AltersLasten –Darüber sollten wir reden!

Sorgt euch nicht – über den Umgang mit Risiken

»Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib … Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?« (Matthäus 6,26)

Was für ein schöner Text! Aber nicht jedermanns Sache, wie man aus der Geschichte des Sprechers ersehen kann. Mit den Vögeln unter dem Himmel haben Sie es nicht so? Weil die ja auch immer weniger werden? Ein Hinweis, wie weit man kommt, wenn man alles dem himmlischen Vater überlässt?

Sie hingegen wollen sich schon sorgen, und hoffen ja durchaus, »Ihres Lebens Länge eine Spanne zuzusetzen«. Diese Strategie hat bisher gar nicht so schlecht geklappt, denn die allgemeine Lebenserwartung ist seit Jesu Zeiten gewaltig angestiegen. Sie wollen sich also sorgen, vor allem im Alter und zumindest um Ihre Gesundheit. Scheint logisch, denn mit dem Alter wächst auch Ihr persönliches Risiko, krank zu werden. Ist das so?

Ich möchte Sie gerne anregen, ein wenig mitzudenken: Was bedeutet Sorge um die Gesundheit konkret? Denn der Umgang mit Risiken und Chancen hat eher mit Nachdenken als mit Wissen zu tun.

Das große Risiko des Alters ist natürlich die Demenz. Dass sie viele Menschen beschäftigt, erkennt man unter anderem daran, dass die Zahlen der Erkrankungen gewaltig überschätzt werden:

»Während tatsächlich bei 60 von 1000 Deutschen zwischen 70 und 80 Jahren eine Demenzerkrankung diagnostiziert wurde, haben die befragten Bundesbürger im Durchschnitt eine Größenordnung von beinahe 300 erwartet.«68

Fünfmal zu viel. Das relativiert Ihre Angst doch etwas. Schlüsselt man die Zahlen etwas weiter auf, ergibt sich folgendes Bild:

Wenn Sie ein Mann sind, zwischen 65 und 69 Jahren alt, liegt das mittlere Demenz-Risiko bei 1,8 Prozent; später verdoppelt es sich etwa alle vier Jahre, sodass es zwischen 85 und 89 immerhin bei 20,8 Prozent liegt. Die Frauen fangen niedriger an, zeigen ab 70 aber einen stärkeren Anstieg und landen zwischen 85 und 89 bei 28 Prozent.

Was heißt das? Bei den 69-Jährigen sind circa zwei von 100 an einer Demenz erkrankt, bei den 89-Jährigen immerhin schon 20 von 100, und bei den Frauen sind es mit über 90 fast 30 von 100.

Natürlich haben diese Zahlen Konsequenzen für die Krankenkassen und die Betreiber von Pflegeheimen. Doch wenn Sie mit keiner der beiden Gruppen etwas zu tun haben, wird Sie das Thema als 60-Jährige/n nicht sonderlich beeindrucken, mit 89 wahrscheinlich schon mehr; bedenken Sie aber, dass Sie als Mann Ihre durchschnittliche Lebensdauer von gegenwärtig 72 Jahren dann schon weit überschritten haben.

Trotzdem: Sie wollen wissen, was das für Sie, ganz persönlich für Sie, heißt? Wie sehr sollen Sie vorsorgen? Wer bekommt Ihre Betreuungsvollmacht? Wollen Sie sich lieber zu Hause oder in einem guten Seniorenheim pflegen lassen?

Sie fänden es also ziemlich gut, wenn Sie einschätzen könnten, ob Sie mit 69 zu den 98 Gesunden oder zu den zwei Dementen gehören werden. Zu diesem nachvollziehbaren Wunsch lässt sich leider nur sagen, dass die Stärke statistischer Überlegungen umso schwächer wird, je kleiner die Zahl ist. Für Sie als Einzelfall kann die Statistik nichts tun.

Und was ist mit Ihren Risikofaktoren? Können die das allgemeine Risiko nicht weiter eingrenzen? Der gegenwärtige Erkenntnisstand benennt ja schon einige Faktoren:

In der Vorgeschichte dementer Patienten finden sich vermehrt Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Diabetes mellitus, starkes Übergewicht und Rauchen. Faktoren, die Gefäßerkrankungen wahrscheinlich machen, führen offenbar auch vermehrt zur Demenz.

Streng genommen ist das eine statistische Korrelation und kein ursächlicher Zusammenhang. Aber rein intuitiv macht diese Korrelation ja auch Sinn. Weitere Risikofaktoren sind geringe geistige Aktivität und wenig Sozialkontakte, Schädel-Hirn-Verletzungen in der Vorgeschichte, neurologische Erkrankungen wie der Morbus Parkinson und übermäßiger Alkoholkonsum.

Das haben Sie alles nicht?

Weibliches Geschlecht? Ein seltsamer Risikofaktor! Denn Frauen verhalten sich im Allgemeinen risikobewusster als Männer. Woher kommt das höhere Demenz-Risiko? Dazu weiß man zu wenig, um für Sie etwas daraus zu machen.

Bleiben die Erbanlagen: Wenn Ihre Eltern an einer Alzheimer-Demenz erkrankt waren, erhöht sich auch Ihr Risiko. Aber selbst das bleibt statistisch, Sie haben eben eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, keine Gewissheit. Tut mir leid, aber konkreter geht es nicht.

Nehmen wir an, Sie haben doch einen der oben genannten Risikofaktoren, einen, bei dem Sie etwas »machen« könnten, zum Beispiel einen Bluthochdruck. Das wäre eine gute Gelegenheit, etwas an Ihrem persönlichen Risikoprofil zu verbessern. Wäre es das? Zum »machen« muss man zunächst bemerken, dass es leider keine wissenschaftlich solide Information gibt, ob und wie sich die Senkung des Blutdrucks – und das gilt auch für die anderen Risikofaktoren – auf das Demenz-Risiko auswirkt. Intuitiv macht die Blutdrucksenkung Sinn, klar, aber Wissen sieht anders aus. Ich muss Ihnen gestehen, dass auch ich als Mediziner von leicht verärgertem Unverständnis erfüllt werde angesichts der Tatsache, dass unser Medizinsystem es zwar fertigbringt, unendliche Mengen von Hochglanzbroschüren zu generieren, aber offenbar nicht in der Lage ist, Studien zu so einfachen Fragen zu erstellen. Okay, pfeifen wir auf wissenschaftliche Evidenz und folgen wir der Intuition.

Möglicherweise empfiehlt Ihnen Ihr Arzt ein Medikament, zum Beispiel einen Hemmer des Angiotensin-converting-Enzyms, einen sogenannten ACE-Hemmer. Sie sind froh und wollen nicht groß rumfragen, vertrauen Ihrem Arzt. Alles gut? Nicht ganz. Sich selbst tun Sie damit keinen großen Gefallen, denn wenn Sie sich rational verhalten wollen, müssen Sie das nicht ganz harmlose Wirkungs-/Nebenwirkungsverhältnis des Medikaments gegen das Demenz-Risiko abwägen. Und Sie sollten auch ganz sichergehen, dass Ihr Arzt von Ihrer Brustkrebs-Vorgeschichte weiß, denn da können die ACE-Hemmer negativ wirken. Sie müssen also mehrere Risiken im Blickfeld haben. Das gilt umso mehr bei den Wundermitteln des letzten Jahrzehnts, den cholesterinsenkenden Statinen. Die kennen Sie bestimmt, falls Sie erhöhte Cholesterinwerte haben. Bei diesen Medikamenten spukt neben anderen Nebenwirkungen bis heute die Frage herum, ob sie das Demenz-Risiko nicht sogar steigern. Wahrscheinlich nicht, aber Sie wären schon gerne sicher. Und bei all dem ist die Diskussion, welcher Cholesterinspiegel denn eigentlich zu hoch ist, noch gar nicht berücksichtigt.

Medikamentöse Risikosenkung ist also eine komplexe Angelegenheit.

Nun haben Sie es sowieso nicht mit Medikamenten, Chemie kommt Ihnen, wenn irgend möglich, nicht in Ihren Körper. Sie informieren sich und erfahren, dass Bewegung und Gewichtsreduktion – das bisschen Übergewicht hatten Sie eigentlich gar nicht auf dem Schirm – bei Hochdruck langfristig sogar besser sind als Medikamente. Das hätte Ihr Arzt Ihnen eigentlich mitteilen sollen, denn nach den Kriterien des informed consent sollten es die Ärzte mit den Patienten besprechen, wenn es mehrere Möglichkeiten der Behandlung gibt. Aus Ihrer Sicht sind Bewegung und Gewichtsreduktion erst mal erfreuliche Perspektiven, weil Sie selbst aktiv werden und sich im Erfolgsfall das Ergebnis auf Ihr Konto schreiben können.

Aber – auch hier müssen Sie abwägen:

Für mich war Joggen alles, mein Wohlbefinden und ein bisschen auch mein Gewicht hingen davon ab. Eines schönen Tages im Oktober vor vier Jahren bin ich tagsüber nicht zum Laufen gekommen, solange es hell war, hatte relativ viel Stress und wohl auch zu viel Süßes gegessen. All das führte zum Entschluss, abends unbedingt noch zu laufen. Hell war es nicht mehr, aber der Weg schien mir gut ausgeleuchtet. War er auch, aber eine der Gehweg-Platten stand ein bisschen vor, ich blieb hängen, und beim Versuch, mich zu fangen, überstreckte ich mein anderes Bein so, dass ich mir einen Muskelfaserriss im Oberschenkel holte. Drei Monate konnte ich nicht rennen, bekam Kreislaufprobleme, musste eine Koronarangiografie machen lassen und und und … Ich will Ihnen meine Story ersparen, will eigentlich nur rüberbringen, dass mein ja keineswegs ungewöhnlicher Entschluss zum Joggen eine ganze Reihe unerwarteter Komplikationen mit sich brachte.

Vielleicht hätte ich gehen sollen. Es gibt eine eindrucksvolle Studie zur präventiven Wirkung von Bewegung gegen Demenz: In der Woche acht Kilometer gehen, senkt das Demenz-Risiko um 30 Prozent.69

Aber grundsätzlich sollten Sie sich wie bei allen positiven Handlungsempfehlungen bitte auch hier klarmachen: Wenn Sie sich bewegen wollen, so hat das Risiken, vor allem, wenn Sie sich lange nicht bewegt hatten.

Selbst der löbliche Entschluss zur Gewichtsabnahme ist nicht ohne Risiken. Von einem Jo-Jo-Effekt haben Sie überhaupt nichts, und wenn Sie Ihr Gewicht nur über maximalen Stress runterbekommen, tun Sie Ihrem Hochdruck damit nichts Gutes. Und: Leider gibt es auch wieder keine kontrollierten Studien zum positiven Effekt der Gewichtsabnahme auf das Demenz-Risiko: alles Intuition.

Tatsächlich befinden Sie sich bei Ihren Bemühungen, Ihr persönliches Demenz-Risiko zu senken, fast immer in der Grauzone zwischen Intuition und Evidenz, meistens eher auf der Seite der Intuition. Wenn Sie dies wissen, und wenn Ihnen klar ist, dass Sie bei jeder Entscheidung nach Ihrem Gefühl gehen wollen, ist alles gut. Sie sollten sich nur nicht zu irgendetwas zwingen lassen! Das gibt die Datenlage nicht her.

Sie finden, dass ich Sie gegen eine Wand laufen lasse? Sie wollen was tun, und ich gebe Ihnen doppelte Botschaften: Ja, es könnte positiv für Ihre Gesundheit sein – und auch ja: Es birgt ein Risiko! Ich will Sie nicht ängstigen oder ärgern, aber nehmen Sie einfach zur Kenntnis: Leben hat Risiken, die Sie eingehen, wenn Sie leben, auch wenn Sie gut leben wollen. Und glauben Sie Ihren Ärzten nicht, wenn Sie Ihnen weismachen wollen, es gebe klare Gewissheiten!

»Viele Ärzte bieten dem Patienten eine scheinbare Wahl zwischen Gewissheit und Risiko. In Wahrheit hat man aber stets nur eine Wahl zwischen verschiedenen Risiken.«70

Sich das klarzumachen, ist Ihre Chance, denn nur, wenn Sie sich so viel Information wie möglich besorgen, wenn Sie Ihre Risiken so genau wie möglich abbilden, können Sie wirklich gut für sich sorgen. Sie können das nicht alleine tun, sondern im Dialog mit Ihrem Arzt: Informed consent heißt das und ist ein Merkmal moderner Medizin. Dazu gehört, dass Ihr Arzt Sie informiert:

Für dieses Gespräch sollte Ihr Arzt Zeit haben, klar, aber dazu kommen wir noch. Ihre wesentliche Leistung besteht darin, dass Sie sich Ihre Situation bewusst machen, was heißt: zur Kenntnis nehmen. Und dann in Ruhe überlegen.

Sie müssen das nicht tun, aber es ist Ihre Chance.

Ein anderes Risiko, das im Alter zunimmt: an einem Krebs zu erkranken.

Das ist wieder so eine Geschichte, mit der Sie sich eigentlich nicht auseinandersetzen wollten. Sie können diese Zeilen auch überspringen, aber tatsächlich ist die Auseinandersetzung mit dem Risiko angenehmer als die Realität.

Von den Gesundheitsportalen im Internet wird Ihnen ans Herz gelegt, an Vorsorge-Untersuchungen teilzunehmen: Mammografie, Darmspiegelung, Prostata-Screening.

Der Umgang mit der Mammografie71 ist ein Klassiker. Er betrifft Sie, denn …

»… vom 50. bis zum 69. Lebensjahr werden Frauen alle zwei Jahre zur Mammographie-Untersuchung eingeladen, also eine Röntgenanalyse der Brust auf Tumoren.«72

Für die folgende Betrachtung ist wichtig, dass sie sich auf das Mammografie-Screening bezieht, also auf die Reihenuntersuchungen von Frauen, bei denen bis dahin kein konkreter Verdacht auf einen Tumor der Brust besteht. Es geht hier um Früherkennung. Und Früherkennung ist ja nicht Vorsorge, was meistens übersehen wird. Sie erfahren lediglich früh, dass Sie eine Krebserkrankung haben, verhindern können Sie sie damit nicht. Allerdings besteht die Hoffnung, dass die dann einsetzende rechtzeitige Behandlung einen positiven Effekt hat. Wenn Früherkennung also sinnvoll wäre, dann sollte sie die Sterblichkeit am Mammakarzinom verringern.

Untersucht hat man das in großen Studien an über 500 000 Frauen. Herauskam, dass von jeweils 1000 Frauen, bei denen kein Mammografie-Screening durchgeführt wurde, vier, und von 1000 Frauen, bei denen ein Mammografie-Screening durchgeführt wurde, drei an Brustkrebs starben.

Statistisch kann man das sehr unterschiedlich darstellen. Auch wenn Sie es wie ich nicht so mit der Statistik haben, sollten Sie das wissen, denn es hat eine große Bedeutung dafür, wie Sie künftig Informationen über den Wert diagnostischer oder therapeutischer Maßnahmen einschätzen und wie Sie mit Ihrem Arzt kommunizieren sollten.

Die absolute Risikoreduktion liegt bei 1 von 1000, also bei 0,1 Prozent.

Die relative Risikoreduktion liegt bei 25 Prozent, denn wenn Sie vier Frauen mit 100 Prozent gleichsetzen, dann entspricht die eine, die durch das Screening weniger stirbt, einem Viertel, also 25 Prozent.

Die Anzahl der notwendigen Untersuchungen, damit ein Todesfall verhindert wird, beträgt 1000.

Verwirrend? Schon. Aus diesen Unterschieden wird zumindest sehr klar, dass Sie sich immer dann, wenn Ihnen irgendwelche Vorteile eines Untersuchungsverfahrens präsentiert werden, vergewissern sollten, ob diese Zahlen das relative Risiko (nicht erhellend), das absolute Risiko (sinnvoll) oder die Zahl der notwendigen Behandlungen73 (sinnvoll) betrifft. Besonders Letztere ist entscheidend:

»Wie hoch muss die Zahl an Untersuchungen (oder Behandlungen) sein, um einen Todesfall et cetera zu verhindern?«

Wenn man die Ergebnisse dieser Studien nach dem Alter differenziert, so zeigt sich, dass für Frauen zwischen 40 und 49 gar kein Vorteil herauskam, dass das Screening bei Frauen ab 50 – also eher Ihre Gruppe – dazu führte, dass eine von 270 beziehungsweise vier von 1000 vor dem Tod durch Brustkrebs bewahrt wurden. Bei älteren Frauen scheint das Mammographie-Screening also etwas sinnvoller zu sein.

Sollten Sie sich einer solchen Untersuchung unterziehen wollen, dürfen Sie an dieser Stelle noch nicht mit dem Denken aufhören. Denn wie jedes Untersuchungsverfahren hat die Mammografie auch Nachteile:

Falsch positive Befunde: Die Zahlen der verschiedenen Studien zu diesem Thema sind schlicht ungeheuerlich: Bei 26 000 Frauen, die zum ersten Mal an einem Screening teilnahmen, wurden nur bei 1 von 10 positiven Mammogrammen wirklich ein Karzinom festgestellt, 9 Ergebnisse waren also falsch positiv! Und diese Zahl gilt für Frauen zwischen 40 und 50! Bei Frauen, die regelmäßig Mammogramme durchführen lassen, muss jede zweite ohne Brustkrebs damit rechnen, einen positiven Befund zu erhalten! Machen Sie sich klar, was »falsch positiv« eigentlich heißt:

Für Sie bricht zunächst mal eine Welt zusammen: Krebs! Sie müssen sich zusätzlicher Diagnostik unterziehen, eine Gewebeprobe wird entnommen, ein Schnitt in die Brust gemacht, der sich unter ungünstigen Umständen infizieren kann.

Wenn schon sicher ist, dass Sie keinen Krebs haben, brauchen Sie Ihre Zeit, sich davon zu erholen, und im ungünstigen Fall entwickeln Sie eine Depression.

Nicht fortschreitende Karzinome: Nicht jeder »positive« Befund zeigt ein Karzinom, das auch die negativen Eigenschaften hat, wegen derer man diese Erkrankung fürchtet. Es gibt gerade im Milchgang Karzinome, die dort bleiben, nicht in das Gewebe wachsen und nicht in entfernte Körperregionen metastasieren.

Strahlungsinduzierte Karzinome: Die Untersuchung mit Röntgenstrahlen hat selbst ein Krebsrisiko, das macht sich insbesondere im jüngeren Lebensalter bemerkbar, aber auch bei häufig wiederholten Untersuchungen älterer Frauen.

Falsch negative Befunde: Auch das kann passieren und führt dazu, dass eine, von Ihnen selbst bemerkte, Auffälligkeit als harmlos abgetan wird, weil der Befund ja negativ war.

Ähnliche Diskussionen gibt es für die sogenannten Vorsorge-Untersuchungen des Prostata-Karzinoms und für die Dickdarm-Endoskopie.

Was nun?

Wenn Sie Symptome haben, oder wenn eine Untersuchung beim Arzt Hinweise erbringt, dass irgendwas nicht stimmt, sollten Sie alle Untersuchungen machen lassen, die nötig sind, um den Befund aufzuklären. Oder auch, wenn Sie »nur« ein Gefühl haben, dass sich etwas verändert hat. Glauben Sie an Ihr Gefühl! Kritik wird nur an der sogenannten Reihenuntersuchung ohne konkreten Anlass geübt, wegen des minimalen Effektes und der beeindruckenden Nachteile.

Am Ende einer vom Arzt empfohlenen Untersuchung oder Behandlung steht nie eine Gewissheit, etwas zu »haben« oder nicht, sondern immer ein Risiko, das sich im günstigen Fall in klaren Zahlen ausdrücken lässt. Das ist eine wesentliche Erkenntnis, die Sie menschlich weiterbringt. Denn das bedeutet einmal, dass Zahlen zwar nie Ihre persönlich gelebte Realität abbilden, aber zum Zweiten, dass Sie Ihr Leben wertschätzen und intensiv leben sollten, weil es keine Sicherheit gibt, dass in den nächsten Jahren alles so weitergehen wird wie bisher.

So ganz daneben liegt Matthäus 6,26 also vielleicht doch nicht.

Ärzte fürs Alter – eine Entscheidungshilfe

Je älter Sie werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass Sie es mit Ärzten zu tun bekommen. Das ist gleichermaßen Chance und Risiko. In der bevorstehenden Lebensphase hängen Ihr Wohlbefinden, Ihre Lebensqualität und nicht zuletzt Ihre Lebenserwartung von Ihrer Interaktion mit den von Ihnen ausgewählten Ärzten ab. Ein Arzt, der mit Ihren gesundheitlichen Problemen richtig umgeht, die Behandlung nicht nur nach allgemeinen Kriterien, sondern auch an Ihrer individuellen gesundheitlichen Situation und Ihren Lebensumständen ausrichtet, wird Ihre weitere Lebensqualität stärker positiv beeinflussen, als das bei jüngeren Menschen der Fall ist, also in einem Alter, in dem das Regenerationspotenzial viel höher ist als bei Ihnen. Deswegen müssen Sie sich vergewissern, wes Geistes Kind Ihr Arzt ist.

Was brauchen Sie?

1. Sie brauchen einen Arzt, dem Sie vertrauen.

Sie sind wichtig, konkret: Ihre Einstellung zu Ihrer Behandlung beeinflusst das Ergebnis. Das haben die Studien zu Placebo/Nocebo herausgefunden. Wenn Sie vom Wert einer Behandlung überzeugt sind, schlägt sie bei Ihnen besser an, als wenn Sie davor Angst haben und bezweifeln, dass sie Ihnen helfen wird. Da Sie selbst kein Spezialist sind, bekommen Sie die wesentlichen Informationen über Diagnose und nötige Therapie von Ihrem Arzt. Wenn Sie ihm nicht glauben, können Sie’s knicken. Vertrauen ist Ihr Vertrauen. Sie geben es einem anderen Menschen, in diesem Fall Ihrem Arzt. Von was lassen Sie sich leiten? Machen wir uns nichts vor: Sehr häufig spielen dabei irrationale Gründe eine Rolle. Ist sie/er Ihnen sympathisch? Sieht sie/er gut aus? Spricht sie/er Ihre Sprache? Kleidet sie/er sich wie Sie, kommt sie/er aus der gleichen Schicht? Nimmt sie/er sich Zeit für Sie, geht sie/er auf Sie ein? Wie reagiert sie/er, wenn Ihre Meinung nicht zu ihrer/seiner passt? Es ist der Gesamteindruck, der entscheidet, ob Sie vertrauen oder nicht. Einige dieser Punkte sind begründet –- die Sprache, die Zeit, das Umgehen mit sperrigen Patientenmeinungen –, andere sind vollkommen sinnlos, wie zum Beispiel Aussehen und Ausstrahlung. Nicht selten sind große Spezialisten auf ihrem Gebiet nicht gerade Prince Charming oder haben schlicht keine Zeit, die sie für Verbesserungen an ihrem Aussehen aufwenden könnten. Trotzdem: Da Ihrer beider Vertrauensverhältnis das Behandlungsergebnis entscheidend beeinflussen wird, müssen Sie miteinander klarkommen. Also vertrauen Sie sich!

2. Sie brauchen einen Arzt, der Kompetenz für sein Fachgebiet und für die Behandlung älterer Menschen hat.

Wie sieht es aus mit dem Fachwissen Ihres Arztes und dessen Aktualisierung?

