Unerschrockendem Alter begegnen
Alter ist ein Thema, das wie kein anderes den ganzen Menschen betrifft. Und der ist ein Gesamtkunstwerk. Auch Sie. Um das Kunstwerk zu verstehen, bleibt uns nichts anderes übrig, als seine Teile anzuschauen. Die sind noch wunderbar genug und geprägt von vielfachen komplexen Wechselwirkungen.
Nehmen wir unser Gehirn, beziehungsweise das, was wir von seiner Existenz mitkriegen. Sie können davon ausgehen, dass uns der größte Teil der Hirnaktivität verborgen bleibt, weil er unbewusst abläuft: Notiz nehmen wir von dem, was wir Geist und Seele nennen, konkret Stimmung, Antrieb, Motivation, Kognition. Ohne dass wir es merken müssen, steuert das Gehirn unsere Körperlichkeit und wird umgekehrt von den anderen Aspekten dieses Gesamtkunstwerks Mensch beeinflusst. Von Nerven, Muskeln, Sehnen, Knochen und Gelenken, also dem sogenannten Bewegungsapparat, der in Kooperation mit dem Gehirn Gleichgewicht, Tonus, Kraft, Ausdauer reguliert, unsere Bewegungsfähigkeit. Von der Wechselwirkung zwischen Gehirn und Herz-Kreislauf-System merken wir meistens ebenfalls nicht viel; denn diese lebenswichtigen Funktionen spüren wir nur dann, wenn sie nicht mehr reibungslos ablaufen: Herzschlag, Blutdruck, Durchblutung der Organe. Unser Hormonsystem wiederum reguliert das Zusammenspiel von Körperfunktionen, Verhalten und Befindlichkeit und verändert sich in Abhängigkeit von den verschiedenen Altersphasen stark; ich sage nur Pubertät oder Menopause.
Ohne unsere Verdauungsorgane geht nichts, und sie beeinflussen beileibe nicht nur die Verdauung. Eine Theorie spricht sogar vom zweiten Gehirn im Darm. Unser gesamter Stoffwechsel beruht auf der Interaktion von Nahrungsaufnahme und -verarbeitung.
Noch geheimnisvoller ist das Immunsystem, unsere höchst individuelle Abwehr gegen Bedrohungen von außen, Bakterien und Viren, und von innen, eigene Zellen, die zu Krebszellen mutiert sind und sich gegen unseren Organismus wenden. Die endliche Leistungsfähigkeit des Immunsystems bei der Reparatur von Mutationen scheint wohl einer der Faktoren zu sein, die das überhaupt erreichbare Lebensalter begrenzen.13 Was die Mikroorganismen angeht, ist die Betrachtung, dass wir die nur abwehren müssten, eher falsch; heute geht man davon aus, dass jeder von uns über einen individuellen Cocktail von Mikroorganismen verfügt, der Nahrungsverwertung, Befinden und Immunsituation bestimmt: das Mikrobiom. Letztlich bestehen wir aus Zellverbänden, die unglaublich faszinierend sind und die wir bisher nur ansatzweise verstehen.
Dabei will ich es erst mal bewenden lassen, weil wir mit dem Wissen um diese Systeme schon ziemlich weit kommen, wenn wir uns und unsere Alterungsprozesse verstehen wollen. Sie können auch noch Umwelt und soziale Systeme mitdenken, in die unsere Persönlichkeit eingebettet ist.
Die geschilderten Systeme machen insgesamt unser Dasein aus, unsere Gesundheit und unser Befinden. Sie beeinflussen sich gegenseitig und können durch unser Verhalten beeinflusst werden. Doch von allen Einflüssen wirkt sich das Alter über die Zeit am stärksten aus. Auch wenn diese Auswirkungen im Einzelnen sehr unterschiedlich sind, kann man sie in einem Satz ausdrücken: Wir werden weniger.
Und das findet niemand lustig. Es wird als Herausforderung schlechthin verstanden, als Zumutung. Letzteres insbesondere vor dem Hintergrund, dass Wachstum die allumfassende Devise unserer Zivilisation ist.
Alles, was altert, führt diesen Glaubenssatz ad absurdum. Nicht zuletzt deswegen wollen viele vom Alter nichts wissen. Vor allem in der westlichen Kultur.
Um den Einfluss des Alters einschätzen zu können, brauchen Sie die weite Perspektive, müssen Ihre Veränderungen über einen langen Zeitraum betrachten. Je kürzer die Zeiteinheiten Ihrer Betrachtungen sind, desto weniger bekommen Sie vom Alter mit.
Und doch können wir nur im Jetzt versuchen, unsere Existenz zu beeinflussen, vor allem im Blick auf das Altern. Darin liegen Risiko wie Chance.
