Ohne Furcht jeden Tag bereit sein zu gehen
Ich will nicht sterben.
Sie kenne ich nicht, aber vermutlich wollen Sie auch nicht sterben. Und ich nehme an, dass Sie nicht darüber reden wollen. Das scheint eine der Merkwürdigkeiten in unserer Kultur zu sein, dass wir vom Einzigen, was wirklich sicher ist, nichts wissen wollen. Man soll uns damit nicht behelligen.
Okay, das ist ein schwieriges Thema.
Für unsere Welt der Gedanken, Erfahrungen und Ideen ist Sterben eine Ungeheuerlichkeit. Seit wir denken können, schaffen wir uns einen eigenen, sich stetig ausdehnenden Kosmos aus Erinnerungen, Bewertungen, Wünschen, Enttäuschungen, Kämpfen, Niederlagen – ein paar Siege sind auch dabei. Für uns, die wir uns vorwiegend über Denken definieren, ist die Vorstellung, dass all dies zu Ende sein wird, eine Kränkung, eine Zumutung. Aus vielen Gründen. Mir fallen einige ein, Ihnen vielleicht noch andere:
Mein Ende kann ich nicht denken, das ist meinem Selbst gänzlich fremd. Jeder Gedanke daran überschattet meine persönliche Welt. Selbst wenn ich lese, dass diese Erde wegen der beginnenden Ausdehnung der Sonne in 500 Millionen Jahren nur noch ein lebensfeindlicher Felsklumpen im All sein wird, bedrückt mich das! In 500 Millionen Jahren! Hallo! Aber trotzdem tue ich so, als hätte das noch etwas mit mir persönlich zu tun. Wir pflegen die Illusion, dass wir unser Leben immer weiterspinnen können. Eine Illusion, wie gesagt, aber lieb und teuer. Und eine unverzichtbare Grundlage für viel Quatsch, mit dem wir unsere Zeit vergeuden.
Ich liebe dieses Leben. Nicht alles, auf Trump, die AfD, die unübersehbaren Zeichen der Erdüberhitzung könnte ich gerne verzichten. Aber natürlich weiß ich, dass Leben als all inclusive-Paket kommt. Und in dem sind so schöne und einzigartige Erlebnisse drin: die Geburt eines Kindes. Viermal habe ich das erlebt, und jedes Mal sind mir die Tränen gekommen, und ich war glücklich. Das Gefühl, als ich eine schwere Etappe der GTA, Grande Traversata degli Alpi, wider meine Erwartung geschafft hatte. Verliebt sein, Sex. Die ersten Takte der »Matthäuspassion«, oder das Credo der »h-moll-Messe«, beides von Bach, stellvertretend für alles, was mir Musik bedeutet, eine ganze Menge. Es macht mich traurig, jede Faser in mir sträubt sich gegen den Gedanken, dass dies alles zu Ende sein wird.
Wird es? Wir wollen, dass ich meine, Sie Ihre, wir unsere Persönlichkeiten in dieser Welt immer und immer wieder erleben, am liebsten ohne an ein Ende zu denken.
Ich habe den Plural für Persönlichkeiten gewählt, weil das grammatikalisch korrekt ist. Und dabei habe ich aus Versehen etwas ausgedrückt, was ich nur schwer begreifen kann, weil es so komplex ist: Ich bin viele. Sie natürlich auch. Ich meine damit nicht, dass ich viele unterschiedliche Persönlichkeitsanteile habe, obwohl die wissenschaftliche Psychologie auch das sagt. Ich meine, dass sich in dieser meiner Existenz die Biologie vieler anderer Persönlichkeiten kreuzt: die meiner zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern – jetzt höre ich auf, weil ich die schon gar nicht mehr kenne –, aber mir ist natürlich klar, dass ich noch lange, lange weiter zurückgehen muss, bis zum Exodus meiner Vorfahren aus Afrika. In mir kommen diese Leben für einen vergleichsweise kurzen Moment zusammen und laufen dann weiter in die Zukunft: Ich habe vier Kinder, im Moment vier Enkel, und so weiter.
Mein jüngster Enkel wurde am gleichen Tag wie sein Ururgroßvater geboren. Beide können sich nicht kennenlernen, weil mein Großvater zu diesem Zeitpunkt schon über dreißig Jahre tot ist. Ich hatte zu ihm ein enges, gutes Verhältnis, er hat mir viel geschenkt, im direkten und ideellen Sinn. Jetzt habe ich die Chance, etwas davon an diesen winzigen Enkelsohn weiterzugeben. Da ist mir das mit der Kreuzungsposition so richtig klar geworden, und gleichzeitig wurde dieser dreißig Jahre lang tote Großvater, dessen Körperlichkeit längst zur Unkenntlichkeit vergangen ist, in mir wieder lebendig. So viele Erinnerungen! So viele Gefühle! Offensichtlich lebt er weiter.
Quatsch. Er ist biologisch tot.
Tatsächlich?
Wenn Sie Ihr Genom bestimmen lassen, erfahren Sie damit gleichzeitig unglaublich viele Details über Ihre Vorfahren – von deren Existenz Sie oft gar nichts wussten. Das heißt: In Ihrem Genom existieren die genetischen Informationen Ihrer Vorfahren weiter. Und diese Details manifestieren sich auch wieder in Ihren Kindern und Kindeskindern.
Allerdings versagt die Wissenschaft bei der Frage, wie sich diese unterschiedlichen Biologien im konkreten Leben von Ihnen und mir tatsächlich auswirken, wie sie realisiert werden. Die Vielfalt dieser Möglichkeiten, Ihre Vielfalt, meine Vielfalt ist zu komplex, als dass wir die Realisierung im einzelnen Leben wissenschaftlich beschreiben könnten.
Wie ist das denn nun mit der Wissenschaft und ihren Aussagen zum Thema Sterben?
Ich habe während meiner Berufstätigkeit auch wissenschaftlich gearbeitet, weil ich das für eine Tätigkeit hielt, die mir sehr entsprach. Meine Motivation war im Wesentlichen, dass mir meine wissenschaftliche Tätigkeit unglaublich viel Spaß gemacht hat; ich habe diese Arbeit genossen. Aber ich bin auch überzeugt, dass wissenschaftliches Denken in seinen Möglichkeiten sehr begrenzt ist: Eine wissenschaftliche Aussage ist nur dort möglich, wo wir Hypothesen machen und deren Richtigkeit, oder Falschheit, mit wissenschaftlichen Methoden bestätigen können. Alles andere ist nicht wissenschaftlich, ja nicht einmal vernünftig. Aber das will unser Alltagsverstand nicht fassen: Wenn etwas vordergründig rational daher kommt, glauben wir an seine Richtigkeit und seine wissenschaftliche Fundiertheit. Meistens sind das Illusionen, und was von denen zu halten ist, hat Wittgenstein ziemlich lapidar ausgesprochen: »Was wir nicht wissen, darüber können wir nicht sprechen.«109
Wollen wir aber. Wir glauben, wir könnten wissenschaftliche Aussagen über das Sterben und den Tod machen. Darüber gibt es dicke Bücher110, die nicht leicht zu lesen, geschweige denn zu verstehen sind. Wenn Sie genau lesen, beschränkt sich der wissenschaftliche Teil auf die Beschreibung der psychologischen und biologischen Prozesse, die im Verlauf des Sterbens auftreten und vielleicht auf wissenschaftliche Aussagen, welche medizinischen Maßnahmen im Sinn der Sterbenden sind und welche nicht. Aber was das Sterben eines einzelnen Menschen ist und was der Tod für Sie und mich bedeutet, darüber kann man wissenschaftlich nicht sprechen. Wollten Sie ja auch nicht, das haben Sie vorher schon gesagt. Weil Sie Angst haben vor etwas, das Sie nicht kennen.