Sie brauchen einen Arzt, der auf dem neuesten Stand des Wissens in seinem Fachgebiet ist. Die Halbwertszeit medizinischen Wissens beträgt zur Zeit etwa fünf Jahre:74 Also nach fünf Jahren hat die Hälfte dessen, was ein Arzt in seiner Aus-, Fort- und Weiterbildung gelernt hat, das Verfallsdatum überschritten, das heißt, es stimmt nicht mehr. Konkret heißt das nicht unbedingt, dass er jede aufsehenerregende, angeblich total bahnbrechende journalistische Eintagsfliege kennen muss, die alle paar Monate auf die Titelseiten der Boulevardblätter flattert. Von denen haben Sie sowieso nichts, denn Sie wissen nicht, ob diese »Entdeckung« die nächsten Monate überstehen wird, ob sie widerlegt wird und ob sie Ihnen wirklich etwas bringen würde. Aber Ihr Arzt muss »am Ball bleiben« und sich ständig fortbilden.

Was würden Sie machen, wenn Ihr Berufswissen so schnell veraltet? Fachliteratur lesen und Fachtagungen besuchen, die über die neuesten Daten in Pro/Contra-Dialogen berichten. Wichtig ist dabei, dass solche Veranstaltungen unabhängig und nicht vom Industrie-Interesse gefärbt sind. Ein Arzt muss also erheblichen Aufwand betreiben, um immer auf dem neuesten Stand zu sein.

3. Ihr Arzt sollte nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin arbeiten.

Gutes medizinisches Wissen beruht auf evidenzbasierter Medizin. Selbst viele Mediziner verstehen nicht, was damit gemeint ist. Deshalb will ich hier etwas weiter ausholen:

Fall A: Ein Arzt, ein ausgewiesener Spezialist, behandelt einen Patienten mit einer Methode, die er sich ausgedacht hat, weil bestimmte Daten in der Fachliteratur eine solche Wirkung wahrscheinlich machen. Er hat Erfolg, der Patient wird gesund.

Kann diese Methode nun als allgemeines Behandlungsprinzip propagiert werden?

Nein. Der Behandlungserfolg kann zwar durch seine Überlegungen, aber genauso gut durch einen unspezifischen Behandlungsfaktor bedingt sein, den der Spezialist gar nicht bemerkt hat. Oder durch eine Besonderheit beim Patienten, von der keiner etwas wusste.

Fall B: In der tierexperimentellen Forschung zeigt sich, dass ein bestimmtes Medikament besonders gut bei bestimmten Hirnverletzungen wirkt. Da solche Verletzungen beim Menschen ein großes Problem darstellen, versucht man, besonders schwere Fälle mit diesem Medikament zu behandeln, und scheint gute Erfolge zu sehen.

Kann diese Methode als allgemeines Behandlungsprinzip propagiert werden?

Nein. Die Übertragbarkeit vom Tier auf den Menschen ist ein weites Feld mit vielen Unsicherheiten, und positive tierexperimentelle Befunde können ein Ansatzpunkt für Studien an Menschen sein, aber nicht mehr.

Fall C: Man vermutet, dass die rechtzeitige Entdeckung eines Risikofaktors für eine bestimmte bösartige, zum Tode führende Erkrankung das Auftreten der Erkrankung verhindern könnte. In einzelnen Fällen ist das tatsächlich so.

Kann diese Methode nun als allgemeines Vorsorgeprinzip propagiert werden?

Nein. Einzelfälle ohne Statistik sagen zu wenig oder genau genommen gar nichts aus, vor allem erlaubt die Einzelfallebene keine Aussage darüber, welche zusätzlichen Faktoren eine Rolle spielen könnten, ob es falsch positive und falsch negative Befunde gibt und wie damit umzugehen ist.

Fall D: Ein sehr erfahrener Facharzt behandelt aufgrund seiner tatsächlich überragenden klinischen Erfahrung bestimmte Störungen offensichtlich meistens erfolgreich mit einer in der Fachliteratur nicht abgesicherten Kombination von Medikamenten.

Kann diese Methode nun als allgemeines Behandlungsprinzip propagiert werden?

Sie ahnen es schon: auch wieder nein.

Selbst die große Erfahrung schützt den Kollegen nicht davor, dass er unwissentlich unspezifische Behandlungsfaktoren einbringt, dass er unbewusst eine spezielle Auswahl von Patienten betreibt, dass sein großes Charisma einen besonders hohen Placebo-Faktor auslöst, der bei allgemeiner Anwendung nicht zum Tragen käme, weil die anderen Doktoren so ein Charisma eben nicht haben.

Was könnte man tun, um die vielleicht tatsächlich wertvollen Erfahrungen der Kollegen für die Allgemeinheit und vor allem für Sie als vielleicht betroffenem Patienten zu nutzen? Denn die beschriebenen Behandlungen oder diagnostischen Verfahren könnten ja durchaus sinnvoll sein. Man weiß es nur eben nicht.

Abhilfe wäre in jedem Fall eine Doppelblindstudie, placebo-kontrolliert. Was heißt das? Die angeblich wirksame Behandlung, um die es geht, wird gegen eine andere getestet, die sicher unwirksam ist – also zum Beispiel eine angeblich wirksame Tablette durch eine Zuckertablette. Und das Wichtigste: Ärzte und Patienten wissen beide nicht, welche Tablette gegeben wird. Dieses Verfahren garantiert, dass unspezifische Faktoren keine Rolle mehr spielen und das Verfahren tatsächlich wirksam ist, vorausgesetzt, die Studie wurde vernünftig und statistisch ausreichend geplant. Das nennt man evidenzbasiert.

Natürlich kann ein Arzt in Einzelfällen auch anders behandeln, was als Heilversuch bezeichnet wird. In Einzelfällen, aber nicht in der Regel.

Was hat das nun mit Ihnen zu tun? Ist das nicht alles ein bisschen theoretisch? Na, es geht einfach um die Frage, ob Sie sich mit wirksamen Methoden behandeln lassen wollen oder mit nur vermutlich wirksamen. Oder, was noch schlimmer ist, mit Methoden, die letztlich angewendet werden, weil sie von der Pharma-Industrie gesponsert sind. Aber dazu kommen wir noch. Und Fall C ist deswegen wichtig, weil Sie sicher sein sollten, dass eine sogenannte Vorsorgeuntersuchung tatsächlich eine Vorsorge darstellt und nicht eine Früherkennung, dass sie nicht die große Verunsicherung durch falsch positive Befunde bringt oder die trügerische Entwarnung durch falsch negative. Solche Aussagen lassen sich aber erst dann machen, wenn die Untersuchung an einem so großen Kollektiv getestet wurde, dass solche Fälle überhaupt in hinreichend großer Zahl auftreten.

Auch wenn es Ihnen paradox vorkommt und das Thema nicht einfacher macht: Praktische Medizin lässt sich nicht ausschließlich auf der Grundlage evidenzbasierter Überlegungen betreiben. Warum? Weil es nicht zu allen Behandlungsverfahren entsprechende Studien gibt, denn solche Studien sind aufwendig und teuer, und die Pharmaindustrie ist an Studien nicht mehr interessiert, wenn der Patentschutz abgelaufen ist.

Schauen Sie einfach mal unter »Cochrane Deutschland« im Internet nach: Das ist die beste Datenbank zum Thema Evidenz. Sie werden vor allem herausfinden, was wir alles nicht sicher wissen. Und nun? Soll man Behandlungen immer unterlassen, wenn es keine ausreichende Evidenz gibt? Soll Ihr Arzt Ihnen sagen: Bei diesem Problem kann ich Ihnen nicht helfen, weil es keine Evidenz gibt? Zu überlegen ist das, aber vermutlich werden Sie sich nicht darauf einlassen. Und natürlich kann im Einzelfall oft etwas erreicht werden, auch wenn die Studienlage mau ist. Aber: Sie müssen entscheiden können, ob Sie wissen wollen, wie sicher Erfolg und Nebenwirkungen irgendeiner für Sie infrage kommenden Behandlung sind. Und Sie müssen sich klar werden, ob Sie über den Einsatz einer Behandlung mit entscheiden wollen oder Ihrer charismatischen Ärztin einfach freie Hand geben: mach mal!

4. Ihr Arzt sollte der Komplexität medikamentöser Behandlungen gewachsen sein.

Alte Menschen bekommen mehr Medikamente als junge Menschen, weil sie häufig mehr Krankheiten haben als junge. Eine Schwierigkeit: Medikamente werden nicht an alten Menschen getestet, und auch die Zulassungsuntersuchungen werden nicht an Älteren gemacht. Man kann also streng genommen nur vermuten, was nach Einnahme passieren wird, genau weiß man es nicht. Außerdem gibt es noch folgende Probleme:

Überdosierungen werden mit zunehmendem Alter häufiger. Das Ansprechen auf Medikamente ist individuell, individuell und noch mal individuell. Das heißt, Sie sprechen unter Umständen empfindlicher darauf an als der vorige Patient im Sprechzimmer. Die Empfindlichkeit nimmt mit dem Alter zu. Sie brauchen mit über sechzig oder achtzig Jahren eine geringere Dosis als ein Mensch aus der Gruppe, an der das Medikament für die Zulassung getestet wurde. Manchmal viel weniger! Ihr Arzt muss sich an die richtige Dosis »herantasten« – das muss er wissen, und dafür muss er sich Zeit nehmen.

Wechselwirkungen: Da mit dem Alter die Krankheitswahrscheinlichkeit zunimmt und Sie von verschiedenen Ärzten behandelt werden, nimmt auch die Wahrscheinlichkeit zu, dass Sie mehrere Medikamente gleichzeitig einnehmen, oft von unterschiedlichen Ärzten verschrieben. Manche vertragen sich nicht, manche erhöhen oder senken die Dosis des anderen oder beider Medikamente. Es ist überhaupt nicht leicht, das alles im Blick zu haben, sogar für einen kompetenten und sehr verantwortungsvollen Arzt! Denn was weiß ein Kardiologe von den Medikamenten des Psychiaters und umgekehrt? Erfreulicherweise gibt es Computerprogramme, in die Ihr Arzt die verschriebenen Medikamente eintragen kann und die ihm dann die möglichen Komplikationen angeben. Das braucht allerdings Zeit. Zeit braucht auch, wenn sich dieser verantwortungsbewusste Arzt mit dem, oder manchmal auch den, mitbehandelnden Kolleginnen und Kollegen in Verbindung setzt, um nachzufragen, ob dieses Medikament, das die meisten Komplikationen machen könnte, wirklich unbedingt nötig ist, und so weiter und so fort.

Warum ist das für Sie wichtig? Weil Sie daran sterben können. Jedes Jahr kommt es in der BRD zu geschätzt 16 000 bis 25 000 Todesfällen aufgrund von unerwünschten Pharmawirkungen,75 und viele Betroffene sind vermutlich ältere Menschen.

Sie sehen, gute Ärzte sind für Sie lebenswichtig.

5. Sie brauchen Personal und Stationen, die für ältere Menschen geeignet sind.

Für einen Jungen ist es keine große Sache, für ein paar Tage stationär aufgenommen zu werden. Gut, der Nachbar im Zweibettzimmer schnarcht, das Essen ist nicht 3-sternemäßig, aber all das ist nach der Entlassung schnell vergessen.

Für einen älteren Menschen ist das schon bei einem Bagatelleingriff anders, denn alte Menschen brauchen länger, mit Narkosen et cetera zurechtzukommen. Alte Menschen mit einer zwar erst beginnenden, leichten Demenz finden sich in einer fremden Umgebung schwer zurecht und reagieren oft mit Verwirrtheit und Aggressionen.

Auch nicht demente ältere Menschen brauchen individuell oft länger, um sich nach einem operativen Eingriff zu erholen; die Unterbrechung der normalen körperlichen Aktivität führt zu einer Verschlechterung von Muskelstärke und Kondition.

Ältere Menschen schlafen oft schlecht. Um Ruhe zu garantieren, werden manchmal Schlafmittel gegeben, die eine Gewöhnung bewirken, den Gleichgewichtssinn beeinträchtigen, zu Stürzen führen und und und …

Toll wären Stationen, die durch Baulichkeit, Farbgebung, klare Abläufe und entsprechendes Personal besonders auf ältere Menschen ausgerichtet wären. Aber das kostet. Aufs Geld kommen wir etwas später.

6. Sie und Ihre Ärzte müssen mit der Altersdifferenz zurecht kommen.

Ärzte sind in der Regel viel jünger als ältere Patienten. Sie sind achtzig, Ihre Tochter fünfundfünfzig, Ihr Enkel dreißig. Ihr Stationsarzt auch. Er untersucht Sie, erklärt Ihnen die Befunde, klärt Sie über die Operation und die Risiken auf. Ihren Enkel fanden Sie in seiner jugendlichen Unbedarftheit erfrischend. Ganz so finden Sie den Stationsarzt nicht. Altersunterschiede müssen kein Problem, können aber eines sein.

7. Ihr Arzt sollte unabhängig von der Pharmaindustrie sein.

Die Pharma-Industrie! Das ist so ein Stichwort, zu dem Sie ebenfalls eine Meinung haben sollten. Zum Beispiel diese:

Die Pharmaindustrie entwickelt mit einem enormen Einsatz an Geld und Personen neue Medikamente, mit deren Verkauf sie das Geld, das sie in die Entwicklung hineingesteckt hat, wieder rausholen will.

Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber es gibt einige Unklarheiten. Der enorme Einsatz an Geld betrifft nicht nur das Entwicklungs-, sondern auch das Werbebudget. Pharmawerbung für neue Medikamente ist allererste Sahne und wird so geschickt gemacht, dass selbst Spezialisten den Wahrheitsgehalt der Aussagen nicht immer durchschauen können. Für Sie ist wichtig, dass »Ihr« Arzt sich seine Fortbildungspunkte, über die er sein inzwischen verfallenes Wissen wieder auf den neuesten Stand bringt, nicht nur bei pharmagesponserten Veranstaltungen holt. Ob Sie das rausfinden können, ist unklar. Am besten fragen Sie ihn.

Dann gibt es auch noch »MEZIS«, Abkürzung für »mein Essen zahle ich selbst«, die, wie sie selber sagen, »Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte«76. MEZIS hat sich unter anderem zum Ziel gesetzt, »den Einfluss der pharmazeutischen Industrie auf Ärzte transparenter zu machen und zu reduzieren.« Die können Sie googeln.

8. Sie brauchen einen Arzt, der für Sie Zeit hat.

Die Notwendigkeit von Gesprächszeit zwischen dem Arzt und Ihnen, dem Patienten, muss ich nicht erklären. Medizin ist komplex, Sie sind ein Laie. Selbst ich als Psychiater habe keine Ahnung, was die Kardiologen oder die Krebsmediziner heute so können und machen. Das wesentliche Problem heutiger Ärzte ist die Zeit, die sie nicht haben. Und das ist auch gleichzeitig ein ganz wichtiges Kriterium für die Entscheidung, ob Sie zu diesem Arzt Vertrauen haben werden. Nimmt er sich die Zeit, oder wimmelt er Sie ab?

Die Situation der Haus- und Fachärzte ist nicht einfach. Ich will Sie mit Darstellungen zum wirklich komplexen Zeitmodell niedergelassener Mediziner nicht nerven, aber ganz sicher können die meisten von ihren Kassenpatienten nicht leben, vor allem wenn sie sich die Zeit nehmen, die Sie eigentlich brauchen. Niedergelassene Ärzte mit einem passablen – für die Patienten passablen! – Zeitmanagement können sich das nur bei einem wirtschaftlich halbwegs günstigen Mischungsverhältnis von Privat- und Kassenpatienten leisten. Das muss Sie nicht interessieren, aber es ist nicht schlecht, wenn Sie eine Ahnung haben, in was für ein System Sie sich da hineinbegeben.

Unabhängig von seiner wirtschaftlichen Situation muss sich jeder Arzt die Zeit nehmen, Sie über Ihre Krankheit und die sinnvollerweise zu ergreifenden Maßnahmen so aufzuklären, dass Sie das verstehen. Punkt.

Wenn Sie darüber nachdenken, wird Ihnen schnell klar, dass hier zwei dazugehören: der Arzt, der Ihnen die Zeit gibt, und Sie, die/der mit dieser geschenkten Zeit sinnvoll umgehen kann. Ich kann mir durchaus Situationen vorstellen, in denen ein Arzt nicht begeistert sein wird, und Ihnen dies auch nonverbal vermittelt, wenn Sie seine Erklärungen nicht verstehen und mehrfach nachfragen müssen. Das liegt wiederum an seiner Art der Darstellung und an Ihrem Vorwissen. Ich kann mir auch vorstellen, dass Sie sich einschüchtern lassen und gar nicht fragen, was Ihnen auf der Seele liegt. Das ist noch schlechter. Angesichts dieser angespannten Situation wäre es gut, wenn Sie dem Arzt auf halbem Weg entgegenkommen würden und sich vor dem Termin informieren. Denn Sie haben auf jeden Fall mehr Zeit als er.

Das Ziel ist, sich die Entscheidung zu teilen. Eine solche shared decision ist der moderne Weg, Entscheidungen über medizinische Eingriffe zu treffen.77

Warum teilen?

Der Arzt ist kompetent, er hat studiert, Examina bestanden, ist vielleicht auch mal durchgefallen; was seinen Wissensstand noch weiter verbessert hat: Er muss sich regelmäßig fortbilden. Und er hat einige Berufserfahrung. Da können Sie nicht mithalten.

Aber Sie sind betroffen. Sie sind der berühmte Einzelfall, an dem die Statistik konkret wird. Und die medizinische Maßnahme, Medikamente oder Operation oder vielleicht auch eine Psychotherapie, wird Ihr Leben nachhaltig beeinflussen. Soll sie ja auch. Hoffentlich im positiven Sinn.

Wo informieren Sie sich?

Es gibt Bücher, Fachbroschüren und, vor allem, das Internet.

Zum Beispiel:

www.leitlinie-gesundheitsinformation.de des Deutschen Netzwerks für evidenzbasierte Medizin;

www.nationales-netzwerk-frauengesundheit.de vom Nationalen Netzwerk Frauen und Gesundheit;

www.patienten-information.de zeigt die Leitlinien der Fachgesellschaften; klicken Sie zum Beispiel mal das Kapitel »Kreuzschmerzen« an, könnte ja Sie betreffen: Da bekommen Sie einen guten Einblick, wie erfolgversprechende Behandlungskonzepte aussehen können;

oder die Information zum Thema Darmkrebs: ausgezeichnet, detailliert, es bleibt keine Frage offen;

www.gesundheit.uni-hamburg.de die Website des Institutes von Frau Prof. Ingrid Mühlhauser, auf der die Grundlagen für eine intensive Diskussion über Transparenz und evidenzbasierte Medizin angeboten werden.

Grundsätzlich ist eines wichtig: Die Information, die Sie da in sich aufnehmen, sollte so objektiv wie möglich sein und nicht durch Firmeninteressen gefärbt. Alles, wo »Anzeige« draufsteht, ist firmengesponsert. Das sollten Sie nicht anklicken, weil Sie sonst nur Werbung bekommen, obwohl diese Präsentationen zugegebenermaßen oft viel attraktiver aufgemacht sind. Da man für die Position bei einer Google-Suche bezahlen kann, kommen die Anzeigen meist zuerst, und Sie müssen oft eine ganze Weile nach unten klicken, bis Sie nicht gesponserte Beiträge finden: Normalerweise stehen die am häufigsten angeklickten Beiträge am weitesten oben, aber eine interessierte Firma kann ihre Position nach oben verschieben, wenn sie dafür Geld zahlt, weil dann die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass der Beitrag gelesen wird.

Wenn Sie Gedrucktes bevorzugen: Verzichten Sie auf Anzeigen oder firmengesponserte Broschüren!

Fortgeschrittene können sich fragen: Wie werden die Informationen aufgearbeitet? Werden die statistischen Angaben in Prozent angegeben ohne dass die Bezugszahlen erwähnt werden (Prozent von wie viel?) oder in absoluten Zahlen. Sie werden nicht alles verstehen, aber Sie bringen Ihren Dialog mit dem Arzt ein ganzes Stück voran, wenn Sie sich informiert haben und ihn zu den verbliebenen Unklarheiten befragen. Für eine gute Zusammenarbeit ist es nicht schlecht, wenn der andere merkt, dass Sie ein Bewusstsein für seine Probleme haben.

Zusammenarbeit? Der moderne Begriff für Ihre Zustimmung zu Untersuchungen und Eingriffen heißt informed consent, informierte Zustimmung. Eigentlich klar: Zustimmen können Sie ja nur, wenn Sie wirklich informiert sind.

Sie wollen das alles nicht wissen? Die Krankheit, die noch so kleine Wahrscheinlichkeit für den Krebs soll einfach weg, weg, weg? Das ist verständlich, aber nicht schlau. Lassen Sie sich nicht ahnungslos in ein System fallen, das neben dem Interesse für die Patienten noch viele andere hat.

9. Sie brauchen einen Arzt, der mit den aktuellen Problemen der praktischen Medizin in Deutschland verantwortungsvoll umgeht.

Was für Probleme? Der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio hat Folgendes geschrieben:

»Wer glaubt, dass im Gesundheitssystem lauter selbstlose Akteure mit freudiger Hingabe ihren Dienst am Nächsten verrichten, der übersieht die Zwänge, die in einem der größten Wirtschaftszweige der Welt herrschen. Tatsache ist, dass es drei Hauptfaktoren gibt, die für moderne Gesundheitssysteme handlungsleitend wirken: erstens, Geld; zweitens, Geld; drittens, Geld.«78

Ich bin Psychiater, habe dem aber nichts hinzuzufügen. Die Fokussierung auf ökonomische Belange ruiniert nach meiner Auffassung die Medizin, die wir kennen. Und zwar im ambulanten wie im stationären Bereich.

Niedergelassene Ärzte arbeiten nach einem Budget; wenn es aufgebraucht ist, müssen sie umsonst behandeln. Außerdem wurden diese patientenbezogenen Leistungen in den meisten Fächern – vielleicht allen? Das System ist interessanterweise völlig intransparent! – im Laufe der Jahre immer weniger! Da sie das genauso wenig sinnvoll finden, wie Sie das wahrscheinlich täten, versuchen niedergelassene Ärzte, auf andere Weise Geld zu machen: indem sie den Zeittakt erhöhen, indem sie möglichst viele Privatpatienten behandeln und indem sie Ihnen alle möglichen Leistungen schmackhaft zu machen versuchen, die nicht evidenzbasiert sind, aber zusätzliches Geld bringen, sogenannte Individuelle Gesundheitsleistungen, bezeichnet mit dem schönen, aber auch nicht weiterführenden Kürzel IGeL. Ich überlasse es Ihrer Phantasie, sich auszumalen, welche anderen Werte in solch einem System mit den guten alten medizinischen Werten, etwa dem hippokratischen Eid, konkurrieren.

Im stationären Bereich ist es anders, aber keineswegs besser: Hier wurden die diagnosebezogenen Entgelte (DRGs) eingeführt: Ein Krankenhaus bekommt für eine bestimmte Behandlung einer bestimmten Störung eine festgesetzte Bezahlung, egal, wie lange man den Patienten behandelt. Aha. Ehe Sie lange überlegen: Das bedeutet, dass dieses Krankenhaus umso mehr verdient, je eher es einen Patienten entlässt. Dreimal dürfen Sie raten, welchen Druck die Krankenhausverwaltung machen wird. Dabei kommen die sogenannten »blutigen« Entlassungen heraus, ein unangemessen flapsiger Ausdruck dafür, dass die Wundheilung oft erst ansatzweise eingesetzt hat, wenn der Patient in die sogenannte »Kurzzeitpflege« entlassen wird. Die ist auch neu; sie wurde nötig, damit Patienten, die noch pflegebedürftig waren und nicht nach Hause entlassen werden konnten, trotzdem aus dem Krankenhaus rauskamen.

Parallel zu dieser Entwicklung haben die Verwalter in den Krankenhäusern immer mehr Macht bekommen und die Mediziner immer weniger zu sagen.

Sie sollten wissen, dass das so ist und dass vieles im Krankenhaus aus finanziellen Gründen gemacht wird. Und nicht unbedingt, weil es für Ihre Genesung unbedingt nötig wäre.

Wie kommen Sie an all diese Informationen?