Wann also spielt unser Einfluss eine Rolle?
Bei der Ernährung!
Sie haben wahrscheinlich bereits gelesen, dass ein großes Problem der westlichen Zivilisationen das Übergewicht ist. Die Art und Weise, wie Sie Ihre Nahrungsaufnahme steuern, und das daraus resultierende Gewicht haben immense Bedeutung für Ihre Gesundheit: Der Bewegungsapparat, das Herz-Kreislauf-System, Ihr Stoffwechsel, die Befindlichkeit, Motivation und sogar die Immunabwehr werden durch Übergewicht wohl negativ beeinflusst. Wenn Sie Übergewicht haben, wächst unter anderem die Wahrscheinlichkeit, dass Sie an irgendeinem Krebs erkranken.
Der wichtigste Gegenspieler der Ernährung ist die Bewegung, ein Wunder!
Natürlich brauchen Sie Nahrung, um sich bewegen zu können. Aber Sie überschätzen die Menge, die Sie brauchen, bei Weitem! Machen Sie sich nur mal klar, dass in der Zeit, als wir Menschen entstanden sind, als wir uns zum Homo sapiens entwickelt haben, um 120 000 bis 80 000 vor Christus, Nahrung in unserem heutigen Sinn überhaupt nicht existierte: Möglicherweise hat es die Menschwerdung entscheidend beflügelt, dass diese Lebewesen, die unsere Vorfahren waren, nicht mehr Affe, aber noch nicht so richtig Mensch, relativ wenige, nährstoffarme Pflanzen suchen und finden mussten – die Sammlerinnen waren wohl vor allem Frauen und Kinder – oder Tiere jagen, die ziemlich schnell weglaufen konnten. Diese hatten ihre genetische Ausstattung nicht in der Auseinandersetzung mit den Menschen erworben, die es ja noch gar nicht gab, sondern mit Raubkatzen, Wölfen oder Hyänen. Und vor diesen mussten die jagenden Menschen, vorwiegend Männer, sich noch dazu hüten, denn sie gehörten in deren Beuteschema. Unsere Vorläufer waren also Jäger und Gejagte. Sie können davon ausgehen, dass diese sich ständig bewegten, mit erheblicher Ausdauer rannten, mit großer Wendigkeit und beachtlichem Geschick mit Beute- und Raubtieren umgingen und dass sie stark waren: Selbst gegen eine Neandertaler-Frau hätte Arnold Schwarzenegger keine Chance gehabt.
Kraft und Ausdauer folgen der Funktion: Das ständige hungrige Rumrennen war gut für die Menschen und wahrscheinlich eine der Vorbedingungen fürs Überleben. Und so ist es vermutlich zu erklären, dass Bewegung auch heute, nachdem sich die Lebensbedingungen völlig verändert haben, das Geheimrezept gegen alles ist, an was wir nicht leiden wollen: Depression, Demenz, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Beweger haben eine wesentlich bessere Widerstandskraft gegen Stress. Und gegen die Effekte, die das Alter auf unseren Organismus ausübt, sowieso!
Warum gibt es dann noch Menschen, die sich nicht bewegen? Man kann es nur als Ausdruck ziemlicher Ignoranz gegenüber unserer Menschwerdung verstehen. Schon in den 1940er-Jahren fand der englische Arzt Jerry Noah Morris heraus, dass die Schaffner in den Londoner Doppeldeckerbussen deutlich weniger Herzinfarkte erlitten als die Fahrer.14 Der einzige Unterschied zwischen den beiden Gruppen: Die einen saßen, die anderen waren ständig in Bewegung. Der lebensverlängernde Einfluss von Bewegung hängt natürlich davon ab, wie diese Bewegung von Muskeln, Gelenken und Knochen toleriert werden kann: Harte körperliche Arbeit auf dem Bau oder dem Feld kann uns schädigen oder kaputt machen.
Eine weitere Einflussgröße, die uns voraltern lässt, sind Gifte, die wir zum Genuss oder um uns zu stimulieren zu uns nehmen. Sie denken jetzt an die verschiedenen Rauschgifte? Na ja: Die mit Abstand größten Gesundheitsschäden werden durch Rauchen und Alkohol verursacht, beide legalisiert und gesellschaftlich akzeptiert.
Zusammenfassend bedeutet all das: Unser Funktionsgefüge verändert sich mit zunehmendem Alter. Wir können die altersbezogenen Veränderungen in gewissen Grenzen beschleunigen oder verlangsamen.
Alter verändert Körper, Geist und Seele
Was passiert eigentlich, wenn Sie älter werden?
