Sie schon siebzig, denn jetzt haben Sie bestimmt mehr Erfahrung, die mir zugutekommt, als vor zehn Jahren.«
Das Aussehen steht hoch im Kurs; darüber nimmt man uns wahr. Und wenn Sie Ihre Umwelt über Ihr Alter im Unklaren lassen wollen, dann können Sie Ihre Fassade verschönern. Simone de Beauvoir beschreibt, dass sich auch Goya, der so unbestechliche Maler der Realitäten, als 70-Jähriger wie einen 50-Jährigen malte.
Veränderungen Ihres Erscheinungsbildes wirken sich darauf aus, wie andere Sie wahrnehmen, und, indirekt, auch auf Ihre Selbstwahrnehmung: Die anderen reagieren auf eine Frau mit ihrer früheren Haarfarbe anders als auf eine, die inzwischen ergraut ist; das gilt genauso für einen Mann mit Altersflecken und -warzen. Wie man Ihnen begegnet, beeinflusst Ihr Befinden, obwohl es natürlich nicht der einzige Einflussfaktor ist. Für die Rückmeldung Ihres Spiegleins an der Wand gilt das Gleiche.
Die Auswahl an Möglichkeiten zur Selbstverschönerung ist nahezu unbegrenzt: beginnend bei der Kosmetik, beim einfachen Färben der Haare oder Schminken des Gesichts, über das Auffüllen der Haare durch Haarersatz oder Perücke, das Entfernen von alterstypischen Hautveränderungen wie zum Beispiel Altersflecken, das Auffüllen von Falten und Lippen, das Verhindern weiterer Faltenbildung durch Botulinumtoxin (bekannt als »Botox«) bis hin zu Eingriffen des ästhetischen Chirurgen.
Für all dies gilt:
Was kann der Dermatologe tun,damit die alte Haut schön bleibt?
Interview mit Dr. Ronald Hicks, Arzt für Dermatologiein Hamburg-Bahrenfeld
Was kann ich für eine schöne Haut im Alter tun?
Die richtigen Eltern aussuchen, Sonnencreme benutzen und nicht rauchen!
Die Hautalterung wird durch drei Komponenten beeinflusst: durch die Genetik, die Sonne und den Zigarettenrauch. Zur Genetik gibt es außer Akzeptanz keine Alternativen, manche Menschen neigen eben stärker als andere zur Faltenbildung, Menschen schwarzafrikanischer Herkunft zum Beispiel weniger als Kaukasier.
Ansonsten bleibt die Frage, was wir unserer Haut zumuten: Starkes Rauchen fördert die Faltenbildung massiv, und die UV-A-Strahlen dringen in die Haut ein und schädigen das Bindegewebe, das für die Straffheit der Haut verantwortlich ist. Die beste Anti-Aging-Creme ist also die schon seit der Jugend aufgetragene Sonnencreme, Faktor 50 bis 30. Der Kosten-Nutzen-Faktor ist da auch optimal. Wenn Falten einmal da sind, lässt sich kosmetisch nichts mehr dagegen machen. Ein großzügiger Gebrauch von Sonnencreme stellt gleichzeitig eine effektive Schutzmaßnahme gegen den Hautkrebs dar.
Aber wenn man in die Werbung schaut, gibt es ja noch viel, viel mehr!
Wenn das Kind erst mal im Brunnen und die Haut vorgealtert ist, sind die Möglichkeiten eingeschränkt: Fruchtsäure- oder Vitamin-A-haltige Peelings und Cremes haben einen glättenden Effekt auf die oberen Hautschichten und machen so eine glatte Haut. An die tieferen Schichten, also den Entstehungsort der Falten, kommt man damit nicht ran.
Da gibt es doch Cremes und, als letzten Schrei, Trinklösungen mit Hyaluronsäure, auf Letztere schwören unter anderem Celebrities wie Veronica Ferres!42
Na ja, vielleicht wirken die auf die Darmfalten, in der Haut bewirken sie definitiv nichts!
Die nächste Stufe der Faltenbehandlung sind Filler, dazu gehört auch die Hyaluronsäure und Botox, beides muss man in die Haut spritzen.