Indem Sie mit Ihren Ärzten sprechen, indem Sie fragen und indem Sie sich Notizen machen, sodass Sie sich auch noch nach einigen Wochen daran erinnern können. Ein Gegenüber, das sich Notizen macht, erweckt den Eindruck, ernsthaft interessiert zu sein und auch nicht so leicht über den Tisch gezogen werden zu können.

Das Problem ist vielleicht die oben schon erwähnte fehlende Zeit. Aber bei allem Verständnis für die Kollegen: Wenn es keine Zeit für Aufklärungsgespräche nach dem Bedarf der Patienten gibt, sollten Sie aufstehen und sich einen anderen Arzt suchen.

Was können Sie tun, wenn Sie den Eindruck haben, dass die Behandlung schiefläuft?

Wenig. Die Beweislast, wie die Juristen sagen, liegt auf Ihrer Seite, Sie müssen also nachweisen, dass ein Arzt etwas falsch gemacht hat. Allein schon deswegen ist es gut, sich zu informieren, sich alles schriftlich geben zu lassen und öfters mal nachzufragen, wenn Sie eine Maßnahme nicht verstehen.

Nachtrag zur Zeit: Die Homöopathie ist die Nemesis der Geldmedizin. Homöopathie – ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber so ist es – hat mit Evidenz nichts zu tun. Fast alle Wirkungen beruhen auf dem Charisma der Heiler und auf günstigen Rahmenbedingungen für Placebo-Effekte. Aber was soll’s: Wer heilt, hat recht. Gute Homöopathen wissen, wann sie Sie zum Schulmediziner schicken müssen. Zum Beispiel zur Krebsbehandlung. Schlechte Homöopathen behandeln Tumorpatienten entgegen aller Evidenz und ziehen sich diskret zurück, wenn sie sehen, dass es zu Ende geht. Dass die Homöopathie so wichtig geworden ist, liegt an dem Zeitverlust der Schulmediziner: Homöopathen hören zu, gehen auf die Bedürfnisse der Patienten ein. Da gäbe es für die Medizin einigen Nachholbedarf.

Der zweite Pfeil des Schmerzes

Schmerz ist einer der Gründe, warum wir uns vor dem Alter fürchten. Weil Schmerz eines der großen Themen des Alters werden kann, sollten wir uns mit den möglichen Ursachen von Schmerzen und mit dem sinnvollen Umgang mit ihnen beschäftigen. Wenn sich Schmerz mit Hilflosigkeit und Kontrollverlust in der Demenz trifft, wird er zu einem von drei apokalyptischen Reitern und verbreitet großen Schrecken. Der ist deswegen eigentlich unangemessen, weil wir beizeiten viel gegen Schmerzen tun können.

Andererseits ist Respekt vor dem Schmerz berechtigt, denn in den verschiedenen Phasen des Alterns kann Schmerz zum beherrschenden Thema werden. Es ist eine der Kuriositäten dieses unseres wohlhabenden Landes, dass wir für Verschönerungsarbeiten an Haut und Haaren Millionen ausgeben, aber den Schmerz und seine richtige Behandlung, vor allem bei den sehr Alten und Hilflosen, vernachlässigen. Wir übersehen geflissentlich, dass Schönheit nur die äußere Schale und damit unsere Wahrnehmung durch andere betrifft, während uns der Schmerz bis ins Mark dringen und unser Seelenleben völlig verändern kann.

Wenn wir älter werden, nehmen die möglichen Ursachen für Schmerzen zu. Und Ältere empfinden Schmerz besonders stark! Das steht im Gegensatz zur verbreiteten Annahme, dass ältere Menschen schmerzunempfindlicher sein sollen. Dieser Irrtum hat wohl eher damit zu tun, dass ältere Menschen ihren Schmerz oft schlechter äußern können, weswegen er in unserem Medizin- und Pflegesystem schlechter registriert wird – übrigens einer der vielen vermeidbaren Mängel dieses Systems. Tatsächlich machen uns erlebte Schmerzerfahrungen im Laufe unseres Lebens sensibler und nicht unempfindlicher.

Plötzlich auftretender Schmerz ist im Alter, wie im ganzen Leben, ein wichtiges Signal, dass in unserem Körper etwas nicht stimmt, was sinnvollerweise schnell und effektiv behandelt werden sollte. Wenn Schmerz chronisch wird, ist das ein Hinweis, dass eine körperliche und meistens auch seelische Problematik nicht angemessen bearbeitet wurde. Behandlung ist auch hier nötig, doch sieht sie anders aus als beim akuten Schmerz.

Wann entstehen welche Schmerzen, was sind ihre Ursachen, und wie sollten sie behandelt werden?

In den Jahren unserer Berufstätigkeit, wenn älter werden noch kein Thema ist, legen wir die Grundlagen für degenerative Schmerzen: Gelenkschmerzen, Muskel- und Sehnenschmerzen, vor allem in der Variante der Rückenschmerzen, die noch vor den psychischen Störungen am häufigsten zur Krankschreibung von Arbeitnehmern führen: Wir bewegen uns über Jahre bis Jahrzehnte viel zu wenig, lassen vor allem unsere Haltungsmuskulatur verkümmern. Und das wird zum Problem, sobald wir unter Nichtbeachtung unseres fehlenden Trainingszustands plötzlich aktiv sein wollen, den Sport wieder machen, den wir vor Jahren mal gekonnt haben, uns in eine für selbstverständlich gehaltene Urlaubsaktivität stürzen, für die wir längst nicht mehr die Voraussetzungen besitzen. Und dann fallen wir nicht nur, wir überdehnen, zerren, zerreißen irgendwelche Teile unseres Bewegungsapparats. Manchmal passiert das absurderweise gerade in dem Augenblick, wenn wir gute Vorsätze in die Tat umsetzen und uns wieder mehr bewegen wollen! Das betrifft nun vermehrt durchaus das Alter, es passiert beim Einstieg in den sogenannten Ruhestand, wenn endlich Sport angesagt sein soll und wir keine Ahnung haben, ob wir das noch können. Die konkreten Gründe und was Sie dagegen tun können, habe ich im Kapitel über Beweglichkeit behandelt, fasse aber gerne noch mal zusammen: vorsichtig anfangen, unter Anleitung bewegen, richtig bewegen, langsam steigern – und dann regelmäßig bewegen. Nicht aufhören, sonst können Sie wieder von vorne anfangen.

Wenn wir älter werden, melden sich andere Schmerzen, die von einer besonderen Problematik begleitet sind: Ältere Menschen können oft keine präzise Zuordnung mehr treffen, was ihnen konkret Unbehagen bereitet. Sie fühlen sich unwohl, werden unruhig, manchmal aggressiv, irgendetwas stimmt ganz offensichtlich nicht, doch sie können es nicht genau benennen. Die Neigung, sich mit den Signalen des eigenen Körpers zu beschäftigen, hat längst abgenommen, denn Vermeiden erscheint uns als wirksame Strategie, Unannehmlichkeiten auf Distanz zu halten. Die Prostatavergrößerung zum Beispiel ist nervig, die will man nicht gerne haben, und deswegen versucht man(n) eine Mischung aus Minimieren und Ignorieren: minimieren, indem man weniger trinkt – und isst –, und ignorieren, indem man versucht, nicht so oft auf die Toilette zu gehen. Das entstehende medizinische Problem, die Austrocknung, macht gar nichts besser, im Gegenteil; wir schaffen so die Grundlagen für eine ernsthafte medizinische Problematik, die oft erst viel zu spät erkannt wird.

Clint Eastwood, dem Inbegriff des in die Jahre gekommenen harten Mannes, ist es hoch anzurechnen, dass er diesen Aspekt zeigt, »erbarmungslos« zeigt. So hat er keine Hemmungen, den Helden in Back in the Game79 nach dem Aufstehen mangels klarer Sicht – zum Augenarzt will er auch nicht gehen – über die kleineren Teile seiner Wohnungseinrichtung stolpern und dann halb gelangweilt, halb amüsiert die Probleme beim viel zu lange dauernden morgendlichen Pinkeln kommentieren zu lassen. Der Film zeigt, wie das Vermeiden der eigenen Alterswahrnehmung in die Krise führt, aber es wäre nicht Eastwood, wenn er nicht auch einen Ausweg anböte.

Sven Gottschling, Palliativmediziner und Schmerztherapeut, zählt in seinem hervorragend lesbaren Buch Schmerz los werden80 Gründe für Schmerzen bei älteren Menschen auf: Harnwegsinfekte, Entzündungen im Anal- und Genitalbereich, Bauchschmerzen bei voller Blase (Prostatavergrößerung!), Verstopfung, Herpes Zoster, Nervenerkrankungen etwa bei Diabetes mellitus, rheumatische Erkrankungen, Entzündungen des Zahnfleischs durch nicht richtig sitzende Prothesen, Tumorschmerzen, Wundliegen. Aus der Kategorie Beweglichkeit kommen jetzt noch Muskelschmerzen durch langes Sitzen und Liegen dazu sowie die Folgen von Sturzneigung: Prellungen und Brüche.

Das wollen Sie alles nicht gerne haben? Ich auch nicht. Und damit wollen Sie sich ebenfalls nicht gerne bei Ihren alten Angehörigen beschäftigen. Diese Schmerzen kommen aus dem Lebensbereich, der so gar nicht glamourös ist: Eine Sportverletzung ist zwar nervig, aber die können Sie noch vorzeigen, verklärt durch eine gewisse Veteranenpatina. An einen Harnwegsinfekt wollen Sie nicht mal denken. Doch gerade um diesen Kram müssen Sie sich kümmern, weil er Ihnen sonst richtige Scherereien machen wird.

Und dann, ach ja, gibt es noch die Zustände in den Altenheimen, ganz und gar hausgemacht, völlig unnötig, aber furchtbar. Die machen den wahren Schrecken des Alters aus, denn wenn Sie dort angekommen sind, verfügen Sie kaum noch über Möglichkeiten, auf sich aufmerksam zu machen, sich zur Wehr zu setzen.

In deutschen Heimen leben grob geschätzt 750 000 Bewohner, von denen bis zu 80 Prozent an Schmerzen leiden!81 Sie haben Schwierigkeiten, ihre Schmerzen exakt zu benennen; was dazu führt, dass Schmerzen, ähnlich wie Depressionen, für eine selbstverständliche Begleitung des Alters gehalten werden. Die Forderung, dass gute Schmerzbehandlung integrativ ist und sowohl Menschen als auch Zeit braucht, gerät vor allem in den Alten- und Pflegeheimen in einen unlösbaren Konflikt mit der Realität.

Die Gründe haben wir alle schon mal gehört, man hört sie eigentlich ständig, wenn man sich mit dem Thema Altenheime beschäftigt: Im Zentrum steht Personalmangel. Da ist niemand, der das Jammern hören beziehungsweise darauf reagieren könnte; der Pfleger, die Pflegerin ist gerade auf dem anderen Stockwerk beschäftigt. Als direkte Folge geht die Lebensqualität runter, Schlafstörungen, Angst, Depression und Unterernährung gehen rauf. Und weil man mit dem dementen, rumjammernden Herrn, der nichts mehr isst, nicht klarkommt, legt man ihm eine dieser PEG-Sonden; so kann man ihm das Essen reinfüllen, ohne sich um sein Gejammer kümmern zu müssen – und läuft weniger Gefahr, irgendwelche Vorgaben nicht erfüllt zu haben.

Ja, was soll man denn tun? Demenzkranke können sich nicht adäquat verbalisieren, und aus dem Gejammer wird keiner schlau! Stöhnen, Weinen, aggressives Verhalten und Verwirrung nehmen zu, vor allem Schlafstörungen. Sedierende Schlafmittel folgen, die keinen Schlaf, aber Sturzgefahr bringen. Wenn man sich erst einmal etwas gebrochen hat und ans Bett gefesselt ist, hat das Elend irgendwann ein Ende. Soll so das Lebensende aussehen?

Nein! Aber wie soll man nun aus alten Menschen schlau werden, die ihre Schmerzen nicht adäquat ausdrücken können? Es gibt Schmerzbeobachtungsskalen82, die auf der Grundlage von Verhaltensbeobachtungen Rückschlüsse auf Schmerzen und die zu ergreifenden medizinischen Maßnahmen erlauben. Allerdings braucht man Personal, das solche Beobachtungen machen, auswerten und aus ihnen Konsequenzen ziehen kann.

Gottschling und seine Kollegen haben eine Studie in Deutschland und in Luxemburg erstellt. Die Unterschiede:

In Luxemburg ist speziell für die Schmerzerkennung ausgebildetes Pflegepersonal vorgeschrieben, in Deutschland nicht. In Luxemburg werden Fremdbeobachtungsskalen einmal pro Woche gemacht, in Deutschland einmal in drei Monaten. Das hat dann allenfalls noch den Sinn, den medizinischen Dienst der Krankenkassen zufriedenzustellen; am Elend alter Schmerzpatienten ändert es nichts. Tatsächlich bekommen Demenzpatienten sehr viel seltener Schmerzmittel. Was aber nicht daran liegt, dass sie seltener Schmerzen hätten.

Diese Situation wird durchaus benannt: Pflegekräfte sehen und sprechen die Probleme an; zu wenig Personal, zu wenig Schmerztherapeuten, zu wenig Schulungen, Nebenwirkungen der Schmerzmittel – dazu kommen wir gleich –, fehlende Zusammenarbeit zwischen dem noch vorhandenen Pflegepersonal, den Belegärzten et cetera. Das sind alles hausgemachte Probleme in diesem reichen Land. Ob es besser wird?

Der entscheidende Vorteil der im Zuge der Digitalisierung im Altenpflegebereich angedachten Pflegeroboter gegenüber pflegenden Menschen wäre für Träger und Krankenkassen zweifelsohne, dass man die so programmieren könnte, dass sie keine Probleme ansprechen, nicht rummotzen und sich nicht beschweren.

Verlassen wir bis auf Weiteres die Niederungen deutscher Altenpflege und wenden uns dem zu, wie es sein könnte: Wie macht man Schmerzbehandlung?

Gute Schmerzbehandlung ist integrativ, das heißt, nach einer gründlichen Diagnostik kombiniert sie Physiotherapie, Medikamente und Psychotherapie in unterschiedlicher Weise und Gewichtung, je nach Art des Schmerzes. Man braucht dafür Menschen – und vor allem Zeit.

Das funktioniert also nicht so, dass ein Orthopäde Sie in die Röhre steckt, Ihnen ein paar Spritzen reinjubelt, Schmerzmittel verschreibt und Sie, wenn das alles nicht hilft und Sie sich nicht operieren lassen wollen, zu irgendeiner Krankengymnastin überweist. Idealerweise arbeiten Ärzte und Physiotherapeuten eng zusammen. Ich will Ihnen hier aber nicht die kleine Vorlesung zur integrativen Schmerzbehandlung anbieten. Infomieren Sie sich bitte selbst! Integrativ ist das Stichwort!

Dabei kommt den nichtmedikamentösen Verfahren die wesentliche Rolle zu: Unter Anleitung der Physiotherapeuten lernen Sie wieder körperliche Aktivität. Bewegen, bewegen, bewegen! Ruhe ist als Behandlungskonzept bei chronischen Schmerzen inzwischen abgelöst. – Irgendwie erinnert mich das an die Neudefinition des guten alten Ruhestandes, Sie nicht?

Ein kurzer Blick auf Schmerzmedikamente:

Was sollten Sie wissen? Die Verschreibung ist Sache des Arztes, aber Sie wenden die Ihnen verschriebenen Medikamente ja an, und da kann man so einiges falsch machen.

Über die Gefahren, Diclofenac einzusetzen, um trotz Schmerzen Sport treiben zu können, habe ich schon geschrieben. Es gehört wie ASS und Ibuprofen zu den Nicht-Opioid-Schmerzmitteln und sollte nur nach eingehender Beratung durch Ihren Arzt eingenommen werden. Denn diese Medikamente können gravierende Nebenwirkungen haben, wenn Sie sie länger als fünf – oder zehn Tage – nehmen, da gehen die Meinungen auseinander, aber wenn ich so etwas nehmen würde, wäre ich gerne auf der sicheren Seite.

Wenn Sie darüber mehr Details wissen wollen, lesen Sie Gottschling!83 Er versteht mehr davon als ich. Das gilt auch für die Opiate, die für die Langzeitanwendung, also bei starken Dauerschmerzen, die idealen Medikamente zu sein scheinen. Sie haben

Nun die Seele: Gute Schmerzbehandlung ist integrativ, das heißt, sie integriert auch Psychotherapie. Welche Psychotherapie? Nein, nicht die Couch und Ihre Nachfolgetherapien, Liegen ist zu ruheorientiert. Im Ernst. Es geht um einen kurzfristigen, an der Störung orientierten Therapieansatz, in Absprache mit Orthopäden, Schmerztherapeuten und Physiotherapeuten, und den können von der Ausbildung her am besten Verhaltenstherapeuten realisieren. Fragen Sie nach der fachlichen Ausrichtung des Psychotherapeuten! Auch hypnotische Verfahren können hervorragend bei Schmerz wirken, wieder in einem integrativen Ansatz.

Gibt es eine spirituelle Seite des Schmerzes? Ich bin überzeugt davon, aber es ist Ihre Sache, wie Sie mit dem Leben umgehen. Um es mal auf einen kurzen Nenner zu bringen: Es macht für Ihr Erleben einen Unterschied, ob Sie gutes Leben als etwas empfinden, worauf Sie Anspruch haben und dessen Fehlen Sie wütend macht und enttäuscht – oder ob Sie sich, zum Beispiel durch Meditation, in die Lage versetzen, mit dem umzugehen und das zu akzeptieren, was auf Sie zukommt und was unausweichlich ist. Das kann ich nicht rezeptieren, das hängt allein von Ihnen selbst ab. Your choice again.

Thich Nhat Hanh, der Ihnen inzwischen vertraut sein könnte, spricht vom »zweiten Pfeil«, den es zu vermeiden gilt (Überraschung: Es gibt auch sinnvolles »Vermeiden«):

»Dein Leiden ist der erste Pfeil. Der zweite Pfeil ist durch deine Reaktion gegeben, zum Beispiel Verärgerung, Irritation, Widerstand. … Angst, weil Du die Situation für viel schlimmer hältst, als sie tatsächlich ist, die Unfähigkeit zu akzeptieren, dass Du getroffen bist; vielleicht auch tiefe Enttäuschung oder Bedauern.«84

Alterskrankheiten

Fast alle Krankheiten des Alters können auch in jüngerem Alter auftreten. Andererseits unterscheiden sich die mit diesen Krankheiten verbundenen medizinischen Probleme älterer Menschen, unabhängig von den einzelnen Erkrankungen, ziemlich stark von den Problemlagen jüngerer Menschen. (siehe auch das Interview mit Dr. Peter Häussermann). Der Druck, einen Menschen wieder in den Arbeitsmarkt eingliedern zu müssen, ist verschwunden, aber dafür nimmt die Gefahr zu, dass einmal aufgetretene Störungen oder Defizite chronisch werden. Zum Beispiel bei den Depressionen: In der Berliner Altersstudie zeigte sich, dass Menschen, die beim ersten Kontakt allenfalls einzelne depressive Symptome hatten, ein paar Jahre später die Diagnose »chronische Depression« bekamen85. Depressionen verlaufen eigentlich phasenweise, sie kommen und gehen auch wieder. Was passiert im Alter? Wie könnte man das verhindern?

Die Themen Muskelabbau, Koordinationsdefizite, Sturzgefährdung rücken in den Vordergrund. Eigenständige Zentren für Altersmedizin versuchen, diese Entwicklung zu berücksichtigen. Idealerweise tragen die baulich/räumliche Gestaltung und eine altersgerechte Strukturierung der Abläufe dazu bei, die Krankenhausaufenthalte älterer Menschen möglichst komplikationslos ablaufen zu lassen. Am Beginn des Aufenthalts werden Ernährungszustand, kognitiver und affektiver Status, Gehfähigkeit, die Alltagstauglichkeit und das Potenzial für eine Pflegebedürftigkeit erfasst.

Im Alter machen Ihnen Krankheiten Probleme, die schon früher im Leben begonnen haben und bei denen Sie es nun mit dem späten Verlauf zu tun haben, zum Beispiel bei Herz- und Lungenkrankheiten. Bei anderen Krankheiten sammeln Sie im Lauf Ihres Lebens die Risiken an, deren Summation irgendwann im Alter entscheidet, ob Sie erkranken. Das ist bei den Folgen vom Rauchen, vom Alkoholmissbrauch, vom Übergewicht der Fall. Wenn Sie etwas gegen diese Risiken tun wollen, müssten Sie zu einem Zeitpunkt damit beginnen, an dem Sie das Alter noch nicht im Blick haben. Im Alter ist es meist zu spät, um Prävention zu betreiben. Selbst bei typischen Alterskrankheiten glauben Forscher mittlerweile, dass Sie die Risiken ein Leben lang erwerben, ohne dass wir genau wissen, welche Risiken das eigentlich sind. Aber offensichtlich produziert das Leben Risikofaktoren, die sich beispielsweise nach neunzig Jahren als Demenz manifestieren. Nach sechzig oder siebzig Jahren ist das noch nicht so, wie die Prozentzahlen in den verschiedenen Altersstufen zeigen. Deswegen ist es kein Wunder, dass die Forschung auf diesem Gebiet so langsam vorangeht: Es gibt kein tierexperimentelles Modell, das so lange Zeiträume erfassen könnte, abgesehen davon, dass auch die aktive Arbeitsphase der meisten Forscher dafür nicht ausreicht.

Bei manchen Alterskrankheiten kann man leicht Abhilfe schaffen, andere beeinflussen die Lebensqualität im Alter wesentlich. Deswegen ist die Frage, ob und was man dagegen tun kann, von besonderer Bedeutung für Sie.

Die anderen nuscheln so:

Das finden vor allem die älteren Männer, denn Frauen werden seltener schwerhörig.86 Trotz einer großen individuellen Schwankungsbreite nimmt die Hörfähigkeit mit dem Alter ab, allerdings geht das schon mit zwanzig für den Hochtonbereich los. Im Allgemeinen muss man lauter sprechen, damit einen ein alter Mensch von achtzig verstehen kann. Aber es wird doch so viel Unsinn geredet, da schadet es nicht, wenn man nicht alles versteht – sagen vor allem die Männer. Das Problem ist, dass mit zunehmendem Hörverlust auch das Sprachverständnis entschwindet! Sie verstehen nicht mehr, was man Ihnen sagen will, und das beeinträchtigt Ihre sozialen Kontakte. Deswegen sollten Sie ein Hörgerät tragen! Und zwar sobald Sie den Hörverlust bemerken. Nur: Sie merken es ja gar nicht. Ihre Chance: Nehmen Sie ernst, was Ihnen Ihre Frau, Partnerin, Kinder et cetera sagen, und seien Sie nicht bockig! Das sind Sie, weil Ihnen der normale altersabhängige Hörverlust peinlich ist. Normal heißt, dass Sie umso schlechter hören, je älter Sie werden: Was bei einem 40-Jährigen noch pathologisch ist, wäre bei einem 80-Jährigen normal. Weitere Probleme des zunehmenden Alters sind: Ohrgeräusche, der Tinnitus; oft tritt der nach einem sogenannten »Knalltrauma« auf, wenn Sie den empfindlichen Zellen Ihres Innenohres zu laute Geräusche zugemutet haben. Das bezieht sich keineswegs nur auf einen Knall im Sinne des Wortes, sondern auf zu laute Musik, Baulärm, das Starten eines Jumbojets u. ä. Das Tragen von Gehörschutz bei einem Konzert mit Heavy-Metal-Klängen wäre sicher eine präventive, wenn auch nicht sehr populäre Maßnahme.