Allerdings könnten wir ziemlich viel darüber wissen, was es mit diesem einzelnen Individuum, mit unserem Ego auf sich hat, das sich so sehr vor dem Sterben fürchtet: Das gibt es nämlich gar nicht. Dieses starke Selbst ist nicht real.
Vielleicht wird Sie diese Aussage ärgern, vielleicht glauben Sie, ich wolle mich mit irgendwelchen Taschenspielertricks aus der Affäre ziehen. Erleben Sie sich doch ständig, merken doch, dass es Sie gibt! Das denken Sie, weil Sie sich ständig selbst erschaffen. Sie – Ihr Gehirn.
Unsere Selbstwahrnehmung ist eine faszinierende Leistung unseres Gehirns, vermutlich weil es in der Evolution einen Vorteil bot, dass unser individueller Anteil in der Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen Individuen konstant bleibt. Über die Vorteile dieses Konstruktes eines eigenständigen Selbst können wir an anderer Stelle mal diskutieren. Wichtig ist, dass wir diese Wahrnehmung selbst schaffen, dass sie aber vergeht und sich nicht mehr aufrechterhalten lässt, wenn unsere biologische Individualität zu einem Ende kommt, weil sie zu alt ist, um weiter zu funktionieren.
Wir sind aber durchaus auch Wesen, die sich von anderen abgrenzen. Übrigens nicht nur von anderen Menschenwesen: in uns, vorwiegend in – wenn Sie entschuldigen – unserem Darm existieren unglaublich viele andere biologische Mikroorganismen, das sogenannte Mikrobiom. Mit ihnen stehen unsere Zellen in ständigem Austausch, von ihnen grenzt sich unsere Körperlichkeit über unsere intakten Zellmembranen und das Immunsystem ständig ab. Wenn wir sterben, endet die Abgrenzung, und die Mikroben übernehmen uns, verarbeiten unsere Proteine und unsere DNA zu etwas anderem. Wir verschwinden nicht, sondern wir werden transformiert.
Das sagt auch Thich Nhat Hanh. Ein Buddhist? Das ist tatsächlich ein buddhistischer Grundgedanke, dass es »ein ewiges, eigenständig existierendes Selbst nicht geben kann«. Nichts kann erschaffen oder vernichtet werden, sondern immer nur transformiert.
Na ja, das ist nun auch wieder wissenschaftlich: das erste Gesetz der Thermodynamik, das Gesetz von der Erhaltung der Energie.
Viel mehr als an wissenschaftlichen Theorien hängen wir an dem, was wir uns wünschen und wie wir das in unserem Denken ausgestalten. Das, wozu wir Lust haben, bestimmt, was wir für gut und richtig halten. Lust an der Bestätigung unserer kleinen Welt, die wir uns geschaffen haben, Lust an dem, was wir mit dem von uns angehäuften Geld kaufen konnten, Lust am Haus, am großen Auto, dem Fernseher, der Stereoanlage, Lust an der großen Bibliothek. Aber die große Kränkung ist vorprogrammiert, denn all das werden wir nicht mitnehmen können. Denn heute ist es nicht einmal mehr bei Reichen und Mächtigen üblich, dass man den Gestorbenen ihren Hausstand, ihre Diener, Geliebten und all die Sachen mitgibt, die diese Menschen auszumachen schienen. Unsere letzte, wieder schnell vergängliche Wohnung ist eine Holzkiste, wie auch immer luxuriös ausgestattet oder verziert. In die passt nur eine Person hinein.
Das ewige Leben – wie weit ist die Stammzellforschung bei der Verwirklichung dieses alten Traums gekommen?
Interview mit Privatdozent Dr. Franz-Josef Müller, Stammzellforscher in Kiel, Berlin und San Diego.
In einer Befragung der ERGO-Lebensversicherung111 gaben 60 Prozent der Befragten an, dass sie sich über Alter und Demenz kaum Sorgen machen würden, weil die Stammzellforschung in den nächsten Jahren sicher viele Behandlungsmöglichkeiten entdecken würde. Was sagt ein Stammzellforscher dazu?
Das sagt sicher mehr über die Hoffnungen der Befragten aus als über den tatsächlichen Stand der biomedizinischen Forschung.
Sie meinen, die Menschen pflegen irgendwelche romantischen Vorstellungen über die Wissenschaft, die mit der Realität wenig zu tun haben?
Der Genetiker Richard Dawkins postulierte 1976 sich selbst »fortpflanzende« uralte Ideen, die er analog zum biologischen Begriff Gen »Mem« genannt hat112. Meme entsprechen »ansteckenden« Ideen zur Erklärung der Welt. Das Human Genome Project folgte dieser alten Idee: Wenn ich die gesamte genetische Information des Menschen kenne, könnte ich das Überleben der Menschheit beeinflussen.
Wir kennen das Genom jetzt, aber viel hat das nicht gebracht, zumindest, was die großen Menschheitsprobleme angeht.
Beispielsweise für die Demenztherapie fast gar nichts. Wenn wir uns heute fragen, welche Faktoren darüber entscheiden, ob jemand dement wird, so sind zwar Risiko-Gene bekannt, aber deren Effekt verblasst angesichts der Wichtigkeit allgemeiner Faktoren: Einer der wichtigsten schützenden Effekte ist Bildung …
… und Bewegung!
Genau! Damit sind die Grundlagen von Behandlung und Vorbeugung der Gefäßerkrankungen benannt.
Überraschend ist das nicht. Aber wie kann man von Forschungsergebnissen in einem unserer circa 20 000 Gene auf diese allgemeinen Lebensstilfaktoren schließen?
Die wissenschaftliche Logik sieht so aus: Wenn man bei Menschen, die länger leben, häufig eine bestimmte Genvariante antrifft, könnte diese Variante irgendwas mit der längeren Lebensspanne zu tun haben. An mittlerweile in die Millionen reichenden Menschenpopulationen wird diese Hypothese untersucht. Werden bei dieser Suche nach »Methusalemgenen« mehrere Varianten identifiziert, die mit der Funktion des Gehirns zu tun haben, so kann man vermuten, dass etwa die Gesundheit des Nervensystems eine Grundlage von Langlebigkeit ist.
