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Die grenzenlose Freiheit der Beweiswürdigung

In diesem Kapitel widmen wir uns der Frage: Wie kommt ein Richter zu seiner Entscheidung?

Freiheit der Beweiswürdigung

Die Anklageschrift ist gleichsam der Arbeitsauftrag für den Strafrichter. In ihr behauptet die Staatsanwaltschaft, der Angeklagte habe durch einen bestimmten Sachverhalt einen konkreten Straftatbestand verwirklicht. Der Richter hat die Anklagehypothese zu bestätigen oder zu verneinen. Doch wie macht er das?

Das Hauptproblem ist, den Sachverhalt festzustellen. Steht der Tathergang erst einmal fest, ist die rechtliche Würdigung meist ein Kinderspiel.

»Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung«, heißt es in § 261 Strafprozessordnung. Im Klartext bedeutet das, der Richter ist keinen festen Beweisregeln unterworfen. »Das Geständnis bindet das Gericht« gilt ebenso wenig wie »Ein Zeuge, kein Zeuge« oder »DNA schlägt Fingerabdruck«. Den Laien erstaunt das, gibt es doch sonst für alles Gesetze, in denen alles haarklein geregelt ist. Der Richter kann im Prinzip urteilen, wie er will. Seine Beweiswürdigung darf nur nicht gegen Denkgesetze und gesicherte Erfahrungssätze verstoßen. Dass der Richter insoweit allmächtig ist, drückt folgende Regel aus:

Image Regel Nr. 16: Der Richter entscheidet wie ein kleiner Gott allein, was die Wahrheit ist.

Die Freiheit der Beweiswürdigung verschafft dem Richter maximale Freiräume. Sie führt aber auch dazu, dass dieselben Beweise nicht bei allen Richtern zum selben Ergebnis führen. Die innere, höchstpersönliche Überzeugung kann durchaus entgegengesetzte Entscheidungen zur Folge haben. Sie birgt ein hohes Fehlerpotenzial. Genau das meint der Volksmund mit dem Spruch: »Vor Gericht und auf hoher See ist dein Leben in Gottes Hand.« Der Ausgang eines Gerichtsverfahrens wird ausschließlich vom Richter entschieden und kann unvorhersehbar sein.

Könnte ein Richter überhaupt die ganze Wahrheit herausbekommen? Nein, das kann er aus zwei Gründen in der Regel nicht:

Erstens muss er mit den begrenzten, tatsächlich zur Verfügung stehenden Beweismitteln arbeiten. Eine am Tattag unterlassene Spurensicherung kann er nicht erfolgreich Monate später nachholen. Er kann nicht in die Köpfe von Angeklagten, Zeugen und anderen Prozessbeteiligten schauen. Wenn diese schweigen oder lügen, kann er kein vollständiges Bild gewinnen. Führen Ermittlungsfehler zu Beweisverwertungsverboten, muss er das hinnehmen.

Zweitens wird die Wahrheitssuche durch die Zeitvorgaben begrenzt. Die Minutenwerte nach PEBB§Y zwingen den Richter dazu, Beweisaufnahmen zu begrenzen und nicht ausufern zu lassen. Die Suche nach der Wahrheit darf nur Minuten und keine Monate dauern.

Vorverständnis von dem Fall

Ich hatte oben über die strukturelle Befangenheit des Strafrichters geschrieben. Mit dem Eröffnungsbeschluss hat er bereits eine überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit bejaht. Mit seinem Erlass segelt das Gericht auf Verurteilungskurs. Wenn der Richter die Verhandlung eröffnet, geht er eben nicht gedanklich von der Unschuld des Angeklagten aus, sondern er hat dessen wahrscheinliche Schuld mit der Eröffnung bereits bejaht. Eine ergebnisoffene Wahrheitsfindung ist deshalb kaum zu erwarten.

