Vom 14. März bis zum 31. Mai 2010 fand im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) Marina Abramovićs Performance The Artist Is Present statt. Bereits der Titel verweist darauf, dass mit der Performance auf die Eigenlogik der performativen Künste reflektiert wird. Anders als bei den Werken, die im Kunstraum des MoMA ausgestellt sind, lassen sich in den performativen Künsten Künstler*innen und Werk nicht voneinander trennen: die Künstler*innen – Schauspieler*innen, Sänger*innen, Tänzer*innen, Performer*innen, Aktionskünstler*innen – müssen ›anwesend‹ sein, da ihre Kunst losgelöst von ihnen nicht existiert. Zwar werden häufig Objekte, Fotos, Videos oder Filme, die in einer Aufführung Verwendung fanden, später in einem Museum ausgestellt. Sie mögen dort nicht nur auf die Aufführung zurückverweisen, sondern auch ein eigenes ästhetisches Potenzial entfalten. Gleichwohl sind sie selbst nicht den performativen Künsten zuzurechnen. Diese bedürfen der leiblichen Präsenz der Künstler*innen.
Das räumliche Arrangement der Performance wies auf eine weitere Besonderheit der performativen Künste hin: Im Atrium des Museums war ein quadratischer Tisch mit zwei einander gegenüberstehenden Stühlen platziert. Als die Zuschauenden den Raum betraten, sahen sie auf einem der beiden Stühle Abramović sitzen. Sie hatte die Augen geschlossen. Nacheinander nahm für je 15 Minuten eine*r der Zuschauenden ihr gegenüber Platz. Abramović schlug die Augen auf und blickte ihr Gegenüber an, das ihren Blick erwiderte. Als die ihm zugewiesene Zeit verstrichen war, musste sich ihr Gegenüber erheben und zu den anderen Zuschauenden im Atrium zurückkehren. Abramović schloss ihre Augen wieder und wartete auf die nächsten Zuschauenden.
Wie die Performance vor- und aufführte, musste, damit sie sich ereignete, nicht nur die Künstlerin anwesend sein, sondern auch Zuschauende: Schauspieler*innen und Zuschauende begegnen sich im Spiel der Blicke, im Akt des Sich-zur-Schau-Stellens und im Akt 278des Zuschauens. Während Dichter*innen ein Gedicht in Einsamkeit schreiben können, das später ein anderer in Einsamkeit liest, oder Maler*innen ein Bild im Atelier schaffen, das andere später im Museum anschauen, ereignen sich die performativen Künste in der gleichzeitigen Präsenz von Akteur*innen und Zuschauenden, im Akt ihrer Begegnung.
Es ist diese, auf die gleichzeitige Präsenz von Akteur*innen und Zuschauenden zielende Eigenlogik der performativen Künste, die zu Beginn des 20.Jahrhunderts Max Herrmann bewog, sich für die Gründung einer entsprechenden eigenen akademischen Disziplin einzusetzen, nämlich der Theaterwissenschaft: »[Der] Ur-sinn des Theaters […] besteht darin, daß das Theater ein soziales Spiel war, – ein Spiel Aller für Alle. Ein Spiel, in dem Alle Teilnehmer sind – Teilnehmer und Zuschauer. […]. Das Publikum ist als mitspielender Faktor beteiligt. Das Publikum ist sozusagen Schöpfer der Theaterkunst […], so daß der soziale Grundcharakter nicht verloren geht.«[1]
Es ist die leibliche Ko-Präsenz von Akteur*innen und Zuschauenden, die eine Aufführung allererst ermöglicht. Eine Aufführung kann nur stattfinden, wenn sich Akteur*innen und Zuschauende an einem Ort versammeln. Es handelt sich hier weder in dem Sinne um ein Subjekt-Objekt-Verhältnis, dass die Zuschauenden die Akteur*innen zum Objekt ihrer Beobachtung machen würden, noch in dem, dass die Akteur*innen als Subjekte die Zuschauenden als Objekte mit nichtverhandelbaren Botschaften konfrontieren. Vielmehr meint die leibliche Ko-Präsenz ein Verhältnis von Ko-Subjekten.
Dies Verhältnis war Thema, Gegenstand und Vollzug von Abramovićs Performance: Die Künstlerin schlägt ihre Augen auf und blickt ihr Gegenüber an – ein Gegenüber, das sich nur mit dem einzigen Ziel ihr gegenübergesetzt hat, sie anzublicken.
Wie bereits aus Herrmanns Zitat hervorgeht, ist dies nicht nur ein Ereignis der Kunst, sondern immer auch ein sozialer Akt – ein Mensch blickt einen anderen an, der zurückblickt. Im Wechsel der Blicke ereignet sich ein sozialer Akt, wird eine grundlegende soziale Praxis vollzogen.
279Diese Komponente trat in Abramovićs Performance in dem Augenblick in den Vordergrund, als sich Ulay, Abramovićs früherer Lebensgefährte und künstlerischer Partner, auf den Stuhl ihr gegenüber niederließ. Als sie die Augen aufschlug und ihn erblickte, traten ihr Tränen in die Augen. Langsam streckte sie ihre Arme über den Tisch – der bis dahin und danach wieder als Barriere vor jeglicher körperlichen Berührung fungiert hatte – zu Ulay hinüber, seine Arme kamen ihren entgegen und beider Hände umschlossen einander. Das Publikum beklatschte diese intime ›Szene‹ wie eine gelungene Aufführung, so seinerseits die Grenzen zwischen künstlerischen und sozialen Praktiken überschreitend oder verwischend.
