Wo es darum geht, das Verhältnis von der Kunst zu den Künsten näher zu bestimmen – also das von abstraktem, generischem Singular zu den vielfältigen Instanziierungen der Kunst im Plural –, ist die Frage nach der Kunsthaftigkeit eines singulären Kunstwerks vorab zu beantworten. Denn ohne eine Anhäufung singulärer Kunstwerke gäbe es überhaupt keine Künste im Plural. Dieser Beitrag konzentriert sich daher auf die Bedingungen, die eine kunsthafte Existenzform zu der machen, die sie ist. Die These, für die in diesem Aufsatz argumentiert wird, lautet, dass eine vermittelnde Instanz zusätzlich mitzubedenken ist, das heißt ein Medium, das die genuine Kunstambition kunsthafter Existenzen allererst mit Realität ausstattet, indem es diese öffentlich beglaubigt und sie auch in Inszenierungen und Räume übersetzt, die perzeptiv-diskursive Zugänge zum Kunstwillen einer Arbeit eröffnen. Eine solche Vermittlungs- und Übersetzungsinstanz kann dabei nicht selbst Kunst sein oder zu den Künsten zählen, weil ihr dann die Exteriorität fehlen würde, die ihre mediale Rolle in dem noch näher zu bestimmenden Verhältnis einer kunsthaften Existenz zu ihrer eigenen Kunsthaftigkeit ausmacht. Untersucht wird dann konkret, inwieweit Kunstwerke auf die mediatisierende Komplizenschaft speziell von Kunstmuseen verwiesen sind.
Wenn es zutrifft, dass Kunstwerke nicht nur irgendwie dinghaft vorhanden sind, sondern im engeren Sinne des Wortes existieren, das heißt aus sich heraustreten und sich zeigen, so ist ihnen offenbar eine Entwicklungs- und Zeitstruktur eingeschrieben, die sie werden lässt, was sie sind: eben Werke der Kunst. Und so gehört es schon zu ihrer Entstehung, eine mehr oder weniger dramaturgische Abfolge in der Zeit zu durchlaufen. Jedes Kunstwerk gelangt nur Schritt für Schritt zur Existenz: Es wird entworfen, dann hergestellt, danach irgendwo platziert (räumlich gelagert, digital gespeichert) und schließlich an mehr oder weniger öffentliche Räume versetzt (verkauft, ausgestellt, ausgeliehen). Einmal in die Welt gesetzt, ist das Schicksal der Existenz von Kunstwerken keineswegs besiegelt. Ab dann gilt es, ihren immanenten Kunstanspruch in einem vir465tuell sie umgebenden Geltungshorizont ästhetischer Wertsetzungen auch dauerhaft und kompetitiv zu behaupten. Hier kommt ein weiterer Aspekt der zeitlichen Erstreckung von Kunstwerken ins Spiel, der auf ihre (meist nichtsprachlich verfasste) diskursive Modalität verweist: Wenn etwas als Werk der Kunst zu gelten beansprucht, so muss es exemplarisch, wiederholbar und bestreitbar qua Erscheinung zur Artikulation bringen, was Kunst überhaupt sein will.
Die einzelnen Entwicklungsschritte im Prozess der Kunstwerdung sind dem finalen Kunstwerk nicht abzulesen. Denn sobald ein Kunstwerk seine finale Erscheinungsgestalt erreicht, kommt es zum Umschlag der bis dahin dominant narrativ-linearen Entfaltungslogik in eine Logik der Emergenz.[1] Als fertiggestelltes Kunstwerk übersteigt es in seiner Erscheinung seine materiellen plus konzeptionellen Komponenten, aus denen es sich zusammensetzt. Diese emergente Intransparenz stattet jedes Kunstwerk mit einem Geheimnis aus. Eine Möglichkeit zur Erforschung dieses Geheimnisses besteht unter anderem darin, seine Herstellungsgeschichte zu erkunden. In genealogischer Perspektive gelangt man dann zu Fragen danach, welche konkreten Entwicklungsschritte, Veränderungen und Entscheidungen zu seiner Kunstwerkwerdung hinzugehörten und welche notwendige oder eher äußerliche und verzichtbare waren. Die ontologische Frage nach dem Was der Kunst wird dann versuchsweise über die Beantwortung von Fragen nach dem Wann und Wie der Kunstwerdung einer künstlerischen Arbeit angegangen.