Okay, Sie glauben, Altern verhindern zu können, indem Sie nicht darüber nachdenken. Obwohl Sie und ich wissen, dass das ein bisschen schwachsinnig ist. Aber es ist ein nachvollziehbares, menschliches Verhalten, so verständlich, dass es dafür einen psychologischen Begriff gibt, und der heißt »vermeiden«: Was Sie dadurch aus der Welt schaffen wollen, wird im Allgemeinen schlimmer.
Wenn Sie diese Phase des nachvollziehbaren, menschlichen Schwachsinns überwunden haben – Sie sind ja mutig, sonst hätten Sie dieses Buch gar nicht in die Hand genommen –, können Sie sich genauer anschauen, was Sie keinesfalls wollen: Sie wollen nicht in einen Zustand kommen, in dem sich Menschen befanden, die Sie als alt erlebt haben. Denn Sie befürchten, dann alt auszusehen. Alt aussehen – eine Formulierung von Jungen über Alte oder über vom gerade angesagten Trend Abgehängte. Das Aussehen als Hinweis, dass mit Ihnen nicht mehr viel los ist, also der Verweis auf Niederlagen, Versagen, ins Hintertreffen geraten.
Nebenbei bemerkt: Aus Sicht von uns Ältergewordenen ist es eigentlich belanglos, was die Jungen über uns denken. Entscheidend ist, wie wir mit unserem Alter auskommen. Immer wieder aus der Perspektive des jeweiligen Moments, der seine je eigene Herausforderung mit sich bringt. Für solche Herausforderungen gibt es heute mehr Hilfsmittel denn je. Die können Sie aber nur nutzen, wenn Sie die Auseinandersetzung mit dem Alter eben nicht vermeiden.
Die Angst vor dem »alt aussehen« haben die Verschönerungsarbeiten an unserer Oberfläche zu einem Millionengeschäft gemacht. Nichts dagegen. Jeder Hausbesitzer achtet auf die Fassade. Wir kommen noch darauf. Aber die Veränderungen von Haut und Hautanhangsgebilden, wie es fachsprachlich ernüchternd heißt – also Haut, Haare, Flecken, Warzen –, sind nicht alles. Eigentlich sogar der kleinste Teil.
Wichtiger, und prägend für das Aussehen, sind die Muskeln. Die können Sie nicht direkt sehen, und deswegen ist Ihnen deren Bedeutung für Ihre Optik nicht so bewusst: Tatsächlich wird Ihre Gestalt, Ihre Anmutung wesentlich durch Ihre Muskulatur geprägt, Rücken, Bauch Arme, Beine, aber vor allem eben auch im Gesicht. Muskeln haben Volumen, das die Wölbungen Ihres Körpers prägt, zusammen mit dem Fettgewebe. Ich gebe zu, das ist eine sehr nüchterne Beschreibung für etwas, das ästhetisch und begehrenswert aussehen kann. Muskeln verändern sich, abhängig davon, wie Sie sie bewegen. Gebrauchen Sie sie, so bleiben sie erhalten, trainieren Sie sie, so werden sie größer, sind Sie inaktiv, so nehmen sie ab. Im Alter ist das Abnehmen beschleunigt. Die von Ihnen so verabscheuten Falten entstehen nicht nur, weil die Haut nicht mehr elastisch ist, sondern auch, weil die relevante Substanz darunter fehlt. Das heißt: Substanz ist schon noch da, aber nicht die erwünschte. Muskeln werden durch Fettgewebe ersetzt, sodass Sie den Verlust zunächst kaum wahrnehmen. Aber Fett ist wabbelig und bleibt passiv. Es wird nicht durch Tonus und Bewegungen moduliert. Dadurch erscheint Ihre Fassade irgendwie lebloser, und durch das Schrumpfen bekommen Sie Falten – besonders leicht am Hals und am Oberarm, wo man kaum etwas dagegen machen kann. Gleichzeitig verändert sich die Haltung, die, sofern vorhanden, durch den Tonus der Muskulatur geprägt wird, vor allem durch den Tonus der großen Haltemuskulatur im Rücken und weniger im Bauch. Fett kann nichts halten und noch weniger bewegen. Ihre Haltung, die Ihr ganzes Erscheinungsbild ausmacht, können Sie willentlich kaum beeinflussen, sondern sie trägt, ohne dass Sie es bemerken, zu Ihrem Erscheinungsbild und seiner Wirkung bei. Natürlich funktioniert »Rücken gerade, Brust raus, Bauch rein!«, aber immer nur für wenige Sekunden.