The Artist Is Present stellt nicht nur einen geeigneten Ausgangspunkt dar, um über das Verhältnis von theatralen/künstlerischen und sozialen Praktiken nachzudenken. Die Performance fordert auch dazu heraus, über das Verhältnis von Theater/performativen Künsten und anderen Künsten zu reflektieren. Denn sie fand weder in einem Theaterraum statt, der bereits durch seine räumliche Anordnung spezifische Voraussetzungen für das Verhältnis zwischen Akteur*innen und Zuschauenden schafft – die durchaus ignoriert werden können –, noch in einem sozialen Raum wie einem Café, in dem sich häufig zwei Menschen an einem Tisch gegenübersitzen. Der Ort, an dem sie sich ereignete, war vielmehr das Museum für Moderne Kunst, ein Ort also, an dem Werke der bildenden Künste ausgestellt sind und betrachtet werden können. Dieser Raum schuf zum einen besondere Bedingungen für die Begegnung zwischen der Künstlerin und den ›Besucher*innen‹, den ›Zuschauenden‹. Diese konnten sich im Raum verteilen, auch wenn eine bestimmte Reihenfolge hinsichtlich des ›Rechtes‹, sich der Künstlerin gegenüberzusetzen, eingehalten wurde. Zum anderen war es ebendieser Ort, welcher den Blickwechsel zwischen Künstlerin und jeweils einer*m Zuschauenden – im Unterschied zu einem Café oder der U-Bahn – als eine künstlerische und nicht nur eine soziale Praktik auswies.
Ausgehend von Abramovićs Performance seien zwei Thesen hinsichtlich der Eigenlogik der performativen Künste formuliert, die nachfolgend ausgeführt werden sollen:
(1) Die Beziehung zwischen den Künstler*innen und Rezipient*innen – also im Falle der performativen Künste zwischen den Schauspieler*innen/Akteur*innen und den Zuschauenden – 280lässt sich als eine autopoietische Feedbackschleife bestimmen. Die Handlungen der Künstler*innen rufen Reaktionen der Zuschauenden hervor, die ihrerseits auf das Handeln der Künstler*innen zurückwirken etc. etc. Aufführungen lassen sich entsprechend nicht als ›Werke‹ begreifen, die unabhängig von den Künstler*innen und Rezipient*innen eine Existenz haben – wie ein Gedicht in einem Buch oder ein Bild in einem Museum. Sie treten vielmehr als Ereignisse in Erscheinung, auf die alle Beteiligten, wenn auch in einem unterschiedlichen Maße und auf unterschiedliche Weise, einwirken.
(2) Aufführungen realisieren sich häufig durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Künste. Neben Schauspiel-, Performance-, Aktions-, Tanz- und Gesangskunst können dies Architektur, Malerei, Plastik, Gartenkunst, Dichtung, (Instrumental-)Musik, Film, Videokunst sein, abhängig von den jeweiligen Aufführungsgenres, vorherrschenden historischen Stilen, individuellen künstlerischen Vorlieben und Wirkungsabsichten sowie anderen Faktoren. Welche Künste auf welche Weise eingesetzt werden und welche Relationen zwischen ihnen zustande kommen, hat Auswirkungen auf die Beziehungen, welche sich im Laufe der Aufführung zwischen den Akteur*innen und Zuschauenden herstellen.
Beide Thesen verweisen also aufeinander und sollen entsprechend zusammen diskutiert werden.
Von herausragender Bedeutung für das Verhältnis zwischen Akteur*innen und Zuschauenden erweist sich der Raum, in dem die Aufführung stattfindet, und damit die Architektur – sei es die Architektur eines Raumes, der ausdrücklich für Aufführungen geschaffen wurde, seien es andere Räume, die für Aufführungen genutzt werden, ohne für sie intendiert zu sein.
Im antiken Athen fanden die Aufführungen in einem Amphitheater statt. Die Orchestra, in deren Rund der Chor agierte, bildete das Zentrum. Sie wurde zu drei Vierteln von den ansteigenden Zuschauersitzen umfasst, während an das letzte Viertel eine flache Bühne mit einem Bühnenhaus anschloss. Der Chor und die Schauspieler*innen agierten entsprechend inmitten der Zuschauenden, die ihrerseits ihre Blicke nicht nur auf die Akteur*innen, sondern immer auch auf andere Zuschauende richten konnten. In diesen Massentheatern, die teilweise um die 12000 Zuschauende zu fassen vermochten, wurde entsprechend nicht nur die leibliche Ko-Prä281senz von Akteur*innen und Zuschauenden hervorgehoben, sondern auch und gerade die der Zuschauenden, der Bürger der Polis.
Ein gänzlich anderes Modell stellt die Guckkastenbühne dar. Bühne und Zuschauerraum stehen einander gegenüber, deutlich durch das Proszenium voneinander getrennt, das wie ein Rahmen wirkt, in dem die Bühne wie ein Bild erscheint. Auf der Bühne sind seitlich verschiebbare Kulissen installiert, die die Blicke der Zuschauenden perspektivisch lenken. Die Architektur verlangt hier nach einer Ergänzung durch die Malerei, wie zum Beispiel im Teatro Farnese in Parma, das von Giovanni Battista Aleotti entworfen wurde und 1628 eröffnete. Statt die Akteur*innen zu umschließen, finden sich die Zuschauenden ihnen gegenüber. Da auch der Zuschauerraum von Kerzen erleuchtet war, vermochten die Zuschauenden durchaus auch einander zu sehen. Gleichwohl sollte ihr Blick auf die Bühne gerichtet sein, so dass die Wahrnehmung der anderen Zuschauenden überwiegend durch andere Sinne erfolgte. Dass sich die Zuschauenden nicht immer an die Vorgaben hielten und teilweise den Ereignissen im Zuschauerraum mit größerem Interesse als denen auf der Bühne folgten, ist vielfach überliefert. Eine entsprechende Szene ist auf einem Gemälde von Justus van Egmont aus dem Jahre 1641 festgehalten. In diesem Jahr fand aus Anlass der Hochzeit einer Nichte des Kardinals Richelieu mit dem Herzog von Enghien eine Aufführung des allegorischen Balletts La Prospérité des Armes de la France in dem Grande Salle des Palais Cardinal (heute Palais Royal) in Anwesenheit der königlichen Familie statt. Das Bild zeigt im Hintergrund die Bühne, auf der der Graf von Harcourt als gallischer Herkules mit einem Pfeil auf den Adler zielt. Im Vordergrund des Bildes ist der Kardinal im Gespräch mit Ludwig XIII. und seiner Frau Anne d’Autriche zu sehen. Die Gesichter der Zuschauenden in den Logen links von der königlichen Familie sind in der Mehrzahl der Gesprächsszene im Zuschauerraum und nicht der Bühne zugewandt. Die Szene im Zuschauerraum war offensichtlich für viele Zuschauende weit interessanter als die Erlegung des Adlers auf der Bühne. Die soziale Komponente des Blicks der Zuschauenden überwog hier deutlich die ästhetische.