Nun gibt es Fälle, in denen etwas, das zunächst nicht als Kunst hergestellt wurde, dennoch als Kunst gehandelt wird, wie zum Beispiel Fälschungen von Wolfgang Beltracchi oder umgewidmete Gegenstände wie Readymades.[2] Diese und andere Fälle scheinen auf 466unterschiedliche Weise darzulegen, dass etwas unter bestimmten Umständen zu Kunst erklärt werden kann. Wenn solche Erklärungen stets alles wären, was die Kunsthaftigkeit eines Kunstwerks hinreichend konstituierte, wäre jedes Kunstwerk nichts als der Effekt einer performativen Taufgeste von dafür gesellschaftlich autorisierten Instanzen (wie Kurator*innen, Museumsdirektor*innen, Kritiker*innen). Kunst wäre dann allerdings primär ein soziales Faktum. Und mit dieser Antwort wäre auch das philosophische Problem der Frage nach der Kunsthaftigkeit der Künste handstreichartig erledigt.
Gegenüber dieser meines Erachtens zu oberflächlichen, externalistischen Auffassung von Kunst – die hier nicht weiterverfolgt werden soll – besteht eine internalistische Alternativauffassung darin, die Kunsthaftigkeit von Kunstwerken in etwas zu suchen, das ihnen selbst innewohnt. Kandidaten dafür gibt es in der Geschichte der Ästhetik viele: zum Beispiel Geist, ästhetische Wahrheit, Kraft, Schein. Fokussiert man auf die zeitliche Erstreckung kunsthafter Existenzen, wie hier, so ist ihnen vor allem ein zeitantreibendes Moment zuzuerkennen, eines, das man auch als ihren Willen zur Kunst bezeichnen könnte. Ein wie immer gearteter Wille zur Kunst würde auch erklären, weshalb der Herstellungsprozess eines Kunstwerks nicht dauernd an seiner Zweckfreiheit scheitert und abbricht. Unabhängig von aller Künstlerintention kommt Kunstwerken ein geheimer Ungrund zu, der die stets automatisch mitlaufende, virtuelle Seite seiner ergebnisoffenen Entstehung im Prozess seines Werdens markiert. Diesen Willen zur Kunst als ihren Ungrund zu charakterisieren, entspricht zudem dem Sachverhalt, dass sich nie ein definitiver Ursprung angeben lässt, auf den das Kunsthafte eines Werks zurückführbar wäre. Kunstwerdungsprozesse sind generative Geschehen, in denen die vermeintliche Nullstelle, aus der sich je ein Kunstwerk herauspräpariert, selbst wechselnden Besetzungen unterzogen werden kann.[3]
An diesem Punkt ist ein Gedanke von Wolfgang Iser zur Emergenzlogik aufzunehmen, der eine solche explizit auf die Bereiche der Kunst und Literatur bezieht.[4] Er verweist darauf, dass die je resultierende Ordnung des Zusammenspiels der heterogenen Komponenten eines Kunstwerks (wie Materialbeschaffenheit, Be467arbeitungsgrad und -weise, investierte Zeit, Genrebezug, Raumbedingungen, Diskursrahmen, Wissen) auf die Komponenten verändernd zurückwirkt, aus denen es besteht. Das fertig gestaltete Kunstwerk wirft ein multiperspektivisches Licht auf seine Vergangenheit und Konstitutionsprozesse zurück, die es damit veruneindeutigt. Und es wirft ein entsprechendes Licht voraus: auf die wechselnden Bezugsrahmen, denen es sich zukünftig einzufügen bereit ist. Daher sei, so Iser, in Bezug auf das Verhältnis der Kunstwerke zu ihren Konstituenten von einer »rückläufigen Kausalität« zu sprechen, welche die hervorbringenden und hervorgebrachten Komponenten eines Kunstwerks tendenziell gegeneinander austauschbar macht.[5] Nicht zuletzt deshalb ist die Restauration moderner Kunst so eine große Herausforderung, wie etwa die der Arbeiten von Joseph Beuys, die sich im Hamburger Bahnhof finden. Denn auf ihre Verfallsgeschichte bezogen muss ständig neu entschieden werden, welche Komponenten der Arbeiten im Lichte des je finalisierten Kunstwerks bewahrt und rekonstruiert werden sollen und worauf man verzichten kann, um das Kunstwerk über die Zeit als Ganzes in der Existenz zu erhalten.