Es gibt elaborierte Möglichkeiten, einen Tinnitus zu bekämpfen. Dafür sollten Sie sich zu den Spezialisten begeben. Aus Sicht des Psychiaters wird ein Tinnitus vor allem zum Problem, wenn gleichzeitig eine Depression besteht. Dann glauben ihn die Betroffenen überhaupt nicht aushalten zu können. Mit dem Wirkungseintritt der Depressionsbehandlung nimmt die Dringlichkeit des Problems sukzessive ab.

Hörgeräte profitieren von einem enormen technischen Fortschritt; sie werden immer besser, das lästige Pfeifen bei Rückkopplungen gibt es kaum noch, und – wenn Ihnen Ihre Schwerhörigkeit weiterhin peinlich sein sollte – immer kleiner, das heißt, man sieht sie kaum noch. Und auch wenn es dazu keine langen Interventionsstudien gibt: Hochgradig plausibel ist, dass Ihre Sozialkontakte besser bleiben, wenn Sie so ein Ding tragen.

Nicht mehr klar sehen:

Beim Sehen sind die Frauen schlechter dran.87 Und zwar sowohl was das Fern- als auch was das Nahsehen angeht. Auch wieder mit einer großen individuellen Breite.

Dazu kommen Augenkrankheiten, die im Alter zunehmen, grauer und grüner Star, Netzhautablösung, Makuladegeneration. Die Behandlung des grauen Stars, oder Katarakt, ist in entsprechenden augenärztlichen Zentren so perfektioniert, dass sie ambulant und fließbandähnlich ohne Probleme gemacht werden kann. Die Erhöhung des Augeninnendrucks (grüner Star) kann medikamentös gut reguliert werden; hier ist es wichtig, auf medikamentöse Wechselwirkungen zu achten, da viele Medikamente den Augeninnendruck erhöhen können. Netzhautablösungen lassen sich, wenn sie rechtzeitig entdeckt werden, gut behandeln. Die Makuladegeneration ist nach wie vor ein großes Problem, das zur Erblindung führen kann.

Grundsätzlich gilt: Wenn Sie Probleme mit dem Sehen bemerken, sollten Sie nicht davon ausgehen, dass es schon wieder wird, sondern einen Termin mit dem Augenarzt vereinbaren.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen:

Dazu gehören Bluthochdruck, Arteriosklerose, Herzrhythmusstörungen, koronare Herzerkrankung und der Herzinfarkt – zusammen machen diese Störungen die häufigsten Todesursachen aus, auch und gerade bei älteren Menschen. Ein wesentlicher Faktor in diesem Ursachen-Portfolio ist der Bluthochdruck, der wiederum Herzrhythmusstörungen, Nierenversagen, Schlaganfälle – also Gefäßverschlüsse oder Blutungen im Gehirn – und Herzinfarkte begünstigt. Alle diese Erkrankungen können tödlich ausgehen oder Invalidität nach sich ziehen. Weitere Risikofaktoren sind Erhöhungen des Cholesterins, der Triglyzeride und des Blutzuckers, die zur Arteriosklerose führen können, besonders der Herzkranzgefäße. Dies alles auf der Grundlage von Bewegungsmangel, Übergewicht, Rauchen, Stress und seelischen Belastungen. Und wenn keiner dieser Risikofaktoren für Sie gilt, kann es immer noch sein, dass Sie genetisch vorbelastet sind.

Dazu kommt, dass in jüngerem Lebensalter die Frauen durch die Östrogene weitgehend vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen geschützt sind, was aber nach der Menopause nicht mehr gilt.

So weit, so schlecht.

Die Situation wird dadurch nicht einfacher, dass die tatsächliche Bedeutung einiger dieser Risiken strittig ist. Nicht das Rauchen, nicht das Übergewicht und nicht der Bewegungsmangel. Auch wenn Sie deutliche Hinweise für eine Arteriosklerose haben, wenn mit einer Ultraschalluntersuchung der Gefäße Plaques an den großen Gefäßen nachgewiesen wurden, wenn Sie eine Angina Pectoris oder bereits einen Herzinfarkt hinter sich haben, ist Ihr Risiko eindeutig.

Schwieriger ist die Beurteilung, wenn all das fehlt und Ihr Arzt bei Ihnen lediglich erhöhte Fette oder einen erhöhten Blutzucker feststellt. Denn die Grenzwerte in diesem Bereich sind seit Jahren Gegenstand einer intensiven akademischen Diskussion, die noch nicht zu Ende ist. Der Verdacht lässt sich nicht ausschließen, dass diese Diskussion interessengeleitet ist: Von welchen Interessen? Interessen der Pharmaindustrie und der Ärzte. Wenn man Risiken und nicht Krankheiten behandelt, lässt sich mit den entsprechenden Medikamenten viel mehr Geld verdienen. Kann das Ihr Interesse sein? Fragen Sie Ihren Arzt nach der Evidenzlage für eine vorgeschlagene Behandlung!

Das gilt auch für die Behandlung der koronaren Herzerkrankungen und des Herzinfarktes: Nach den entsprechenden Leitlinien gibt es eine klare Vorgabe, dass bis zu zwei Verschlüsse an diesen Gefäßen mithilfe eines von einer peripheren Arterie vorgeschobenen Katheters und gegebenenfalls mit dem Einsatz von sogenannten Stents behandelt werden können. Das ist eine tolle Möglichkeit, die Ihnen eine Öffnung des Brustkorbs und den Ersatz der kranken Herzkranzgefäße durch andere, Ihrem Körper entnommene Blutgefäße erspart. Allerdings ist dieses Verfahren bei mehr als zwei Verschlüssen erheblich risikobehaftet; dann sollten Sie nach den Leitlinien zum Herzchirurgen überwiesen werden. Leider sieht die Praxis häufig anders aus, denn mit Herzkathetern und Stents lässt sich viel Geld verdienen. Wie hieß dieser Begriff noch mal? Interessengeleitet.

Osteoporose:

Knochen sind keine starre Angelegenheit, sondern befinden sich in einem ständigen Auf- und Abbau. Der wesentliche Reiz dafür ist die mechanische Belastung der Knochen, Druck und Zug durch die Schwerkraft und durch die am Knochen ansetzenden Muskeln.

Da sich die meisten Menschen im Alter zu wenig bewegen, haben sie ein erhöhtes Risiko zum Knochenabbau bis hin zum »porösen Knochen«, der Osteoporose, mit einer Neigung, sich leichter Brüche zuzuziehen.

Weitere Risikofaktoren für die Osteoporose sind

Das sind Risikofaktoren; also können sie die Entstehung der Osteoporose fördern, müssen es aber nicht. Sie können etwas dagegen tun!

Wenn Sie diese Liste Revue passieren lassen, fallen Ihnen wahrscheinlich ein paar Dinge auf:

Es gibt die üblichen Verdächtigen, Verhaltensweisen, die generell schwer vereinbar mit einem gesunden Leben sind: Rauchen, Alkoholmissbrauch, Unter- und Übergewicht. Selbst wenn es dafür nicht in jedem Fall kontrollierte Studien gibt, können Sie davon ausgehen, dass es Ihnen etwas bringt, wenn Sie solche problematischen Verhaltensweisen reduzieren, nicht nur für die Osteoporose. Dass eine solche Reduktion von etwas Falschem ebenfalls problematisch sein und ein Risiko mit sich bringen kann, ist eine Begleiterscheinung menschlichen Lebens. Trotzdem! Abwägen können Sie zumindest.

Dafür müssen Sie wissen, was die Symptome einer Osteoporose sind:

Krankheiten, die Osteoporose begünstigen, müssen Sie sowieso behandeln lassen. Bleiben die Geschlechtshormone und die Bewegung: Die Abnahme der Geschlechtshormone nach der Menopause beziehungsweise mit zunehmendem Alter ist nicht zu ändern. Im Bereich der Sexualität macht sich das erfreulicherweise weniger bemerkbar als beim Knochenwachstum. Es gibt viele Studien, die sich mit der Frage beschäftigt haben, ob die Einnahme von Hormonen in der Menopause den Verlust durch die körpereigene Freisetzung ausgleichen kann. Die klare Antwort ist: Nein. Zum einen sind die Wirkungen substituierter Hormone mit den körpereigenen nicht vergleichbar, zum anderen kann gerade die Östrogensubstitution mit einem hohen und nicht beherrschbaren Krebsrisiko einhergehen.

Nur im Fall des Vitamin D bringt eine Substitution etwas. Eigentlich bildet unser Körper Vitamin D selbst, wenn wir dem Sonnenlicht Zugang zu unserer Haut gewähren. Das passiert aber nur noch selten, weil wir meistens voll bekleidet durch die Gegend laufen und dies nur in raren Momenten des Sommerurlaubs oder des Aufenthaltes in fernen, warmen Ländern ändern. Das reicht für eine Vitamin-D-Bildung in vielen Fällen nicht aus. Gleiches gilt für die nördlichen Bundesländer, in denen die Sonne vor allem im Winterhalbjahr auch bei tollem Wetter so flach über dem Horizont steht, dass sie keinen nennenswerten Effekt haben kann.

Vitamin D bildet sich trotz Sonneneinstrahlung auch dann nicht, wenn Sie das tun, was Ihnen die Dermatologen mit vollem Recht empfehlen, nämlich Ihre Haut bei intensiver Sonneneinstrahlung mit Lichtschutzfaktor 30 bis 50 einzuschmieren, um dem Hautkrebs keine Chance zu geben. Angesichts dieser komplexen Lage empfiehlt es sich, ab und zu den Vitamin-D-Spiegel bestimmen zu lassen und, wenn er zu niedrig ist, unter ärztlicher Aufsicht zu substituieren. Unter ärztlicher Aufsicht und Kontrolle deshalb, weil Sie es auch nicht überdosieren dürfen, um die Leber nicht zu schädigen.

Ach ja, noch etwas: Vegetarier sollten gelegentlich mal ihren Vitamin-B-2-Spiegel bestimmen lassen.

Übrigens: Präventiv kann man der Osteoporose durch eine entsprechende Diät wahrscheinlich sehr gut vorbeugen: Brokkoli und so weiter!

Depression:

Was viele für das typische Erscheinungsbild des alten Menschen halten, ist in Wahrheit das Bild einer typischen Depression:

Keine Freude an den Dingen, die einen immer gefreut haben – nichts macht mehr so richtig Spaß. Kein Appetit, weder auf Essen noch auf Sex. Das Interesse ist weg und auch der Antrieb – kein Schwung mehr. Der Schlaf ist unregelmäßig und nicht mehr erquickend, aber viele liegen die ganze Zeit im Bett. Alles ist grau. Nicht sterben wollen, aber lebensmüde sein. Zu viel Trauriges erlebt haben, aber keine Trauer empfinden. Sozialer Rückzug. Angst.

Nun hat man als Psychiater oft den Eindruck, dass Depressionen im Alter häufig sind, aber tatsächlich ist die Statistik kompliziert:

Aktuelle Analysen von Krankenkassendaten zeigen einen Anstieg der Depressionsrate von 4 Prozent im Alter von 20 bis 29 Jahren auf 14 Prozent im Alter von 70 bis 79 Jahren, bei Frauen von 5 Prozent auf 18 Prozent und bei Männern von 3 Prozent auf 9 Prozent. Bei der direkten persönlichen diagnostischen Untersuchung in der »Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland« erfüllten jüngere Frauen im Alter von 18 bis 34 Jahren mit über 15 Prozent hingegen besonders häufig die Kriterien für eine Depression, die dann bis in die Altersgruppe der 55- bis 64-jährigen Frauen auf 6 Prozent zurückging. Bei Männern konnte kein entsprechender Trend festgestellt werden.88

Welche Faktoren begünstigen Depressionen im Alter? Eine Depression ist ein multifaktorielles Krankheitsbild, das viel mit Stress zu tun hat. Auch wenn es logisch erscheint, dass ein mit veränderter Emotionalität einhergehendes Krankheitsbild ursächlich vor allem durch psychologische Faktoren bedingt sein müsste, ist Stress nicht auf psychologische Faktoren beschränkt. Veränderungen jeder Art, Umzüge, das Sich-Trennenmüssen von Dingen, die einem im Laufe des Lebens ans Herz gewachsen sind, chronische und mit Schmerzen verbundene Erkrankungen, der Verlust von Bezugspersonen durch den Tod, chronische Konflikte, zum Beispiel mit Familienmitgliedern wie den Kindern, zu denen man eigentlich jetzt gerne einen guten Kontakt hätte, und last, not least die Einsamkeit.

Eigentlich lassen sich Depressionen auch im Alter gut behandeln, im Gegensatz zu vielen anderen Alterskrankheiten. Die hohen Prävalenzzahlen deuten allerdings darauf hin, dass diese Möglichkeiten nicht voll ausgeschöpft werden. Zwei Möglichkeiten stehen zur Verfügung: Psychotherapie oder medikamentöse Antidepressiva. Und eigentlich könnten Sie wählen, welche Methode Ihnen mehr zusagt: Sind Sie ein Mensch, der gerne seine Probleme ergründet, der über sich sprechen und sich mit anderen, auch in Gruppen, austauschen kann? Oder ist das nicht so Ihre Sache? Wollen Sie nur, dass dieser ziemlich scheußliche Zustand einfach weggeht, und sind dafür gerne bereit, Tabletten zu nehmen?

Vor- und Nachteile beider Behandlungen sind klar zu beschreiben.

Medikamente: Es gibt heute genügend unterschiedliche Antidepressiva, um für jeden Patienten und jede Konstellation der Depression die richtige Substanz zu finden. »Richtig« bedeutet: wirksam, aber mit möglichst wenig Nebenwirkungen. Da Wirkung und Nebenwirkungen eine sehr individuelle Angelegenheit sind, muss man sie ausprobieren. Was für den einen ideal ist, kann beim anderen unwirksam oder mit vielen Nebenwirkungen belastet sein. Für jedes Antidepressivum gilt, dass es bei 60 Prozent der Patienten wirksam und bei 40 Prozent unwirksam ist. Da die Wirkung nicht unmittelbar einsetzt, sondern mit einer Latenz von zwei bis vier Wochen, kann man nichts anderes tun, als es auszuprobieren.

Kritisch ist die Dosierung: Wenn Sie zu wenig nehmen, wirkt das Medikament nicht; bei einer zu hohen Dosierung nehmen die Nebenwirkungen zu – bis es gefährlich wird. Gerade bei Älteren ist die benötigte Dosierung oft deutlich niedriger als die Standardempfehlungen.

Dazu kommen die Wechselwirkungen: Ältere nehmen oft eine ganze Reihe unterschiedlicher Medikamente, für Probleme mit dem Blutdruck, mit dem Herzen, mit den Blutfetten und so weiter. Und nicht nur, aber auch Antidepressiva haben Wechselwirkungen mit diesen anderen Medikamenten, die teilweise durchaus kritisch werden können.

Eine häufige und häufig übersehene Nebenwirkung von Antidepressiva, aber auch von stimmungsstabilisierenden Medikamenten bei älteren Menschen ist die Hyponatriämie, zu deutsch ein zu niedriger Kochsalzspiegel im Blut. Da Natrium eine wichtige Voraussetzung für alle elektrischen Phänomene in unserem Körper ist, kommt es bei zu niedrigen Werten zu Funktionsstörungen vom Herzen, vom zentralen und vegetativen Nervensystem, was sich in Benommenheit, Stürzen und Ähnlichem äußern kann. Eine einfache Blutabnahme könnte das klären!

Was heißt das für den Sie behandelnden Arzt?

Er muss sich mit Antidepressiva, mit ihrer Dosierung und den Wechselwirkungen auskennen, gerade bei älteren Menschen. Er muss über das entsprechende Wissen verfügen, wann es sinnvoll ist, Blutspiegel zu bestimmen. Denn wenn eine Wirkung auf sich warten lässt oder Nebenwirkungen zu stark sind, kann das an einem zu niedrigen oder zu hohen Spiegel liegen. Den kann man bestimmen. Ihr Psychiater muss über ausreichend Zeit verfügen, Ihnen in den Wochen der Neueinstellung auf ein Medikament genügend Termine geben zu können, damit Sie beide sich über den Wirkungsgrad, über die Nebenwirkungen etc. abstimmen können; ein Termin alle vier Wochen reicht dafür definitiv nicht aus.

Bestehen Sie auf diesen Vorbedingungen für eine korrekte Behandlung! Wegen einer verfehlten Strategie der dafür zuständigen Gesundheitspolitiker und der Krankenkassen sind Termine bei Psychotherapeuten und neuerdings auch Psychiatern ein rares Gut geworden. Aber eine menschen- und vor allem altersgerechte Medizin ist ohne Gespräche nicht möglich!

Im Idealfall erleben Sie bei einer medikamentösen Therapie Ihrer Depression innerhalb weniger Wochen eine deutliche Erleichterung, und in zwei bis drei Monaten kann der ganze Spuk vorbei sein.

Vielleicht haben Sie gehört, dass Antidepressiva nicht wirksam seien. Es soll eine hohe Placebo-Antwort geben, und viele Studien hätten keine klare Evidenzlage ergeben. Das stimmt. In der Tat ist die Studienlage zur Antidepressiva-Wirkung eine hochkomplexe Angelegenheit, über die Fachleute lange diskutieren können. Aber sie rechtfertigt meines Erachtens nicht, auf Antidepressiva zu verzichten.

Einige Diskussionspunkte:

Alternative 2: Sie reden gerne und wollen eine Psychotherapie machen. Das ist im Prinzip eine gute Entscheidung, denn es gibt mehrere, speziell für die Behandlung von Depressionen entwickelte Psychotherapien: die Interpersonale Therapie, die Kognitive Verhaltenstherapie, und die Kognitiv-behaviorale Therapie für chronische Depressionen. Ein tiefenpsychologischer oder gar psychoanalytischer Ansatz ist bei der Depression nicht so sinnvoll, weil die ja in diesem Fall meist sehr langfristig angelegten Therapien oft noch andauern, wenn die Depression längst vorbei ist.

Das große Problem aller Psychotherapien ist die Verfügbarkeit von Therapeuten. Fast überall in Deutschland liegt die Wartezeit im Bereich von mehreren Monaten bis Jahren. Und das von den Krankenkassen eingerichtete Notfallsystem, das schnelle Termine beim Psychotherapeuten generieren soll, führt nur dazu, dass Sie zwar einen schnellen Termin bekommen, bei dem Ihnen der freundliche Therapeut aber sagt, dass bei ihm ein Platz erst wieder in zehn Monaten oder eineinhalb Jahren frei ist. Absurd! Speziell in einem reichen Land wie der Bundesrepublik Deutschland. Die Situation bei den Privatversicherten ist übrigens nicht nennenswert besser.

Was ist sinnvoll?

Sie sollten bedenken, dass Sie, wenn Sie mit 70 depressiv werden, wahrscheinlich nicht eineinhalb Jahre auf eine Therapie warten wollen. Deswegen ist es sinnvoll, zunächst einen Termin bei einem Psychiater und nicht beim Psychotherapeuten zu machen. Den bekommen Sie wahrscheinlich schneller, und der Kollege kann erst mal eine genaue Diagnose stellen – was Sie selbst nicht so richtig können. Anschließend kann er mit Ihnen die Fürs und Wider der verschiedenen Therapien diskutieren und vielleicht schon einige Gespräche über Ihre spezielle Problemsituation führen, Ihnen gegebenenfalls zusätzlich ein schlafanstoßendes Antidepressivum verschreiben. Aus Ihrer depressiven Stimmungslage heraus mit der entsprechenden Grübelneigung mögen Sie das nicht glauben: In vielen Fällen war es das schon, die Depression wird besser, und in zwei Monaten geht es Ihnen wieder gut. Das ist eine Erfahrung, die ich mit einigen Kollegen teile: Dass man nicht immer das volle Programm braucht, sondern dass es oft mit fünf Sitzungen und einer Kombination aus Medikamenten und Psychotherapie schon deutlich besser wird. Wenn danach immer noch die Notwendigkeit für eine Psychotherapie besteht, müssen Sie sich eben in die Warteschleife begeben.

Sie oder vielleicht Ihre Angehörigen fragen sich, ob Psychotherapie in Ihrem Alter überhaupt noch sinnvoll ist? Aber sicher doch! Gerade in Ihrem Alter hat sich so einiges angesammelt, über das man dringend mal sprechen sollte, weil es auf Bearbeitung wartet. Der Stoff von Depressionen sind Verluste, das unvermeidbare Thema des Älterwerdens, Rollenwechsel, wem sag ich das? Rollenkonflikte und Vereinsamung. Diese Thematik können Sie eins zu eins einem Manual der Interpersonellen Psychotherapie entnehmen89. Und es gibt viele Belege, wie erleichternd solche Gespräche gerade für ältere Menschen sein können.

Warum sollten Sie Depressionen überhaupt behandeln lassen? Medikamente lehnen Sie ab, und der große Redner sind Sie auch nicht? Letzteres Statement geht gerade den Männern bei aller Schweigsamkeit gerne von den Lippen.

Glauben Sie mir, ein gutes Konzept ist das nicht! Wenn die Depression, auch eine leichte, etwas tut, dann zerstört sie die Lebensqualität. Sie legt sich wie Mehltau auf alles, was Spaß macht, was Sie mal interessant fanden, und wenn sie lange genug anhält, halten Sie das für normal. Schwerere Depressionen sind lebensgefährlich im eigentlichen Sinn, besonders für Männer! Vor allem die neigen dazu, depressive Symptome wie die Lustlosigkeit, vor allem die am Sex, die Antriebsschwäche, den Grauschleier über allem, was mal toll war, für die bare Münze des Alters zu nehmen und ohne weitere Kommunikationsversuche, die sowieso nicht ihre Stärke sind, ihr Leben zu beenden, sich umzubringen. Und hinterlassen Angehörige, die sich für den Rest ihres Lebens, der gerade bei den Kindern noch ziemlich dauern kann, darüber grämen, wie um alles in der Welt sie den Suizid des Mannes, Vaters oder Opas denn nun verschuldet haben. Haben sie natürlich nicht, hat er, aber er ist dann nicht mehr da.

Lieber behandeln!

Angst:

Mist! Mit der Depression wären Sie noch zurechtgekommen. Aussitzen war ja schon bei vielen Problemen Ihre Devise. Zwar nicht sinnvoll, aber damit sind Sie über die Runden gekommen. Aber Angst geht gar nicht! Diese aufsteigende, immer stärker werdende Angst, deren Ende in der Unendlichkeit zu liegen scheint! Nicht auszuhalten. Müssen Sie auch nicht! Angst kann man genauso wie Depressionen, mit denen sie oft zusammen erscheint, gut behandeln. Und das sollte man auch, denn ein naheliegender Selbstheilungsversuch ist das Vermeiden, und das macht alles erst richtig schlimm: Sie gehen nicht mehr raus, vereinsamen noch mehr, trauen sich gar nichts mehr zu und geraten so in einen Circulus vitiosus, der Sie umgehend in die nächste Depression führt, obwohl Sie die letzte noch nicht überstanden haben. Behandeln muss man die Panik, aber auch die im Vergleich dazu »leise« Vermeidungsangst, denn die beeinflusst Ihr Leben fast noch mehr.

Der Chef des Hamburger Rückenzentrums am Michel, Dr. Mallwitz, erzählte, dass sich bei Schmerzpatienten oft ein erhebliches Angstpotenzial entwickle, das die wichtigste Maßnahme bei Schmerzen verhindere, nämlich sich zu bewegen. Deswegen setze man dort auf einen interdisziplinären Ansatz, bei dem auch Verhaltenstherapeuten eine wesentliche Rolle zukomme.