Dies ist nur ein Beispiel für die Tatsache, dass die Architektur des Theaterraums bestimmte Verhältnisse zwischen Akteur*innen und Zuschauenden begünstigt, sie nahe-, aber keinesfalls festlegt. Dies gilt auch nach der Verdunkelung des Zuschauerraums, die 282durch die Erfindung der Gasbeleuchtung – und noch konsequenter durch die des elektrischen Lichts – ermöglicht wurde. Zwar suggerierte die Dunkelheit im Zuschauerraum, dass die Zuschauenden ihre Aufmerksamkeit ganz und gar auf die Bühne richteten. Wie zahllose Beispiele aus der Theatergeschichte zeigen, führte dies jedoch keineswegs zu einer Konzentration auf die ›innere‹ Wirkung des Wahrgenommenen oder zu einer ›Passivität‹ der Zuschauenden, wie sie die Avantgardist*innen häufig beklagten, um Veränderungen zu rechtfertigen.
Bei der ersten öffentlichen Aufführung von Gerhart Hauptmanns Die Weber vor einem bürgerlichen Publikum am Deutschen Theater Berlin (25.9.1894) zum Beispiel identifizierte sich ebendieses bürgerliche Publikum zum Entsetzen der konservativen Kritiker ganz und gar mit den ausgebeuteten Webern und brachte dies lautstark zum Ausdruck:
[…] mit einem Schlag hatte sich jene innige Verbindung zwischen Publikum und Bühne hergestellt, die aus diesen beiden scharf getrennten Hälften des Hauses eine Einheit schuf, die Zuschauer in ihren Empfindungen fast zu Mithandelnden in dem wilden Drama vor ihnen machte. Wie in einer stürmisch bewegten Volksversammlung ein Massengeist waltet, der auch ruhige Naturen ergreift, wie man bei Rebellen gesehen hat, daß bisher vollständig Unbetheiligte, Neutrale von einem Taumel erfaßt werden und wilden Thaten sich anschließen, so sah man einen Theil wenigstens des Publikums den rasenden Zerstörungsthaten auf der Bühne zujubeln. Rufe aus den Höhen des Saals ermunterten die den Saal des Fabrikanten plündernden Haufen, noch kräftiger zuzulangen. Und als der Vorhang über der Szene fiel, ließ der frenetische Jubel, der sich austobte, es ungewiß, ob die dichterisch-szenische Darstellung oder die That als solche so begeisternd gewirkt hatte.[2]
Seit Beginn des 20.Jahrhunderts hat sich nicht nur die Theaterarchitektur immer wieder verändert – auch wenn manche revolutionäre Ideen nur Entwürfe blieben, wie zum Beispiel das Gropius Theater. Es wurden auch gänzlich neue Räume für Aufführungen erschlossen. Bereits Max Reinhardt nutzte derartige Möglichkeiten exzessiv. So ließ er seinen Sommernachtstraum (1905) in späteren Jahren in einem Föhrenwald in Nikolassee und im Seidl Park 283bei Murnau aufführen, den Kaufmann von Venedig (1934) auf dem Campo San Trovaso in Venedig und griechische Tragödien wie die Orestie (1911) und den König Ödipus (1910) im Zirkus Schumann. Jeder dieser Räume eröffnete den Schauspieler*innen ganz neue Möglichkeiten der Bewegung und den Zuschauenden neue Möglichkeiten der Wahrnehmung. Zugleich ließ sich immer wieder das Verhältnis zwischen Akteur*innen und Zuschauenden neu definieren.
Während die Aneignung öffentlicher, nicht den Künsten gewidmeter Räume bei Reinhardt vor allem darauf zielte, Aufführungen für neue soziale Schichten zu öffnen (wie beim Zirkus Schumann) und die Grenzen zwischen ›Kunst‹ und ›Wirklichkeit‹ verschwimmen zu lassen, folgt sie in den letzten Dezennien häufig einer politischen Zielsetzung. Die betreffende Aktion/Performance trägt das Problem, dem sie gilt, in eine Öffentlichkeit, die darauf nicht vorbereitet ist und daher im Ungewissen über den Charakter der Aktion bleibt. Dies gilt für Christoph Schlingensiefs Ausländer raus! auf dem Wiener Opernplatz (2000) ebenso wie für Rimini Protokolls Hauptversammlung Daimler im Internationalen Konferenzzentrum Berlin (2009) oder Die Toten kommen (2015) des Zentrums für politische Schönheit. Während Schlingensief die Zuschauenden darüber abstimmen ließ, ob die Geflüchteten abgeschoben werden sollten oder nicht, schleuste Rimini Protokoll Zuschauende in die Hauptversammlung von Daimler ein. In beiden Fällen ging es um eine Entlarvung von Einstellungen und Praktiken zum einen des Publikums (Schlingensief), zum anderen der Aktionär*innen (Rimini Protokoll). Das Zentrum für politische Schönheit ließ an den europäischen Außengrenzen verstorbene Flüchtlinge exhumieren, mit dem Einverständnis der betroffenen Familien nach Berlin überführen und dort auf einem Friedhof beisetzen. Die Aktion zielte auf eine Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung.
Die drei Aktionen haben, trotz anderer gravierender Unterschiede, gemeinsam, dass sie auf öffentlichen Plätzen, die eine je andere Funktion haben und entsprechend je andere Assoziationen und Gefühle auslösen, eine Stellungnahme zu einem politischen Problem herausforderten – im ersten und dritten Fall zur »Flüchtlingsproblematik« und im zweiten zu kapitalistischen Praktiken. Gleichwohl war es die Wahl ebendieser Räume – Opernplatz, Kongresszentrum, Friedhof –, welche die Wahrnehmung der ›Zuschau284enden‹ im Hinblick auf die jeweiligen Ereignisse beeinflussten und je spezifische Reaktionen nahelegten beziehungsweise auslösten. Während es im Falle der Theaterbauten die jeweilige Architektur ist, die auf die Wahrnehmung der Zuschauenden und auf das Verhältnis zwischen ihnen und den Akteur*innen einwirkt, ist es in den zuletzt genannten Fällen die jeweilige Funktion der vorgefundenen Räume, die für beides entscheidend ist. Trotz ihrer Unterschiede vermögen sie alle als Handlungs- und Wahrnehmungsräume zu fungieren. Um welche Räume auch immer es sich handeln mag, die performativen Künste wissen sie für ihre Zwecke zu nutzen. Sie sind in diesem Sinne nicht nur als Zeit-, sondern auch als Raumkünste zu begreifen.