Der zeitlichen Erstreckung von Kunstwerdungsprozessen wird im Rahmen von Theorien ästhetischer Erfahrung eine weitere Dimension hinzugefügt, insofern sie auf die Abhängigkeit der kunstwerkhaften Existenzen von der Ko-Konstitution in der ästhetischen Rezeption/Erfahrung aufmerksam gemacht haben.[6] Die Fertigstellung eines Kunstwerks muss demnach so gelingen, dass es sich weiterentwickeln kann. Denn sonst wäre jedes Kunstwerk ab Geburt tot. Die Fertigstellung eines Kunstwerks ist daher nicht mit einem abschließenden Punkt vergleichbar, sondern eher mit einem (weiteren) funktionalen Nullpunkt, von dem aus seine in die Zukunft ausgreifende Selbstreproduktion anheben kann. Auch dieser 468Aspekt der potenziell ewigkeitsorientierten Zeitlichkeit von Kunstwerken zeigt sich auf der Ebene ihrer ästhetischen Wahrnehmung als der ihrer potenziellen Unerschöpflichkeit. Würden Kunstwerke bestimmten und noch dazu externen Ziel- und Zwecksetzungen (zum Beispiel von Marktkalkül oder Geschmackskonformismus) unterstellt werden, so würde dies sie beschränken und ihre wesentliche Unerschöpflichkeit nicht zustande kommen.
Ziel jeder Kunstwerkproduktion ist es, für ihr Resultat eine gerechtfertigte Zugehörigkeit zur Geschichte und Rahmung von Kunst zu erlangen. In seiner voluntativen Existenzweise fragt jedes Kunstwerk zumindest implizit nach dem jeweils herrschenden Kunststatus seiner Zeit, der historisch und kulturell variiert. Der künstlerisch materialisierten Vergangenheit fügen neue Werke neue Entwicklungsperspektiven hinzu. Wenn etwa, um ein beliebiges Beispiel aus der Gegenwartskunst zu nennen, der Künstler Julius von Bismarck mit CT-Scannern, Röntgenbildern, elektrischen Geräten, Sensoren sowie digitalen Modellbildungen und Kameras Natur vielfach unter technisch-experimentelle Laborbedingungen versetzt, um die aus den Experimenten in situ resultierenden Veränderungen in Bildern oder elektrischen Skulpturen in Galerien und Museen zu dokumentieren und auszustellen, bringt er etwas nie Gesehenes zur Anschauung – nämlich Naturtechnikhybride – die sich zur Geschichte der Naturdarstellung und -zerstörung in der Kunst auf singuläre Weise kritisch-ästhetisch verhalten.[7]
Das Echo der materialisierten Antworten auf die Frage danach, was Kunst war, ist und werden kann, affiziert jedes neu dem Existenzbereich der Kunst hinzutretende Werk. Die Affizierbarkeit von Kunstwerken speziell durch andere Kunstwerke ist daher ebenfalls nichts ihnen Nebensächliches. Es situiert sie vielmehr im virtuellen Raum der Kunst. Ob jedoch ihre Bewerbung auf eine Mitgliedschaft im historischen Raum der Kunst gelingt und überhaupt registriert wird, ist kontingent. An diesem Punkt müssen andere Faktoren ins Spiel kommen, an die sich die Vermittlung, Speicherung und Verbreitung des kunstwerkimmanenten Willens zur Kunst delegieren lässt und die ihn idealerweise bekräftigen.
