Tiziano Vecellio, genannt Tizian (1477-1576)
Tizian stammte aus der norditalienischen Provinz und wurde bereits mit 9 Jahren in die Lehre geschickt. Er arbeitete in der Werkstatt der Brüder Bellini, aber sein großes Vorbild war Giorgione, mit dem er zusammen an den Fassadenfresken des Fondaco dei Tedeschi (→ S. 130) arbeitete. Nach Giorgiones frühem Tod avancierte Tizian zum wichtigsten Maler der jungen Generation in Venedig. Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten und seine lange Schaffenszeit (er wurde 99 Jahre alt!) bescherten ihm den ehrenvollen Beinamen „König der Maler“. Man muss halb Italien und Europa bereisen, um sein Gesamtwerk halbwegs kennenzulernen; es ist fast unüberschaubar. Seinen ersten ganz großen Triumph in Venedig feierte Tizian am 19. Mai 1518 mit der Enthüllung der „Assunta“ (Mariä Himmelfahrt) in der Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari (→ S. 155). Mit diesem riesigen Altarbild von nie da gewesenem Ausmaß (es ist fast 7 m hoch), begründete Tizian einen neuen monumentalen Stil, mit dem er gegen die Werke Michelangelos und Raffaels in Rom antreten wollte. In dieser großformatigen Komposition ist alles in Bewegung, die Madonna wird von einem Wirbel von Engeln in den Himmel getragen, während unten die Gruppe der Apostel voller Überraschung über das Ereignis hin und her wogt. Mit der „Assunta“ veränderte Tizian auch das Genre Altarbild, indem er der Fantasie mehr Raum gab und neu festlegte, was man von einem solchen Bild zu erwarten hatte. Als Porträtmaler war Tizian unerreichbar in der Lebendigkeit des Ausdrucks und der Psychologie. Er porträtierte Päpste, Kaiser, Könige und sämtliche Dogen seiner Zeit. Zu seinen wichtigsten Bildnissen gehört das Porträt Karls V. (München, Alte Pinakothek). Außerdem schuf Tizian faszinierende poetische Allegorien, so das Gemälde „Himmlische und irdische Liebe“ (Rom, Galleria Borghese), das zu den Höhepunkten der Malerei überhaupt gezählt wird.
In den späten 50er-Jahren des 16. Jh. setzte in seiner Malerei ein Prozess der Formenzerlegung, der Auflösung in breite Pinselstriche ein, der schließlich dazu führte, dass Tizians Spätwerke wie mit zuckenden Pinselstrichen aus der Tiefe einer mit dramatischer Kraft aufgeladenen Farbmaterie gemalt scheinen. Sein Altersstil teilt das Schicksal der späten Werke Rembrandts und Goyas; sie wurden von den meisten Zeitgenossen nicht mehr verstanden. Erst viel später erkannte man die Bedeutung der vornehmlich mit malerischen Mitteln erreichten Bildwirkung.
Trotz jahrelanger Abwesenheit war Tizian von 1514 bis zu seinem Tod offizieller Staatsmaler der Republik. Venedig selbst ist zwar eher arm an Werken Tizians, dennoch kommt seine neue Auffassung von Malerei in den Werken aller venezianischen Maler nach ihm zum Ausdruck.