Muskelabbau hat aber nicht nur ästhetische Folgen: Der Zustand Ihrer Gelenke hängt entscheidend davon ab, wie sie von den Muskeln gehalten werden. Das macht sich an Hüften und Knie bemerkbar und vor allem an der Wirbelsäule. Die Ursache für Schmerzen, Schmerzmittelmissbrauch, unnötige Operationen sind ganz überwiegend degenerative, durch Inaktivität reduzierte Muskeln. Dieses Problem spielt schon bei vielen Jugendlichen eine Rolle und wird im Alter durch den beschleunigten Muskelabbau immer drängender. Es hilft nichts. Sie müssen in die Muckibude!
Letzten Endes moduliert Ihr Geisteszustand Ihr Verhalten und das wiederum Ihren Muskelzustand. Da liegt der Hund begraben.
Während Sie von den Haltungsproblemen lange Zeit nichts spüren, fallen Ihnen andere körperliche Einschränkungen eher auf: Sie müssen sich für vieles anstrengen, das mal selbstverständlich war; Treppen rauf- und runterrennen, auf einem Bein balancieren können Sie kaum noch, Tennis oder Fußball spielen, sich aufs Fahrrad schwingen so lala.
Vieles davon hat nicht nur mit der Muskulatur, sondern mit dem verminderten Gleichgewichtssinn zu tun.
Üben!
Sie meinen, das hätte keinen Sinn mehr? Da liegen Sie falsch! Erinnern Sie sich an die Hamburger Oldies, die jonglieren gelernt haben. Und was noch wichtiger ist: Geisteszustand moduliert nicht nur die Muskeln, sondern Bewegung moduliert Geisteszustand. Da kommen wir später noch hin.
Hören und sehen:
Sie brauchen eine stärkere Brille und oft ein Hörgerät. Dass das nicht nur Ihnen so geht, sehen Sie an den aus dem sonst nicht so fruchtbaren Boden der Städte sprießenden Akustikstudios und Brillenläden. Sie wären schnell allein, wenn Sie sich um dieses Defizit nicht kümmern würden.
Schmerzen:
Ihnen tut häufig Verschiedenes weh, und wenn Ihr Arzt Sie ließe, wären Diclofenac und Ibuprofen Ihre ständigen Begleiter. Aber da er ein Guter ist, hat er Ihnen die ziemlich hässlichen Folgen einer Dauermedikation deutlich gemacht, und Sie sind gerade dabei, sich in alternative Schmerzbekämpfung einzuarbeiten. Auch darüber reden wir noch.
Sex:
Im Bett verändert sich ebenfalls einiges. Bei vielen passiert dort außer schlafen nur noch sehr selten etwas, und das ist dann meist nicht so dolle. Das liegt an Ihnen.
Inkontinenz:
Kein Scherz. Das ist Ihnen richtig peinlich, denn in die Hose haben Sie zuletzt als 2-Jährige gemacht. Auch in diesem Punkt sind Sie nicht allein: Etwa 30 Prozent der über 65-Jährigen, vor allem Frauen, haben damit Probleme. Ein Hammer! Haben Sie nicht gewusst. Vermutlich auch nicht gewusst haben Sie, dass Sie das gut in den Griff bekommen können:
»In einer Cochrane-Analyse aus 13 randomisierten Studien mit 714 Frauen wurde der Wert der Beckenbodengymnastik gegenüber Placebo bei weiblicher Belastungsinkontinenz untersucht. Die Wahrscheinlichkeit, wieder kontinent zu werden, war in der Verumgruppe 17mal und damit signifikant erhöht.«15
Sie haben kein Wort verstanden? So sind sie, die Ärzte! Das Zitat ist nämlich aus dem Deutschen Ärzteblatt, das nun nicht grad ein Hort unverständlicher Wissenschaft sein, sondern eine gut verständliche Botschaft für alle vermitteln sollte. Übersetzt steht da, dass Beckenbodengymnastik, also ein nicht-medikamentöses Verfahren, einen tollen Effekt hat, nämlich Inkontinenz verhindern kann. Auf jeden Fall kann es nicht schaden, wenn Sie sich mit dieser Art von Sprache allmählich vertraut machen, denn die erwähnte »Cochrane-Analyse« ist ein Verfahren, das besagt, welche Methode tatsächlich wie wirksam ist. Und diese Art Analysen sollten Sie verstehen können, wenn Sie sich mit Ihrem Arzt darüber streiten wollen, ob Sie sich nun operieren lassen oder doch lieber zur Krankengymnastik gehen. Wir kommen darauf zurück.
Die sensible Seele:
Sie werden empfindlicher. Wenn Sie mit vermeintlichen oder echten Kränkungen nicht aktiv umgehen, werden Sie depressiv. Also: Die Gelassenheit, von der Biolek spricht, kommt nicht von selbst, auch dafür müssen Sie etwas tun.
Vergesslichkeit:
Sie werden mit unterschiedlichen Schwerpunkten vergesslicher, auch wenn das nicht gleich auf Demenz hindeutet. Aber auch das kann der Fall sein.