Von den 20 Genvarianten, die in der bisher größten genomweiten Assoziationsstudie zur Lebensspanne als diejenige mit dem größten Effekt identifiziert wurden, haben zwölf der Gene mit kardiovaskulärer Gesundheit zu tun, vier mit Lungenkrebs und eins mit dem Risiko für Alzheimer und der Parkinsonschen Krankheit.
Alles klar! Unsere Lebenspanne ist ein Produkt unserer Gene, und wir sind unserem genetischen Schicksal ausgeliefert …
Nein, keineswegs! Alle 20 Gene zusammengenommen, erklären gerade einmal etwa vier Monate der beobachten Lebensspannenunterschiede! Statistisch sprechen wir also von der genetischen Basis für einen verlängerten Sommer über das gesamte Leben eines Menschen gerechnet.
Also nicht viel …
Interessant wird es, wenn man sich vor Augen hält, wie sehr unsere Lebensumstände und Lebensführung die menschliche Lebensspanne beeinflussen – zum Beispiel Wohlstand. Wohlhabendere Menschen ernähren sich gesünder, arbeiten weniger körperlich – treiben jedoch auch mehr gesundheitsfördernden Sport. Eine Studie, die sich Entwicklung der Lebenserwartung abhängig vom Wohnort von 1980 bis 2014 angeschaut hat, findet aktuell einen Unterschied von sage und schreibe 20,1 Jahren Lebenserwartung zwischen den ärmsten und reichsten Wohnorten in den USA! Eine unglaubliche Lebensspanne.
Gibt es ein Stammzell-Mem?
Ich denke ja! Die Idee, dass Altern durch Blut von Jungen aufgehalten oder gar umgekehrt werden könnte, ist uralt. Warum frisst die Hexe wohl Kinder? Erwachsene wären viel nahrhafter.
Frischzellen!
Es geht wohl um einen Stoff, in dem das Leben steckt und aus dem ich Leben schaffen kann.
Oder die Geschichte vom Grafen Dracula: der Alte, der das Blut von jungen Mädchen aussaugt, um darüber Unsterblichkeit zu erlangen. Gibt es denn irgendwelche Experimente, die zeigen, dass das Blut junger Tiere den Alterungsprozess aufhalten kann?
Ja schon; wenn man operativ den Blutkreislauf von alten und jungen Mäusen verbindet, kann das kognitive Altern scheinbar zurückgedreht werden. Aufgrund dieser durchaus kontrovers diskutierten Ergebnisse gibt es bereits Start ups in Nordkalifornien, bei denen man sich Infusionen mit dem Blutplasma von jüngeren Menschen für 8000 Dollar kaufen kann!
Und welcher Faktor ist das? Hat er irgendwas mit Stammzellen zu tun?
Das ist nicht klar. Tatsächlich nehmen die hämatopoetischen Stammzellen, also jene Zellen im Knochenmark, aus denen die verschiedenen Blutzellen entstehen, mit zunehmendem Alter ab, mit über achtzig hat man noch ein oder zwei davon, aus denen der Körper die Blutbildung rekrutieren muss. Pluri-potente Stammzellen, also eine Art von »Ur-Zellen« aus denen sich alle verschiedene Körperzellen bilden können, kommen im erwachsenen Körper sowieso nicht vor, sondern existieren nur in einer wenige Tage dauernden Phase der embryonalen Entwicklung.
Gibt es denn gar keine konkreten Ansätze molekularbiologischer Stammzellforschung zur Behandlung von Alterskrankheiten?
Für die Demenz nicht, weil man da mit einem anderen Problem zu tun hat: Wenn eine Demenz klinisch auffällig wird, ist es für reparierende Maßnahmen an Nervenzellen vermutlich zu spät, weil einfach schon zu viele Nervennetzwerke, Synapsen, Zellen kaputt sind, um nachhaltige Effekte zu erzielen.
Man kann ja nicht einfach 40- oder 50-Jährige behandeln, weil man gar nicht weiß, wer von ihnen einmal eine Demenz entwickeln wird.
Weil das so ist, bräuchte man eine Gruppe von gesunden Menschen, bei denen man präzise voraussagen kann, dass sie in einigen Jahren dement werden. Tatsächlich gibt es den Ansatz, eine Population in Südamerika zu untersuchen, die früh und regelhaft an Alzheimer erkrankt.113 Derzeit ist man dabei, diese Gruppe genau zu definieren, und wenn sich herausstellt, dass die Voraussage sicher ist, kann man an dieser Gruppe präventive Therapien testen, womit bereits begonnen wurde. Wenn das gelänge, wäre der Durchbruch in der Demenz-Therapie da.
Wobei man dann auch noch nicht wüsste, ob man das auf Europäern übertragen kann. Gibt es weitere molekularbiologische Ansätze für Stammzellen?
Es gibt vielversprechende Ansätze sowohl mit den umstrittenen embryonalen als auch den induzierten pluri-potenten Stammzellen als Zellersatztherapie im Bereich des Morbus Parkinson.114
Eigentlich wäre das ewige Leben ein Ansatz, mit dem sich viel Geld machen lassen müsste.
In der Tat zieht der Gedanke die Geldleute an: Peter Thiel, ein Mitgründer von PayPal und früher Investor bei Facebook machte zum Thema Tod das Statement: ›Basically, I’m against it.‹115. Man könne den Tod akzeptieren, ihn verleugnen oder ihn bekämpfen. Thiel glaubt, dass unsere Gesellschaft von denen dominiert wird, die sich damit abgefunden haben. Sein Kampf gegen den Tod sieht so aus, dass er in die Firma ALCOR Cryonics investiert, die Patienten kurz vor ihrem Tod einfriert, um wieder zum Leben erweckt zu werden, wenn die Möglichkeiten der Medizin entsprechend fortgeschritten sein würden. Ein anderes von Thiel Projekten ist die Rekonstruktion des ausgestorbenen Woll-Mammuts aus genetischen Material.
Klingt etwas nach Jurassic Park …
Vermutlich auch so ein Mem, das uns noch so lange wie die Fortsetzung von Jurassic Park beschäftigen wird!
Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen
Wenn Sie sich mit theologischen Aussagen befassen, dann werden Sie irgendwie immer auf die Bibel zurückgeführt – natürlich, so funktioniert Theologie! Und falls Sie sich trauen, einmal in dieses alte Buch hineinzuschauen, finden Sie einiges zum Thema Tod. Vor dem Hintergrund unseres, als rational geltenden Alltagsdenkens kommt uns das teilweise nicht weniger fremd vor als der Buddhismus.
Wenn Sie diese Texte noch nicht kennen, oder sie wieder vergessen haben, werden Sie es vielleicht erstaunlich finden, wie oft es sehr direkt um Sie geht!