Wahrnehmungsselektion

Regelmäßig hat der Strafrichter es mit komplexen Lebenssachverhalten zu tun. Zum Beispiel bei einer Schlägerei mit Vorgeschichte und mehreren Beteiligten. Angeklagte und Zeugen erzählen ungefragt ihre ganze Lebensgeschichte. Der gesamte Tag der Tat wird ausführlich geschildert, obwohl die Schlägerei, um die es geht, nur fünf Minuten gedauert hat. In den Monaten danach haben die Beteiligten noch ganz oft über die Schlägerei gesprochen, berichten sie. In epischer Breite wird von allerlei negativen Gefühlen und Befindlichkeiten berichtet. »Nur die Fakten bitte«, versuche ich ausufernde Berichte aus dem Gefühlsleben abzukürzen. Hunderte Seiten dicke Ermittlungsakten enthalten Spuren, die in Sackgassen führten, und viel Nebensächliches. Es ist dem Richter nur schwer möglich, alle Details zu erfassen, sich zu merken und in die Entscheidung einfließen zu lassen. Er schützt sich vor dem Überangebot an Informationen unterbewusst durch eine selektive Wahrnehmung. Der Anklagevorwurf gibt das Prüfungsprogramm vor. Das juristisch trainierte Gehirn filtert automatisch diejenigen Informationen heraus, die für den Anklagevorwurf relevant sind, und ignoriert diejenigen, die dafür keine Relevanz haben. Das fällt mir oft bei Diskussionen mit Schöffen auf, die sich bei einer Aussage ganz andere Dinge als ich gemerkt haben.

Persönlichkeit und Lebenserfahrung des Richters

Richter sind keine Urteilsautomaten, sondern auch nur Menschen. Es liegt in der Natur des Menschen, Informationen nicht ausschließlich objektiv aufzunehmen. Deshalb fließen durchaus auch subjektive Elemente in die Urteilsfindung ein.

In den Medien haben Sie bestimmt schon mal vom »Richter Gnadenlos« und vom »Kuschelrichter« gehört. Damit werden Extreme in der Bandbreite von Richterpersönlichkeiten beschrieben. Doch es gibt sie tatsächlich. Die Persönlichkeit des Richters kann ein ausschlaggebender Faktor bei dem Entscheidungsprozess sein. »Richter Gnadenlos« ist stolz auf seine niedrige Freispruchquote. Er wird wahrscheinlich auch bei schwacher Beweislage kurzen Prozess mit dem Angeklagten machen und ihn schlicht verurteilen. Der »Kuschelrichter« dagegen hat generell ein Problem damit, Angeklagte ins Gefängnis zu schicken. Kommen noch Zweifel an der Schuld des Angeklagten dazu, neigt er zur Einstellung des Verfahrens oder zum Freispruch.

Neben der Persönlichkeit spielt auch die Lebenserfahrung eine große Rolle, denn die Richter dürfen nach ihr urteilen. Dazu der illustrative Fall einer Bahnsteigschubserei. 27

Der drogenabhängige Angeklagte begab sich in einen Berliner U-Bahnhof, um sich Rivotril-Tabletten zu beschaffen. Der Ort war als Umschlagplatz für Drogen in der Szene bekannt. Er verlangte von einem ihm bekannten Dealer, die Tabletten umsonst zu bekommen, was dieser ablehnte. Es kam darüber zu einem lautstarken Streit. Der spätere Geschädigte trat zwischen die beiden Streitenden und zog damit die Aggression des Angeklagten auf sich. Der Drogendealer und der spätere Geschädigte entfernten sich zum anderen Ende des Bahnsteigs.

Der Angeklagte näherte sich dem Geschädigten laufend von hinten und stieß aus vollem Lauf gegen seinen Rücken. Der Geschädigte hatte den herannahenden Angeklagten nicht bemerkt und wurde von dem Stoß überrumpelt. Durch dessen Wucht wurde er nach vorn in Richtung der Bahnsteigkante »katapultiert«. Wie von dem Angeklagten beabsichtigt, stürzte er in das 1,20 Meter tiefe Gleisbett. In dem Moment des Stoßes fuhr auf dem Gleis eine U-Bahn aus dem Tunnel ein. Der Geschädigte wurde von ihr zwei Sekunden nach seinem Sturz ins Gleisbett erfasst und tödlich verletzt. Das Landgericht Berlin verneinte einen Mord oder einen Totschlag, weil es keinen Tötungsvorsatz sah. Denn dem Angeklagten konnte nicht nachgewiesen werden, dass er den gerade einfahrenden Zug wahrgenommen hat. Es verurteilte den Angeklagten nur wegen versuchter Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten.

Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf. Denn es entspricht der Lebenserfahrung, dass ein Mensch durch den Stoß in das Gleisbett einer stark befahrenen U-Bahn-Linie zu Tode kommen kann, weil es jederzeit möglich ist, dass ein Zug einfährt. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Zum Problem wird die Lebenserfahrung des Richters allerdings, weil sie höchst individuell ist. Jeder macht im Laufe seines Lebens gute und schlechte Erfahrungen, die seinen Blick auf die Welt prägen. Mir ist zum Beispiel als Student ein nagelneues Rennrad gestohlen worden. Es war rot mit weißen Lenkergriffen. Ich hatte es mir mühsam zusammengespart, und es war nicht versichert. Ich kann mich noch genau an mein Entsetzen erinnern, als ich nach draußen ging und statt meines Fahrrads nur die zerschnittene Kette auf dem Fußweg fand. Diese Geschichte habe ich im Hinterkopf, wenn ein Fahrraddieb bei mir auf der Anklagebank sitzt. Aufgrund meiner Selbstreflexion bin ich mir dessen allerdings bewusst. Eine Strafrichterin gestand mir, dass sie als Jugendliche vergewaltigt worden war und noch heute darunter leide. Ich bin mir sicher, sie wird auch an dieses schreckliche Erlebnis denken, wenn sie über einen Vergewaltigungsfall zu entscheiden hat. Solche Beispiele lassen sich endlos fortsetzen. Kann man von einem Richter nicht erwarten, dass er professionell mit gemachten Erfahrungen umgeht? Grundsätzlich ja, aber ich denke, die Lebenserfahrung kann unbewusst in die Urteilsfindung einfließen.

Für den Angeklagten ist die Anwendung von Erfahrungssätzen aus der Lebenserfahrung des Richters deshalb problematisch, weil er sie nicht kennt.

Der äußere Eindruck

Die Augenbinde der Justitia steht dafür, dass das Recht ohne Ansehen der Person gesprochen wird. So viel zur Theorie. In der Praxis nimmt man als Richter das äußere Erscheinungsbild von Angeklagten, Zeugen und Sachverständigen durchaus wahr. Und man kann den äußeren Eindruck nicht immer ausblenden. Er wird das Bild, das man von den Beteiligten gewinnt, zumindest abrunden.

Was ist zum Beispiel von einem Anwalt zu halten, der unrasiert mit einer verschmutzten Robe über T-Shirt und Jeans zur Verhandlung erscheint? Die Einschätzung eines zuverlässigen, professionellen Strafverteidigers drängt sich mir da spontan nicht auf.

Ein wegen fahrlässiger Tötung angeklagter junger Autofahrer erscheint in roter Windjacke, mit schwerer Goldkette und Basecap. Er tut alles, um dem Klischee des jugendlichen Rasers zu entsprechen.

Ein Afrikaner wird wegen Drogenhandel im Stadtpark angeklagt. Mir ist schon in mehreren Verhandlungen aufgefallen, dass diese Dealer bevorzugt Marken-Trainingsanzüge, teure Uhren und schwarze Bauchtaschen tragen. Nun erscheint der Angeklagte mit so einem Trainingsanzug, einer Luxusuhr und einer Bauchtasche. Es fällt schwer, das zu ignorieren.

Es gibt natürlich auch positive Beispiele. Wenn ein Angeklagter in Anzug und Krawatte oder eine Angeklagte im Kostüm erscheint, schließt man daraus als Richter zumindest, dass sie die Verhandlung ernst nehmen.

Erledigungsdruck

Die Richter stehen unter einem enormen Erledigungsdruck. Ich hatte oben bereits geschildert, dass pro Fall nur eine bestimmte Anzahl von Minuten zur Verfügung steht. Gute und gerechte Entscheidungen zählen für die Gerichtspräsidenten nicht, sondern nur eine möglichst hohe Zahl erledigter Verfahren. Der Richter muss, um nicht in Aktenbergen zu ertrinken, die Fälle schnell vom Tisch bekommen. Der Erledigungsdruck führt dazu, dass der Richter, wenn er vor die Wahl gestellt wird, eine langwierige Beweisaufnahme durchzuführen oder die Strafsache auf andere Weise schnell zu erledigen, wahrscheinlich den einfachen Weg gehen wird. Wie kann der Richter das tun? Er könnte den Wunsch der Verteidigung entsprechen und das Verfahren durch eine Einstellung oder einen Deal beenden. Oder er betreibt die Beweisaufnahme nur so lange, bis er alles für einen Schuldspruch zusammen hat, und lehnt alle weiteren Beweisanträge ab.