Für die Behandlung der Angststörungen gibt es auch wieder einen doppelten Ansatz: Auf die Schnelle helfen Antidepressiva gut, aber nachhaltiger ist die Verhaltenstherapie. Tiefenpsychologische Psychotherapie ist bei Angststörungen eher nicht sinnvoll, denn reden kann zwar für beide Seiten sehr befriedigend sein, aber die Angst wird nur besser, wenn Sie – trotzdem – etwas tun. Dieser Satz umreißt schon in der Kürze, was Verhaltenstherapie bei der Angst macht: Sie gehen mit therapeutischer Unterstützung in die Situationen hinein, die Ihnen Angst machen oder die Sie vermeiden wollen, und bleiben so lange darin, bis die Angst weniger wird. Wenn Sie das ein paar Male machen, haben Sie es geschafft. Dafür brauchen Sie zugegebenermaßen ein gutes Vertrauensverhältnis zu den Therapeuten, aber ohne das geht sowieso nichts.

Vermeiden geht über das Thema Angststörungen ja noch hinaus und ist als Variante des Alltagsverhaltens gerade bei älteren Menschen nicht ohne: Wenn wir in unserem Bewegungsverhalten unsicher, wenn unsere Sozialkontakte weniger geworden sind, ist Vermeiden eine einfache Alternative. Vermeiden hält sich im Zwischenfeld zwischen Ja und Nein auf, geht der klaren Antwort, die wir nicht geben wollen, aus dem Weg, lässt Zeit verstreichen, bis sich Probleme quasi von selbst erledigt haben, und erscheint wie der Königsweg zum bequemen Leben. Doch leider ist das ein Irrtum: Wenn Sie sich um klare Entscheidungen drücken, schleicht sich die Beliebigkeit in Ihr Leben ein, Sie sind nicht Fisch und nicht Fleisch, werden uninteressant für die anderen und schwächen sich selbst. Eine schlechte Voraussetzung, um gut zu altern!

Demenz:

Sie merken ja selber nicht viel davon. Denn die Veränderungen, die bei Ihnen passieren, wenn Sie dement werden, betreffen auch und gerade die geistigen Fähigkeiten, die Ihnen Selbsterkenntnis ermöglichen könnten. Allerdings sollten wir ehrlich sein: Selbsterkenntnis ist auch bei gesunden Menschen, die sich auf der Höhe ihrer geistigen Leistungsfähigkeit befinden, eine nicht oft abgerufene Fähigkeit. Sie könnte das zwischenmenschliche Miteinander zwar erleichtern, spielt aber de facto nur selten eine dominante Rolle.

Was passiert bei Demenz?

Unser Gehirn kann nicht mehr so, wie es all die Jahre konnte. Die neurobiologischen Befunde deuten darauf hin, dass das schon viel länger so geht, als wir oder die anderen es realisieren. Wahrscheinlich liegt das daran, dass gerade in unserem Großhirn viele Funktionen mehrfach abgesichert und vernetzt sind, sodass eine ganze Menge Verbindungen verschwinden müssen, bevor es auffällt. Wenn es auffällt, ist der Schaden aber meist irreparabel.

Zuerst verschwinden die Gedächtnisleistungen für die unmittelbar vergangenen Dinge. Sie können sich nichts mehr merken, vergessen vor allem Dinge aus dem alltäglichen Bereich – wohin haben Sie die Schlüssel gelegt, waren Sie schon mit dem Hund draußen? Sie brauchen eine Einkaufsliste, wenn Sie in den Supermarkt gehen, und den Namen des neuen Nachbarn haben Sie schon nach zehn Minuten wieder vergessen, wenn’s hoch kommt.

Ja, aber … Genau! Das ist ja nicht unbedingt neu, mit Namen haben Sie es noch nie gehabt, und vergesslich waren Sie auch früher schon, wenn Sie etwas Interessanteres im Kopf hatten. Waren das frühe Hinweise einer Demenz? Eben habe ich doch geschrieben, dass die Demenz viel früher anfängt, als Sie es bemerken?

Tatsächlich sind die ersten Hinweise vor allem für Sie selbst schwer zu entziffern. Mein Namensgedächtnis war immer eine nicht gut repräsentierte Alltagsleistung: Ich kann mich heute noch an die Gesichter und die Krankengeschichte von Patienten vor zwanzig Jahren erinnern, aber mir Namen korrekt zu merken, war nie mein Ding. Es hat keinen Sinn, sich verrückt zu machen; wenn Sie es werden, merken es vor allem die anderen.

Im Gegenteil kann es ein Zeichen sein, das gegen eine Demenz spricht, wenn Sie sich viele Gedanken um Ihre geistigen Fähigkeiten machen. Das tun vor allem Depressive. Denn bei der Depression ist unter anderem das Gedächtnis vorübergehend eingeschränkt, weswegen man auch von Pseudodemenz spricht. »Pseudo« deswegen, weil es eben keine echte Demenz ist, sondern wieder vergeht.

Deutlicher werden die Hinweise auf einen demenziellen Prozess, wenn Ihnen Alltagsfähigkeiten allmählich abhanden kommen, wenn zum Beispiel das Kochen schwierig wird, weil Sie vergessen, dass Sie die Herdplatte angestellt hatten, die inzwischen ein Ceranfeld ist, und die Reihenfolge der einzelnen Schritte bei der Zubereitung einer Mahlzeit nicht mehr auf die Reihe kriegen.

Ich merke, dass es ein komischer Gedanke ist, ich könnte das Kochen wieder verlernen. Denn ich habe erst spät, mit dreißig, richtig Kochen gelernt. Kochen macht mir viel Spaß, und meine Kinder und Freunde wissen, dass ich gerne und nicht schlecht koche. Das wieder aufgeben zu müssen, kommt mir wie ein Abschied von mir selbst vor. Jetzt glaube ich zu spüren, wie bedrohlich dieses Weniger-Werden, dieses Sich-Verlieren ist. Aber wahrscheinlich mache ich mir Sorgen über Vorstellungen und nicht über die Realität, denn Demente merken ja all das wohl weniger als die Angehörigen.

Wenn Sie oder Ihre Angehörigen die Frage umtreibt, ob Sie erste Anzeichen einer Demenz zeigen könnten, bekommen Sie nur dann eine sinnvolle diagnostische Antwort, wenn Sie sich von Spezialisten untersuchen lassen. Viele Krankenhäuser mit psychiatrischen und neurologischen Abteilungen haben Gedächtnissprechstunden eingerichtet, wo der gesamte diagnostische Ablauf gewährleistet ist. Nötig sind

Nicht nur die Untersuchungen, sondern auch die alles zusammenfassende Bewertung brauchen Erfahrung.

Warum sollen Sie das machen lassen? Haben Sie nicht gelesen, dass man bei Demenz sowieso nichts tun könne? Und was sollen Sie tun, wenn Sie eine »positive«, das heißt für Sie schlechte, Diagnose bekommen?

Es stimmt gar nicht, dass man »nichts« machen kann:

  1. Es gibt symptomatische Demenzformen, bei denen die Demenzsymptome Ausdruck eine behandelbaren Störung sind, einer Depression, einer Schilddrüsenstörung, eines Hirntumors. Depressionen sind eine häufige Differenzialdiagnose, die anderen sind seltener, aber all diese Alternativen haben eine hohe Relevanz, weil man sie sehr wohl behandeln kann, besonders depressive Störungen.
  2. Differenzialdiagnostisch kommt das sogenannte mild cognitive impairment, eine leichte Störung der kognitiven Leistungen, infrage, die gutartig ist; auch wenn es heute Hinweise gibt, dass sie nach längerer Zeit in eine Demenz übergehen kann, sind Ihre Sorgen das größte Problem.
  3. Selbst wenn eine Demenz vom Alzheimer-Typ als Ausschlussdiagnose übrig bleibt, ist diese Erkenntnis für die Organisation Ihres weiteren Lebens wichtig: Sie können zu einem Zeitpunkt, bei dem Sie noch mitzureden fähig sind, gemeinsam mit Ihren Angehörigen überlegen, wie und in welchem Rahmen Sie Ihr Leben führen möchten.
  4. Auch wenn man eine Alzheimer-Demenz nicht »heilen« kann, können Sie die Dauer und den Schweregrad beeinflussen, wenn Sie die dafür verfügbaren Medikamente vertragen.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber von heute aus gesehen ist für mich das Schlimmste an der Vorstellung, dement zu werden, die Befürchtung, dass ich die Kontrolle über mich und mein Leben verlieren werde. Der worst case ist der allein lebende, immer dementer werdende Mensch, bei dem das Fortschreiten der Krankheit so lange nicht bemerkt wird, bis die Nachbarn, Polizei, Ordnungsamt aufmerksam werden, was zur Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung führt, zur Auflösung der Wohnung und zur Unterbringung in einem Heim – und all das, ohne dass der Betroffene – ich, Sie – etwas dazu tun kann.

Nun kann man sich schon fragen, ob das für die Betroffenen so schlimm ist, weil sie die Tragweite der Situation ja gar nicht mehr erfassen. Schlimm ist die Vorstellung für mich, solange ich gesund bin, und schlimm beziehungsweise höchst relevant ist sie für die Angehörigen. Denn in unserem Sozialsystem kommt auf die Angehörigen so einiges zu, wenn Mutter oder Vater dement werden (siehe die folgenden Kapitel).

Was dann konkret in Ihr Leben tritt, wird von den meisten nur in der Kategorie »Belastung« gesehen. Das ist eine Verkürzung, wenn auch eine verständliche. Aber es geht ausnahmsweise vielleicht gar nicht darum, ob unsere Einschätzungen berechtigt sind, denn wer wollte das entscheiden außer uns selbst. Es geht darum, die Vielfalt des Lebens auch in schwierigen Zeiten wahrzunehmen. Und dazu gehört die Sichtweise, dass Krankheit und Alter eine große Chance sind.

»Da kommt noch etwas Wichtiges«90

Hilary Swank hat ihre Schauspielkarriere für drei Jahre unterbrochen, weil ihr Vater sich einer Lungentransplantation unterziehen musste.91

»Es ging um sein Leben: … ich musste mich um ihn kümmern. … Es war für uns beide eine unglaublich traurige, schwierige, lehrreiche Zeit. … Im Nachhinein betrachtet war diese Auszeit für meine persönliche Entwicklung ebenso wichtig, wie für meinen Vater da zu sein.«

Sie verdrängt nicht, dass es traurig war und schwierig. Aber trotzdem sieht sie diese schwierige Zeit als einen Gewinn! Persönliche Entwicklung, hallo! Das wird normalerweise mit kreativer Entfaltung, Freiheit von Zwängen et cetera gleichgesetzt. Wir glauben, uns entwickeln zu können, wenn wir nichts für andere tun müssen. Aber Hilary Swank »musste« sich nicht um ihren Vater kümmern, sondern sie hat sich so entschieden angesichts der Herausforderung seiner lebensbedrohlichen Erkrankung. Und sie hat etwas gelernt:

»Es gibt nichts Wichtigeres im Leben eines Menschen als Gesundheit – oder noch krasser ausgedrückt: Es gibt nichts Wichtigeres, als am Leben zu sein. Alles andere ist nebensächlich. … Ich habe gelernt, wie belanglos viele Dinge sind, die uns unnötigerweise belasten … Das Leben wird in solchen Fällen auf seine Essenz reduziert. Eine Krise ist ein Weckruf, in meinem Fall ist sie sogar eine permanente Ermahnung.«

Sie betont hier etwas, das unter den Zwängen des Alltäglichen immer wieder verloren geht: dass jeder Tag, jede Stunde und jede Minute mit ihren unwiederbringlichen Möglichkeiten einmalig sind. Dass wir unser Leben nicht vertrödeln sollten. Vielleicht können Sie versuchen, sich diese Möglichkeit zu vergegenwärtigen, wenn Sie mit einer schweren Krankheit von Vater oder Mutter konfrontiert werden. Okay, Hilary Swank, eine besondere, tolle Frau. Sie sind auch toll!

Arno Geiger hat sich intensiv damit auseinandergesetzt, wie schwierig es für ihn war, die Demenz seines Vaters überhaupt wahrzunehmen:92

»Die Krankheit des Vaters fing auf so verwirrende Weise langsam an, dass es schwierig war, den Veränderungen die richtige Bedeutung beizumessen. … Niemand sah, dass er langsam seine alltagspraktischen Fähigkeiten verlor. … Heute befällt mich ein stiller Zorn über diese Vergeudung von Kräften; denn wir schimpften mit der Person und meinten die Krankheit: »Lass Dich bitte nicht so gehen!«

Demente hängen sich zu Beginn ihrer Krankheit kein Schild mit der Diagnose um den Hals. Deshalb gehen wir davon aus, dass ihr Charakter, ihre Seele so bleibt, wie wir sie immer wahrgenommen haben. Und sind erstaunt, dass sich dieser Mensch plötzlich ganz anders, ungewohnt verhält. Wir verstehen das nicht und versuchen, Erklärungen zu finden, die aber stets Erklärungen im Unwissen um die Erkrankung sind. Wir glauben am Beispiel von Geiger, der »Alte« ließe sich gehen oder er würde grundlos bösartig, läppisch. Grundlos! Als ob alles, was wir Gesunden tun, gute Gründe hätte! Es gibt »nette« Demente, und es gibt welche, die aggressiv und ätzend sind, es gibt Menschen, die friedlich vor sich hin leben, und es gibt andere, die plötzlich wieder von uralten Ängsten geschüttelt werden, nur weil all das, was sie sich zur Bekämpfung dieser Ängste zurechtgelegt hatten, durch den demenziellen Prozess zerstört wurde. Und auch diese, gerade erst aufgestiegene Symptomatik verschwindet eines Tages wieder.

Meine Großmutter, die ich immer als herzensgute Frau erlebt habe, die sich mit allen in der Familie gut verstand, fing plötzlich an, meiner Mutter die Konflikte vorzuhalten, die es offenbar gegeben hatte, als meine Eltern sich kennenlernten und meine Großeltern gegen meinen Vater – ein viel älterer Mann, verheiratet, noch nicht einmal geschieden und auch noch Künstler – opponiert hatten; ohne Erfolg, sonst gäbe es mich nicht. Ich kannte diese Geschichte natürlich nicht, und meine Mutter war verzweifelt, dass diese zurückliegenden, ungemütlichen Themen von der alten und plötzlich gar nicht mehr herzensguten Dame wieder ans Licht gezerrt wurden.

Leichter verstanden hätten wir das, wenn wir gewusst hätten, dass meine Großmutter, die perfekte Hausfrau alter Schule, allmählich immer schlechter mit dem Haushalt zurechtkam, das Essen anbrennen ließ und trotz ihrer ein Leben lang praktizierten peniblen Sauberkeit inkontinent wurde. Das bekamen wir aber gar nicht mit, weil mein Großvater, bis dahin ein Pascha wie er im Buche stand, mit dem Einsetzen der Defizite meiner Omi begann, eben diese Aufgaben selber zu erlernen und zu übernehmen, weil er sie nicht bloßstellen wollte. Zum Zeitpunkt ihres Todes war er der perfekte Hausmann. Herausforderung …

Tatsächlich gibt es keine Systematik, welche Denkstrukturen und -inhalte zuerst oder später verfallen, und deshalb ist auch jeder Verlauf anders. Häufig ist es so, dass die Dinge, die später im Leben durchlebt werden, die Angewohnheiten oder Kompromisse, die wir uns erst in den letzten Jahren angewöhnt haben, zuerst wieder verschwinden und alte Themen zum Vorschein kommen.

Wegen diesem ständigen Wechsel und wegen der Unvorhersagbarkeit ist die Betreuung und Pflege demenzkranker Angehöriger so eine gewaltige und auch verzehrende Aufgabe. Das kann man nicht allein bewältigen, und deswegen ist es gut, den Kontakt zu anderen zu suchen, zu Organisationen, die Selbsthilfe, Austausch und Unterstützung anbieten, zum Beispiel die Deutsche Alzheimer Gesellschaft93. Ihnen ist es peinlich, über die Symptomatik Ihres Vaters, Ihrer Frau zu reden? Über die Aggressionen, über die Inkontinenz? Wenn Sie sich in eine Angehörigengruppe begeben, werden Sie feststellen, dass es all den anderen auch mal peinlich war, aber dass ihnen die Meinung und die Erfahrungen der anderen unheimlich geholfen haben, nachdem sie sich erst einmal durchgerungen hatten, sich mitzuteilen.

»Und ich habe auch gelernt, dass man für das Leben eines an Demenz erkrankten Menschen neue Maßstäbe braucht. … Für ihn gibt es keine Welt außerhalb der Demenz. Als Angehöriger kann ich deshalb nur versuchen, die Bitterkeit des Ganzen ein wenig zu lindern, indem ich die durcheinandergeratene Wirklichkeit des Kranken gelten lasse. … Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm.«

Es wird schon klar, dass Arno Geiger es nicht leichtgefallen ist, sich in die Welt des Vaters zu begeben. Wie es keinem von uns leichtfallen würde. Es würde aber beiden, dem Dementen und dem Gesunden, vieles leichter machen.

»Dort drüben, innerhalb der Grenzen seiner geistigen Verfassung, jenseits unserer auf Sachlichkeit und Zielstrebigkeit ausgelegten Gesellschaft, ist er noch immer ein beachtlicher Mensch, und wenn auch nach allgemeinen Maßstäben nicht immer ganz vernünftig, so doch irgendwie brillant.«

Dass es noch andere Werte gibt als Sachlichkeit und Zielstrebigkeit, sagt sich so leicht. Unsere Chance wäre, dass unsere dementen Angehörigen uns das erfahrbar machen. Das Einlassen auf den dementen Vater bringt für Arno Geiger Einsichten, die er sonst schwerlich gehabt hätte:

»Nachdem ich jahrelang auf nichts mehr neugierig gewesen war, was er zwischen Patiencen legen und Fernsehen getrieben hatte, packte mich das neue Interesse auch deshalb, weil ich spürte, dass ich dabei war, etwas über mich selbst zu erfahren – es war lediglich noch unklar, was. Der tägliche Umgang mit dem Vater ließ mich nicht mehr nur erschöpft zurück, sondern immer öfter in einem Zustand der Inspiriertheit.«

Überraschend ist, dass die Alten in der Demenz auf ihre Weise »brillant« werden können:

»… und der Vater fing an, kreativ zu werden.

Lange hatten wir es mit Vergesslichkeit und dem Verlust von Fähigkeiten zu tun gehabt, jetzt begann die Krankheit, neue Fähigkeiten hervorzubringen. Der Vater, der immer ein ehrlicher Mensch gewesen war, entwickelte ein herausragendes Talent für Ausreden.«

Auch im zwischenmenschlichen Bereich findet der demente Vater spannende Alternativen:

»Papa, weißt Du überhaupt, wer ich bin?«

Die Frage machte ihn verlegen, er wandte sich zu Katharina – die Lieblingspflegerin – und sagte scherzend mit einer Handbewegung in meine Richtung: »Als ob das so interessant wäre.«

Allerdings glaube ich, dass Sie den Witz nur erfassen können, wenn Sie sich die Erfahrung nicht selber kaputt machen, indem Sie ständig bedauern, dass diese besondere Schlagfertigkeit ja nur auf der Grundlage des Verlustes anderer, »rationalerer« Fähigkeiten möglich wird.

Die Brillanz steht auch in den Gesprächen von André Heller mit seiner hochbetagten Mutter im Vordergrund:94

»AH: Hast Du denn manchmal das Gefühl zu verblöden?

M: Die Angst hab ich schon, aber ich vergess nur manches, das ich wahrscheinlich auch für gar nichts mehr brauchen kann. Irgendetwas räumt in meinem Gedächtnis auf, und das Überflüssige wird ausgeschieden. Seitdem hab ich auch nie mehr Kopfweh.

AH: Glaubst Du, wir beide leben in unterschiedlichen Welten?

M: Ja unbedingt. Du lebst in der Phantasie und ich eher sehr in der Wirklichkeit.

AH: Ich liebe dich, Mami.

M: Das weiß ich, ich lieb dich auch. Jetzt ist zwischen uns alles harmonisch.

AH: Früher war das anders, wir hatten oft Streit.

M: Wegen der Unterschiede, … zwischen Dir und mir. Ich bin ganz anders und kann nicht so schweben.

AH: Du meinst, ich kann schweben?

M: Du warst manchmal so von oben herab, als ob Du schweben würdest, das ist einer der Unterschiede.«

Ich finde diese Dialoge wunderbar. Zuerst habe ich mir gedacht, der Heller traut sich was, die Gespräche mit seiner offensichtlich dement werdenden Mutter als besonders zu verkaufen. Aber dann wurde mir klar, dass auch ich sie als etwas Besonderes sehen kann, wenn ich mir verkneife, alles immer nur unter dem ach so vernünftigen, rationalen Primat zu sehen.

Meinen Sie, dass ich zu viel Raum für die Zitate aus der Auseinandersetzung von Celebrities mit Krankheit und Demenz verwende? Sagen wir’s mal so: Kreative können uns Blickwinkel auf die Welt vermitteln, die wir von allein nicht gefunden hätten. Und das tut uns gut, gerade in der Auseinandersetzung mit dem Schweren, das die Demenz unbestreitbarerweise auch ist.

Wie lässt sich eine Demenz behandeln?

Prävention ist schwierig. Natürlich würden wir alle unsere mögliche Demenz gerne verhindern. Aber wie?

Wir wissen einiges darüber, welche Menschen seltener dement werden: Dirigenten zum Beispiel. Wunderbar wäre, wenn das Machen oder mindestens das Hören von Musik Demenzen verhindern würde. Wahrscheinlich ist es aber eher die ständige Bewegung als die Musik: Dirigenten bewegen sich sehr viel, je nach Stil ihren ganzen Körper mit Betonung der Arme, und sie werden seltener dement. Das haben sie mit Menschen, die viel Sport machen, gemeinsam. Schon acht Kilometer Gehen pro Woche soll das Demenzrisiko deutlich senken, und damit ist noch nicht mal Ihr Labrador zufrieden. Wir wissen aber nicht, über wie viele Jahre man sich bewegen muss, um einen markanten antidementiven Effekt zu erzielen. Dirigenten üben ihre Tätigkeit meistens seit ihrer Jugendzeit aus, man beginnt ja nicht mit 65 zu dirigieren. Und auch für die Gruppe der sich viel Bewegenden gibt es keine Angaben, wie lange man das machen muss.

Das gilt leider auch für andere Belastungsfaktoren: Wir glauben zu wissen, dass Übergewicht Demenz fördert, obwohl nicht ganz klar ist, ob das daran liegt, dass Übergewichtige sich weniger bewegen; erst recht wissen wir nicht, wie früh die Gewichtsreduktion einsetzen muss, um einen positiven Effekt zu entfalten. Alkohol ist negativ, natürlich, genau genommen wahrscheinlich alles über 100 Gramm pro Tag, aber wann spätestens muss man mit der 100-Gramm-Diät beginnen, um die Demenz zu vermeiden?

Ein hohes intellektuelles Niveau scheint günstig zu sein. Das ist schön. Aber dieser präventive Faktor ist wahrscheinlich auf die Erziehung durch unsere Eltern zurückzuführen und weniger unser Verdienst. Und wenn die Eltern keinen Wert auf entsprechende Erziehung gelegt haben? Natürlich können wir uns selbst auch mit spannenden, häufig wechselnden Aufgaben beschäftigen, um unser Nervensystem auf Touren zu bringen; die Überlegung ist naheliegend, dass eine bessere Vernetzung eine Manifestation der Demenz verlangsamt. Wichtig: Es sollte Spaß machen, unser Interesse fesseln, denn nur das bedingt den richtigen Neurotransmitter-Cocktail, damit sich eine Beschäftigung mit Neuem auch in der Nervenzellstruktur niederschlägt. Das widerwillige Abarbeiten von mehr oder weniger öden Rätseln oder Sudokus hat jedenfalls keinen nachweisbaren Effekt.

Geistige Beschäftigung mit anregenden Themen, Spiele, die Spaß machen, sind auch dann noch eine gute Maßnahme, wenn eine beginnende Demenz nachgewiesen wurde. Das Beste selbst bei fortschreitender Demenz sind sicher eine interessante Beschäftigung mit den Betroffenen und anregende zwischenmenschliche Kontakte.