Bei den Fillern geht man davon aus, dass beim Alterungsprozess Volumen verloren geht, wodurch Falten entstehen, und dass diese Falten verschwinden, wenn man das Volumen wieder auffüllt. Hyaluronsäure kommt auch natürlich in der Haut vor und bindet Wassermoleküle. Die einzigen Nebenwirkungen sind blaue Flecken, wenn bei der Injektion ein kleines Blutgefäß getroffen wird, und kleine Knubbel, die aber wie die blauen Flecken nach kurzer Zeit verschwinden. Dieses Verfahren kann man noch verfeinern, indem man Gelee unterschiedlicher Viskosität verwendet.
Beim Botox (Botulinumtoxin) kommt man als Neurowissenschaftler etwas ins Grübeln, weil das ja eines der toxischsten Nervengifte ist!
Die Dosis macht es. Botox wirkt so, dass es die Muskeln lähmt, die Falten machen, zum Beispiel die Querfalten der Stirn oder die Zornesfalten. Die Nasolabialfalten, die von der Nase zu den Mundwinkeln ziehen, entstehen nicht durch Muskelaktivität und können deswegen auch nicht durch Botox beeinflusst, sondern müssen unterfüttert werden.
Viele Frauen glauben, dass es etwas bringt, wenn sie ihre Lippen voller machen lassen. Wie geht das?
Das macht man mit Fillern, man füllt das verloren gegangene Volumen auf. Man kann auch versuchen, Falten um den Mund mit Botox zu behandeln, wenn jemand die Lippen schürzt und sich dadurch kleine Fältchen bilden. Das Problem ist, dass eine Lähmung der feinen Muskeln um den Mund eben nicht nur die Falten, sondern auch das Essen und das Sprechen beeinflussen. Da kann es schon passieren, dass der Dame die Suppe aus dem Mund läuft oder dass die Aussprache schwer verständlich wird.
Gefahren von Botox?
Wenn man den falschen Muskel erwischt, hängt schon mal das Oberlid, aber das vergeht relativ schnell wieder. Wie überhaupt die Wirkung der Filler und von Botox wieder abklingt, innerhalb von vier bis sechs Monaten.
Wenn man im Internet nachliest, kommt den Lasern ein große Bedeutung zu. Was können die?
Mit Lasern kann man Alterspigmentflecken – letztlich auch eine Sonnenfolge – und seborrhoische Warzen wegbekommen, und man kann auch Faltenbehandlung machen, indem man durch Wärmeeinwirkung das Bindegewebe strafft. Auch Haarentfernung ist möglich, indem die Haarwurzeln durch Hitze verödet werden.
Lassen sich damit nicht auch Tätowierungen entfernen?
Im Prinzip ja, aber das ist ein dornenvolles Geschäft! Denn man muss für jedes Pigment einen in der Lichtfrequenz passenden Laser finden, bei größeren Tätowierungen kann die Entfernung Monate dauern; ganz schmerzfrei ist das nicht.
Bleibt die sogenannte Schönheitschirurgie.
Wenn die Haut zu schlaff ist, kann man das nur korrigieren, indem man etwas Haut wegnimmt und so eine Straffung erreicht, zum Beispiel bei hängenden Lidern. Im Gegensatz zu den vorher genannten Methoden, die alle nach einigen Monaten abklingen und gegebenenfalls wiederholt werden müssen, sind chirurgische Eingriffe irreversibel – diese Veränderungen bleiben für immer.
Falls man eine solche Korrektur vornehmen lässt, sollte man also sicher sein, dass der schneidende Kollege sein Handwerk versteht.
So ist es. Auch wenn ein Eingriff gut gemacht wird, ist die frühere Person oft nicht wiederzuerkennen. Ein Beispiel ist die Sängerin Cher; die wurde sicher von einem hervorragenden Chirurgen operiert, aber sie sieht völlig anders aus als vorher.
Ist die Fettabsaugung ein sinnvolles Verfahren?
Sie kann bei jüngeren Menschen mit zu viel Fett auf Bauch und Hüften sinnvoll sein. Im Alter ist sie eher kontraproduktiv, weil das Problem ja meistens in der Volumenminderung liegt. Ein Kollege hat einmal gesagt, die optimale, vom Betroffenen selbst durchzuführende Antifaltenmaßnahme sei die sogenannte »Autolipoaugmentation« – bei jedem Büfett voll zuschlagen!