Image Regel Nr. 17: Der Erledigungsdruck führt zur Ablehnung von Beweisanträgen.

Die Justizverwaltung erzeugt einen subtilen Druck auf den Inhalt der Entscheidungen, indem sie Formulare zur Verfügung stellt. So liegen dem Strafrichter Formulare für alle gängigen Beschlüsse vor. Mit ein paar Kreuzchen oder Mausklicks ist der Beschluss schnell gemacht. Allerdings nur, und das ist die entscheidende Einschränkung, für die antragsgemäße Bewilligung des staatsanwaltlichen Begehrens. Möchte der Richter den Antrag ablehnen, muss er selbst einen Beschluss entwerfen. Nun stellen Sie sich einen Ermittlungsrichter vor, der jeden Tag ein Dutzend Neueingänge bekommt und jeweils nur 35 Minuten Zeit hat. Wird dieser jeden Antrag gründlich prüfen und ihn gegebenenfalls mit einem individuell erstellten Beschluss abweisen? Oder wird er der Versuchung unterliegen, die Akte mithilfe eines Formulars schnell vom Tisch zu bekommen?

Zeugenaussagen

Ich habe bereits ausgeführt, dass Zeugen das unzuverlässigste Beweismittel sind, sowie ein paar Kriterien für die Bewertung ihrer Aussagen benannt. Entscheidend ist beispielsweise, ob sie im Lager eines der Beteiligten stehen oder ob es neutrale Zeugen sind.

Eine besondere Stellung nehmen Polizeibeamte ein. Sie sind eine tragende Säule vieler Beweisaufnahmen, denn sie erscheinen zuverlässig und bereiten sich auf die Hauptverhandlung vor. Polizisten können Sachverhalte zutreffender wahrnehmen als normale Zeugen, weil sie entsprechend geschult sind. Sie nehmen die Wahrheitspflicht ernster als andere und sagen schon deshalb nicht die Unwahrheit vor Gericht, da sie andernfalls ihre Karriere riskieren würden. Am Ausgang eines Verfahrens haben sie regelmäßig kein persönliches Interesse. Aus Richtersicht sind sie professionelle Zeugen, denen er glauben kann. Und sie treten meistens mindestens paarweise auf. Wenn zwei gegen den bestreitenden Angeklagten aussagen, wird der Richter in der Regel den Polizeibeamten glauben.

Image Regel Nr. 18: Richter glauben in der Regel den Aussagen von Polizisten.

Die Konstellation Aussage gegen Aussage ist gar nicht so selten. Sie ist insbesondere typisch für Vergewaltigungen in Beziehungen, die deshalb zu den Verbrechen gehören, die am schwierigsten aufzuklären sind. Wie löst man als Richter solche Fälle? Man sucht nach objektiven Spuren, die eine der beiden Versionen bestätigen. Meist gibt es aber keine Spuren. Es bleibt bei Aussage gegen Aussage. Dann untersucht man die Aussage der Zeugin anhand der von der Aussagepsychologie entwickelten Kriterien. Ist die Aussage konstant, hat also die Zeugin in verschiedenen Vernehmungen den gleichen Tathergang geschildert? Ist ihre Aussage detailreich? Ist ihre Aussage von Belastungseifer getragen, oder fehlt dieser? Hat die Zeugin ein Motiv für eine Falschbelastung? Manchmal hilft auch der Blick auf den Angeklagten weiter. Gibt es Vorstrafen wegen Gewaltdelikten? Oder handelt es sich um einen unbescholtenen Bürger? Wenn die Würdigung der widerstreitenden Aussagen zu keiner sicheren Entscheidung führt, gerät der Richter in ein Dilemma, wie bereits oben bei dem Fall der Vergewaltigung in der Ehe aufgezeigt wurde (siehe Seite 128ff. ).