Dies ist eine Auswahl dessen, was Älterwerden Ihnen bringen kann. Ich verstehe gut, dass Sie so nicht sein wollen. Aber um das Wollen geht es hier nicht, denn diese Veränderungen kommen. In unterschiedlicher Ausprägung. Und eben diese Unterschiede hängen nicht unwesentlich davon ab, wie Sie mit sich selbst umgehen.
Die gute Nachricht wollen wir also noch einmal wiederholen:
Sie können den Alterungsprozess beeinflussen, denn sehr viele Dinge aus diesem Gruselkatalog stimmen so nicht (Sex!), lassen sich aufhalten (Übergewicht und muskuläre Schwäche, Inkontinenz) oder ganz verhindern (Depression). Oder Sie können heute so gut Abhilfe schaffen, dass Sie nur noch wenig davon wahrnehmen (Schwerhörigkeit, Sehprobleme). Die Folge können Sie jeden Tag sehen: Menschen gelten im Vergleich zu früheren Generationen heute erst in viel höherem Alter als alt.
Die schwierige Nachricht: Sie müssen etwas dafür tun, und zwar ständig. Ruhestand ist nicht.
Sie treffen also selbst die Entscheidung, auf welche Weise Sie alt werden. Jeden Tag wieder. Mühsam?
Ich sag ja: Ihre Chance!
Menschen können immer älter werden. Angus Deaton, der 2015 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekam, hat die Rettung vom frühen Tod als »The Great Escape« – das große Entkommen, die große Rettung – bezeichnet. Groß, weil sie die Menschen auf der ganzen Welt betrifft, weil sie im besten Sinn global ist, mit beträchtlichen Unterschieden, aber immerhin. Der größere Anteil unser aller gestiegenen Lebenserwartung geht auf das Konto der geringeren Kindersterblichkeit, ein Prozess, der in den westlichen Industrieländern zur Zeit zum Abschluss gekommen ist. Die kleinere, aber für Sie als Mensch jenseits der Fünfzig bedeutsamere Steigerung der Lebenserwartung können Sie selber beeinflussen, indem Sie gesund leben. Denn zusätzliche Lebensjahre gewinnen Sie, wenn Sie die Wahrscheinlichkeit von Gefäß- und Krebs-Erkrankungen minimieren. Zum Beispiel, indem Sie nicht rauchen, auf ein gesundes Körpergewicht achten, sich viel bewegen und Ihre Muskeln durch Krafttraining fit halten.
Das haben Sie schon oft gelesen, und das finden Sie auch an verschiedenen Stellen in diesem Buch. Klingt ganz glatt.
Glatt ist es deshalb nicht, weil Lebensqualität nicht zwingend mit der verlängerten Lebensdauer korreliert. Sie wollen ja etwas von diesem gewonnenen Leben haben. Doch das ist nicht selbstverständlich. Das Problem: Mehr Lebensdauer heißt nicht zwingend mehr Lebensqualität. Oder wie Angus Deaton gesagt hat:
»Health is not only about living and dying, but about how healthy people are while they are alive.«*
How are you?
Zum Beispiel beim Rauchen.
Wenn Sie nicht rauchen oder Rauchen verabscheuen, ist das nicht Ihr Thema. Aber wenn Sie gerne rauchen, bringt Ihnen eine Zigarette direkte Freude: Sie ist ein leicht verfügbarer und immer noch relativ billiger Verstärker, eine wichtige Genussquelle. Das liegt daran, dass Zigarettenrauch in der Lunge schnell Nikotin ins Blut freisetzt, was in Ihrem Gehirn zu einem flash-artigen Anstieg des Neurotransmitters Dopamin führt. Dieser Effekt löst in Ihrem subjektiven Erleben die Empfindung von Genuss und vielleicht sogar Lust aus. Und das in hübsch kleinen, häufig wiederholbaren Dosierungen. Der Schaden steht auf einem anderen Blatt: In dem Moment, in dem Sie Genuss erleben, interessiert Sie das Wissen über schädliche Wirkungen kein bisschen. Die setzen ja auch nicht sofort, sondern erst nach Jahren ein, und das auch nicht in jedem Fall, sondern nur mit statistischer Wahrscheinlichkeit, allerdings mit ziemlich hoher. Es ist nie untersucht worden, wie viele Lungenkrebstote das Rauchverhalten unseres verehrten Altkanzlers Helmut Schmidt zur Folge hatte. Wissen und Vergnügen spielen sich auf verschiedenen Gehirnebenen ab. Außerdem ist Rauchen eine Gewohnheit – und nichts ist so schwer zu verändern wie ein Verhalten, das wir gar nicht mehr wahrnehmen, weil wir uns daran gewöhnt haben.