Zwar sind mit Schauspieler*innen/Akteur*innen, Zuschauenden und Raum, in dem sie aufeinandertreffen, die das Theater beziehungsweise die performativen Künste definierenden Faktoren genannt. Gleichwohl stellt es die Besonderheit von Aufführungen dar, dass sie letztlich alle anderen Künste einzubeziehen vermögen: So schrieb Goethe nach jahrzehntelanger Arbeit am Theater 1815 in den Annalen über seine Fähigkeit, letztlich alle Künste zu nutzen und zueinander in Beziehung zu setzen:
Von der ideellen Seite steht das Theater sehr hoch, so daß ihm fast nichts, was der Mensch durch Genie, Geist, Talent, Technik und Übung hervorbringt, gleichgestellt werden kann. Wenn Poesie mit allen ihren Grundgesetzen, wodurch die Einbildungskraft Regel und Richtung erhält, verehrenswerth ist; wenn Rhetorik mit allen ihren historischen und dialektischen Erfordernissen höchst schätzenswerth und unentbehrlich bleibt; dann aber auch persönlicher mündlicher Vortrag, der sich ohne eine gemäßigte Mimik nicht denken läßt: so sehen wir schon, wie das Theater sich dieser höchsten Erfordernisse der Menschheit ohne Umstände bemächtigt. Füge man nun noch die bildenden Künste hinzu, was Architektur, Plastik, Mahlerei zur völligen Ausbildung des Bühnenwesens beitrage, rechne man das hohe Ingrediens der Musik, so wird man einsehen, was für eine Masse von menschlichen Herrlichkeiten auf diesen einen Punkt sich richten lassen.[3]
Aufgrund dieser »Herrlichkeiten« begriff Goethe das Theater als diejenige Kunstform, die am besten geeignet ist, den Zuschauenden »Bildung« zu vermitteln, die für Bürger*innen den einzig gangbaren 285Weg darstellt, um zu einer allseitigen Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu gelangen.
Goethe galten adelige Lebensformen als Voraussetzung für die allseitige Entfaltung der Persönlichkeit, nicht jedoch der Adel als gesellschaftliche Klasse. Damit stellte sich für ihn das Problem, wie den Bürger*innen die Möglichkeit zu dieser Lebensform eröffnet werden könnte. Eine politische Lösung kam für Goethe nicht in Betracht. Seine ablehnende Haltung der Französischen Revolution gegenüber ist bekannt – von der bürgerlichen Klasse konnte er eine Verwirklichung der Menschheitsideale nicht erwarten. Er favorisierte dagegen die individuelle Lösung – den Bildungsprozess des*der Einzelnen, der sich im Theater bei jeder*m Einzelnen in der Gemeinschaft aller anwesenden Zuschauenden zu vollziehen vermag. Als Voraussetzung dafür galt ihm jedoch die Bedingung, dass die Aufführung als ein autonomes Kunstwerk geschaffen wird und so den Zuschauenden zu ästhetischer Distanz anhält:
Und bietet aller Bildung nicht die SchauspielkunstMit hundert Armen, ein phantast’scher RiesengottUnendlich mannigfalt’ge, reiche Mittel dar?[4]
Das Theater soll aus allen unmittelbar lebenspraktischen Bezügen herausgelöst werden, um zum Prozess der Bildung jedes einzelnen Zuschauenden beitragen zu können. Es sollte weder rühren noch Mitleid erregen, noch überhaupt starke Emotionen erwecken oder gar eine bestimmte moralische Haltung nahelegen. Vielmehr sollte die Aufführung die Zuschauenden zur ästhetischen Distanz anhalten und so zu nachträglichen Reflexionen führen. Diese Vorgabe wurde jedoch von vielen Zuschauenden als Zumutung empfunden.
Mit einer ganz anderen Zielsetzung und auf ganz andere Weise wurden die verschiedenen Künste in Richard Wagners Gesamtkunstwerk eingesetzt. Die »Vereinigung der Künste« war seiner Meinung nach in keinem Fall so zu denken, »daß, z.B. in einer Gemäldegalerie und zwischen aufgestellten Statuen ein Goethe’scher Roman vorgelesen und dazu noch eine Beethoven’sche Symphonie vorgespielt wird«.[5] Ebenso wenig sei sie mit der bloßen Beteiligung der verschiedensten Künste im Theater zu verwechseln, wie sie in 286der Großen Oper, der zu Wagners Zeit populärsten Form der Oper, praktiziert wurde. Dem in ihr vorherrschenden »Zusammenhangslosen«[6] stellte Wagner das Postulat einer »künstlerischen Einheit« entgegen. Das Gesamtkunstwerk, das er anstrebte, sollte entsprechend »dem Inhalt und der Form nach aus einer Kette […] organischer Glieder«[7] bestehen.