Schönheitsdermatologie kostet?
Das kann man sagen. Berechtigterweise werden diese Kosten nicht von der Krankenkasse übernommen, die Substanzen kosten nicht wenig, und da es sich nicht um eine Heilmaßnahme handelt, wird für diese Eingriffe auch noch Umsatzsteuer fällig. Da man die meisten Eingriffe nach einem halben Jahr wiederholen muss, sollte man sich überlegen, wie viel Schönheit der Geldbeutel hergibt.
Bleibt die Hautkrebsvorsorge.
Zunächst ist das mal keine Vorsorge, sondern eine Früherkennungsmaßnahme. Denn man verhindert ja nichts, sondern versucht, den Krebs rechtzeitig zu erkennen.
Die Hautärzte sind ja etwas ins Gerede gekommen, weil sie angeblich zu viele Naevi**** entfernen, die sich als harmlos erweisen.
Das sehe ich nun relativ entspannt; denn wenn ein Pigmentmal sich nach der Entfernung als harmlos erweist, ist kein großer Schaden entstanden. Falsch positive Befunde werden durch die Histologie ausgeschlossen. Wenn aber ein Melanom, weil ich es nicht beachte, von einem halben Millimeter auf einen Millimeter anwächst, nimmt das Metastasierungsrisiko doch deutlich zu. Und der Schaden ist viel größer.
Gesichts-Yoga als Antifaltenmaßnahme?
Überzeugt mich nicht!
Die Wir-Perspektive oder:gute Beziehungen, schlechte Beziehungen
Was brauchen wir Menschen am dringendsten?
Kontakt zu anderen Menschen, Austausch, Freundschaft, Liebe.
Ohne Bestätigung und Unterstützung können wir kaum leben. Aber Beziehungen bringen uns noch viel mehr: Im Kontakt mit anderen können wir unseren Horizont erweitern und immer wieder eine andere Sicht von der Welt gewinnen.
Das Besondere an uns Menschen ist unsere Fähigkeit zur gemeinsam geteilten Aufmerksamkeit, zum geteilten Interesse, zur shared attention:
»Sie macht das menschliche Weltverhältnis so einzigartig. Wenn ich auf diesen Stuhl zeige – oder eine Antilope –, nehmen wir sie beide wahr. Und beide natürlich anders. Und damit ist schon Entscheidendes geschehen. Denn damit begreife ich ja schon – sonst würde meine Zeigegeste ja gar keinen Sinn machen –, dass meine eigene Perspektive auf die Welt nur eine unter anderen ist. Nach dem Motto: ›Oh, ich sehe die Welt so, und du siehst sie so‹.«43
Diese neue Perspektive kann unsere Weltsicht erweitern und auch hilfreich sein, um einen Ausweg aus einer Sackgasse zu zeigen. Die eigentliche zwischenmenschliche Errungenschaft wäre also, dass uns andere erst verwundern, vielleicht irritieren, dann unser Staunen und schließlich unser Nachdenken auslösen. Ich finde das sehr schön, weil sich darin eine andere Facette von Menschlichkeit zeigt als die gegenwärtig so hoch im Kurs stehende Abgrenzung gegen alles Unbekannte!
Nach Auffassung des Anthropologen Michael Tomasello44 entwickelt sich aus dieser Fähigkeit die emotional-kognitive Grundlage der »Wir-Haltung«: von oben auf Situationen schauen, in denen es um den anderen und um mich geht, nicht aus der »Ich«- oder »Er«-, sondern aus einer neuen, der »Wir«-Perspektive! So lässt sich Egoismus zwanglos überwinden, nicht aus dumpfem moralischem Druck – du musst dich wegen mir zurücknehmen –, sondern aus Neugier, Interesse am anderen und seiner Sichtweise auf die Dinge.
Das taugt für Begegnungen, für Freundschaften und für Liebesbeziehungen.
Freundschaft ist ziemlich beliebig geworden. Dabei vergessen wir, dass dieses besondere Verhältnis zweier Menschen in der Vorgeschichte wahrscheinlich lebensrettend gewesen ist.