Wie verhält es sich mit erfolgloser Kunst? Das ist ein philoso469phisch durchaus interessanter Sachverhalt. Denn auch erfolgloser Kunst will man nicht per se den Kunststatus deshalb absprechen, weil ihr empirisch öffentliche Anerkennung fehlt. Daher ist zu überlegen, ob man nicht neben den unterschiedlichen Kunstgattungen und -formaten auch unterschiedliche Grade und Intensitäten an Kunsthaftigkeit einräumen müsste. Die Gradbeimessung der Kunsthaftigkeit zu einem Kunstwerk würde dann unter anderem davon abhängen, ob ein weiterer Schritt in seiner Existenzwerdung gelingt: nämlich sich so konkret öffentlich in Szene zu setzen oder setzen zu lassen, dass es auch im gesellschaftlich-imaginären Raum der Kunstinstitutionen zur faktisch verstärkenden Resonanz des voluntativen Existenzgrades eines Kunstwerks kommt. Auch dieser Schritt behält eine passive Seite bei, weil nie gänzlich kontrollierbar ist, ob die gewollte Strahlkraft einer Arbeit auch tatsächlich öffentlich aufgenommen und verstärkt wird oder nicht. So wenig Kunst per se keine ist, weil sie erfolglos ist, so wenig ist Kunst (gute) Kunst, weil sie erfolgreich ist.
Dass etwas als Kunst offiziell gehandelt oder inszeniert wird, was gar keine ist, wird dauernd im Blick auf die modische Wechselhaftigkeit des Kunstmarktes und der spektakelhaften Ausstellungen beklagt. Dennoch gehört es zur Entwicklung und Existenzweise künstlerischer Arbeiten, dass sie ihre Produktionsstätten und ihre Urheber*innen verlassen, um im Licht einer anonymen Öffentlichkeit ihre bis dahin nur latente und implizite Vergleichbarkeit mit anderen Kunstwerken manifest werden zu lassen. Allein sich dies klarzumachen, nämlich dass Kunstwerke in ihrer Existenz geschwächt oder gestärkt werden können, sobald sie sich der Öffentlichkeit stellen, indiziert ihren merkwürdig unsicheren Realitätsstatus. Es sind die spartenspezifisch unterscheidbaren Ausstellungs- und Aufführungsorte, die an diesem Punkt der Überlegungen als weichenstellende Einflussgrößen ins Spiel kommen. Sie vermögen es, den einzelnen Kunstwerken eine entscheidende Dimension ihres Kunstseins hinzuzufügen oder zu verweigern: Dort geht es um die (Neu-)Vermessung eines Kunstwerkes am Maßstab eines konkreten, nicht mehr virtuellen sensus communis des 470je spartenspezifischen Kanons, der mit jedem institutionalisierten Ort des Auftretens von Kunst verbunden ist.
Neben Galerien und Festivals fungiert speziell das Kunstmuseum bis heute als eine machtvolle Institution der Vermittlung und Konstellierung von Kunstwerken sowie der Vermittlung von Werk und Rezipient*in und nicht zuletzt der von Kunstwerk und Leben. Dem Kunstmuseum kommt damit die wichtige Aufgabe zu, als mehrvektorielles Medium der Verhandlung der Kunsthaftigkeit individueller Arbeiten/Werke zu fungieren, indem es diese in eine kommunikative und kulturtechnische Infrastruktur einbettet, die sie nicht von sich aus hervorbringen können, die sie aber zur objektivierenden Bekräftigung ihres Kunstseinwollens fordern.[8]
Speziell die Beziehung zwischen institutionell ausgestelltem oder aufgeführtem Kunstwerk und Publikum ist dabei immer auch kritisch reflektiert worden. In der kunstskeptischen Tradition seit Platon wird bekanntlich der Verdacht in den Raum gestellt, dass der Schein der (meisten) Künste ihre Rezipient*innen letztlich dazu verführt, der Unwahrheit zu folgen. Auf der anderen Seite, und darauf wird zurückzukommen sein, besteht die Befürchtung, dass die Kunst für anthropozentrische Interessen wie Vergnügen oder Selbstperfektionierung institutionell missbraucht und so ihrer Zweckfreiheit beraubt wird. Aufgrund solcher Problemlagen, noch dazu vor dem Hintergrund der durchkapitalisierten Kulturindustrie, hat Theodor W. Adorno in seiner ästhetischen Theorie konsequenterweise die Überzeugung vertreten, dass Kunstwerke, die den Namen verdienen, eigentlich gar keine kommunikativen Anknüpfungsmöglichkeiten aufweisen sollten. Seiner radikalen These zufolge ist Askese zu üben, kommt Kunst nur dort auf unkorrupte Weise zu sich, wo sie sich »entkunste« und sich jeglichem kommunikativen Konsens des gesellschaftlichen Lebens ebenso entziehe wie das L’art pour l’art. Dieser Gedanke der Negativität der Kunst zieht sich bis in heutige Gegenwartskunsttheorien und erschwert nicht zuletzt die Frage nach angemessenen Kunstvermittlungskonzepten.[9] Es ist dieses Konfliktpotenzial rund um die Frage nach 471einer angemessenen Rahmung der Kunst und der Vermittlung von Kunst und Öffentlichkeit, die die mediale Rolle des Museums tangiert.