Zwar sind die Einzelkünste an der Konstruktion der »organischen Glieder« beteiligt, jedoch als einzelne Künste nicht mehr identifizierbar. So hat zum Beispiel »das Orchester zunächst nach seinem besonderen Vermögen […] die dramatische Gebärde der Handlung« auszudrücken. Der Sänger weiß sich als »Darsteller einer zunächst sprachlich ausgedrückten und bestimmten Persönlichkeit« und ist daher im Stande, »die zum Verständnis der Handlung erforderliche Gebärde dem Auge kundzugeben«.[8] Es wird also zunächst auf jene kleinen Einheiten zurückgegangen, in die sich die einzelnen beteiligten Künste zerlegen lassen, wie die Gebärde, den sprachlichen Ausdruck, die Tonfolge. Diese Einheiten treten nun auf eine Weise zueinander in Beziehung, dass sie zusammen als komplexe Einheiten die »organischen Glieder« bilden. Ein solches »organisches Glied« stellt beispielsweise die »Handlung« dar, die sowohl vom Orchester als auch vom Gesang und den Gebärden der Sängerin ausgedrückt wird, oder auch die »dramatische Persönlichkeit«, an deren Aufbau wiederum Orchester, Gesang, Sprache und Gebärde beteiligt sind. Die Einzelkünste bewerkstelligen so den Aufbau solch komplexer Einheiten wie Figur und Handlung, sind aber als Einzelkünste in ihnen aufgehoben. Auf diese Weise werde der Aufführung »jene ideale Täuschung« gelingen, »die uns in ein dämmerndes Wähnen, in ein Wahrträumen des nie Erlebten einschließt«.[9]
In diesen Zustand können Zuschauende allerdings nur unter der Bedingung eintreten, dass sie bereit sind, sich auf eine neue Art des Zuschauens einzulassen. Weder die einfühlende Identifikation des bürgerlichen Illusionstheaters noch auch die Reflexion erfordernde ästhetische Distanz des Weimarer Bildungstheaters und selbstver287ständlich noch gar das zerstreute Amüsement eines Unterhaltungstheaters erschienen Wagner als seinem Gesamtkunstwerk adäquat. Eine neue Kunst des Zuschauens war gefordert. Ihre wichtigsten Bedingungsfaktoren stellten »Sammlung« und »Teilnahme« dar. Bereits in seinem frühen Nationaltheaterentwurf hatte Wagner eine*n neue*n Zuschauende*n im Blick: »Diese Theilnahme des Publikums muss eine thätige, energische, nicht schlaffe oberflächlich genußsüchtige sein«.[10] Das Gesamtkunstwerk verlangt aktive Zuschauende; sie sollen nicht nur zum »organisch mitwirkendem Zeugen«[11] werden, sondern zum »nothwendigen Mitschöpfer des Kunstwerkes«[12] aufsteigen. Erst in den Zuschauenden kann sich das Gesamtkunstwerk vollenden.
Die Aufführung als Gesamtkunstwerk sollte so eine politisch-soziale Utopie antizipieren. Als »Zeugen« und »Mitschöpfer« repräsentieren die Zuschauenden jene »gemeinsame Öffentlichkeit«, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit erst durch eine Revolution hergestellt werden kann. Die Zuschauenden wandeln sich durch ihre aktive Rezeption des Gesamtkunstwerks von einer zufälligen Ansammlung gelangweilter, gleichförmiger und egoistischer Privatleute zur Gemeinschaft einer repräsentativen Öffentlichkeit, deren jedes Mitglied selbst kreativ ist: »das Genie wird nicht vereinzelt dastehen, sondern alle werden am Genie tätig teilhaben, das Genie wird ein gemeinsames sein«.[13] Die ästhetische Praxis des Zuschauens realisiert sich so zugleich als soziale Praxis der Herstellung einer repräsentativen Öffentlichkeit.
Mit der Erfindung von Radio und Film weitete sich das Spektrum der dem Theater zur Verfügung stehenden Künste. Erwin Piscator setzte sie ein, um den Prozess des Zuschauens wiederum grundlegend zu verändern. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges schuf er mit seinem ›Proletarischen Theater‹ (gegründet 1919), seiner politischen Revue Roter Rummel (1924), seinem ›epischen Theater‹ in der Berliner Volksbühne (1924-1927) sowie in der ›Piscator Bühne‹ im Theater am Nollendorfplatz (ab 1927) ganz neue Theaterästhetiken, die ausdrücklich politischen Zielen dienen sollten – weniger, indem sie die Zuschauenden indoktrinierten, als 288durch eine von ihnen erzwungene grundlegende Veränderung der Wahrnehmungs- und Rezeptionsgewohnheiten: ›Auge‹ und ›Ohr‹ der Zuschauenden sollten nach ca. 300 Jahren mehr oder weniger ähnlichen Funktionierens neu ›eingestellt‹ und damit der ›Prozess der Zivilisation‹ im technischen Zeitalter wesentlich vorangetrieben werden.
Während sich das ›Proletarische Theater‹, die politische Revue und die Inszenierungen an der Volksbühne an ein insofern homogenes Publikum wandten, als es sich hier überwiegend um Arbeiter*innen handelte, die häufig der Kommunistischen Partei oder – wie im Falle der Volksbühne – der Sozialdemokratischen Partei angehörten, war das Publikum der ›Piscator Bühne‹ äußerst heterogen. Es wurde zum einen von den jugendlichen ›Sonderabteilungen‹ der Volksbühne gebildet, denen jährlich fünf Vorstellungen der ›Piscator Bühne‹ garantiert waren; zum anderen bestand es aus großbürgerlichen Schichten, Intellektuellen und Künstler*innen. Auch für dieses Publikum wollte Piscator ausdrücklich ›politisches Theater‹ machen und als ›revolutionärer Marxist‹ Agitation betreiben, um »die gesellschaftliche Diskrepanz zu einem Element der Anklage, des Umsturzes und der Unordnung zu steigern«.[14]
Im Hinblick auf die Unterschiede des Publikums entwickelte Piscator unterschiedliche neue Ästhetiken, die alle einem gemeinsamen grundlegenden Prinzip folgten. Außer den ›traditionellen‹ Künsten setzte er die neuen Medien Radio und Film ein, ebenso neue Techniken wie das Fließband, konstruktivistische Simultangerüste aus dreizölligen Mannesmann-Rohren oder eine Halbkugel auf der Drehbühne, deren Segmente als Projektionsflächen dienten.
Der Bühnenraum sollte entsprechend vor allem zwei Funktionen erfüllen – »eine symbolische und eine praktische«.[15] Er sollte zum einen sichtbar auf einen Grundaspekt des betreffenden Problems hinweisen, ihn sozusagen symbolisch bedeuten, und zum anderen den Einsatz von spezifischer Beleuchtung, von Projektionen und Filmen ermöglichen, einen reibungslosen Wechsel zwischen beziehungsweise ein Nebeneinander von szenischer Darstellung, Film, Projektion gewährleisten sowie einen zügigen Ablauf des gesamten Geschehens.