»Fürchte Dich nicht, ich habe Dich erlöst, ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen, Du bist mein!«116
Natürlich ist es völlig okay, wenn Sie sich nicht rufen lassen wollen! Sie haben vielleicht Erfahrungen mit einer der Kirchen gemacht, die Ihnen die Lust auf mehr ein für alle Mal genommen hat. Theologie hatte viel mit Angst und Drohung um das Sterben herum zu tun. Und manchmal zweifelt man schon, ob es um göttliche Dinge geht oder ob man zwischen Teufel und Beelzebub hin- und hergerissen wird, wenn die Evangelen sich immer ach so freundlich und gefällig verkaufen wollen, während die Katholen schroff und unvermittelt erscheinen, damit sie authentisch bleiben können. Leider auch nicht immer.
Beim Thema »Sterben« relativiert sich das alles dominierende Prinzip unserer Gesellschaft, »die grundsätzlich Reichtum und das damit verbundene Prestige als das gute, das begehrenswerte Leben inszeniert«, wie Daniel Schreiber sagte. Die Momente werden kostbarer, in denen Sie das Leben genießen können, und vielleicht stellen Sie sich gelegentlich die Frage, wie Sie sterben wollen. Dass Reichtum und Prestige wenig dazu beitragen können, dürfte Ihnen ja schon klar geworden sein. Was sonst? Ihnen fällt wenig ein?
Sie könnten sich helfen lassen:
Bewegend ist Holly Butchers Vermächtnis117: Eine junge Australierin ist im Alter von 26 gestorben und hat ihr Erlebnis mit dem Leben vorher ins Netz gestellt:
»Es ist eine seltsame Sache, deine Sterblichkeit mit 26 Jahren zu begreifen und zu akzeptieren«, schrieb sie darin. Sie habe immer gedacht, alt, faltig und grau zu werden und viele Kinder zu haben. »Ich will das so sehr, dass es schmerzt«, fügte sie hinzu. Doch das sei eben die Sache mit dem Leben. Es sei zerbrechlich, wertvoll und unvorhersehbar. »Jeder Tag ist ein Geschenk, nicht ein gegebenes Recht.«
Und deswegen sei es egal, ob man im Stau stehe, schlecht geschlafen habe, weil die Kinder einen wachhielten, oder der Friseur die Haare zu kurz geschnitten habe. Egal, ob die neuen falschen Nägel eine Ecke abgestoßen hätten, der Busen zu klein sei, man Cellulitis am Hintern habe oder der Bauch schwabbele. »Lasst all den Mist hinter euch. Ich schwöre, ihr werdet an keine dieser Dinge denken, wenn ihr dran seid zu gehen«, schrieb die junge Frau, ein ganz gewöhnlicher Mensch.
Ihre Aussage ist im Prinzip nichts Neues; so was ist schon oft geschrieben oder gesagt worden. Wie Sterben wirklich ist, werden Sie und ich erst erleben, wenn es passiert. Es wird eine ganz persönliche, individuelle Erfahrung sein, und ob es überwältigend, schlimm oder schön sein wird, oder vielleicht auch schlicht selbstverständlich, können wir vorher nicht sagen. Niemand kann das, der Weiseste nicht und der dümmste Tropf nicht. Ob wir christliche Vorstellungen von einem Gericht über unsere Taten, von Himmel oder Hölle erleben werden, oder ob wir erleben, was die tibetischen Buddhisten glauben, Wiedergeburt, nachdem wir die verschiedenen Bardos durchlaufen haben – das alles werden wir erst sehen, wenn es so weit ist. Aber wie auch immer es ein wird, Sie können versuchen, sich den Tod vorzustellen, die Realität wird Sie allemal überraschen.
Wichtig ist, dass Sie das beherzigen, das heißt in Ihr Herz hineinlassen: Das Leben, hier und jetzt und heute ist einmalig, es kommt nicht wieder, und das einzig Richtige ist, dass Sie es leben. Jetzt.
Probieren Sie es, sofort, gleich nach dem Aufstehen. Es verändert alles.
Ein Vorteil dieser Situation ist, dass Sie sich nur um sich kümmern müssen. Es kommt jetzt ja wirklich nur auf Sie an, auf Ihre ganz individuelle Entscheidung. Jetzt? Na ja, eigentlich ist das ja schon das ganze Leben so, aber da war es mit dem Bewusstsein für Ihre Individualität oft nicht so weit her. Was schade ist, denn einzigartig ist alles, was Sie betrifft: die Liebe, das Glück, das Leiden und auch das Sterben.
Im Buddhismus sind Leben und Tod sehr präsent. Einen besonderen Zugang zum Thema Tod gibt es im tibetischen Buddhismus, zusammengefasst im Tibetischen Totenbuch118. Auf den ersten Blick ist es eine fremde Welt, mit Bodhisattvas und Ungeheuern, mit Zwischenwelten und Wiedergeburt. Andererseits gibt sich der Dalai Lama in der zitierten Ausgabe viel Mühe, auch westlichen Menschen einen Zugang zu dieser Welt zu vermitteln. Mir ist immer wieder aufgefallen, dass viele Menschen bei uns vom Gedanken an eine Wiedergeburt fasziniert sind, auch wenn das nicht so richtig in unsere Kultur zu passen scheint. Unabhängig von »Multi-Kulti« scheint aber ein Fazit des tibetischen Buddhismus auch für die Westler wichtig zu sein, egal, was Sie nun glauben: dass es sehr darauf ankommt, in welcher seelischen Verfassung wir sterben, ruhig und getröstet oder immer noch umgetrieben und verzweifelt.
Ein anderer buddhistischer Ansatz kommt von dem bereits mehrfach zitierten Thich Nhat Hanh, der zu der Frage, wie es denn nun mit dem Ende unserer selbstzentrierten Existenz so sei, ein wunderbares Buch geschrieben hat: In Leben ist, was jetzt passiert119 erklärt er die buddhistischen Prinzipien der Leerheit, Zeichenlosigkeit, Absichtslosigkeit und Unbeständigkeit als Wege zu einem Leben im Hier und Jetzt. Wenig Theorie – viel Praxis!
Viel Praxis – es geht um unser Tun. Die Zen-Buddhisten könnte man als die Fans des »Hier und Jetzt« beschreiben, ein Begriff, der sich schnell dahinsagt, aber mit dem Sagen und Denken ist es nicht getan. Das zu leben, ist ein Angebot, das unser westliches Leben ganz und gar auf den Kopf stellen kann. Denn es nimmt uns den Blick in die angstmachende Zukunft und lässt uns das Aufregende und überraschende jedes einzelnen Augenblicks erleben.
Glauben sei keine Beliebigkeit, die dem Einzelnen freigestellt ist? Ich denke schon: wenn nicht Ihrer einzigartigen Persönlichkeit, wem dann? Befremdet es Sie, dass ich verschiedene religiöse Sichtweisen zum Sterben vor Ihnen ausbreite, ein bisschen wie im »Manufactum«-Katalog? Fragen Sie sich doch mal, ob es in dieser so säkularen Zeit nicht erlaubt sein sollte, sich über die Möglichkeiten zum besseren Sterben – und damit auch zum besseren Leben – zu informieren, damit Sie sich dann entscheiden können, was für Sie stimmt.