Was machen denn Ihre Freundschaften, jetzt mit sechzig, siebzig oder achtzig? Sind sie ziemlich selten geworden? Das geht wahrscheinlich schon länger so. Freundschaften entstehen sehr oft in der Kindheit und Jugend, gelegentlich auch noch in den ersten Berufsjahren. Aber diese Beziehungen erhalten sich nicht von selbst. Räumliche Trennungen, berufsbedingt oder wegen einer Partnerschaft, andere Wichtigkeiten drängen sich in den Vordergrund. Karriere und/oder Kinder setzen andere Schwerpunkte, die uns absurderweise vergessen machen, was uns selbst in Kindheit und Jugend wichtig war. Wir verstehen dann nicht mehr, was wir früher an der oder dem fanden. Wiedersehen bei Klassentreffen offenbaren mehr Entfremdung als Vertrautheit.
Kränkungen wiegen schwerer. Kinder finden leicht einen Ausweg, wenn sie sich gestritten haben, Erwachsene viel seltener. Die Tochter fragt die Mutter: Warum triffst du dich denn gar nicht mehr mit Marion, Annette, oder Esther, ihr hattet doch immer euer regelmäßiges Kaffeekränzchen, eure Bridge-Runde oder habt zusammen gegolft? Die Mutter will erst nicht raus mit der Sprache, druckst herum und erzählt schließlich, dass es diesen blöden Streit um das bessere Rezept der Mousse au Chocolat gegeben habe; da hätten die beiden sich gegen sie verbündet und Sachen gesagt, über die sie nicht hinwegkomme. Und nicht wolle. Im nachtragenden Beleidigtsein hat sie an eines nicht gedacht: Was bleibt, ist Einsamkeit. Für Menschen gibt es wenig Schlimmeres.45
Was können Sie tun?
Wenn Sie Freundschaften für ein wichtiges Element in Ihrem Leben halten, müssen Sie ihnen eine Chance geben. Was war denn besser an den Freundschaften aus Kindheit und Jugend? In diesem Alter hatten Sie Zeit, jede Menge Zeit, um sie miteinander zu verbringen, tolle und weniger tolle Erfahrungen miteinander zu machen und sich aus vielen, sich wiederholenden Begegnungen einen robusten Schatz an Erinnerungen zu schaffen, auf den Sie beide in schwierigen Zeiten zurückgreifen konnten. Sie konnten zusammen in eine Welt eintauchen, die gut war, weil es so viele »Wir«-Situationen gab. Die haben Ihnen Kraft und Widerstandsgeist für das schwierige Erwachsenenleben gegeben.
In Kindheit und Jugend war Versöhnung noch leichter zu bekommen als später, weil Ihr Ego noch nicht so aufgeblasen war, dass es vor lauter Wichtigkeit das Verzeihen verlernt hat. Verzeihen klingt so großartig; dabei war es oft ganz einfach, weiterzumachen und nicht über Schrammen nachzudenken. Freundschaften konnten von diesem Vorschuss zehren, wenn es mal schwierig wurde.
Den später geschlossenen Freundschaften fehlt die gemeinsame Zeit, die Sie für Erfahrungen nutzen können, um sich aufeinander einzulassen. Da ist der Job, Ihr Partner … Ich verstehe schon. Aber sind das nicht Prioritäten, die Sie setzen, setzen sollten?
Und jetzt passiert es oft, dass Sie dem Beharren auf Ihrer Kränkung mehr Raum geben als dem Versuch zur Versöhnung? Sie füttern Ihre Monster! Geheuer sind Ihnen die nicht, aber es liegt eine so klammheimliche, manchmal sogar lustvolle Befriedigung darin, in Ihren Wunden herumzubohren.
Anhaften nennt man das, im Guten wie im Bösen. Eine Ursache des Leidens in der Welt, meinen zumindest die Buddhisten.
Dahin gehört auch der Umgang mit dem Tod der Freunde. Mit zunehmendem Alter sterben Menschen häufiger. Vielleicht merken Sie erst beim Lesen der Todesanzeige, dass wieder eine Chance auf ein Treffen dahingegangen ist. Aber dass diese Chance vorbei ist, heißt ja noch nicht, dass Sie sich auch die Chance versagen müssten, diesen Verlust zu betrauern. Chance zum trauern? Was soll denn das für eine Chance sein?