289Die Konstruktionen – vor allem auf der ›Piscator Bühne‹ – waren nun nicht nur imstande, die gewünschten praktischen und symbolischen Funktionen zu erfüllen. Sie erschienen zugleich auch als Resultat und Sinnbild des technischen Zeitalters, in dem ›Raum‹ und ›Zeit‹ grundsätzlich neuartig erfahren und zueinander in Beziehung gesetzt werden: ›Simultaneität‹ und ›Bewegung‹ hießen die Prinzipien, welche das Verhältnis des Menschen zu Raum und Zeit ebenso wie das Verhältnis von Raum und Zeit zueinander neu strukturierten und organisierten. Piscators Bühnenkonstruktionen funktionierten auf der einen Seite als sich bewegende technische Architektur und in diesem Sinn als dynamisierte, als ›vierdimensionale‹ Räume. Auf der anderen Seite ermöglichten sie den gleichzeitigen und gleichzeitig wahrnehmbaren Vollzug beziehungsweise die gleichzeitige Präsentation von Geschehnissen, die sich in räumlicher und/oder zeitlicher Distanz voneinander ereignen beziehungsweise ereignet haben. Die Bühne fungierte in dieser Hinsicht als vollkommenes Abbild und Sinnbild sowohl der von der Technik ermöglichten und bestimmten modernen Welt als auch der von der Physik eben erst entdeckten ›Raum-Zeit‹. Sie verlangte entsprechend ihren Zuschauenden völlig neue Wahrnehmungsleistungen ab.
In dieser Funktion wurden die Bühnengerüste durch den spezifischen Einsatz des Lichts und vor allem des Films unterstützt und verstärkt. Nicht nur, dass Piscator das Licht verwandte, um die Zuschauenden in ihren Rezeptionsgewohnheiten zu irritieren – wenn beispielsweise zu Beginn von Hoppla, wir leben! (1927) dreimal nacheinander im Zuschauerraum das Licht erlosch und wieder aufhellte –, er machte auch extensiv von allen Möglichkeiten Gebrauch, die einerseits das expressionistische Theater und andererseits Lichtexperimente wie die Reflektorischen Lichtspiele (1922) der Bauhauskünstler Kurt Schwerdtfeger und Ludwig Hirschfeld-Mack eröffnet hatten.
Geradezu als ›Markenzeichen‹ der Piscator’schen Ästhetik stellten Parteigänger*innen wie Gegner*innen immer wieder seine Verwendung des Films heraus. In der Tat ließen sich mit Hilfe des Films eine Reihe diffiziler Probleme, welche die epische Dramaturgie aufwarf, gleichzeitig lösen. So verlangte der Anspruch, komplexe Zusammenhänge anstelle von Einzelschicksalen darzustellen, nach einer neuen Form der Exposition: Die Funktion einer derarti290gen »weltgeschichtlichen Exposition«[16] vermochte der Film hervorragend zu erfüllen. In Hoppla, wir leben! skizzierte der eröffnende Film (Curt Oertel) die historischen Zusammenhänge, in welche die nachfolgende Handlung einzurücken war. In Rasputin (1927) führte ein Film, »der über die geschlossene Kugel« des Bühnenaufbaus »rinnt« (Ernst Heilborn) in die russische Geschichte und den »Untergang des Hauses Romanow« (Herbert Ihering) ein. In Schwejk (1928) wurde das Problem einer angemessenen Exposition mit den originellen Mitteln eines Trickfilms (George Grosz) gelöst, der von den Drehorgelklängen eines tschechischen Volksliedes eingeleitet wurde.
Piscator setzte darüber hinaus häufig Geräusche ein, die spezifische Räume suggerierten. Diese Art der ›Geräuschkulisse‹ ließ im Kaufmann von Berlin (1929) zum Beispiel die Großstadt erfahrbar werden: »Die Trams läuten, die Autos hupen, Musik (sehr eindringlich von Hanns Eisler) gibt den Takt an. Die Straße trampelt, die Straße schreit … der Raum hat seine Rolle: Die Straße gehört dem Verkehr«.[17]
Piscator nutzte auf diese Weise zur Darstellung von Raum und Zeit (Geschehen, Handlung) alle Mittel, die ihm der avancierte Stand der Technik zur Verfügung stellte. Dabei wurde ein ständiger Funktionswechsel vorgenommen, so dass die Zuschauenden sich unablässig zu neuen Reaktionen genötigt sahen. Der Kritiker Monty Jacobs gab in seiner Kritik zu Hoppla, wir leben! zu bedenken: »Ob Aufführungen dieser Art dem Zuschauer eine zu starke körperliche Anspannung zumuten, muß die Zukunft lehren.«[18]
Piscator entwickelte für sein episches Theater keine neue Schauspielkunst: Die Schauspielkunst, wie sie an der Reinhardt-Bühne ausgebildet und gepflegt wurde, ließ sich für die Ziele seines Theaters hervorragend verwenden. Die wesentlich neue Leistung, welche die Schauspieler*innen zu erbringen hatten, bestand darin, ihr Spiel im Hinblick auf die technischen Medien zu ›timen‹. 291Die Darstellung der Schauspieler*innen wurde – sozusagen als eine Art Readymade – in die jeweiligen Kontexte einmontiert. Piscator kombinierte sowohl einzelne theatrale Elemente (wie einen Gesichtsausdruck, ein Requisit) als auch komplexe szenische Vorgänge (wie eine Handlungssequenz, einen längeren Filmabschnitt) nach dem Prinzip der Montage. Sie avancierte zum wichtigsten ästhetischen Mittel, das eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Funktionen zu erfüllen hatte. Stärker noch als die oben beschriebenen Verfahren der Auswahl und Gestaltung der theatralen Mittel verlangte die Montage als dominierendes Verfahren ihrer Verwendung und Kombination den Zuschauenden ganz neue Wahrnehmungs- und Erkenntnisleistungen ab. Die filmische-szenische ›Parataxe‹ musste in eine gedankliche ›Hypotaxe‹ umstrukturiert werden. Diese Leistung musste jeweils sehr schnell erbracht werden, da die einzelnen ›Fertigteile‹ der Inszenierung durchgehend nach dem Prinzip der Montage in flottem Tempo miteinander kombiniert waren.