Sie werden schon Ihre Antwort finden.
Der Brandner trickst den Tod aus – was hat das mit uns zu tun?
Die heutigen Vertreter der christlichen Kirchen sind relativ zurückhaltend, was konkrete Vorstellungen über Sterben und Tod angeht. Aber wer sucht, der findet: Ich habe mit dem Theologen und Seelsorger Oberkirchenrat Theodor Glaser, der mich konfirmiert und zwei meiner Kinder getauft hat, über den Brandner Kaspar und das ewige Leben diskutiert.
Wie kommt ein evangelischer Theologe auf den Brandner Kaspar?
Ich erzähle mal die Geschichte120:
Der Brandner Kaspar, ein Schlosser vom Tegernsee, mit einer Frau und zwei Söhnen, war ein fleißiger, braver, schneidiger Mann. Er liebte seine Heimat, sein Handwerk, die Jagd und ab und zu ein Stamperl Schnaps. Selbstverständlich war er in damaligen Zeiten auch ein frommer Mensch. Als er 75 Jahre alt war, starb seine Frau, aber bei aller Trauer hatte er noch Lust am Leben. Eines Abends klopft es an seiner Hütte, und eintritt der Boandlkramer, der Tod, um ihn im Auftrag seines obersten göttlichen Herrn und Gebieters abzuholen von dieser Welt. Aber der Kaspar will nicht. Trotz mancher Altersbeschwerden ist er weder lebenssatt noch lebensmüde. Er hängt am Leben und freut sich dieses Lebens. So schachert er mit dem Boandlkramer. Mit ein paar Schnäpsen und einem gezinkten Kartenspiel luchst er ihm 15 Jahre ab, bis er 90 Jahre alt ist. Aber es kommen schlimme Zeiten. Im Tiroler Krieg fallen die beiden Söhne. Alles ist nicht mehr lustig. Als der Brandner Kaspar 80 Jahre alt ist, ruft der Himmelspförtner Petrus den Boandlkramer zur Ordnung, tadelt ihn scharf, weil er seinen Auftrag beim Brandner immer noch nicht erfüllt hat, und schickt ihn wieder los. Nun verwendet der Knochenmann einen Trick und lädt den Kaspar ein, während einer Spazierfahrt ins Paradies zu schauen. Und da passiert es: Als der Brandner Kaspar den Herrgott erblickt, als er sein Weib, die Söhne und viele Freunde und Bekannte wiedersieht, als ihm das Paradies wie das schöne Tegernseer Tal vorkommt, auf das Gott laut Ludwig Thoma schon bei der Erschaffung der Welt größte Sorgfalt verwandt hat, da sagt er zum Boandlkramer: »Mei, is des schön. Da bleib i und will nix mehr wissen von der Welt drunten, und sag dem Herrgott tausendmal ›Vergelt’s Gott‹, dass mir die Gnad zuteil worn ist, dass ich daher gekommen bin.«
Als ihm das Paradies wie das Tegernseer Tal vorkommt, da will er dort bleiben.
Die alte Geschichte vom Brandner Kaspar und vom ewigen Leben ist geradezu Kult geworden. Und ich finde, auch wenn sie nicht in der Bibel steht, kann sie die gegenwärtige Diskussion über Leben, Sterben und Tod auch theologisch bereichern.
Ist das nicht seltsam? Eine Geschichte mit dem Tod als einer Hauptperson wird zum Dauerbrenner. Sie wird über tausendmal am Residenztheater gespielt, wird dreimal verfilmt und an Allerheiligen regelmäßig vom Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt. Was fasziniert die Menschen unserer Zeit ausgerechnet daran?
Die Tabuisierung des Sterbens und die Verdrängung des Todes sind in unserer Gesellschaft nicht mehr so groß wie noch vor wenigen Jahren. Aber man spricht nicht gerne darüber, am wenigsten über den eigenen Tod, nicht einmal mit den eigenen Angehörigen. Dabei ist nichts so sicher, so todsicher wie die Tatsache, dass ich sterben muss, ohne zu wissen, wann und wo das sein wird. Der Gedanke daran ängstigt uns, mich auch. Diese Geschichte kann einen ermutigen, uns dieser Realität heute tapfer und mutig zu stellen, und zwar – wie ich als Theologe sagen würde: sub specie aeternitatis – im Licht der Ewigkeit.
Was soll das heißen?
Für den Brandner Kaspar passiert das Entscheidende ganz zum Schluss. Da liegt die Pointe – im ewigen Leben. Da merkt er, dass mit dem Tod nicht alles aus ist. Die Schönheiten des zeitlichen Lebens setzen sich fort im ewigen Leben. Der Blick ins Paradies, für ihn das Tegernseer Tal, ist ein guter Augenblick, und dieser Augenblick währt eine Ewigkeit. Unter diesem Blickwinkel sieht sich vieles anders an.
Aber wie passt ausgerechnet dieser Blick in unsere Zeit? Das Stück von Kobell ist fast 150 Jahre alt, stammt aus einer völlig anderen Welt!
Leider ist uns dieser Blick weitgehend verloren gegangen. Die Mehrheit der Deutschen meint, dass mit dem Tod alles aus ist – was sie so auch nur glauben können.
Aber sie wollen doch gerade nichts glauben.
Na ja, dass alles aus sei, ist genauso eine unbeweisbare, also eine Glaubensaussage, wie die Annahme eines ewigen Lebens. Das, was rational so unausweichlich erscheint, ist eine negative Entsprechung des alten Christenglaubens. Anscheinend nehmen wir dem Leben damit einiges an Farbe und Reichtum: Der Philosoph Jürgen Habermas sagte einmal, die verlorene Hoffnung auf Auferstehung hinterlasse eine spürbare Leere. Margot Käßmann – die ehemalige Bischöfin – meinte, dass auch manchen Theologen über den vorletzten Dingen die letzten Dinge zu einem verdrängten, vergessenen und ungepredigten Glaubensartikel geworden seien. Und Carl Friedrich von Weizsäcker – ein für die Klarheit seines Denkens berühmter Atomphysiker und Friedensforscher, nun wirklich kein Anhänger irrationaler Weltsichten – sagte, eine Kirche, die nicht auf die Auferstehung und die Ewigkeit wartet und davon redet, habe ihre Glaubwürdigkeit, den Kern ihres Wesens, Saft und Kraft verloren …
Dass Frau Käßmann sich so äußert, verwundert ja nicht, aber weder Habermas noch Weizsäcker sind Theologen. Wie sollen denn moderne Menschen noch an den Glauben an die Ewigkeit herankommen?
Glauben verwendet Gleichnisse, und vom ewigen Leben lässt sich nur in Bildern sprechen.