Was heißt das?
Analoge Überlegungen stehen an, wenn Sie andere lebensverlängernde Maßnahmen planen:
Der Start in den – lebensverlängernden – Ausdauersport kann eine ähnliche Herausforderung sein wie der Verzicht auf die Zigaretten, wenn Sie Ihr Leben bisher nach der Devise »no sports«*** geführt haben. Wenn Sie bei oder mindestens nach dem Sport eine Art von Befriedigung empfinden wollen und die neu begonnene Herausforderung nicht nur mit Schmerzen und Entbehrungen verbunden sein soll, kommen Sie mit reinen Nützlichkeitserwägungen nicht sehr weit. Fangen Sie unter Anleitung an, und geben Sie sich die Zeit, zu spüren, was die ungewohnte sportliche Betätigung nach einigen Wochen in Ihnen verändert hat. Wie fühlt sich das an? Wenn es nur furchtbar ist, hören Sie auf. Wenn sich aber unter Muskelkater, Schmerzen in ganz neu entdeckten Gelenken, dem Fluchen über bescheuerte Dehnübungen – die mindestens so wichtig wie der Muskelaufbau sind und die ich hasse! – ein Gefühl von Ruhe, Gelassenheit und vielleicht sogar Wohlbehagen ausbreitet, dann machen Sie weiter. Es ist ganz allein Ihre Sache, wie viel Frustration Sie sich zumuten.
Ähnlich ist es bei der Gewichtsreduktion: Genuss bei Essen und Trinken ist untrennbar mit der Aufnahme von Kalorien verbunden. Ihre Essgewohnheiten formen Ihre Gestalt und bestimmen Ihr Körpergewicht. Wollen Sie dieses reduzieren, so müssen Sie vor allem Ihre Essgewohnheiten ändern, und es hilft auch, Ausdauersport zu betreiben und sich auf einen monate- bis jahrelangen Veränderungsprozess einstellen. Schnell geht gar nichts. Ihr Gehirn muss umlernen. Als Gipfel der existenziellen Niedertracht mag Ihnen erscheinen, dass Sie mit zunehmendem Alter weniger Kalorien brauchen, um Ihr aktuelles Gewicht aufrechtzuerhalten.
Das Wichtigste aber bei all diesen Möglichkeiten: Jeder Weg führt nur zum Ziel, wenn es Ihr Weg ist. Ihr ganz persönlicher, individueller Weg, für den Sie sich entscheiden. Sie wägen Ihr persönliches Risiko ab, indem Sie sich informieren. Sie finden heraus, was Ihnen Spaß macht, was Sie fasziniert, aber auch, wie viel Frust Sie ertragen können. Auf dem Weg zu einem guten Leben sind Stress, Schmerzen und Frustration unvermeidbar. Auch wenn Sie Ihr Leben als Ganzes ziemlich gut finden.
»Sadness, pain, and stress might be inevitable during some of the experiences one must go through in order to build a good life.«****16
Was wollen Sie?
Wieso? Ich?
Es kommt auf Sie an. Ganz allein auf Sie.
Diese Aussage wundert Sie vielleicht zuerst, weil Ihnen das in Ihrem bisherigen Leben nicht so klar gesagt wurde. Aber bei einigem Nachdenken werden Sie feststellen, dass das so ist.
»Jeder Mensch ist einzigartig. Seine Individualität zu leben, macht den Sinn des Lebens aus.«17 Der Satz stammt von dem Schweizer Entwicklungsforscher Remo Largo. Er steht am Beginn seines Buches »Das passende Leben«. Dieses Buch ist eine Art Quintessenz seiner Forschung, in der er die Lebensverläufe von Schweizer Bürgern untersucht hat und zum Ergebnis kam, dass jeder Mensch nur sein eigenes Leben leben kann, eben das, was in ihm angelegt ist: Sie sind einzigartig. Sie haben Ähnlichkeiten mit Ihren Eltern und Geschwistern, unter Umständen auch die Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten; aber selbst wenn Sie einen eineiigen Zwilling haben, was genetische Identität bedeutet, sind Sie aufgrund Ihrer in Ihrem einzigartigen Leben gemachten Erfahrungen ein Unikat. Wow!
Largo hat sich vor allem mit Kindern und Jugendlichen beschäftigt, aber seine Aussage gilt genauso für die Älteren. Eigentlich vor allem für die.