Der Kaffeerunden-Senat

An jedem Gericht gibt es Kaffeerunden. Richter kommen ein- oder mehrmals am Tag zusammen, schlürfen Bürogold und unterhalten sich. Neben dem üblichen Klatsch drehen sich die Gespräche auch um aktuelle Fälle. Gern wird die Meinung der Kollegen eingeholt. Ein Richter schildert einen problematischen Fall, die anderen machen Vorschläge, wie er zu lösen sein und wie die Entscheidung lauten könnte. Es zählt die Mehrheitsmeinung. Haben mehrere Richter ähnliche Fälle, wird eine gemeinsame Linie diskutiert und mitunter auch festgelegt. Das Tückische am Kaffeerunden-Senat ist, dass kein Außenstehender jemals von seinen Tagungen und Entscheidungen erfahren wird.

Die Rechtsmittelinstanz

Zum Selbstbild eines Richters sollte gehören, frei und unabhängig zu entscheiden. Doch wer auf der Karriereleiter noch nach oben klettern will, möchte alles richtig machen. Wenn viele Urteile in der höheren Instanz aufgehoben werden, ist das eher nicht karrierefördernd. Eifrig sammelt der Karrierist alle Urteile und Beschlüsse des höheren Gerichts und legt sie als Blaupausen der eigenen Urteilsfindung zugrunde. Eigene Gedanken werden durch die Vorgaben aus Karlsruhe ersetzt.

Grad an Überzeugung

Gibt es Faktoren, die den notwendigen Grad an Überzeugung des Gerichts für den Schuldspruch senken? Ja, sogar zwei.

Das Strafregister ist der Akte vorgeheftet. Der Richter sieht es als Erstes, wenn er die Akte aufschlägt. Bevor der Richter überhaupt in den Fall einsteigt, vermittelt es ihm, ob er es mit einem unbescholtenen Bürger oder mit einem Gewohnheitsverbrecher zu tun hat. Die Art und Anzahl der Vorstrafen kann schon ein Vorurteil beim Richter erzeugen. Bei einem erheblich und einschlägig vorbestraften Angeklagten kann es ihm wahrscheinlich erscheinen, dass er auch die neu angeklagte Tat begangen hat. Der Strafrichter kann unterbewusst den notwendigen Grad an Überzeugung senken, weil er aufgrund der Vorstrafen eine Schuld des Angeklagten für naheliegend hält.

Je schwerer eine Straftat wiegt, desto schwerer tut sich der Richter mit einem Freispruch. Der Richter denkt unterbewusst, dass eine schwere Straftat, wie ein Mord, nicht ungesühnt bleiben kann. Das ist ein weiterer Grund, den notwendigen Grad an Überzeugung zu senken. Deutlich wird dieser Zusammenhang an den zahlreichen Indizienprozessen wegen Mord, wie den oben geschilderten Fall des Bauern Rupp (siehe Seite 182 ). In diesen Fällen gibt es oft nicht einmal eine Leiche, der Tod des Opfers steht also gar nicht fest. Trotzdem erfolgt eine Verurteilung der Angeklagten. Das geht nur, wenn der Richter das Beweismaß so weit senkt, dass auch die dürftigen und lückenhaften Indizien ausreichen. Bei Alltagskriminalität verfährt er dagegen nicht so. Sie werden von keinen Indizienprozessen wegen Ladendiebstahl hören. Dort wird eingestellt oder freigesprochen, wenn die Beweise nicht reichen.

Image Regel Nr. 19: Je mehr Vorstrafen ein Angeklagter hat und je schwerwiegender ein Delikt ist, desto geringer sind seine Chancen auf einen Freispruch, unabhängig von seiner Schuld im Einzelfall.

In dubio pro reo

Die Aufgabe des Strafverteidigers ist es, Zweifel zu säen. Er zweifelt an allem, außer an der Unschuld seines Mandanten. Er versucht, so viele Zweifel in Zeugenaussagen zu streuen, dass nur noch Fragezeichen bleiben. Belastungszeugen werden grundsätzlich als Lügner dargestellt. Nach seinen Ausführungen ist der Angeklagte ein Unschuldslamm. Jemand anderes hat die Tat begangen. Aus Schwarz versucht er, Weiß zu machen. Im Plädoyer fordert er einen Freispruch, denn nach dem Grundsatz »Im Zweifel für den Angeklagten« könne das Gericht gar keine andere Entscheidung treffen. Der Grundsatz »in dubio pro reo« klingt edel und fast wie ein Gesetz.