Zu diesem Zeitpunkt sollte man sich allerdings die Frage stellen, ob antidementiv wirkende Medikamente nicht eine sinnvolle Maßnahme sein könnten. Was können die? Die Verschlechterung der kognitiven Leistung verlangsamen. Und eine solche Maßnahme macht mehr Sinn, wenn das Ausgangsniveau noch hoch genug ist, die Demenz also noch nicht weit fortgeschritten ist.

Zwei Gruppen von Medikamenten haben nachgewiesene Wirkung:

  1. Cholinesterase-Hemmer: Die Theorie geht davon aus, dass ein Teil der Symptome auf einem Mangel des wichtigen Neuro-Transmitters Azetylcholin beruht. Die Hemmung des abbauenden Enzyms, der Azetylcholinesterase, führt zu höheren Spiegeln von Azetylcholin. Problematisch für die Anwendung sind die Nebenwirkungen, die sich besonders im Magen-Darm-Trakt manifestieren, denn die Bindungsstellen für Azetylcholin sind dort relativ hoch konzentriert. Und natürlich muss eine regelmäßige, kontrollierte Einnahme gewährleistet sein.
  2. Memantin, ein Glutamat-Antagonist: Diese Wirkung beruht auf der Annahme, dass Übererregungszustände zum Untergang von Nervenzellen führen. Das Nebenwirkungsprofil umfasst Müdigkeit, Schwindel, erhöhten Blutdruck. Memantin ist erst bei mittelschwerer und noch nicht bei leichter Demenz zugelassen.

Wenn die Demenz fortschreitet, können andere Zielsymptome dominieren, etwa Aggressionszustände, Umtriebigkeit oder depressive Phasen, die mit den entsprechenden Medikamenten behandelt werden könnten. Allerdings ist hier besondere Vorsicht geboten, da die Patienten meist nicht mehr in der Lage sind, sich differenziert zu möglichen Nebenwirkungen zu äußern, und auch, weil sich das Krankheitsbild schnell ändern kann.

Ein besonderes Problem ist der Schlaf: Wenn er gestört ist, führt das schnell dazu, dass ein Patient nicht mehr zu Hause leben kann. Denn Angehörige, die oft viele Opfer bringen, um Demenzkranke im vertrauten Umfeld betreuen zu können, kommen in der Regel an ihre Grenze, wenn der Patient nachts unkontrolliert im Haus umherwandert, während sie schlafen wollen. Die Schlafstörung kann durch die neuronalen Umbauprozesse verursacht werden, aber häufiger ist es eine quasi selbst gemachte Verhaltensstörung, die fast unbemerkt beginnt und sich schnell zu einem, zu Hause kaum noch zu behebenden Problem auswächst: der Umkehr des Schlaf-Wach-Rhythmus.

Es fängt ganz harmlos damit an, dass der beliebte Mittagsschlaf länger als zehn Minuten (ideal!) oder eine halbe Stunde (tolerabel) ausgedehnt wird. Wenn zu viel am Tage geschlafen wird, ist nicht mehr genug Schlafdruck für die Nacht da, denn die Gesamtschlafzeit ist physiologisch relativ festgelegt. Schnell entwickelt sich eine verhängnisvolle Spirale, denn der mangelnde Nachtschlaf verstärkt wieder die Müdigkeit am Tage. Es lohnt sich, gut auf den Schlaf von Demenzpatienten zu achten und besonders einen zu langen Mittagsschlaf zu verhindern. Wenn der Schlaf-Wach-Rhythmus erst einmal umgekehrt ist, wird es schwierig.

Schlafmittel sind in dieser Situation und auch sonst meist keine Lösung, denn sie sedieren, reduzieren die Koordination und führen sehr oft zu Stürzen, die mit den zu erwartenden Frakturen den Zustand der Patienten viel stärker verschlechtern, als er durch die Demenz bedingt wäre.

Bei unruhigen Patienten in sehr unterschiedlichen Krankheitsstadien hilft die ja auch in der Prävention bewährteste Maßnahme: Bewegung! Ein Bewegungsdrang, dem man nicht nachgeben kann, ist schon bei nicht Dementen quälend und verstärkt Aggressionen und Unruhezustände. Deswegen sollte auch bei dementen Patienten immer dafür gesorgt werden, dass sie sich genügend bewegen. Im Klartext bedeutet dies, dass man mit ihnen spazieren gehen muss, eine einfache Tätigkeit, der viele Demente begeistert nachkommen. Alleine können sie das aber nicht mehr, weil sie meistens an einer Orientierungsstörung leiden, die dazu führen würde, dass sie sich verlaufen. Die gar nicht so seltenen Durchsagen entsprechenden Inhaltes in den Nachrichten unterstreichen die Relevanz dieses Problems.

Eine andere gute Intervention, auch bei schwerer Dementen, kann die Einführung von Schaukelstühlen sein. Selbst wenn Patienten nicht mehr weitere Strecken gehen können, machen sie von dieser Möglichkeit der Bewegung gerne Gebrauch, was sich auf ihr Wohlbefinden positiv auswirkt.

Wer aktiv ist, bleibt fit

Interview mit Privatdozent Dr. Peter Häussermann, Chefarzt der Abteilung Gerontopsychiatrie, an der LVR-Klinik Köln. Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität zu Köln.

Was kann ich tun, um geistig fit zu bleiben?

Um geistig fit zu bleiben, muss man sich auch im Alter anstrengen, und man muss Freude an sozialen Aktivitäten haben. Denn der soziale Kontakt ist beim Menschen die stärkste Triebfeder für geistige Aktivität, und wer aktiv ist, bleibt fit.

Helfen Sudokus zum Beispiel?

Wem es Spaß macht, der kann Sudokus machen, wer keinen Spaß an Sudokus hat, muss sich damit aber auch nicht quälen. Brettspiele haben einen positiven Effekt auf die Gedächtnisleistungen. Wenn soziale Interaktionen, beispielsweise gemeinsames Schachspielen mit dem Enkelkind oder einem Nachbarn, hinzukommen, dann ist dies sicherlich eine ideale Kombination.

Was kann man noch tun?

Gesunde Ernährung, hier sei als Stichwort mediterrane Kost genannt – ist toll! Und wenn Sie nicht mehr als zwei Gläser Rotwein dazu trinken, ist es noch besser.

Wie finde ich mich in der Vielfalt der Angebote zurecht, welche Art von Nahrung gut für mich ist?

Alles, was dem Herz schadet, ist auch für das Gehirn schlecht. Nikotinkonsum, erhöhter Blutdruck, hohe Blutfettwerte oder auch eine Zuckererkrankung schädigen die Gefäße an Herz und Gehirn und führen zu sogenannten vaskulären Veränderungen mit einem Nachlassen der Gedächtnisleistungen. Das frühzeitige Erkennen dieser kardiovaskulären Risikofaktoren und die adäquate Behandlung bereits im mittleren Lebensalter können helfen, auch im höheren Alter geistig fit zu bleiben.

Und sonst?

Regelmäßige körperliche Aktivität, und hier insbesondere auch das Training von koordinativen Fähigkeiten, Balance und Kraft sind ebenfalls sehr wichtig. Das regelmäßige Training im Ausdauerbereich hat ebenfalls einen positiven Effekt auf Gedächtnisleistungen. Es scheint so, dass vor allem das Training an der Leistungsgrenze besonders gute Effekte auf die Gedächtnisleistungen hat, dies gilt zumindest im mittleren Lebensalter.

Also von der Couch aufspringen und losrennen?

Wenn Sie über Jahre keinen Sport gemacht haben, sollten Sie vor allem im höheren Lebensalter, aber eigentlich generell, eine sorgfältige kardiologische Abklärung machen lassen: EKG, Belastungs-EKG und Blutdruckmessungen, bevor Ausdauersport gemacht wird.

Gibt es Frühwarnzeichen für geistigen Abbau? Ich komme zum Beispiel in bestimmten Situationen nicht auf Namen, die ich fünf Minuten später wieder weiß.

Selbst wahrgenommene Gedächtnisprobleme werden auch mit dem Begriff subjektive kognitive Beeinträchtigung (subjective cognitive impairment SCI) umschrieben. Relativ oft werden Merkfähigkeitsprobleme bei depressiven Erkrankungen angegeben. Die Situation, dass mir bestimmte, eigentlich schon länger bekannte Namen nicht einfallen und ich diese in einem anderen Moment wieder erinnere, spricht eher gegen das Vorliegen einer demenziellen Erkrankung. Die subjektive kognitive Beeinträchtigung beschreibt einen Zustand, in dem Patienten über Gedächtnisstörungen klagen, die Untersuchung der Gedächtnisfunktion aber unauffällig verbleibt.

Was spricht für eine Demenz?

Bei der häufigsten Demenz-Erkrankung, der Alzheimer-Demenz, ist der Neuerwerb von Wissen beeinträchtigt. Auch ist die Orientierung im Raum hier erheblich gestört. Oft fällt es eher den Angehörigen von Demenz-Patienten auf, dass etwa vermehrt Fahrfehler auf unbekannten Strecken auftreten oder dass Dinge immer wieder verlegt werden oder zunehmend Hilfsmittel wie gedächtnisstützende Zettel oder Notizen eingesetzt werden.

Was soll ich machen, wenn ich den Eindruck habe, mein Gedächtnis ist schlechter geworden?

In der Zusammenschau kann gesagt werden, dass jede subjektiv empfundene Problematik des Gedächtnisses einer fachärztlichen Abklärung, entweder auf neurologischer oder auch auf psychiatrischer Ebene, bedarf.

Welche Art von Diagnostik ist wann sinnvoll, was ist state of the art und welche Konsequenzen sind sinnvoll?

Prinzipiell gilt: Bei Gedächtnisstörungen sollte fachärztlicher Rat eingeholt werden. Dies kann bei einem Neurologen oder auch Psychiater sein. In vielen Städten gibt es spezialisierte Gedächtnissprechstunden, die einen besonderen Schwerpunkt in der Diagnostik von Gedächtnisstörungen haben. Neben dem Gespräch mit dem Patienten und auch Angehörigen macht es Sinn, bestimmte einfache oder auch dann im Verlauf komplexere Gedächtnistests durchzuführen. Daneben sollte Blut für die wichtigsten Laborwerte abgenommen und ein Bild vom Kopf gemacht werden. Dies kann eine Computertomographie sein, mehr Information ergibt jedoch eine Kernspintomographie. Bei dieser Bildgebung können gedächtnisrelevante Strukturen im Gehirn dargestellt und untersucht werden. Lässt sich anhand dieser Basisdiagnostik noch keine Diagnose erstellen, so macht es eventuell Sinn, im stationären Rahmen eine sogenannte Nervenwasserentnahme (Lumbalpunktion) durchzuführen. Auch weiterführende nuklearmedizinische Spezialuntersuchungen wie eine Glukose-PET- oder Amyloid-PET-Untersuchung können bei einer schwierigen Differenzialdiagnose sinnvoll sein. Die Entscheidung sollte der Facharzt treffen; aber es schadet nichts, wenn Sie informiert sind und gegebenenfalls auch Fragen stellen, die Sie besonders beschäftigen.

Helfen Medikamente?

Es gibt bei uns in Deutschland vier zugelassene Medikamente zur Behandlung auch von Gedächtnisproblemen. Diese Medikamente lindern die Symptome, den Krankheitsverlauf können sie aber nicht aufhalten. Drei dieser Medikamente gehören zur den sogenannten Cholinesteraseinhibitoren.95 Diese Substanzen erhöhen den für die Gedächtnisbildung wichtigen Botenstoff Azetylcholin im Gehirn. Eine andere Wirkstoffgruppe schützt Nervenzellen vor bestimmten toxischen Substanzen im Gehirn.96 Daneben hat die natürliche Zufuhr von ungesättigten und mehrfach ungesättigten Fettsäuren über die Nahrung einen protektiven Effekt in Bezug auf die Entwicklung einer Demenzerkrankung.

Gibt es biologische Medikamente, die wirksam sind?

Die Einnahme von Ginkgo-Extrakten zur Prophylaxe von Demenzerkrankung ist nicht unumstritten, da unter Ginkgo auch gehäuft Blutungen im Gehirn vorkommen können. Hoch dosierte Ginkgo-Biloba-Extrakte können möglicherweise Gedächtnisprobleme wie auch Verhaltensveränderungen bei Alzheimer-Patienten mildern. Dies sollte dann aber in einer sorgfältigen Risikoabwägung durch einen Facharzt für Psychiatrie oder Nervenheilkunde erfolgen.

Und die Forschung?

In der Forschungspipeline sind viele Substanzen, die an unterschiedlichen Punkten in der Pathophysiologie von Demenzerkrankungen ansetzen. So gibt es auf der einen Seite aktive und passive Impfmöglichkeiten gegen toxische, bei der Alzheimer-Krankheit vorkommende Amyloid- (Eiweiß-) und Tau-Ablagerungen. Auch sind Hemmstoffe von bestimmten Stoffwechselschritten auf dem Weg zu den giftigen Amyloid- oder Tau-Ablagerungen im Gehirn in Erprobung. Diese Studien sind bislang jedoch leider enttäuschend verlaufen und haben nicht zur Neuzulassung von Medikamenten geführt. Längerfristig ist jedoch zu erwarten und zu erhoffen, dass sich im Bereich von medikamentösen Therapien bei Demenz-Erkrankungen doch einiges tun wird.

Neuerdings hört man öfters die Begriffe Altersmedizin, Alterstraumatologie, Alterspharmakologie?

Das Thema Altersmedizin ist in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus von Politik und Ärzten gerückt. Letztlich hat sich hier eine neue Entwicklung ergeben. Wo früher die einzelnen medizinischen Fachdisziplinen versuchten, das gesamte Altersspektrum abzudecken, spezialisieren sich heute einzelne Fächer wie etwa die Chirurgie oder auch die Neurologie oder Psychiatrie in eine Chirurgie, Neurologie oder Psychiatrie der alten Menschen. Dies ist vornehmlich der Tatsache geschuldet, dass sich die medizinischen Probleme älterer Menschen, unabhängig von den zugrunde liegenden medizinischen Erkrankungen, sehr wohl von den Problemlagen jüngerer Menschen unterscheiden. Das Thema Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt ist bei den Älteren zumeist nicht so sehr im Fokus wie bei jüngeren Patienten. Viel wichtiger sind bei ihnen organübergreifende sogenannte geriatrische Diagnosen wie Sturzgefährdung, kognitive Defizite oder auch Muskelabbau. In vielen Krankenhäusern haben sich deswegen eigenständige Zentren für Altersmedizin etabliert. Diese können einen chirurgischen oder auch einen neurogeriatrischen respektive gerontopsychiatrischen Schwerpunkt haben.

Wie sieht so ein Zentrum aus?

Diesen Zentren ist gemeinsam, dass sie durch die baulich/räumliche Gestaltung oder auch durch Berufsgruppenmix besondere Vorkehrungen treffen, damit Krankenhausaufenthalte älterer Menschen möglichst komplikationslos ablaufen. Der sogenannte interdisziplinäre geriatrische Assessment steht am Beginn und im Verlauf der Behandlung eines älteren Menschen ganz besonders im Fokus. Hierbei werden die krankheitsunabhängigen grundlegenden medizinischen und auch pflegerischen Bedürfnisse älterer Menschen erfasst und dementsprechend die Therapie angepasst.

Was meint der Begriff »geriatrisches Assessment«?

Dabei werden Ernährungszustand, kognitiver und affektiver Status, Gehfähigkeit, das Zurechtkommen im Alltag, insbesondere im sozialen Kontext sowie eine möglicherweise vorliegende Pflegebedürftigkeit erfasst. Das ist also ein ressourcenorientierter Therapieansatz, der in spezialisierten altersmedizinischen Zentren dann auch umgesetzt werden kann.

Klingt nach einer durch und durch positiven Entwicklung!

Ein wichtiger Punkt darf hierbei nicht unterschlagen werden: In den letzten Jahren ist es auch für die Krankenhäuser wirtschaftlich interessant geworden, sich um die Bedürfnisse älterer Menschen zu kümmern. Dies liegt an der Einführung gut abrechenbarer altersmedizinischer Prozeduren im Krankenhaus. Somit sind sicherlich auch wirtschaftliche Anreize mit ausschlaggebend dafür, dass sich zunehmend eine altersangepasste Medizinkultur in Deutschland zu etablieren scheint.

Gibt es sonst noch interessante neue Entwicklungen in der Altersmedizin?

Eine Entwicklung betrifft die bereits beschriebene Zentrumsbildung im Bereich der Altersmedizin. Hier werden ältere Patienten von altersmedizinisch geschulten Ärzten behandelt. Auch sind im Bereich der Narkose und der operativen Verfahren altersangepasste Techniken möglich. Dadurch sollen ältere Menschen im Krankenhaus vor der Entwicklung eines sogenannten Delirs (Verwirrtheitszustandes) geschützt werden.

Eine andere Weiterentwicklung betrifft den Einsatz strukturierter körperlicher Aktivierungsprogramme für Ältere. Körperliche Aktivierung hat positive Effekte auf kognitive, affektive und auch kardiovaskuläre Parameter. Hierbei steht weniger die Ausdauer, sondern vielmehr Krafttraining und auch Geschicklichkeitstraining im Vordergrund. Ziel ist es, entsprechend den Empfehlungen der amerikanischen sportwissenschaftlichen Gesellschaft, etwa 150 Minuten pro Woche regelmäßige körperliche Aktivierung im Alltag umzusetzen. Dies kann einerseits Nordic Walking sein, auch ein angepasstes Kraft- bzw. Zirkeltraining und die Nutzung von Fahrradergometern sind hier möglich. (Stichwort: »Exercise is medicine«).

Tut sich auf dem IT-Sektor etwas? Liegt auch bei den Älteren die Zukunft in der Digitalisierung?

Interessant ist der vermehrte Einsatz von Fitness-Apps. Sie bieten eine Vielzahl von Tipps, um vermehrt körperlich aktiv zu sein. Neben Herzfrequenz und Blutdruck lassen sich ja auch die Kalorieneinnahme und zurückgelegte Wegstrecken oder Steigungen nachverfolgen. Der Einsatz dieser Fitness-Apps ist im Rahmen körpernaher Medizintechnik eine der kommenden Entwicklungen. Bei der körpernahen Medizintechnik geht es darum, Körperfunktionen online zu registrieren und auszuwerten. Ziel hierbei ist es, individualisierte Rückmeldungen zu Verhaltensänderungen zu geben.

Eine weitere interessante Entwicklung betrifft die Klassifikation von Gedächtnisstörungen im Alter. Das Konzept der sogenannten subjektiven kognitiven Beeinträchtigung hat Einzug ins Vokabular der Fachärzte gefunden.

Noch vor dem Tod in die Hölle? – Pflege I

Anscheinend kommen Sie alleine mit sich nicht mehr zurecht. Bemerkt haben Sie das zunächst nicht, weil es ein langsamer, schleichender Prozess ist. Zuerst haben Sie sofort reagiert, wenn Ihnen ein Malheur passiert ist, wenn Sie sich vollgekleckert hatten oder wenn Sie nicht rechtzeitig auf die Toilette kamen und Ihre Unterhose in Mitleidenschaft gezogen wurde. Penible Sauberkeit war immer eines Ihrer Merkmale.

Irgendwann wurde es Ihnen zu viel, täglich zu duschen. Es war einfach mühsam, danach die Dusche auszuwischen, damit keine Kalkflecken entstanden, es wurde immer mühsamer, sich ganz einzucremen, Sie haben ja eine sehr trockene Haut. Überhaupt Körperpflege: Was können Sie dafür, dass Sie nicht mehr an alle Stellen, besonders an die sensiblen, rankommen? Und jedes Kleidungsstück, auf dem mal ein Fleck auftauchte, gleich in die Waschmaschine zu stecken, war irgendwann auch nur nervig.

Und das Einkaufen. Auf Vorrat das Nötige zu besorgen, wäre viel praktischer, aber Sie kriegen das Zeug nicht mehr geschleppt. Gekocht haben Sie früher gerne; aber für eine Person immer wieder den ganzen Aufwand zu betreiben, war Ihnen schließlich zu viel; das Schnipseln des Gemüses, die Zwiebeln klein schneiden, den Käse reiben, früher hatten Sie sogar den Fleisch- oder Gemüsefond selber angesetzt!

Die Küche nach dem Kochen sauber machen! Wo gehobelt wird, fallen Späne, war Ihre Devise, und Ihre Küche sah nach dem Kochen aus wie nach einem Überfall. Das war fast Ihr Markenzeichen! Sauber machen, den Herd (!!), wurde aber so anstrengend, dass Sie das Schlachtfeld schon mal ein paar Tage Schlachtfeld sein ließen. Als sich Ihre Tochter aus Süddeutschland zum Besuch ansagte, mussten Sie eine extra Reinigungsschicht einlegen – und waren danach auch extra fertig.

Die Tochter! Ihr fiel noch einiges auf, das Sie gar nicht mehr wahrgenommen hatten: Das Klo zu putzen, hatten Sie doch glatt vergessen! Wann hatten Sie noch mal die Bettwäsche zuletzt gewechselt? Fenster geputzt? Aber Sie haben sehr genau wahrgenommen, wie sie herumeierte, um Ihnen diese Probleme möglichst schonend beizubringen – und es gab natürlich den Streit, den Sie eigentlich vermeiden wollten.

Es ist also Fakt: Allein kommen Sie nicht mehr zurecht. Bereits jetzt können Sie vieles nicht mehr, und das wird noch zunehmen. Anders ausgedrückt: Sie können nicht mehr selbst für Ihr Wohlbefinden sorgen. Diesen Zustand haben Sie schon mal erlebt, nur werden Sie es nicht mehr erinnern, denn es ist so lange her – 65, 70, 75, vielleicht sogar 80 Jahre. Pflegebedürftig waren Sie zuletzt als Baby, als kleines Kind, und selbst wenn Sie sich daran ebenfalls kaum noch erinnern können: Sie waren so stolz, als Sie Schritt für Schritt immer unabhängiger wurden.

Jetzt ist es wieder so weit, aber mit umgekehrten Vorzeichen: Sie müssen sich helfen und pflegen lassen. Stolz macht Sie das nicht.

Einen anderen Menschen so nah an sich ran zu lassen, dass er Sie pflegen kann, ist ein intimer Moment, fast ein spiritueller. Wenn es doch nur um Intimität ginge! Aber es geht um Fähigkeiten beziehungsweise Unfähigkeiten, für die Sie sich schämen! Sie haben so viel in Ihrem Leben geschafft, waren mal wichtig, sind geliebt worden, und jetzt müssen Sie sich den Po abputzen lassen!

Sie bräuchten Zeit, Menschen mit Einfühlungsvermögen, die sich auf Sie und Ihre Empfindlichkeiten einstellen können. Wenn Sie mal Massagen erlebt haben, wissen Sie, dass körperliche Berührung auch ohne Sex ein Genuss sein kann. Es sagt viel über unsere Gesellschaft aus, dass die heutige Diskussion über die Pflege nur ums Geld geht.

Natürlich ist eine angemessene Bezahlung wichtig, aber das ist doch nur die absolute Minimalvoraussetzung für gute Pflege. Tatsächlich geht es darum, für Sie Menschen zu finden, die Sie taktvoll, einfühlsam und fachlich gut pflegen und unterstützen. Wenn diese Menschen gut in ihrem Beruf sind und Sie sich Ihnen anvertrauen können, wird die Pflegebedürftigkeit eine gute Phase in Ihrem Leben sein. Wenn dem nicht so ist, werden Sie durch die Hölle gehen.

Warum sind Pflegekräfte so wichtig? Weil Sie ein Mensch sind und mit Menschen kommunizieren wollen. Und dieses elementare Grundbedürfnis hört nicht auf, weil Sie körperlich hinfällig werden und/oder nicht mehr im Vollbesitz Ihrer geistigen Kräfte sind. Im Gegenteil! Demente brauchen Kommunikation genauso wie Gesunde, manchmal sogar noch mehr.