Die Bilder: Der Brandner Kaspar fühlt sich wie im Tegernseer Tal auf einer Wiedersehensfeier. Jesus spricht von einem großen Fest mit Essen und Trinken. Die Bibel erzählt von dem himmlischen Jerusalem, einer gottes- und menschenfreundlichen Stadt, in der nichts mehr von Babylon zu spüren ist.
Babylon, der Inbegriff des Gottlosen, wo nur das Geld und die Lust herrschen. Vielleicht ist das eine ziemlich moderne Sache.
Martin Luther beschreibt seinem Sohn Hänschen das Paradies als einen großen, wunderschönen Kinderspielplatz, sein Mitreformator Melanchthon denkt an eine himmlische Universitätsakademie, allerdings ohne den Streit der Theologen. Und wenn wir es etwas weniger prominent wollen: Für eine Frau im Pflegeheim ist der Nachtisch das Beste. Darum will sie ihren Nachtischlöffel mit in den Sarg nehmen, denn das Allerbeste kommt noch. Eine alte, vielgeplagte Bäuerin meinte, sie wolle bloß ihre Ruhe haben.
Ein großer Unsicherheitsfaktor für die Menschen ist ja der Zeitpunkt des Todes, dass sie nicht wissen können, wann sie sterben werden.
In der Geschichte vom Brandner Kaspar hat Gott bestimmt, dass er gehen soll, und schickt den Boandlkramer los. Aber dem Brandner Kaspar gelingt es, Aufschub zu erreichen, indem er den Todesboten zu einem Kartenspiel verleitet und ihn mithilfe von Alkohol und gezinkten Karten austrickst. Mit dem Todeszeitpunkt scheint es also nicht so einfach zu sein. Offensichtlich hat der Tod einen gewissen zeitlichen Spielraum, und der Mensch hat ein Wörtchen mitzureden. Das nennt man heute das Recht auf Selbstbestimmung.
Das Feilschen mit dem Boandlkramer, das Austricksen beim Kartenspielen, ist das heute die intensiv-medizinische Lebensverlängerung, oder – als Gegenpol – die passive oder aktive Sterbehilfe?
Der Brandner Kaspar schachert mit dem Tod und steigert so seine Lebenserwartung. So wie die unsrige gestiegen ist dank des medizinischen Fortschritts und eines gesunden Lebensstils. Wir können und dürfen länger leben. Viele wollen noch länger leben, und sie schachern mit dem Knochenmann um eine Lebensverlängerung, um buchstäblich jeden Preis.
Der Palliativmediziner Borasio erzählt von einem Superreichen, der vom Rauchen Lungenkrebs bekam, mit Metastasen und dann auch noch eine Myokarditis, die sein Herz funktionsunfähig machte. Und deswegen wollte er eine Herztransplantation, die er selber bezahlen wollte, koste es, was es wolle.121
Andere wollen sterben, und nicht wenige können oder dürfen nicht. Auf der Intensivstation ringen Ärzte mit dem Tod, bis auch sie kapitulieren.
Ist das dann der Augenblick, den Gottes Wille bestimmt hat?
Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich nicht nur das Recht habe auf ein menschenwürdiges Leben, sondern auch die Pflicht zu sterben. »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen.«
Ewigkeit ist ja aus der Mode gekommen, und dabei ist der Gedanke daran etwas spezifisch Christliches. Bedeutet christlich sein, zu diesem Gedanken zu stehen?
Ja, und es hat ja Konsequenzen für Lebensbereiche, angesichts derer Menschen sonst eher ratlos sind: Sub specie aeternitatis – im Licht dieser Ewigkeit will ich mich einüben in die Kunst, zum Sterben bereit zu sein. Dietrich Bonhoeffer – ein evangelischer Theologe, der wegen seiner Überzeugung im Nationalsozialismus hingerichtet wurde – sagte: »Denken und Handeln im Blick auf die kommende Generation, dabei ohne Furcht und Sorge jeden Tag bereit sein zu gehen, das ist die Haltung, die uns praktisch aufgegeben ist und die tapfer durchzuhalten nicht leicht, aber notwendig ist.«
Und er ist zu diesem Ausspruch ja gestanden, bis zu seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten am 9. April 1945. Der Begriff des »Loslassens« ist heute sehr in Mode gekommen, was sich leicht sagt, aber schwer zu realisieren ist.
Der Brandner Kaspar hat gelernt loszulassen, die Frau, die Söhne, liebe Dinge, zu denen er gesundheitlich nicht mehr fähig war. Im Licht der Ewigkeit übe ich mich ein, Abschied zu nehmen von Menschen und Dingen, die mir lieb und teuer sind. Die Verkleinerung der Wohnung, der Umzug ins Altenheim, das Nachlassen der körperlichen Kräfte, die Schmerzen einer Krankheit sind Abschiedssituationen. Ich kann lernen, das zu akzeptieren.
Im Licht der Ewigkeit überlege ich mir gewissenhaft, ob in meinem Alter jede mögliche medizinische Behandlung noch nötig und vertretbar ist …
Ich bitte um Vergebung und gewähre Verzeihung.
Wie kommen die Ewigkeit und die moderne Medizin zusammen?
Ich habe eine Patientenverfügung. Meines Erachtens ist die gesetzliche Regelung hilfreich, dass Ärzte sich an eine Patientenverfügung halten müssen und dass die passive Sterbehilfe nicht erst beginnen darf, wenn der Sterbeprozess im Gange ist. Es kann ein Zeitpunkt kommen, da ich dem Tod nichts mehr entgegensetze, ihn als meinen Freund begrüße und wo ich vor weiteren schulmedizinischen Zugriffen geschützt werden will. Sterben hat seine Zeit, im Licht der Ewigkeit.
Das sieht ja so aus, als wäre die Palliativmedizin aus einem christlichen Auftrag entstanden …
Historisch eher nicht, aber der Begriff leitet sich vom pallium, dem Mantel ab, der schützt und Geborgenheit gibt, und das hat eine Menge mit guter christlicher Tradition zu tun.
Und das Gegenteil? Wenn Menschen nicht mehr leben wollen? Früher hat die Kirche nicht zugelassen, dass Selbstmörder auf dem Kirchhof bestattet werden.
Im Licht der Ewigkeit habe ich auch Verständnis, wenn Menschen fragen, ob sie in evangelischer Freiheit und in Verantwortung vor Gott das Gottesgeschenk des Lebens nicht freiwillig und selbstbestimmt zurückgeben dürfen. Ich habe Verständnis, wenn der Wunsch geäußert wird nach aktiver Sterbehilfe oder assistiertem Suizid, weil einer die Schmerzen nicht mehr aushält.