Keine andere lateinische Rechtsregel wird derart oft missbraucht wie »in dubio pro reo«. Vollständig besagt sie, dass ein Angeklagter nicht verurteilt werden darf, wenn dem Gericht Zweifel an seiner Schuld verbleiben. Nur in den allermeisten Fällen verbleiben beim Gericht nach durchgeführter Beweisaufnahme keine Zweifel. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt. 28 Der Angeklagte wird also in der Regel der Tat überführt und verurteilt. Die Verteidigungsstrategie des Nebelbombenwerfens und des anschließenden Berufens auf »in dubio pro reo« geht nur selten auf.

Das Vermieterehepaar einer Ranch bei Frankfurt wollte die überfällige Miete einkassieren. Doch der Mieter war knapp bei Kasse und konnte nicht zahlen. Es entwickelte sich ein handfester Streit mit dem Mieter und dessen Sohn. Am Ende war das Vermieterehepaar tot; er hatte insgesamt 17 Messerstiche im Oberkörper und seine Frau zwei Schüsse im Rücken. Der Mieter und dessen Sohn vergruben die Leichen in der Jauchegrube der Ranch. Gefunden wurden sie dort erst vier Monate später. Die Tatwaffen hatten sie ebenfalls beseitigt und das Auto der Getöteten auf einem nahe gelegenen Supermarktparkplatz abgestellt.

In der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Hanau beriefen sie sich auf Notwehr. Sie seien von dem Vermieterehepaar angegriffen worden und hätten sich nur verteidigt. Die Beweisaufnahme ergab nicht, wer das Messer zum Geschehen mitgebracht und als Erstes eingesetzt hatte. Unter Anwendung des Grundsatzes »in dubio pro reo« folgte das Gericht der Einlassung der Angeklagten und ging zu deren Gunsten davon aus, dass »der Streit am Tattag von den Geschädigten begonnen wurde und der Geschädigte hierbei derjenige war, der das Tatmesser mit sich führte, dieses auch zog und zuerst gegen den Angeklagten einsetzte«. Das Landgericht sprach beide Angeklagten frei.

Auf Revision der Staatsanwaltschaft hob der Bundesgerichtshof das Urteil auf. 29 Der Grundsatz »in dubio pro reo« findet keine Anwendung für entlastende Indiztatsachen. Das Landgericht hätte mit anderen Worten nicht im Zweifel von einer berechtigten Notwehr ausgehen dürfen, obwohl diese gar nicht bewiesen war.

Gegen eine Notwehr sprach, dass der Mieter durchaus ein Motiv für die Tötung seiner Vermieter hatte. Er lebte und arbeitete auf der Ranch, und ihm drohte, dass er seinen Lebensmittelpunkt verliert. Notwehr erklärt auch nicht, warum der Mieter 17-mal auf seinen Vermieter eingestochen hat. Zur Abwehr des behaupteten Angriffs wären weit weniger Stiche erforderlich gewesen. Bereits die ersten drei Stiche in die Brust waren tödlich gewesen. Der Frau war in den Rücken geschossen geworden, was gegen einen Angriff durch sie sprach. Schließlich sprach gegen Notwehr auch, dass die Angeklagten die Leichen und alle Spuren beseitigt hatten. Bei berechtigter Notwehr hätte es nahegelegen, die Polizei zu rufen.

Das Landgericht Hanau sprach die Beschuldigten im zweiten Prozess erneut frei. Auch gegen dieses Urteil legte die Staatsanwaltschaft Revision ein, auf die der Bundesgerichtshof das Urteil wiederum aufhob und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung diesmal an eine Schwurgerichtskammer des Landgerichts Frankfurt am Main verwies. Dieses verurteilte am 13. Juli 2021 Vater und Sohn zu je zehn Jahren und sechs Monaten Haft wegen Totschlags.

Image Regel Nr. 20: Die Verteidigungsstrategie des Säens von Zweifeln und des anschließenden Berufens auf »in dubio pro reo« geht nur selten auf.