Es war in der Tat die Ästhetik der Piscator’schen Inszenierungen, insbesondere ihre Aisthetik, die spezifische Wahrnehmungen verlangte, welche die enge Beziehung zwischen dem Ästhetischen und dem Politischen unübersehbar in den Blick brachte.
Wie die drei historischen Beispiele zeigen, treten die verschiedenen, an der Aufführung beteiligten Künste jeweils auf eine andere Art zueinander in ein Verhältnis beziehungsweise in ein je anderes Verhältnis, womit sich zugleich auch eine je besondere Beziehung zwischen den Akteur*innen und den Zuschauenden, zwischen Bühne und Publikum herstellt. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die von Goethe, Wagner oder Piscator – um es bei diesen Beispielen zu belassen – intendierten Wirkungen auf das Publikum sich kaum in jeder Aufführung, bei jedem*r Zuschauenden eingestellt haben werden. In diesem Zusammenhang gilt es zu bedenken, dass die Zuschauenden nicht nur auf die Handlungen der Schauspieler*innen/Sänger*innen/Tänzer*innen beziehungsweise das Geschehen auf der Bühne reagieren, sondern auch auf das Verhalten der anderen Zuschauenden. Bereits Max Herrmann wies ausdrücklich darauf hin, dass »sich ja stets im Publikum Elemente befinden werden, die zu jenem innerlichen Nacherleben der schauspielerischen Leistung nicht recht befähigt sind und die nun durch die allgemeine, sonst so ungeheuer günstige, hier aber ungünstige seelische Ansteckung des Gesamtpublikumskörpers auch die 292Leistung der für das Nacherleben geeigneten Elemente herabsetzen.«[19]
Dieses Phänomen lässt sich auch in Aufführungen beobachten, in denen es nicht um ein »innerliches Nacherleben« geht. Die Zuschauenden erweisen sich – ganz gleich wie sie sich verhalten – immer als ›Mit-Spieler*innen‹. Daher wirkt sich ihr Verhalten sowohl auf andere Zuschauende als auch auf die Akteur*innen aus.
Mit dem Ausdruck ›Ansteckung‹ ist ein Schlüsselbegriff gefallen. Er verweist auf die leibliche Affiziertheit der sich im selben Raum befindlichen Menschen. Es sind keineswegs nur ›Auge‹ und ›Ohr‹, die affiziert werden, sondern auch andere Sinne. Während es in den Freilichtaufführungen die Düfte der umgebenden Natur oder die Gerüche der Stadt sind, die auf die Zuschauenden einwirken, waren es in den Theatergebäuden bis zur Erfindung der Gasbeleuchtung die Gerüche, die qualmende Kerzen und blakende Öllampen verströmten, ebenso wie die Gerüche von Schminke, Puder, Parfüm und Schweiß, die von Akteur*innen wie von Zuschauenden ausgingen. Seit dem Naturalismus werden Gerüche bewusst eingesetzt, um bestimmte Atmosphären zu schaffen – wie der sprichwörtlich gewordene Kohlgeruch, der die Zuschauenden in das Arme-Leute-Milieu hineinzog und sie leiblich mit ihm in Berührung brachte. Seit dieser Zeit verbreiten sich häufig von der Bühne in den Zuschauerraum die unterschiedlichsten Gerüche – nicht nur Essensgerüche –, die in den Leib der Zuschauenden eindringen. Auf diese Eigenart der Gerüche bezieht sich Simmel, wenn er schreibt:
Indem wir etwas riechen, ziehen wir diesen Eindruck oder dieses ausstrahlende Objekt so tief in uns ein, in unser Zentrum, assimilieren es sozusagen durch den vitalen Prozeß des Atmens so eng mit uns, wie es durch keinen andern Sinn einem Objekt gegenüber möglich ist – es sei denn, daß wir es essen. Daß wir die Atmosphäre jemandes riechen, ist die intimste Wahrnehmung seiner, er dringt sozusagen in luftförmiger Gestalt in unser Sinnlich-Innerstes ein.[20]
293Entsprechend stark können Zuschauende durch Gerüche leiblich affiziert werden. Dies gilt insbesondere, da Gerüche, die sich im Raum verbreitet haben, sich nicht wieder einfangen lassen. Sie bleiben lange im Raum hängen und affizieren entsprechend den Prozess des Zuschauens. Sie sind maßgeblich an der Entstehung spezifischer Atmosphären beteiligt, die sich im Raum verbreiten. Ebenfalls ein starkes atmosphärisches Wirkpotenzial vermögen auch Geräusche, Laute, Klänge – und natürlich Musik – zu entfalten. Laute und Geräusche dringen durch das Ohr in den Leib der Zuschauenden ein, der zum Resonanzkörper für sie wird, mit ihnen mitschwingt; bestimmte Geräusche können sogar lokalisierbare körperliche Schmerzen auslösen.
Dieses Wirkpotenzial vermögen die performativen Künste sich zunutze zu machen, wie es ganz prominent seit den 1960er Jahren zu beobachten ist – nun auch im Hinblick auf die Berührung.
Wie Abramovićs eingangs zitierte Performance demonstriert, ist die gegenseitige Berührung von Akteurin und Zuschauenden in der Regel ausgeschlossen. Gleichwohl kam sie zwischen ihr und Ulay zustande und wurde von den umstehenden Zuschauenden als ein besonderes Ereignis, in dem Öffentliches privat und das Private öffentlich wurde, beklatscht. Zugleich wurde mit der ›Szene‹ die prinzipielle Nähe zwischen Blick und Berührung offenbar, wie sie Merleau-Ponty in seiner unvollendet gebliebenen, posthum erschienenen Schrift Der Chiasmus verdeutlicht:
Der Blick […] hüllt die sichtbaren Dinge ein, er tastet sie ab und vermählt sich mit ihnen. […] Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, daß jedes Sichtbare aus dem Berührbaren geschnitzt ist, daß jedes taktile Sein gewissermaßen der Sichtbarkeit zugedacht ist und daß es Übergreifen und Überschreiten nicht nur zwischen dem Berührten und dem Berührenden gibt, sondern auch zwischen dem Berührbaren und dem Sichtbaren, das in das Berührbare eingebettet ist, ebenso wie umgekehrt dieses selbst kein Nichts an Sichtbarkeit, nicht ohne visuelle Existenz ist. Derselbe Leib sieht und berührt, und deshalb gehören Sichtbares und Berührbares derselben Welt an.[21]
Nicht nur die Berührung stellt Nähe und Intimität her, sondern ebenso der Blick, der zwischen zwei Menschen gewechselt wird. Es 294ist der Blick, der den Wunsch nach Berührung auslöst und den*die Angeblickte*n – ihn*sie abtastend – berührt. Insofern lässt sich der Blickwechsel, zu dem Abramović einlud, als solcher als eine intime Szene verstehen.