Denn jetzt, im Alter von 55 bis 65, in dem Sie dieses Buch vielleicht in die Hand nehmen, sind die Bedingungen besser als je zuvor, Ihr Leben nach Ihren Vorstellungen gestalten zu können. Vielleicht zum ersten Mal können Sie jetzt allein entscheiden, wie Sie leben wollen: In der Kindheit waren es die Vorstellungen der Eltern, die Sie realisieren sollten, später, in Ausbildung und Beruf, mussten sich Ihre eigenen Vorstellungen von Selbstverwirklichung den Zukunftsplänen Ihrer Arbeitgeber unterordnen. Jetzt sind Sie an der Schwelle zum oder vielleicht schon im sogenannten Ruhestand. Und jetzt könnten Sie tatsächlich endlich machen, was »ihre ureigenen inneren Werte reflektiert«. Daniel Schreiber hat das in seinem Bestseller über den Alkohol beschrieben:
»Unser Verständnis von Erfolg stammt zum größten Teil nicht von uns selbst, sondern von anderen … In einer Kultur, die grundsätzlich Reichtum und das damit verbundene Prestige als das gute, das begehrenswerte Leben inszeniert, wird einem stets vermittelt, dass man nie mit dem zufrieden sein sollte, was man hat, wer man ist und was man tut. Um dagegen angehen zu können, müssen wir erst einmal selbst herausfinden, was wir wirklich als Erfolg erleben, was wir wirklich von unserem Leben … wollen.«18
Im Zuge der Umsetzung, was er wirklich von seinem Leben will, hat Daniel Schreiber aufgehört, Alkohol zu trinken.
Alkohol, darauf kommen wir noch.
Aber – sind Sie jetzt nicht zu alt dafür, dieses eigene, individuelle Leben umzusetzen?
An diesem Einwand ist schon etwas dran: Jetzt, wenn Sie endlich die Freiheit bekommen, Ihr Leben selbst zu gestalten, ohne dass Ihnen jemand hineinredet, sind Sie vielleicht nicht mehr ganz so, wie Sie eigentlich gerne wären, um diese Freiheit in vollen Zügen genießen zu können. Einiges fehlt Ihnen, und von einigem haben Sie zu viel.
Hier verbirgt sich ein Grundproblem des Älterwerdens. Wir wollen länger, möglichst lange leben, aber wir wollen dabei so bleiben, wie wir in unserer vermeintlich besten Lebensphase, in unserer Jugend, waren. Älter werden wollen wir also gar nicht. Wie Sie sich erfolgreich mit diesem Dilemma auseinandersetzen können, macht einen großen Teil dieses Buches aus.
Wenn Sie nicht krank sind, haben Sie heute die Chance, an Jahren sehr alt zu werden und von diesem Leben auch etwas zu haben. Aber natürlich altern Sie dabei, in allen Organsystemen – Haut und Haaren, Muskulatur, Herz-Kreislauf-System, Hormonsekretion, Gehirn. Dieser unvermeidliche Alterungsprozess ist individuell, was im Klartext bedeutet, dass jeder anders altert.
Die interessanteste Botschaft ist, dass Ihr persönlicher Alterungsprozess sehr stark davon abhängt, wie Sie ihn gestalten. Durch diesen selbst gestalteten Alterungsprozess können Sie Ihren Lebensstil stärker beeinflussen, als Sie sich das je träumen ließen. Ob Sie das wollen und wie Sie das machen, das ist allein Ihre Sache. Ich versuche Ihnen dabei zu helfen, indem ich Ihnen die verschiedenen Möglichkeiten zeige, wie Sie leben könnten. Ihre Aufgabe ist es, die Frage zu beantworten:
Was macht das gute Leben aus, mein Leben?
Nein, ich meine nicht, dass Sie eine multiple Persönlichkeitsstörung hätten. Aber ohne jeden Zweifel verfügen Sie noch über ganz andere Persönlichkeitsanteile als diejenigen, die Sie sich jeden Tag im Spiegel anschauen, und das sind nicht nur respektable und nicht nur solche, die Sie den anderen zeigen wollen.
Woran merken Sie das?
Zum Beispiel, wenn Ihnen Ihre Motivation plötzlich abhandenkommt. Sie sind von Ihrem Job überzeugt, Sie lieben Ihr work-out-Programm, Sie wollen den nächsten Halbmarathon mitlaufen, alles gut – aber eines Morgens stellen Sie fest: null Bock!
Da Sie, bei allem Respekt, nicht mehr zwanzig sind, haben Sie schon viele solcher Tage erlebt: voll Widerwillen, heute ins Büro zu gehen, der work-out ekelt Sie plötzlich an, für das Lauftraining sind Sie heute echt zu müde.