Wenn Sie das noch nicht aus eigener Anschauung wissen, sollten Sie das wunderbare Buch von Arno Geiger über seinen dement werdenden Vater lesen97, das ich schon ausführlich erwähnt habe. Um solchen Menschen, die, wie Geiger schreibt, auf ihre Art beachtlich sind und daher das Recht auf Beachtung haben, gerecht zu werden, braucht es Ansprechpartner, die nicht im Burn-out infolge hoffnungsloser Überarbeitung stecken, sondern Zeit haben und in der Lage sind, diesen Menschen adäquat zu begegnen. Wenn Sie in der Situation dieser beachtlichen, nach allgemeinen Maßstäben nicht immer ganz vernünftigen, aber irgendwie brillanten Menschen wären, würden Sie das auch wollen.

Immer häufiger hört man, dass diese Art der Lebensunterstützung doch wunderbar durch Roboter übernommen werden könnte (siehe auch das folgende Kapitel). Wunderbar, oder nicht! Das ist so ein typisches Argument der großen Geldmaschine, die aus Ihrer Pflege noch den letzten Cent ziehen und ihn irgendwelchen Fonds zuführen will, denn Pflege durch Menschen kostet! Teuer! Aber darauf kommen wir nachher noch. Angesichts der immensen Bedeutung, die soziale, zwischenmenschliche Kontakte für uns Menschen haben, halte ich die Idee der Roboter-Pfleger für schwierig, mancher mag sogar denken, so etwas sei völlig krank und abwegig. Aber man kann nie wissen, in welche grotesken Zwänge uns der Umgang unserer Gesellschaft mit dem Geld noch bringen wird. Wie im Folgenden dargestellt, ist das eine Diskussion, in die Sie sich jetzt einmischen sollten. Denn sie hat unterschiedliche Seiten. Ich zum Beispiel finde die Idee von Robotern als Einkaufshilfen cool! Dass das Maschinchen die Getränkekisten schleppt und nicht ich, wäre ein echter Zuwachs an Lebensqualität. Roboter als Toilettenbegleitung, wenn ich das nicht mehr alleine hinkriege, halte ich für bedenkenswert, weil mir die Begleitung dorthin durch die nette polnische Pflegerin eher peinlich wäre. Aber ein Roboter, der meinen Süßigkeits-Yiiper einschränken und mir die Schokolade wegnehmen will, die ich am kritischen Auge meiner Tochter vorbei in die Einkaufstüte geschmuggelt habe, hat seine Bestimmung weit, weit überzogen und muss einfach nur weg! Wo ist mein Akkuschrauber?

Es kommt auf Sie an! All das können Sie natürlich anders sehen.

Andere Menschen in Ihr Leben lassen? In jenem Leben, das vor dem hohen Alter Ihres war, haben Sie immer wieder Menschen in Ihr Leben hineingelassen, mal mehr, mal weniger, mal persönlicher, mal distanzierter, mal lustbetont und manchmal mit Widerwillen. Aber wichtig war Ihnen immer, dass Sie auswählen konnten, nur bei den eigenen Kindern hat das nicht so richtig funktioniert, die kamen im Wesentlichen wann und wie sie wollten. Jetzt sind Ihre Wahlmöglichkeiten eingeschränkt, ziemlich eingeschränkt. Oder glauben Sie, Sie hätten Chancen, diese bestimmte Pflegekraft im Altenheim abzulehnen, nur weil Sie die doof finden? Ablehnen können Sie sie schon, aber Sie werden trotzdem mit ihr auskommen müssen.

Sehen wir der Tatsache ins Auge: Wenig beeinflusst unsere persönliche Freiheit, unser Leben nach unseren eigenen Vorstellungen zu gestalten, so grundsätzlich wie unsere eigene Pflegebedürftigkeit. Die sehr unterschiedlich des Weges kommt.

Es kann Ihnen also passieren: Wenn Sie überhaupt nicht daran gedacht haben und in keiner Weise darauf eingestellt sind, kommen Sie in eine Situation, in die Sie nie kommen wollten. Denn die Pflege in Deutschland ist in einem schwierigen Zustand, sehr moderat ausgedrückt.

Falls das Thema Sie aufregt: Sie haben vollkommen recht! Es wird übrigens auch Zeit, dass Sie sich aufregen, denn Sie sind jetzt ja ziemlich nah an diesen Zuständen dran. Teilen Sie Ihre Aufregung mit Ihren Kindern. Die sind in diesem unserem reichen Land für Sie zuständig, wenn Sie zum Pflegefall werden.

Sie hätten es schon wissen können, denn SPIEGEL, SZ, die ZEIT und wahrscheinlich einige andere Zeitungen berichten schon seit Jahren über das Problem: Es stinkt, im direkten, nicht im übertragenen Sinn! Falls Sie in den letzten Jahren mal in eine dieser Zeitungen geschaut haben, dürfte Ihnen eigentlich nicht entgangen sein, dass Pflege ein Problemthema ist, viele sprechen vom Pflegenotstand.

Die heutige Berichtslage in der Presse zum Thema Pflege ist furchteinflößend. Sie lässt sich mit einem Satz umschreiben:

Pflege in Deutschland – bis zum Hals in der Scheiße.

Wenn Sie die Diskussion um die personelle Ausstattung von Pflegeheimen im Vorfeld der letzten Bundestagswahl verfolgt haben, ist Ihnen wahrscheinlich nicht entgangen, dass diese Diskussion vor allem von Politikern bestritten wird. Einige Pflegepersonen haben die Stichworte gegeben. Denn die in Pflegeberufen Tätigen leiden unter der Veränderung ihrer einstmals humanen Berufe. Die für diese Veränderung verantwortlichen Gesundheitspolitiker versuchen in der Regel, die inhumane Situation schönzureden. Die Betreiber von Pflegeheimen sind Nutznießer der 23 Jahre alten Entscheidung einer CDU-geführten Regierung, die Finanzierung von Pflegeheimen für private Investoren zu öffnen. Ja schon, Herr Blüm! Pflegeheimbetreiber verdienen so gut, dass sie bis auf wenige Ausnahmen98 tunlichst die Klappe halten, um die Aufmerksamkeit der tobenden öffentlichen Diskussion nicht dorthin zu lenken, wo sie eigentlich hingehört. Dass nämlich die Privatisierung des Pflegesektors eine kapitalistisch hoch effektive, aber vollkommen inhumane Aktion war, die rückgängig gemacht werden muss, wenn sich etwas zum Positiven ändern soll. Investitionen in den Pflegemarkt sind ungemein attraktiv, weil sie als absolut sicher gelten und zwar keine riesige, aber eine sehr konstante Rendite abwerfen, zum Beispiel pro Patient und Tag 4,50 Euro.99 Nicht so richtig viel, aber zufällig akkurat die gleiche Summe, die Betreiber heute für die Verpflegung einsetzen. Und das sind noch nicht einmal die schlechtesten!

Folgendes ging durch die Presse:

»Wie kann es sein, dass in einem Land wie Deutschland Menschen stundenlang in ihren Ausscheidungen liegen müssen?« Diese Frage stellte der 21-jährige Pfleger Alexander Jorde Angela Merkel im September 2017 kurz vor der Bundestagswahl. Und die Kanzlerin hatte keine Antwort darauf. Ein gutes halbes Jahr später ist Angela Merkel wieder Bundeskanzlerin, Jens Spahn neuer Gesundheitsminister und Alexander so etwas wie der Held der Pflegebranche. Er reist von Talkshow zu Talkshow und erzählt, was eigentlich alle wissen: In Deutschland herrscht Pflegenotstand. Je nach Interessenverband variieren die Zahlen. Der Arbeitgeberverband Pflege geht von 30 000 unbesetzten Stellen aus, laut Gewerkschaft ver.di fehlen 70 000 Fachkräfte, und der Deutsche Pflegerat und Alexander Jorde sprechen von 100 000 Pflegekräften, die allein in Krankenhäusern fehlten. Feststeht: Es gibt immer mehr Menschen, die gepflegt werden müssen, und immer weniger Menschen, die pflegen wollen.

Jorde wird dann noch konkreter:

»3300 Euro bekommt eine Pflegekraft mit vielen Jahren Berufserfahrung. Das ist ein Witz. Ein angemessenes Gehalt für diesen Job müsste bei mindestens 4000 Euro liegen.

Knapp 25 Prozent Lohnsteigerung klingt viel, aber ich will Ihnen ein paar gute Gründe nennen, warum auch meine Kollegen und ich deutlich mehr verdienen sollten. Erstens: weil wir dringend gebraucht werden. Nach den Regeln des freien Marktes müssten wir bezahlt werden wie Ingenieure oder Programmierer. Zweitens: weil wir Verantwortung tragen, jeden Tag. Wenn jemand bei VW ein Fenster falsch einsetzt, verursacht das einen Schaden von ein paar Hundert Euro. Wenn ich eine akute Situation nicht schnell genug erkenne oder eine falsche Injektion gebe, stirbt ein Mensch. Der Facharbeiter bei VW verdient mit Zuschlägen und Gewinnbeteiligung am Ende deutlich mehr. Finden Sie das fair?«

»An Würmer in Wunden und vollgepisste Junkies gewöhnt man sich«, sagt der heute 22-Jährige, der mittlerweile im zweiten Ausbildungsjahr ist. »Aber an die Überstunden, die schlechte Bezahlung und die fehlende Anerkennung nicht.«100

Die Missstände sind überall bekannt. Aber wie bei anderen Folgen unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems schauen die Verantwortlichen beharrlich weg. Ganz egal, wie himmelschreiend die entsprechenden Presseberichte sind.101

Wer sich nicht zu Wort meldete, waren die Betroffenen. Einerseits ist das natürlich nicht erstaunlich, denn wer in einem Pflegeheim angekommen ist und die Zustände am eigenen Leib erlebt, ist in der Regel nicht mehr in der Lage, sich öffentlichkeitswirksam zu artikulieren.

Aber Sie, die künftigen Bewohner der Pflegeheime, gehen heute erst in den Ruhestand. Und Ruheständler sind im Allgemeinen durchaus in der Lage, sich zu artikulieren. Ebenso wären die Kinder, die heute erleben, wie es ihren Eltern im Pflegeheim ergeht und die übermorgen in die Pflegeheime einziehen werden, durchaus fähig, die Stimme zu erheben. Dazu möchte ich Sie nachdrücklich einladen! Es geht schließlich um Sie.

Vielleicht gibt es da ein Missverständnis: Die Tatsache, dass die Lebenserwartung heute zunimmt und dass die meisten von uns die Chance haben, achtzig und älter zu werden, bedeutet nicht, dass wir alle dieses Alter fit und selbstbestimmt erreichen werden. Trotz viel Bewegung, Kieser-Training, gesundem Essen und schönheitsfördernden Manipulationen. Nein, der Preis für die verlängerte Lebensdauer ist die Tatsache, dass Sie einige Jahre dieses hohen Alters in Senioren- oder Pflegeheimen zubringen müssen. Nicht zu viele, denn die Zustände dort sind nicht so, dass sie die Lebensdauer unbedingt verlängern. Obwohl niemand bisher untersucht hat, wie es sich auswirkt, wenn Sie stundenlang in den eigenen Exkrementen liegen, weil die eine Nachtschwester, die für 14 Patienten zuständig ist, einfach nicht schneller rumkommt.102

Auch wenn Sie es noch auf die Toilette schaffen, aber dort Stunden sitzen, weil eben dieselbe Nachtschwester sie infolge einer völlig inhumanen Überarbeitung vergessen hat, so ist das für Ihr Herz-Kreislauf-System nicht förderlich. Ich will diese Kette fürchterlicher und für unser reiches Land völlig unwürdiger Zustände nicht weiter verlängern. Ebenso wie ich konnten Sie all das lesen und können es sich jederzeit von Google zeigen lassen.

Und dann kommt das Argument, mit dem Sie sich am resignierenden Wegschauen oder der trügerischen Hoffnung, Sie wird es schon nicht treffen, beteiligen: Sie können doch sowieso nichts tun? Oh doch. Sie können! Besichtigen Sie ein Heim, wenn Sie sich mit dem Gedanken tragen, dieses Heim zu Ihrem, sagen wir mal, »Alterssitz« zu machen. Klingt gut und kommt an. Und wenn Sie dort sind, bitten Sie, bitten Sie höflich, bitte auch die Pflegestation sehen zu dürfen, denn man kann ja nie wissen. Fragen Sie nach den Arbeitsplänen des Personals, nach der Besetzung. Schauen Sie, wo das Pflegepersonal gerade arbeitet: Oft sitzen die nur noch vor dem Computer. Denn wie überall in unserem durchorganisierten System, in Krankenhäusern, Schulen, bei der Polizei und eben auch und vor allem in Pflegeheimen: Selbst wenn nichts mehr richtig läuft, muss es richtig dokumentiert werden!

Oder, noch einfacher, besuchen Sie Tante, Onkel, Opa, Oma, die in einem solchen Heim leben. Und wenn Sie dann finden, dass es so nicht geht, dass dieses Heim eine Zumutung ist, dann wenden Sie sich an Ihren lokalen Abgeordneten, vom Stadtrat, vom Land- oder Bundestag. Orientieren Sie sich nicht am Umgangsstil im Internet und pöbeln Sie nicht rum, sondern sprechen Sie freundlich und in Ruhe mit Ihrem gewählten Repräsentanten und machen Sie ihm klar, dass er etwas tun muss. Andernfalls Sie dieses Thema bei der nächsten Wahlversammlung zur Sprache bringen werden. Glauben Sie mir, wenn das nur genügend viele, entschlossene Menschen tun, wird sich was ändern. Der Kanzlerin war es gar nicht genehm, dass sie im Studio auf diesen netten Pflegeschüler traf, der ihr vorrechnete, dass viel ärmere Länder das Zwei- bis Dreifache für ihre alten Menschen aufwenden.

Die jetzt – Sommer 2018 – im Vertrag zur großen Koalition verhandelten Veränderungen haben ein gewisses Potenzial zur Verbesserung. Spahn hat geliefert. Aber viele Insider zweifeln, dass das reichen wird. Sie sollten doch eher ganz sicher sein, wenn es um Ihr künftiges Heim geht.

Oder meinen Sie, Pflege ist sowieso nicht Ihr Thema?

Wenn Sie pflegebedürftig werden sollten, machen Sie Schluss?

Natürlich ist das Ihre Entscheidung, aber ich halte es nicht für sehr wahrscheinlich, dass es so kommen wird. Denn das Leben funktioniert anders, und Pflegebedürftigkeit kommt nicht wie eine Kündigung oder ein neues Jobangebot, sondern sie kommt durch die Hintertür.

Was bedeutet das eigentlich? Pflege, pflegebedürftig, Pflegeheim, Pflegeversicherung, Pflegesatz …?

Auf der einfachsten Stufe heißt es, dass Sie nicht mehr in der Lage sind, allein durch die Welt zu spazieren und sich selbst um sich zu kümmern, für sich zu sorgen. Eine andere Person muss sich um Ihre Körperpflege, Ihre Ernährung, Ihre Tabletteneinnahme und so weiter. kümmern. Plötzlich haben Sie jemanden, den Sie eben noch nicht kannten, in Ihrem Leben und sehr nahe an sich dran. Das kostet, unterschiedlich viel, je nach Anspruch, und es gibt seit Norbert Blüm ein Gesetz, das Ihre Pflegeversicherungspflicht regelt.

In welcher Form kommt die Pflegebedürftigkeit in Ihr Leben?

Zum Beispiel als Kurzzeitpflege:

Sie leben zu Hause, zum Beispiel in der von Ihnen mit Liebe eingerichteten kleinen Wohnung mit Balkon, im – sagen wir – ersten Stock. Die eine Treppe ist kein Problem für Sie, die schaffen Sie schon. Sehr wohl ein Problem wird eines Tages für Sie, dass Sie den Stein auf dem Gehweg übersehen haben, dass Sie gestürzt sind und sich einen – sagen wir – unkomplizierten Bruch des Sprunggelenks zugezogen haben. Der Oberarzt der Unfallchirurgie war sehr nett, hat sogar mit Ihnen geredet und Ihnen die Vorzüge der Operation klargemacht, danach müssten Sie höchstens vier Tage stationär bleiben und könnten mit Unterarmgehstützen entlassen werden, belasten dürften Sie den Fuß erst nach frühestens drei Wochen.

Das war alles noch relativ nach Ihrem Geschmack. Nicht lange im Krankenhaus sein zu müssen, Zweibettzimmer hatten die ja dort für alle, der Nachbar war nett, aber Sie sind einfach nicht mehr gewöhnt, mit anderen Menschen im Zimmer zu schlafen. Aber soweit alles gut.

Bis die nette Krankengymnastin mit Ihnen das Gehen mit den Unterarmgehstützen übte und sich herausstellte, dass Sie ohne – »auf keinen Fall!« – Belastung Ihres Beines noch nicht mal drei Stufen hochkamen, geschweige denn eine Treppe. Der Mumm in den Unterarmen und im Rumpf reichte einfach nicht aus, um Ihren nicht mehr so elfenhaften Körper die Treppe hochzuwuchten.

Was nun? Sie hofften, wenigstens eine Woche länger im Krankenhaus bleiben zu können, bis Sie so viel geübt hätten, um die Treppe mit den Unterarmgehstützen attackieren zu können. Waren Sie nicht vor zwanzig Jahren auch schon einmal drei Wochen nach einer Gallenoperation in der Klinik geblieben, ohne Probleme? Nur: Sie haben diese Rechnung ohne Kenntnis der neuen diagnosebezogenen Abrechnungsmodalitäten gemacht, kurz DRGs genannt. Das Krankenhaus wird nach einem Katalog bezahlt, der für die operative Versorgung einer Sprunggelenksfraktur eine bestimmte Summe vorsieht. Diese Summe ist für einen stationären Aufenthalt von, sagen wir, sechs Tagen berechnet, was für ein »unkompliziertes« Sprunggelenk, Ihres, schon eine ganze Menge ist. Wenn man Sie länger bleiben ließe, würde das Krankenhaus weniger Geld verdienen, weil Sie natürlich weiter Kosten verursachen, die Krankenkasse aber nicht mehr als die sechs Tage bezahlt.

An diesem Punkt hat die Freundlichkeit des netten Oberarztes ein Ende, denn er bekäme richtige Probleme mit seiner Verwaltung, wenn er Sie länger behielte. Und wenn Ihnen gelänge, was in der Realität gewiss nicht passieren wird, mit dem Verwaltungschef ein Gespräch zu führen, um ihm Ihre Notlage zu schildern, dann würde der absolut nicht verstehen wollen, dass Sie seine einfache Gewinn-und-Verlust-Rechnung nicht kapieren. Ökonomen denken nicht wie Menschen. Sie finden das zu hart? Sorry. Aber wenn Sie, wie ich, in jahrelangen Diskussionen immer wieder erlebt haben, dass das menschlich Vernünftige, das ethisch und human Angemessene wieder und wieder einem oft auch nur marginalen Geldvorteil geopfert wird, dann kommen auch Sie zur Einsicht, dass in den Hirnregionen von Ökonomen irgendetwas anders tickt. Wir müssen uns entscheiden: Geld oder Menschlichkeit. Nicht nur in den Pflegeheimen, sondern auch in deutschen Krankenhäusern.

Also Kurzzeitpflege. Von heute auf morgen. Unerwartet. Ein bisschen absurd erscheint Ihnen, dass die Frage, die Sie nie für wichtig hielten, nämlich ob Ihr Haus einen Aufzug hat, sich plötzlich als entscheidender Faktor für Ihre weitere Lebensqualität herausstellt.

»Man spricht von Kurzzeitpflege, wenn eine pflegebedürftige Person für eine begrenzte Zeit einer vollstationären Pflege bedarf. Häufig ist das nach einem Krankenhausaufenthalt der Fall oder wenn die häusliche Pflege für eine bestimmte Zeit ausgesetzt werden muss oder soll.«103

Sie suchen also mithilfe Ihrer Enkelin im Internet, denn es eilt ja schon ein bisschen. Da gibt es benutzerfreundliche Portale, zum Beispiel von der Diakonie: Straße, Wohnort und gewünschte Entfernung der Pflegeeinrichtung von der Wohnung eingeben, Einzelzimmer oder Doppelzimmer.

Ernüchterndes Ergebnis: Die Einzelzimmersuche brachte für 2 km, 5 km, 10 km, 20 km, 50 km leider keine freien Plätze. Die Doppelzimmersuche bringt erst bei 50 km eine positive Meldung. Am anderen Ende der Stadt, vorsichtig ausgedrückt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln circa 50 Minuten, dreimal umsteigen. Und in einer Pflegeeinrichtung, in der Ihre Tante schon mal gelandet war und nur Furchtbares berichtet hatte. Jetzt würden Sie ja doch gerne wählen können.

Bei den Seniorenwohnheimen sah zumindest die Verfügbarkeit besser aus, 5 km von Ihrem jetzigen Wohnsitz und vor allem nah zur Wohnung von Tochter plus Enkelkindern. Aber wäre es nicht eigentlich besser, dort auf Dauer einzuziehen? Seniorenwohnheime sind ja nicht für vorübergehend. Doch das hieße, dass Sie Ihre wunderbare Wohnung aufgeben müssten. Ihre Tochter: »Papa, wir können Dich nicht jede Woche (Woche hat sie gesagt!) am anderen Ende der Stadt besuchen.« Ihren Bridgekreis können Sie auch vergessen. Aber Ihre Wohnung aufgeben, das gute Verhältnis zu den Nachbarn?

Und vor allem: Ist das ein gutes Seniorenheim? Haben die eine akzeptable Pflegestation? Wie sieht die aus? Wie riecht es dort? Können Sie das zahlen?

Apropos zahlen: Wenn wir schon mal dabei sind, unangenehme Fragen zu stellen. Ist Ihre Pflege gesichert?

Warum sollen Sie die Pflege sichern? Sie leben doch so gesund, Sie bewegen sich, Sie rauchen nicht und trinken so wenig Alkohol, dass Sie als abstinent gelten können. Sie werden gesund alt werden und dann schnell sterben.

Eigentlich ein cleverer Gedanke. Bas Kast diskutiert ihn im »Ernährungskompass«104, und kürzlich propagierte Werner Fürstenberg, ein Vordenker des vernünftigen Kapitalismus, ihn auch wieder: Macht die Prävention stärker, verbindet sie mit verpflichtenden Anreizen, bildet die Ärzte besser aus, dann könnt Ihr der Pflegediskussion viel von ihrer bedrückenden Schärfe nehmen.105

Ja – das sind interessante Vorschläge, die festgefahrene Diskussion um den Pflegenotstand zu bereichern, und nein – auch wenn wir 80 Prozent unserer Gesundheit durch unseren Lebensstil selbst beeinflussen könnten, bleibt die Pflegebedürftigkeit im Alter weiterhin als Problem bestehen.

Natürlich wird Prävention in der öffentlichen Pflegediskussion sträflich vernachlässigt, was sehr bedauerlich ist, weil die Zahl der Pflegebedürftigen durch geeignete präventive Maßnahmen – bewegen, bewegen, bewegen, nicht rauchen, Alkohol minimieren und sich halbwegs bewusst ernähren – deutlich gesenkt werden könnte.

Wird aber nicht,

Ärzte sind zwar längst für Altersprävention ausgebildet: Was man dafür wissen müsste, ist nicht so neu, dass man noch Nobelpreise bekäme, Begriffe wie Epigenetik (= das Ein- und Abschalten genetischer Informationen in Abhängigkeit von den Lebenserfahrungen) und Salutogenese (= wie Gesundheit entsteht, im Gegensatz zur Pathogenese = wie Krankheit entsteht) inbegriffen. Aber Ärzte bekommen in unserem Gesundheitssystem nicht mehr die Zeit, um solche komplexen Inhalte – und Prävention ist ein komplexer Inhalt – rüberzubringen, und sind durch das Alltagsgeschäft auch viel zu sehr genervt, um sich an so etwas noch zu versuchen. Denn die Bemühungen werden eben nicht mal vernünftig bezahlt, was in einer durchkapitalisierten Gesellschaft wie der unseren eigentlich schon alles sagt.