Trauern fällt ja niemandem leicht. Aber schon die Überlegung, ob man sich das Trauern erlauben oder es sich verkneifen soll, ist eine ziemlich unsinnige Errungenschaft unserer westlichen Industriegesellschaft. Das Gefühl der Traurigkeit entsteht ganz von selbst, wenn Sie sich einen Verlust eingestehen und sich nicht dagegen wehren. Dann kommen Ihnen ganz von selbst die traurigen Gedanken, der Druck auf die Tränendrüsen – Sie heulen. Furchtbar? Quatsch! Heulen heilt! Denn Trauer ist für das Verarbeiten von Verlusten absolut notwendig: Sie konfrontieren sich mit den Erinnerungen an die Verstorbenen und werden traurig, fangen an zu weinen, und, wenn Sie sich das zugestehen, auch zu jammern. Wie lange das so geht? Das reguliert sich von selbst, wenn die Erinnerungen keine traurigen Gefühle mehr auslösen.
Dann kann das Leben weitergehen. Das ist Ihnen zu banal? Weil Sie keine Trauerkultur mehr haben. Je mehr wir Trauer aus dem Leben verbannen, desto mehr haften wir an Erinnerungen, die wir besser loslassen sollten.
Auf anhaften und loslassen kommen wir noch mal im Kapitel über Meditation.
Natürlich können Sie es schaffen, das Trauern zu vermeiden. Das menschliche Gehirn kriegt fast jeden Blödsinn hin. Aber das Vermeiden von Trauer hat unerfreuliche Folgen:
Also insgesamt keine sehr clevere Strategie. Trauen Sie sich zu trauern. Es geht vorbei.
Wenn Sie Kränkung und Angst vor Trauer überwinden, können Sie auch als alter Mensch Freundschaften pflegen und etwas davon haben. Mit Freunden etwas zu machen oder nur rumzusitzen, ein Glas Rotwein zu trinken, über das Wetter zu quatschen oder die guten Zeiten des SV 1860 München – dafür muss man nun wirklich älter sein! – ist toll. Einfach so.
Was für Freundschaften gut ist, passt oft auch für die Liebesbeziehung, die wahre Essenz unseres Lebens. Aber die vollzieht sich in einer anderen Kategorie. Was Sie schon daran merken, dass eine Liebesbeziehung sich fast nie in eine Freundschaft umwandeln lässt.
Was Michael Tomasello über Beziehung im Allgemeinen gesagt hat – blättern Sie ruhig noch mal zurück: »Sie macht das Leben einzigartig« –, wird in der Liebesbeziehung noch überhöht. Die Gefühle, vorausgesetzt, Sie haben das Fühlen noch nicht verlernt, übertreffen in ihrer Intensität alles, was es sonst so zu fühlen gibt. Sie bringen Ihr Leben zum Leuchten.
Aber nicht nur zum Leuchten. Liebe ist eines der Wundermittel, die Ihr Leben verlängern: Menschen in guten Beziehungen leben signifikant länger. Das gilt aber nicht für Paare, die sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen. Gut wäre also, wenn Sie rausfänden, wie das bei Ihnen aussieht.
Nun behauptet keiner, dass es leicht sei, eine Liebesbeziehung über längere Zeit, eine gute Ehe auf Dauer hinzukriegen. Das ist eine höchst anspruchsvolle Herausforderung. Wenn Sie sich das zu Herzen nehmen, sind Ihre Chancen auf eine gute Beziehung schon mal viel besser.
Es kommt Ihnen merkwürdig vor, in einem Buch über das Alter zu lesen, wie Liebesbeziehungen gelingen können. Gehören die nicht in eine ganz andere Lebensphase? Nö, gehören sie nicht. Liebe und Leben gehören zusammen. Liebe in der Jugend ist anders als Liebe im Alter, aber damit ist nichts über die Intensität und das Glück gesagt, die damit verbunden sind. Eine Besonderheit der Liebe in den Fünfzigern »plus« gibt es aber schon: Oft finden sich Paare dann in Zweierbeziehungen, die, wenn ich so sagen darf, ein bisschen Patina angesetzt haben, in denen beide verstohlen überlegen, wie die holde Zweisamkeit aus den Gleisen der Gewohnheit wieder in etwas wilderes Terrain geführt werden könnte. Das andere gibt es auch: nur noch Gewohnheit, die von einem oder beiden rigide kontrolliert und eingefordert wird. Wenn das die Sexualität betrifft, ist das Ende der Beziehung nicht weit.