Bereits in früheren Performances hatte Abramović mit der Berührung von/durch Zuschauende experimentiert. In Imponderabilia (Galleria Communale d’Arte Moderna, Bologna 1977) zum Beispiel hatte sie zusammen mit Ulay Berührungen von Zuschauenden provoziert. Abramović und Ulay standen sich nackt an beiden Seiten einer Türöffnung in der Galerie gegenüber. Der Raum zwischen ihnen war so schmal, dass jede*r, der*die die Tür passieren wollte, entweder Abramović oder Ulay berühren musste. In der Regel entschieden sich Frauen dafür, Abramović zu berühren, während Männer sich meist in direktem Körperkontakt zu Ulay durch die Öffnung zwängten. Die Augen der Passant*innen blieben gesenkt, jeglicher Blickkontakt mit den Performer*innen wurde vermieden. Beim Überschreiten der Schwelle wurden sie von anderen Museumsbesucher*innen beobachtet.
In gewissem Sinne lässt sich The Artist Is Present als ein Gegenmodell zu Imponderabilia verstehen. Während dort die Berührungen, die sich nicht vermeiden ließen, nicht imstande waren, Intimität zwischen Berührer*in und Berührtem*r herzustellen, lässt sich der Blickwechsel in The Artist Is Present in der Tat als Herstellung von Intimität werten. Insofern machte die Begegnung mit Ulay, in der dem Blick die Berührung folgte, letztlich nur das Potenzial an Intimität, die dem Blickwechsel innewohnt, explizit.
In beiden Performances – Imponderabilia (1977) und The Artist Is Present (2010) – stand die Verteilung und die Verhandlung der ›Rollen‹ von Akteur*in und Zuschauenden als Spiel mit den Blicken im Zentrum. In Imponderabilia wurden Abramović und Ulay von den sich durch die Tür zwängenden Besucher*innen nicht angeblickt, sondern berührt, während andere Museumsbesucher*innen den Blick sowohl auf die beiden Künstler*innen als auch auf die zwischen ihnen die Tür passierenden Zuschauenden richteten. In The Artist Is Present wurde jeweils die*derjenige Zuschauende zur*m Akteur*in, die*der den Platz Abramović gegenüber einnahm und sie anblickte, während die anderen im Raum versammelten Personen ihre Blicke auf beide richteten. Nicht der Wechsel der Rolle von Zuschauenden zu Akteur*in, der in den letzten Jahr295zehnten in unterschiedlichen Theaterformen erprobt wird,[22] ist es, der in diesen beiden Fällen zur Reflexion einlädt. Vielmehr geht es um die Beziehung von Blick und Berührung – eine Berührung, die den Blick meidet oder verweigert, und ein Blick, der wie eine Berührung wirkt.
Mit beiden Performances wurde auf die spezifische Funktions- und Wirkungsweise der Sinne – hier vor allem des Seh- und des Tastsinnes – in ästhetischen und sozialen Kontexten reflektiert. Während in der Regel der Sehsinn als der auf Distanz ausgerichtete Sinn und der Tastsinn als Nähe erfordernder Sinn gilt, wurde diese Regel in und von den Performances geprüft und in Frage gestellt. In Imponderabilia war es die Berührung, die eine gewisse Distanz – Vermeidung jeglicher Blickkontakte – herstellte, während in The Artist Is Present es der Blick war, welcher Nähe schuf. Als ästhetische Praktiken befragten hier Berührung und Blick ihre vorherrschenden Funktions- und Wirkungsweisen als soziale Praktiken und verkehrten sie in gewisser Weise in ihr Gegenteil. Damit richteten sie zugleich den Blick auf das Potenzial des jeweiligen Sinnes, das sich auch in ihnen als sozialen Praktiken zu entfalten vermag.
Beide Performances ließen so die Labilität der Grenzen zwischen dem Ästhetischen und dem Sozialen, zwischen Kunst und Nichtkunst in den performativen Künsten erfahrbar werden. Dem Blick, den Menschen aufeinander richten, wohnt stets eine soziale Komponente inne. Es erscheint daher auch kaum sinnvoll, in Aufführungen immer klar zwischen ästhetischem und sozialem Verhalten unterscheiden zu wollen. Beide vermögen eine besondere Symbiose miteinander einzugehen, die den Verlauf einer Aufführung entscheidend mitbestimmt. Ein Gemälde, eine Skulptur oder eine Installation in einem Museum werden sich in ihrer Materialität nicht verändern, wenn Museumsbesucher*innen vor ihnen in Staunen, Tränen, Andacht oder Gelächter ausbrechen. Der weitere Fortgang einer Aufführung wird von solch Zuschauerreaktionen jedoch tangiert – teilweise sogar erheblich.
Aufgrund der autopoietischen Feedbackschleife zwischen Akteur*innen und Zuschauenden ist es daher kaum möglich – und daher auch kaum sinnvoll –, in einer Aufführung ästhetisches und soziales Verhalten klar voneinander trennen zu wollen. Beide gehen 296vielmehr eine produktive Symbiose miteinander ein. Es sind gerade Aufführungen, die nicht in Räumen der Kunst stattfinden – wie die oben genannten Aktionen von Schlingensief, Rimini Protokoll oder dem Zentrum für politische Schönheit –, welche diese Symbiose immer wieder in Frage stellen oder daraufhin testen, ob in ihr die ästhetische oder die soziale Dimension überwiegt. Eine klare Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst lässt sich in diesem Sinne nicht ziehen.