Die pflegenden Angehörigen sind in der Tat das zentrale Problem! Dass auf den Angehörigen die Hauptlast der Pflege liegt, ist ein Geburtsfehler der Pflegeversicherung, ein zweiter ist die Chance für Investoren, an der Pflege zu verdienen, egal, wie lausig sie ist. Und hier kommt die Argumentation vom gesunden Sterben leider an ihr Ende: Denn selbst wenn wir alle Prävention machen – was ja auch dieses Buch empfiehlt –, wenn unsere Lebensqualität zunimmt, wird im Idealfall die Phase der Pflegebedürftigkeit ins hohe Alter verlagert, wofür es in der Berliner Altersstudie schon Hinweise gibt. Was bedeutet, dass die Angehörigen, wenn sie denn weiter pflegen sollen, zu diesem Zeitpunkt selber sehr alt und erst recht mit der Pflegeaufgabe überfordert sein werden.

Also noch mal: Ist Ihre Pflege gesichert?

So genau wissen Sie es nicht, weil Sie, zugegeben, noch etwas Zeit haben; aber da gibt es doch seit 1995 diese verpflichtende Pflegeversicherung für alle. Die wird es schon richten.

Fragt sich nur, wie.

Die Pflegeversicherung ist eine Pflichtversicherung zur Absicherung des Risikos, pflegebedürftig zu werden. Sie wurde 1995 eingeführt und ist im SGB XI niedergelegt.

Konkret:

Wenn Sie dauerhaft, also prognostisch für mehr als ein halbes Jahr, pflegebedürftig werden, entscheidet der Medizinische Dienst der Krankenkassen, ob Sie einen oder mehrere »Pflegegrade« bekommen. Nicht das einzige, aber das entscheidende Kriterium ist die »eingeschränkte Alltagskompetenz«. Dieses Entscheidungsverfahren war früher massiver Kritik ausgesetzt, weil zum Beispiel psychische Störungen so gut wie nie ausreichten, um eine Pflegestufe zu bekommen. Das wurde mit der Reform zum Anfang des Jahres 2018 korrigiert, und, auch wenn es Sie vielleicht nervt, dass Sie Ihre doch offensichtliche Pflegebedürftigkeit von Krankenkassenärzten beurteilen lassen müssen, die dafür in Ihre Wohnung kommen und Sie begutachten, scheint das heute ein vernünftiges Verfahren zu sein.

Wenn Sie Pflegegrade bekommen, gehören Sie prinzipiell zu der Gruppe, die Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten kann.

Welche?

Das richtet sich danach, welche Art von Pflege bei Ihnen angesagt ist.

  1. Sie lassen sich zu Hause, also ambulant, pflegen, durch Angehörige oder eine andere Pflegeperson aus Ihrer Bekanntschaft. Wenn Sie eine solche Person nachweisen können, bekommen Sie »Pflegegeld« aufs Konto, das Sie nach Ihren Vorstellungen ausgeben können, ohne dass von der Pflegeversicherung irgendwelche Voraussetzungen gemacht werden. Gewöhnlich wird ein Teil des Geldes dazu verwendet, die Pflegeperson zu entschädigen, ein anderer geht für Hilfsmittel et cetera drauf.

    Um es gleich zu sagen: Für die Anstellung eines Pflegedienstes reicht das »Pflegegeld« in der Regel nicht aus. Dafür brauchen Sie

  2. die »Pflegesachleistung«: Für die kommen Sie infrage, wenn Sie allein sind, also keine Angehörigen haben, die Sie pflegen können, zum Beispiel weil diese nicht vorhanden oder zu alt und gebrechlich sind. In diesem Fall können Sie einen Pflegedienst anstellen, der Ihre Pflege »in begrenztem Umfang« übernimmt. Was das heißt? Das Geld reicht nicht aus, Sie müssen zuzahlen. Also einen Teil Ihrer Rente geben, in Ihre Vermögensschatulle greifen oder das Sozialamt ersuchen, für diese nötigen, aber durch die Pflegeversicherung nicht abgedeckten Leistungen aufzukommen.* Der Pflegedienst rechnet direkt mit der Pflegeversicherung ab, Zuzahlungen im Sinne einer »kombinierten Leistung« sind möglich, wenn der Pflegedienst 50 Prozent verbraucht, die pflegenden Angehörigen den Rest.
  3. Ambulant geht es nicht mehr, weil Sie nicht mehr 24 Stunden allein sein können, Ihre Verwirrung zu groß ist, die Nächte nicht abgesichert sind, in denen Sie unruhig werden und schon mal um Hilfe rufen, weil Ihre Angehörigen nicht mehr können – es gibt viele Gründe. Dann steht das Pflegeheim an. Dafür reicht die Pflegeversicherung nicht aus, in keinem Fall, sondern Sie müssen, wie oben erwähnt, entweder zuzahlen, das Sozialamt bemühen oder haben dieses fehlende Geld durch eine Zusatzversicherung abgedeckt.
  4. Sie sind »rüstig«, ein/e Teilnehmer/in des auch in diesem Buch vorgeschlagenen Präventionsprogramms. Aber Sie haben nachgedacht und sind zum Ergebnis gekommen, dass es, wenn überhaupt, sinnvoll ist, rechtzeitig ins Seniorenheim zu gehen, damit Sie sich noch eingewöhnen können, andere »rüstige« Alte kennenlernen. Überhaupt ist »freiwillig« viel besser als »gezwungen«. Stimmt. Kein Einwand. Nur – die Pflegeversicherung zahlt das nicht, sondern Sie müssen wie für ein Hotel mit Vollpension selber dafür aufkommen. Die Pflegeversicherung kommt nur zum Einsatz, wenn Sie pflegebedürftig werden und die in diesem guten Altersheim vorgehaltenen Pflegeangebote wahrnehmen müssen.

    War Ihnen schon klar? Super. Mir nicht, aber man lernt ja nicht aus. Die Heime haben übrigens ein hohes Interesse an Ihrer Pflegebedürftigkeit, denn dadurch steigt auch die Verdienstmöglichkeit des Heims.

  5. Was fehlt in diesem System?

    Zum Beispiel Zusatzleistungen, die nicht immer, aber oft gebraucht werden.

    • Stellen Sie sich vor: Sie, alleinstehend, rüstig, keine Kinder, leben in Ihrer schön ausgestatteten Wohnung, viele Bücher, tolle Stereoanlage, Bilder, ausgesuchte Designmöbel. Auf Ihrer, wie Sie erst später wissen, letzten Bergtour – nichts großes, eigentlich nur eine nette Wanderung zu einem hübschen Biergarten – stürzen Sie und ziehen sich einen richtig komplizierten Bruch zu, der nicht nur das örtliche Krankenhaus überfordert. Alles braucht Zeit; nach der von Ihrem besten Freund, einem pensionierten Chefarzt, arrangierten Überweisung in die Spezialklinik wird der Bruch auch optimal versorgt, aber inzwischen sind Muskulatur und Allgemeinzustand so mau geworden, sind zusätzlich nächtliche Verwirrtheitszustände aufgetreten, dass sich alle einig sind: In Ihre Wohnung können Sie nicht mehr zurück. Sie protestieren, sind verzweifelt, aber so ist das Leben. Der Sozialdienst – der ist in Krankenhäusern für so was zuständig – findet ein wirklich schönes Altersheim mit ausgewiesen guter Pflegeabteilung. Alles gut? Nicht ganz: Was wird aus Ihrer Wohnung? Ein paar Bücher, einen Teil Ihres CD-Regals, ein, zwei ausgewählte Möbel können Sie mitnehmen – aber wer löst Ihre Wohnung auf? Das Szenario ist in wesentlich weniger komfortabler Form nicht selten, und es wäre gut, wenn man dafür Geld aus der Pflegeversicherung bekäme, denn umsonst macht sich das nicht.
    • Fahrten zum Arzt: Auch Pflegebedürftige müssen gelegentlich zum Facharzt. Dafür zahlt die Pflegeversicherung nicht. Wer sonst?
    • Kurzfristige Hilfen, zum Beispiel eine Wochenendlösung für pflegende Angehörige.
    • Regelungen rund um die Uhr sind im ambulanten Bereich fast nicht darzustellen, es sei denn, Sie haben Vermögen, was Sie dafür aufwenden können.

Ja, so ist die Lage. Ich sagte schon: Regen Sie sich auf, und melden Sie sich zu Wort – jetzt!

Vom Rollator zum Roboter – Pflege II

Sie sollten sich helfen lassen, klar.

Wer nicht mehr scharf sieht, kauft sich eine Brille, wer nicht mehr gut hört, ein Hörgerät, beim Bergwandern sind Trekkingstöcke überhaupt nicht mehr wegzudenken, und wenn die auch auf der Ebene nicht mehr ausreichen, gibt’s den Rollator. Alles Paletti.

Na ja, zwei Fragen sind relevant:

Wollen Sie sich eigentlich helfen lassen?

Wie sinnvoll ist solch eine Hilfe?

Brille oder Kontaktlinsen sind in unserer Welt – im Gegensatz zur dritten – tatsächlich kein Thema mehr, aber schon bei Hörgeräten sieht das anders aus: Viele Ältere, die wirklich schlecht hören, beharren lieber darauf, dass alle anderen plötzlich einer Nuschel-Epidemie zum Opfer gefallen seien, weswegen sie selbst doch nicht zum Ohrenarzt und Hörgeräte-Akustiker gehen und sich eines der vielen, immer besser werdenden Hörgeräte anpassen lassen müssten. Doch dieses Ignorieren der eigenen Hörschwäche ist hoch problematisch, weil unsere Kommunikationsfähigkeit immer mehr abnimmt, je länger wir wenig hören: Unser Gehirn »verlernt« das Hören, wenn wir es nicht üben.

Dieses Prinzip finden wir in allen Bereichen, in denen unser Organismus im Austausch mit unserer Umwelt steht. Am deutlichsten ist das im Bereich der Beweglichkeit. Wenn wir etwas dauerhaft unterlassen, egal aus welchem Grund – weil uns was wehtut, weil wir zu schwer oder einfach nur zu bequem geworden sind –, dann werden die Voraussetzungen für dieses Bewegungsmuster »zurückgebaut«. Der Handlungsplan im Gehirn ist meistens noch da – Sie erinnern sich vielleicht noch an meinen Freund, der den Aufschwung auf das wunderbare italienische Fahrrad noch zu beherrschen glaubte –, aber die Umsetzung durch Nerven und Muskeln funktioniert nicht mehr. Vor 45 Jahren hat mich im Englischen Garten in München mal ein Polizist angehalten, weil ich mir auf dem Fahrrad, freihändig fahrend, die Krawatte gebunden hatte. Wie man das macht, weiß ich heute auch noch …

Wegen dieser Anpassungsfähigkeit nach oben und nach unten lohnt es sich, um jede Fähigkeit zu kämpfen, und zwar wild entschlossen. Denn Hilfen und Erleichterungen werden sofort erlernt und eingebaut, als ob Trekkingstöcke Teile unseres Körpers wären! Die benutzen wir, weil sie beim Bergabgehen die Gelenke entlasten. Aber wenn Sie nur noch mit Stöcken durch die Gegend sausen, mehr Vierfüßler als Zweibeiner, dann kommen Sie nach einiger Zeit gerade in unwegsamem Gelände kaum noch ohne Stöcke aus. Im letzten Jahr ist mir auf einer Tour ein Stock zerbrochen, und der weitere Weg war ein interessantes Experiment. Gut wäre, Phasen einzuschieben, in denen Sie die Stöcke im Rucksack lassen.

Aber das machen Sie bei Hilfen im zunehmenden Alter ja nicht so: Der Rollator passt eben nicht in den Rucksack! Wenn die Gefahr besteht, dass Sie fallen, erscheint er als eine tolle Alternative, weil er Ihnen Sicherheit gibt und Sie sich mit seiner Hilfe gut vorwärtsbewegen, sogar mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren können. Der Nachteil ist, dass Sie von diesem Gerät kaum wieder wegkommen werden, wenn Sie sich einmal daran gewöhnt haben. Und viel zu oft wird er frühzeitig und schon bei geringfügigen Gangunsicherheiten nicht nur angeboten, sondern aufgedrängt.

Der Treppenlift: Wenn Sie so ein Teil finanzieren können, hilft es Ihnen, in den ersten Stock Ihres Hauses zu gelangen, ohne sich mühsam am Treppengeländer hochziehen zu müssen. Nur: Wenn Sie es installiert haben, werden Sie wahrscheinlich bald keine Treppe mehr steigen – können.

Sie stehen also immer vor der Entscheidung, ob Sie um eine Fähigkeit noch kämpfen wollen oder sie aufgeben, um sich ganz auf den Ersatz zu verlassen. Bis zum Ende Ihrer Tage. Hier unterscheidet sich das Alter von den früheren Lebensphasen, denn wenn Sie mal eine Sportverletzung hatten, haben Sie die Unterarmgehstützen natürlich nur vorübergehend benutzt.

Verstehen Sie mich bitte richtig: Selbstverständlich sind Hilfsmittel aller Art okay, wenn Sie sich damit den Zugang zu einem Lebensbereich erhalten können, der Ihnen sonst verschlossen bleiben würde. Aber Sie sollten Ihre Kompetenz nur dann aufgeben, wenn sie mit aller Anstrengung nicht mehr wiederzuerlangen ist.

Wenn Sie Angst vor dem Fallen haben, könnten Sie ja auch ein Falltraining absolvieren, wie es heute in vielen Städten angeboten wird.106 Sie könnten zur Physiotherapie gehen; es gibt viele Übungen, die der Kraft in den Beinen und im Rumpf und gleichzeitig dem Gleichgewicht zugutekommen und Ihnen wieder Sicherheit vermitteln. Und was Angst generell angeht: Psychotherapie heißt das Zauberwort.

Jetzt könnten Sie mir natürlich entgegenhalten, dass Hilfsmittel ja aus unserem Leben überhaupt nicht mehr wegzudenken sind. Stimmt. Das Auto – ein weites Feld! Oder diese ach so geniale Kombination aus Fotoapparat, Taschenlampe, Navigator, Tankstellenfinder, Wettervoraussage, Ticketbuchungsgerät, MP3-Player, E-Book-Reader, Nachrichtensendegerät und Telefon – kurz als Smartphone bekannt. Aber auch dieses geniale Ding hat Nebenwirkungen, über die Sie manchmal fluchen.

Wenn wir schon bei der Digitalisierung sind: Gerade für ältere Menschen eröffnen sich Perspektiven, denen Sie unbedingt – im Guten wie im Schlechten – Ihre Aufmerksamkeit schenken sollten.107

Der mobile Notfallknopf, um den Hals oder am Arm zu tragen, ist eine gute Sache, wenn Sie stürzen, nicht mehr hochkommen, das Telefon außer Reichweite ist und Sie trotzdem Hilfe holen können. Aber eigentlich ist er schon Schnee von gestern, denn die Computerindustrie arbeitet längst an Systemen, die Ihre Bewegungsmuster in Ihren eigenen vier Wänden erfassen und Alarm geben, wenn Sie aus der Senkrechten plötzlich für längere Zeit in die Waagrechte abgetaucht sind oder sich gar nicht mehr bewegen. Der gute alte Bewegungsmelder ist in die Jahre gekommen, aber seine Nachkommenschaft kann viel, viel mehr.

Regelmäßig alle zwei bis drei Stunden auf die Toilette zu gehen und sich täglich zu duschen, ist wichtig für die Vorbeugung von Inkontinenz und Harnwegsinfekten. Wenn Sie älter werden, vergessen Sie das schon mal, aber das bei Ihnen installierte intelligente Computersystem kann Ihre Routinen erfassen und Sie darauf aufmerksam machen, dass es wieder mal an der Zeit wäre, und so weiter …

Sie fühlen sich beobachtet? Mit Recht.

Auf dem Gebiet der Roboter-Technologie tut sich Gewaltiges, und Investoren stecken jede Menge Geld in dieses Feld. Dabei wird ganz offen auf die zu erwartenden »Zuwachsraten« bei alten Menschen und den Mangel an Pflegekräften hingewiesen! Es gibt Maschinen, die Pflegekräfte beim Heben unterstützen können oder die den zu Pflegenden beim Gehen oder beim Tragen von Lasten helfen, die Stürze verhindern, die Sie beim Sitzen oder Stehen oder beim Weg auf die Toilette unterstützen. Überhaupt, die Toilette: Da gibt es den Roboter, der alte Menschen rechtzeitig auf die Toilette führt, ihnen hilft, die Hose auszuziehen, oder einen, der die Toilette reinigt, ein anderer, der beim Duschen oder Baden hilft.

Die Pillendose, in die Ihnen ein Angehöriger die dreimal täglich einzunehmende Tablettendosis für die ganze Woche vorportionieren kann, ist von gestern; heute gibt es digitalisierte Systeme, die Sie mit freundlicher Stimme darauf aufmerksam machen, dass Sie jetzt die Pillen gegen den Hochdruck und die Depression nehmen sollten.

Das Neueste: Solche Systeme mit künstlicher Intelligenz können auch interaktiv sein, also von Ihrem persönlichen Verhalten lernen und daraus Rückschlüsse ziehen, Sie zum Beispiel an Ihren Kalender erinnern, dass Sie jetzt ja zum Bridge wollten oder einen Arzttermin haben. Ihrer Vorstellungskraft sind keine Grenzen gesetzt. Das einzige Problem: Die künstliche Intelligenz, von der alle reden, bietet völlig neue Gestaltungsmöglichkeiten für Ihren Alltag. Doch – sind Sie noch lernwillig, lernfähig?

Die Industrie, die den großen Markt sieht, wirft selbst ethische Fragen auf: Wie lassen sich Menschenwürde und Privatsphäre in dem ethisch unscharf definierten Aufgabenfeld von Robotern bewahren?

Zum Beispiel: Ein Pflegeroboter könnte alte Menschen daran erinnern, ihre Tabletten zur rechten Zeit einzunehmen. Sehr sinnvoll! Denn das regelmäßige Einnehmen von Medikamenten ist eine höchst anspruchsvolle, immer unterschätzte Aufgabe, die schon junge Menschen an ihre Grenzen bringt. Aber für welche Verhaltensempfehlung programmiert man den Roboter, wenn sein Schützling die Einnahme verweigert? Unter Umständen mit guten Gründen, etwa weil die Nebenwirkungen zu stark geworden sind? Soll die Maschine insistieren, Druck ausüben? Passives Hinnehmen wäre ja auch nicht sinnvoll, zumal wenn keine menschliche Pflegekraft verfügbar ist. Oder der Pflegeroboter könnte verhindern, dass der alte Herr die Schachtel Pralinen in sich hineinstopft, denn hochkalorische Nahrung kann den Diabetes krisenhaft verschlechtern. Von einer kompetenten menschlichen Pflegekraft würde man ein solches Eingreifen erwarten, aber würde man es einem Roboter zugestehen?

Und dann gibt es da noch die Robbe »PARO«108.

Der autorisierte Händler für »PARO« in Deutschland und Österreich heißt »Beziehungen pflegen«, ein interessanter Name in diesem Zusammenhang. Wer, oder besser was ist »PARO«? Ein Stofftier, in das Sensoren, kleine Elektromotoren und Sounderzeuger eingebaut sind. Dadurch kann dieses Stofftier, wenn man es an verschiedenen Stellen berührt oder streichelt, Bewegungen mit dem Kopf und den Flossen machen und hohe, quietschende Töne hervorbringen. Süß! Das ist in der Tat der erste Reflex.

Die Firma bewirbt »PARO« für den Kontakt mit behinderten und dementen Menschen, und auf YouTube kann man ein langes Video sehen, wie Bewohner und Mitarbeiter eines Altenheimes auf »PARO« reagieren und welche Gedanken sie sich machen. Zum Beispiel:

Die Mitarbeiterinnen haben den Eindruck, dass der Kontakt zu diesem Stofftier alte Menschen beruhige, beispielsweise, wenn sie ins Bett gebracht werden. Menschen, die früher Tiere hatten, gehen leichter auf das Stofftier ein, das flexibler und geduldiger als ein echtes Tier sei. Tiere seien nun mal unberechenbar. Es gäbe einen emotionalen Kontakt zwischen dem Stofftier und den alten Menschen. »Paro« solle die echte Zuwendung nicht ersetzen, das könne es nicht leisten.

Was fällt mir dazu ein?

Ja, so ein Stofftier kann wohl beruhigend auf einen alten Menschen wirken, der vielleicht schon lange Berührung und Zärtlichkeit entbehrt. Leichter zu händeln als ein lebendiges Tier ist so ein Stofftier allemal, es muss nicht gefüttert werden und braucht keine täglichen Spaziergänge. Richtig ist sicher auch, dass ein alter Mensch emotional auf ein Stofftier reagieren kann, ähnlich wie kleine Kinder: Die Tamagotchi-Mode ist noch nicht so lange her. Ein Problem habe ich mit der Reduktion der emotionalen Reaktionsweisen: Gegenüber einem lebendigen Tier oder gar einem Menschen ist das Reaktionsspektrum von »PARO« massiv eingeschränkt. Ich würde meinen lebendigen Labrador niemals gegen ein Stofftier eintauschen. Wer entscheidet, ab welcher geistig-seelischen Einschränkung eine solche Reduzierung hinnehmbar ist? Etwas gespenstisch mutet mich der Firmenname an: Zwischen wem soll die Beziehung gepflegt werden?

Roboter & Co. sind gut als Hilfe und Unterstützung für Menschen und menschliche Pflegekräfte. Sinnvoll ist jede Hilfe, die verhindert, dass sich eine Krankenschwester beim Heben schwerer Menschen verletzt. Der Ersatz von – schwer verfügbaren und angemessen zu bezahlenden – Pflegekräften, bis hin zu der »Vision« des maschinenbetriebenen Altenheimes, das zumindest bei mir Assoziationen an Stephen Kings Romane erweckt, erscheint wahrscheinlich vielen problematisch. Aber machen Sie sich nichts vor: Die Entwicklung läuft auf vollen Touren, und wenn in einigen Jahren die Kosten für Anschaffung und Erhaltung solcher Maschinen unter die Kosten für menschliche Pflegekräfte gesunken sind, wird es genügend Investoren in Altenheime geben, denen die künstlich intelligente Alternative attraktiver erscheint als die menschliche. Eine Zukunft, an deren Gestaltung Sie wohl mit entscheiden sollten, bevor Sie zu alt dafür sind.

* Dieses Vorgehen ist in unserer Gesellschaft üblich und rechtlich im Sozialgesetzbuch festgelegt. Die Solidargemeinschaft kommt für den Einzelnen auf. Überprüft wird, ob eigene Mittel da sind, die dafür aufgewendet werden können; ist das nicht der Fall, so zahlt die Solidargemeinschaft, was ein schöneres Wort für den Staat ist. Hinter dieser guten Regelung verbergen sich oft persönliche und familiäre Dramen: Sie haben sich Ihr Haus zusammengespart, um es einmal Ihren Kindern zu vererben, denen Sie sonst nicht viel hinterlassen können. Um dieses Vorhaben nicht zu gefährden, übernehmen Ihre Kinder Ihre Pflege. Irgendwann schaffen die das nicht mehr, und dann entsteht eine moralisch-finanzielle Schere: doch noch pflegen, obwohl das zu viel wird – pflegende Angehörige von Demenzkranken gelten als Referenzgruppe mit dem höchsten Stress –, oder das Erbe gefährden. In solchen Fällen wird oft auf den Staat geschimpft, aber tatsächlich ist es ein Problem Ihrer persönlichen Lebensplanung.