Also was nun?
Gos und No-Gos für reifere Beziehungen:
War da nicht doch noch etwas?
»So habe ich an mir selbst in den letzten Jahren das allmähliche und schließlich vollständige Absterben des Sexualtriebs erlebt – die Träume eingeschlossen. Mir ist es sehr lieb so – als wäre ich endlich von einem Tyrannen befreit. Wenn Mephisto erschiene und mir die Wiedererlangung der sogenannten Virilität anböte, würde ich sagen: ›Nein, vielen Dank, daran liegt mir nichts, aber meine Leber und meine Lunge könntest Du kräftigen, damit ich mehr trinken und rauchen kann.‹«46
Sexualität!
Wie konnte ich erst so spät darauf kommen? Wenn Männer älter werden, kann doch tatsächlich bei ihnen die »Virilität« – kommt vom Lateinischen »vir«, der Mann – schwinden, wie dieses bemerkenswerte Zitat von Luis Buñuel belegt, der es im Alter von 82, ein Jahr vor seinem Tod, dem Schreiber seiner Erinnerungen diktierte. Bemerkenswert ist es deswegen, weil Buñuel im selben Buch schreibt:
»… hat mich, seit ich vierzehn war und bis in die jüngste Zeit das sexuelle Verlangen nie verlassen. Ein mächtiges Verlangen, fordernder sogar als der Hunger und oft schwerer zu stillen.«47
Bei anderen sind Libido und Potenz nicht mehr traulich vereint, was zu erheblichen Ängsten und Zweifeln am eigenen Ego, bis hin zur veritablen Depression, führen kann. Wieder andere erleben erfüllende Sexualität bis ins hohe Alter, und den Dritten fehlt ohne Sex gar nichts.
Es zeigt sich, dass es die Sexualität nicht gibt, sondern allenfalls »Sexualitäten«48: In seinem grundlegenden und sehr lesenswerten Buch betont Volkmar Sigusch immer wieder, dass kaum etwas so individuell ist wie sexuelle Neigungen. Bei Frauen und bei Männern.
Aber wenn die Potenz schwindet, gibt es doch Viagra & Co.! Das will richtig gebraucht werden, denn die Nebenwirkungen sind nicht ohne, und außerdem wirken die Wundersubstanzen nur auf die Potenz, nicht auf die Libido, denn die sitzt immer noch im Gehirn.
Folgendes Zitat lässt sich kaum übertreffen:
»Potente junge Männer, die Viagra probiert haben, sagen übereinstimmend lapidar: ›Es geht auch ohne.‹ Ältere mit nachlassender Potenz geben sich gerne begeistert, während ihre Ehefrauen nicht selten entsetzt sind, stundenlang die bereite Geliebte geben zu müssen. Uns bleibt, gebetsmühlenartig zu wiederholen: Keine Pille kann fehlende Anziehung oder Nähe, kann unbewusste oder tiefer reichende Konflikte aus der Welt schaffen. Es wäre ja zu schön, um wahr zu sein, wenn wir über Pharmaka oder Rauschdrogen verfügten, die fehlende Liebesbeziehungen ersetzten und gestörte Sexualbeziehungen reparierten.«49
»… während ihre Ehefrauen nicht selten entsetzt sind, stundenlang die bereite Geliebte geben zu müssen …« – dem habe ich wenig hinzuzufügen!
Aus der Vielzahl möglicher »Sexualitäten«, deren Ausgestaltung in der Partnerschaft, in der diese Verschiedenheiten aufeinandertreffen, jedem freigestellt sein muss, erlaube ich mir, auf die zwischen zwei Lebenspartnern abzuheben. Ihre wesentliche Grundlage ist die Wechselseitigkeit: Das Begehren des einen weckt das Begehren des anderen. Sexualität als ein Höhepunkt in Beziehungen, oft als das, was die beiden innig zusammenhält, aber eben auch tragisch trennen kann. Dieses Verständnis macht klar, dass das, was da sexuell zwischen zwei Personen entsteht, vergeht und wieder entsteht, eine Konsequenz der Begegnung dieser Personen ist, die sich im Idealfall immer wieder ereignet, wenn beide dafür offen sind. Es ist keine Konsequenz eines Anspruchs! Der Ausspruch »Das steht mir zu!« tötet Sexualität und Liebe. Punkt.