Faul? Sie sind nicht einfach plötzlich faul geworden! Das war ein dummes Argument Ihrer Lehrer, die nicht genug Phantasie besaßen, einen motivierenden Unterricht zu gestalten. Warum schleppen Sie solche moralisierenden Wertungen jahrzehntelang mit sich rum? Weil Ihre dominierenden Persönlichkeitsanteile in dieser Zeit, in der Schulzeit und drum herum, entstanden sind. Deshalb rekapitulieren Sie gerne die Rezepte von Lehrern – und Eltern! Obwohl Sie die seinerzeit nur blöd fanden. Und damit sind Sie ja auch nicht so schlecht gefahren.
Dominierende Persönlichkeitsanteile? Gibt’s noch andere? Na klar! Je nachdem, welch große Vielfalt Sie sich leisten mögen – das kommt auf Ihre Biografie an. Das Grundthema all dieser Persönlichkeitsanteile ist, dass sie alle irgendwann mal zur Sonne, das heißt gesehen werden wollen. Und je stärker Ihre dominierende Persönlichkeit das zu unterbinden versucht, desto stärker wird der Druck von unten. Sie merken das daran, dass Ihre Motivation plötzlich entschwindet. Wenn Sie einen Job haben, bei dem Sie einfach nur anwesend sein müssen, ist das noch zu verkraften. Aber wenn Sie auf Ihre Kreativität angewiesen sind, wie zum Beispiel alle künstlerisch tätigen Menschen, dann wird es ernst. Für den Schauspieler, der endlich die Traumrolle seines Lebens angeboten bekommt und sich einfach nicht motivieren kann, seinen Text zu lernen, für den Schriftsteller, der schon den dritten Vorschuss kassiert hat und mit seiner Schreibhemmung nicht klarkommt. Menschen, die in solch einer fatalen Situation feststecken, berichten, dass da etwas Subversives in ihnen mit aller Kraft versuche, ihre Existenz zu zerstören. Psychotherapeuten kennen das, Irvin Yalom beschreibt das19, buddhistische Heiler sprechen vom inneren Dämonen20, den man füttern muss. Nichts, was Sie ignorieren sollten! Aber: Selbst wenn Ihnen diese Seite nicht recht geheuer ist, es ist kein fremdes Monster. Das sind Sie selbst!
Wir sind nicht aus einem Guss, sondern haben viele Anteile, denen wir nie Raum geben wollten – oder durften.
Erziehung? Ja, schon. Erziehung kann die Persönlichkeit akzeptieren und fördern. Solche Kinder bekommen die Freiheit, alles, was in ihnen hochkommt, zu prüfen und ohne Druck auszuwählen.
Aber manche Eltern bevorzugen die Bonsai-Methode mit paradoxem Effekt, den Sie jetzt ausbaden dürfen. Um im Bild zu bleiben: Wenn Sie schon mal Pflanzen zurückgeschnitten haben, wissen Sie, dass Ihr Sieg nur von kurzer Dauer ist, denn mit dem Schnitt provozieren Sie manchmal geradezu die Triebe, die Sie nicht wollen. Was die Pflanze will, ist eine andere Geschichte.
Sie fragen sich, ob dieser olle Erziehungskram aus Ihrer Jugend jetzt im reifen Alter immer noch wirksam ist. Glauben Sie mir, er ist es.
Was tun?
Lassen Sie diese subversiven Anteile Ihrer Seele ein bisschen Frühlingsluft schnuppern und sich einen kleinen Sonnenbrand um die Nase holen. Keine Angst, Ihre Existenz wird dadurch nicht gefährdet, die ist stabil genug. Und wenn doch? Unerschrocken dem Alter begegnen!
Ich werde auf Ihre subversive Seite immer mal wieder zurückkommen, da gibt es viele Möglichkeiten: So gut Sie sonst mit Ihrem strukturierten Tagesablauf zurechtkommen, dem Müßiggang zu frönen – das hat was! Auch der fette Burger nimmt Ihrer wunderbaren Diät nicht das Geringste, der faule Tag Ihrem Marathon-Training auch nicht, wenn beides nicht zur Gewohnheit wird.
Im Gegenteil: Genießen Sie Ihre subversiven Anteile so achtsam und so sparsam wie möglich! Das macht sie kostbar.
* »Bei Gesundheit geht es nicht nur um Leben und Sterben, sondern auch darum, wie gesund Menschen im Verlauf ihres Lebend sind.«.
** Das verstehen Sie nicht? Dann schauen Sie sich »Gran Torino« an!
*** Es ist übrigens nirgendwo belegt, dass Winston Churchill das wirklich gesagt hat. Sehr wahrscheinlich ist es nicht, denn Churchill hat in seiner Jugend begeistert und hervorragend Polo gespielt, ein Sport, der mit Bequemlichkeit nichts zu tun hat.
**** »Traurigkeit, Kummer und Stress mögen während mancher Erfahrungen, die man durch leiden muss, um zu einem sinnerfüllten Leben zu finden, unverzichtbar sein.