»In einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen sehr alt werden und nicht zuletzt deshalb der Zeitpunkt des Todes immer besser vorhersagbar ist, wird Sterben zu einem Thema, das nach antizipatorischer Beteiligung des Einzelnen drängt. Genauso wie es gilt, eine Kultur des Alterns zu entwickeln, müssen wir uns mit einer Kultur des Sterbens beschäftigen. … Für viele ältere Menschen ist es auch wichtig, an der Gestaltung des eigenen Sterbens und Todes mitzuwirken.«122
So elegant, wie der Initiator der Berliner Altersstudie das formuliert, ist die Realität nicht. Die »Mitwirkung an der Gestaltung des eigenen Sterbens und Todes« ist nicht so einfach, weder theoretisch noch praktisch.
In den einzelnen Bundesländern Deutschlands gibt es Gesetze für psychisch Kranke, nach denen man Sie in eine psychiatrische Klinik einweisen kann, wenn Sie an einer seelischen Krankheit leiden und selbst- oder fremdgefährlich sind. Selbstgefährlich. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass der Impuls, nicht mehr leben zu wollen, in erster Linie die Folge einer seelischen Erkrankung ist und vorbeigeht, wenn die Krankheit richtig behandelt wird. Deswegen versuchen Psychiater im Allgemeinen, psychisch kranken Menschen die Selbstgefährdung auszureden oder sie zumindest an der Durchführung zu hindern. Was tatsächlich ziemlich sinnvoll ist, weil der Wunsch, nicht mehr leben zu wollen, in den meisten Fällen relativ schnell vergeht. Zum Beispiel wenn eine Depression richtig behandelt wird.
Aber Ihr Alter ist so weit fortgeschritten, dass jeder Schritt beschwerlich geworden ist, dass die Schmerzen Sie zermürben. Das alles hat Ihre Angst vor dem Sterben relativiert, und in eine psychiatrische Klinik wollen Sie nicht, überhaupt nicht.
Trotzdem würde Ihnen ein Psychiater vielleicht guttun! Depressionen sind im Alter häufig, und sie vermitteln eben auch das Gefühl, dass das Leben beschwerlich sei. Schmerzen werden durch Depressionen ebenfalls verstärkt. Sollten Sie tatsächlich eine Depression haben, so könnte Ihnen der Psychiater helfen, was wahrscheinlich auch bei Ihnen zur Folge hätte, dass Sie Ihren Todeswunsch noch einmal überdenken würden.
Nein, Sie haben keine Depression, Ihre Grundstimmung ist sogar einigermaßen heiter. Was aber nicht der fortgeschrittenen neurologischen Erkrankung entspricht, an der Sie leiden, sondern ein Grundmerkmal Ihres Charakters ist. Sie wissen, wie das Leben bis zu Ihrem Tod aussehen wird, weil Sie sich informiert haben, und Sie sind zu dem Entschluss gekommen, dass Sie genau dieses Leben nicht leben wollen.
Nur – wie sollen Sie das Sterben schaffen?
Alles Drastische ist Ihnen fremd. Sich irgendwo hinunterzustürzen, finden Sie grausig, abgesehen davon, dass Sie es wohl kaum noch schaffen würden, sich über ein Fensterbrett oder ein Geländer zu hieven.
Sich schneiden wollen Sie schon gar nicht, und bei den Tabletten wissen nicht nur Sie nicht, welche eigentlich lebensverkürzend wirken.
Sie brauchen also Hilfe, Sterbehilfe.
Ich bin Psychiater und deswegen nur bedingt geeignet, Ihnen bei Ihrem Todeswunsch zu helfen, denn ich habe mein ganzes Berufsleben versucht, psychiatrischen Patienten, also eben nicht Todkranken, eine neue Perspektive zu zeigen. Diese Perspektive ist für Sie aber nicht die richtige. Die richtigen Gesprächspartner, wenn Sie alt, gequält und dieser ganzen Qual überdrüssig sind, sind die Palliativmediziner. Die unterscheiden sich von anderen Medizinern und eben auch von den Psychiatern dadurch, dass sie das Leben nicht um jeden Preis erhalten oder verlängern, sondern Schmerzen und Leiden und das Leben insgesamt auf erträgliche Weise zu Ende gehen lassen wollen. Für die steht auch nicht in erster Linie die Selbstgefährdung im Vordergrund, wenn Sie das Thema Sterben auf die Tagesordnung setzen, sondern die optimale Hilfe.
Aber auch zwischen den Palliativmedizinern und Ihrem Tod steht der Gesetzgeber. Schon wieder der. Doch diesmal verbietet er das selbst gewählte Sterben nicht generell, sondern schränkt die Möglichkeiten nur ein.
Wenn Sie es bisher noch nicht gemerkt haben sollten: Das Leben hat in der Bundesrepublik Deutschland einen herausragenden Stellenwert, der für besonders schützenswert gehalten wird. Auch wenn Ihnen diese Einmischung in Ihre sehr persönlichen Angelegenheiten auf den ersten Blick unangemessen erscheint, hat sie schon ihre Berechtigung: Es ist in unserer Geschichte noch nicht einmal 90 Jahre her, dass man das Leben von neurologisch und psychisch kranken Kindern und Erwachsenen, von Menschen mit oft vorübergehenden Erkrankungen, von Soldaten, die ihre seelische Gesundheit im Kampf für dieses Land verloren hatten, als »unwert« deklariert hat. Unwert hieß sehr konkret, dass man sich diese Menschen nichts mehr kosten lassen wollte und sie stattdessen umbrachte. Gegen ihren Willen, natürlich. Man, und leider auch die Mehrzahl der damals tätigen Psychiater, glaubte zu wissen, dass das Leben dieser Kranken nichts mehr wert sei. Ökonomisch clever, wie man schon damals war, testete man bei dieser Gelegenheit gleich die Tötungsmittel, mit denen man kurze Zeit später die Tötung der Juden in noch größerem Stil als die der psychisch Kranken und Behinderten umsetzte.
Angesichts dieser Ungeheuerlichkeit macht es sehr viel Sinn, dass Sterbehilfe nicht so einfach ist.*
Die aktuelle Gesetzeslage muss man in ihrem Ergebnis als problematische Reaktion auf diese katastrophale Vergangenheit verstehen. Sie baut darauf auf, dass der Suizid in der Bundesrepublik nie strafbar war und deswegen die Beihilfe dazu auch nicht. Die Tötung auf Verlangen ist hierzulande, aber auch in der, in diesem Zusammenhang immer wieder falsch dargestellten, Schweizer Gesetzesregelung verboten. Das will niemand ändern, auch nicht diejenigen, die mit der aktuellen Gesetzgebung, auf die ich gleich noch komme, unzufrieden sind.