Diese drollige Idee mit dem Anspruch kommt wohl aus einer anderen Ecke: Sexualität, das körperliche Erleben der Sexualität ist unglaublich wohltuend, der Orgasmus ein Höhepunkt in vieler, aber eben auch in körperlicher Hinsicht. Jedes Mal, wenn ich das erlebt habe, kann ich mich ganz, heil, völlig in mir und im Hier und Jetzt fühlen. Dass sich Menschen so etwas Beglückendes wünschen, möglichst oft wünschen, ist verständlich und nachvollziehbar. Trotzdem, für Ansprüche ist da kein Platz. Ein sanfter Hinweis: Selbstbefriedigung ist nicht die schlechteste Alternative.
Bei dieser Betrachtungsweise wird klar, dass die Sexualität leidet, wenn die Beziehung leidet, verkümmert, keine Aufmerksamkeit mehr erfährt. Das passiert im Verlauf langer Lebensbeziehungen nur allzu oft.
Was können Sie also für Ihre Beziehung tun? Achtsam sein, hinschauen, wer das da eigentlich ist, der Ihnen Herzklopfen und andere körperliche Sensationen macht. Ausprobieren! Sexualität beruht auf Interesse, liebevoller Neu-Gier und ist keine Institution zur Erfüllung von alten Erwartungen. Wie alles, verändert sich auch Sexualität mit dem Älterwerden, aber sie wird nicht weniger spannend und erfüllend.
Sie kommen in Ihrer gar nicht so guten alten Beziehung nicht weiter? Gespräche ersticken schnell, Vertrautheit verschwindet, sobald Sie zartfühlend andeuten, dass die Liebe auch eine körperliche Seite hat.
Sie könnten es mit einer Paartherapie versuchen, die ist alterslos. Natürlich müssen Sie beide wollen.
Irgendwann kommen Sie zum Schluss, dass es nicht geht. Vielleicht ist dann doch Trennung angesagt. Mit 77? Ich hatte in meiner Psychotherapie-Ausbildung eine wunderbare Lehrtherapeutin, die sich mit 77 von ihrem Mann trennte. Nicht, weil sie einen anderen gehabt hätte, – nein, weil sie merkte, dass sie mit ihrem Mann nicht so sein konnte, wie sie sich ohne ihn erlebte.
Gut allein ist besser als schlecht zusammen.
* Das ist ein Zitat von Dr. Mallwitz, dem orthopädischen Leiter des Rückenzentrums am Michel in Hamburg, mit dem ich mich über Bewegung und Altersbeschwerden unterhalten habe.
** Mit Beweglichkeit meine ich nicht in erster Linie so etwas wie Gelenkigkeit, obwohl die im Alter auch abnimmt, sondern die Gesamtheit an Muskelkraft und -tonus, Ausdauer und Gleichgewicht.
*** Ein statistischer Zusammenhang ist gegeben, wenn eine Gruppe von Menschen bestimmte gemeinsame Merkmale haben, zum Beispiel Übergewicht, Diabetes Typ 2, Bluthochdruck oder Übergewicht mit Bauchbetonung und Darmkrebs. Das gemeinsame Auftreten dieser Merkmale sagt zunächst nichts darüber aus, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen diesen Merkmalen besteht, aber in vielen Fällen wurde diese Frage untersucht und hat tatsächlich zur Einsicht geführt, dass auch ein funktioneller Zusammenhang besteht. Zum Beispiel führt Gewichtsreduktion in der Regel zu einer Besserung von Diabetes und Bluthochdruck und oft auch von arteriosklerotischen Gefäßveränderungen.
**** naevus (»Muttermal«) ist die allgemeine Bezeichnung für eine umschriebene, gutartige Fehlbildung der Haut oder Schleimhaut, bei der normale Zellen oder Gewebe vermehrt, vermindert oder etwas ungleichmäßig vorkommen.