Wenn Sie den Unterschied zwischen Hilfe zum Suizid und Tötung auf Verlangen für einen Streit um des Kaisers Bart halten, übersehen Sie etwas ganz Wesentliches: Beim Suizid behält derjenige, der sein Leben beenden will, bis zum Schluss die Verfügungsgewalt; er kann die geplante Tat umsetzen oder im letzten Moment davon zurücktreten. Er nimmt selbst die Tabletten ein oder trinkt eine entsprechende Lösung, die er vom Arzt bekommen hat, er stellt die Infusion an, die vorher durch den Hilfe leistenden Arzt angelegt wurde. Bei der Tötung auf Verlangen geht die Handlung auf einen Dritten über, der damit einen Menschen tötet, was mit gutem Grund verboten ist, hier und in allen anderen Ländern, auch der Schweiz, mit Ausnahme von Kanada und Kolumbien, und verboten bleiben sollte. Ein anderes Problem ist die mögliche Ausweitung auf nicht-einwilligungsfähige Menschen wie Kinder oder Demenzkranke.
Das gut gemeinte Argument, eine breitere Anwendung der Palliativmedizin mache den Wunsch nach einer Beihilfe zum Suizid überflüssig, ist falsch, denn auch bei optimaler Palliativversorgung können Menschen zum Entschluss kommen, dass sie das, was ihnen am Lebensende bevorsteht, nicht erleben wollen.123
Eine gesetzliche Regelung ist also wünschenswert, um Unsicherheit zu beseitigen und eine Grundlage herzustellen, auf der Patienten mit ihren Ärzten sprechen können. Wie eine sinnvolle Lösung aussehen könnte, ist in dem zitierten Buch von Gian Domenico Borasio eingehend dargestellt.
Tatsächlich wurde am 6. November 2015 ein »Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung« beschlossen, das nach Meinung vieler missverständlich ist und die Probleme nicht ansatzweise löst. »Geschäftsmäßige« Suizidhilfe wird unter Strafe gestellt, seien es Organisationen oder Einzelpersonen, wobei »geschäftsmäßig« nicht »profitorientiertes Gewinnstreben«, sondern eine »auf Wiederholung angelegte« Tätigkeit meint. De facto bedeutet dies, dass Ärzte sich mit diesem Thema eigentlich nicht beschäftigen sollten, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, juristisch bis zum Verlust ihrer Approbation und darüber hinaus belangt zu werden. Umgekehrt werden auch Patienten über dieses Thema nicht mit ihren Ärzten sprechen, damit sie sie nicht in die Gefahr einer Strafandrohung bringen.
Das ist also der Stand der Dinge.
ZEN oder: Jeder Moment ist Ewigkeit
Gespräch mit dem ZEN-Meister Hinnerk Syobu Polenski
Zen-Meister pflegen in der Regel eine besondere Kommunikation. Zen führt uns auf uns selbst zurück, es geht nicht um die Vermittlung von Wissen und Theorien, sondern dass wir uns begegnen, uns selbst erleben, zu fühlen anfangen und einiges mehr.
Auf der Terrasse im Daishin-Zen-Kloster in Buchenberg haben wir wunderbaren grünen Tee getrunken, den Hinnerk Polenski zubereitet hat.
Ich würde gerne über den Tod sprechen.
Wenn der Körper aufhört, hören auch Geist und Seele auf; ein Fortexistieren der Seele ohne den Körper gibt es nicht.
Kann man Körper, Geist, Seele trennen?
Körper, Geist und Seele sind eines. Bis dreißig gibt es kaum einen Weg, den Körper und seine Wünsche in den Griff zu bekommen, aber mit dem Älterwerden habe ich die Chance, frei zu werden, um für den Geist Günstiges zu realisieren. Aber wir sind mehr als Körper, Geist und Seele.
Was heißt das?
Wir sind, womit wir unseren Geist beschäftigen, und vor allem: Wir sind, was wir tun. Und unser Tun wirkt weiter.
Ist es das, was Karma bedeutet?
Karma ist im Grunde eigentlich Physik: Nichts, was geschieht, bleibt folgenlos. So ähnlich wie der Hauptsatz der Thermodynamik, von der Energieerhaltung. Wenn wir uns das klar machen, wird deutlich, dass wir das, was wir tun, achtsam tun sollten. Denn es hat Folgen, über unser Leben hinaus.
Also doch Weiterleben nach dem Tod?
Nicht als ein individuelles Selbst: Wir können uns die Impulse, die von uns ausgehen, und weiterwirken, vielleicht so vorstellen: Es gibt dieses Experiment aus der Physik mit den nebeneinander hängenden Kugeln – wenn man eine anhebt und wieder zurück fallen lässt, schwingt am anderen Ende eine Kugel raus. Sie ist eine andere Kugel, hat mit der ersten nichts zu tun, aber setzt den Impuls fort. So könnte man sich, wenn man das will, das Fortwirken unseres Tuns vorstellen. Man kann aber auch einfach nur leben.
Das Kostbare Ego – Fehlanzeige?
So wichtig wir es auch nehmen, es wird nicht weiterleben und auch nicht wiedergeboren werden. Aber die Impulse, die von uns ausgehen, unser Tun und Handeln, finden Individuen, die es weiter tragen, im Guten wie im Schlechten.
Der Schlüssel ist woanders. Nicht in weiter Ferne und Zukunft, sondern hier in diesem unmittelbarem Moment.
Wiedergeburt ist jeden Tag. Und Freiheit von Sterben, Tod ist unmittelbar jetzt. »Jeder Moment ist Ewigkeit und Ewigkeit ist jeder Moment.«124 Das Ich wird sterben. Das Nicht-Ich wurde nie geboren und wird nie sterben. Doch was ist Nicht-Ich? Hier beginnt der Zen-Weg.
Ist es nicht so: Die Angst vor dem Tod entsteht aus der Projektion in eine ungewisse Zukunft, aus dem Weggehen aus dem Hier und Jetzt?
Das Hier und Jetzt! Das Leben in jeden einzelnen Moment. Die Gedanken nicht schweifen lassen, hier sein!
Jetzt bin ich so alt. Morgen bin ich anders alt. Eines Tages ist Sterben angesagt. Wie es sein wird, werde ich dann erleben. Es macht weder für mich, noch für das Leben Sinn, mir jetzt vorzustellen, wie es sein wird, wenn ich sterbe. Sinn macht es, immer ganz im Hier und Jetzt zu leben. Wir sind in unserem Leben besser dran, wenn wir uns dem Erleben jedes einzelnen Ausgenblicks hingeben. Und das tun, was in diesem Moment angesagt ist. Für uns. Und die Welt.
Ganz schön was zu tun! Vielen Dank!
* Es ist allerdings noch mal ein Stückchen komplizierter: Die Kirchen, die lange Zeit die Gesetzgebung zur Tötung von sehr jungem, ungeborenem (Abtreibung!) oder altem, gequältem Leben heftig bekämpft haben und es zum Teil heute noch tun, waren in den finsteren Zeiten der nationalsozialistischen Herrschaft keineswegs die lauten Streiter gegen das Unrecht. Einzelne Geistliche haben das getan, auf beiden Seiten, wie der schon erwähnte Dietrich Bonhoeffer, oder der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, aber die offiziellen Kirchen hielten es für wichtiger, mit den Nazis Politik zu machen.