Wenn das Kunstmuseum hier also als ein kunstverstärkendes Medium thematisch wird, so lässt sich mit dem frühen Medientheoretiker McLuhan, der seinerseits von museumstheoretischen Schriften des Architekturtheoretikers Sigfried Giedion beeinflusst war,[10] darauf verweisen, dass sich die Eigenarten eines Mediums auf das durch es zu Vermittelnde auswirken. Ebendies besagt die bekannte McLuhan’sche Formel, wonach stets das Medium selbst die Message ist. Auf Museen und Kunstwerke bezogen würde das bedeuten: Das schiere Faktum des Ausgestelltwerdens eines Kunstwerks macht etwas mit ihm, etwas, das seine Existenzweise verändert: Es wird zu Museumskunst. Museumskunst hebt sich als erfolgreiche Kunst von erfolgloser Kunst ab, die in den Produktionsstätten verbleibt oder in wenig öffentlichkeitswirksamen Räumen zur Ausstellung gelangt. Das Kunstmuseum hierarchisiert, indem es kanonisiert und Maßstäbe für Ein- und Ausschlüsse festlegt, für das, was vermeintlich als (zeitgenössisch) repräsentative Kunst im Filter ihrer Sammlungen und Ausstellungen gelten soll.
Wenn ein Kunstmuseum seriös arbeitet, weiß es um seinen Einfluss und verhält sich darin selbstkritisch. Ein Teil dieser musealen Selbstkritik besteht dann darin, sich daran messen zu lassen, ob die jeweilige Selektion und Präsentation von Kunstwerken deren Eigenwert und voluntativem Existenzgrund gerecht werden. Denn würde ein Kunstmuseum gänzlich unabhängig davon, was Kunstwerke zur Artikulation bringen und fordern, wählen, was es ausstellt, wären alle Kunstwerke ohne Verlust im Museum gegeneinander austauschbar. Sie verlören jedoch damit genau das, was ihre ausstellungswürdige Einzigartigkeit und Vergleichbarkeit in künstlerischer Hinsicht allererst ausmacht. Die Auswahl museumsreifer Kunstwerke für Sammlung oder Ausstellung ist daher stets begründungs- und rechtfertigungsbedürftig. Und so bleiben auch Museumsausstellung und Kuration auf ihre Vermittlungsrolle zurückverwiesen, der zufolge sie nur verstärken können und sollen, was an Kunsthaftigkeit eines Kunstwerks virtuell schon da ist.
472Dass sich im Rücken auch gut gemeinter Museumskonzepte ein institutionelles Unbewusstes verselbständigen kann, das zu kontraintentionalen Effekten führt, ist ein Problem, das seit der Gründung der Museen ihre Rechtfertigungsnarrative durchzieht (nicht nur die der Kunstmuseen). Wird die Vermittlungsform der Museen dann selbst explizit Thema, so kippt ihre transparente Seite als Medium ins Opake. Auf dieser Ebene wird unter anderem verhandelt, wie Ausstellungen so gemacht werden können, dass sie die Kunsthaftigkeit der Kunst nicht zum Verschwinden bringen, etwa hinter hyperdidaktischen Vermittlungsangeboten, Edutainments oder spektakulären Architekturen. Ohne diese Diskussionen hier angemessen abbilden zu können, seien einige Merkmale und Motive des musealen Dispositivs aufgerufen, bevor auf die Frage der medialen Rolle des Kunstmuseums für die Bestimmung des Verhältnisses von kunsthafter Existenz und Kunsthaftigkeit zurückzukommen sein wird.
Seit den 1970er Jahren wachsen Museumswissenschaften und curational studies an, die sich Fragen der Legitimation von Museen und Sammlungen zunehmend auch unter gender- und machtpolitischen sowie postkolonialen Gesichtspunkten stellen, wobei sie die wechselhafte Geschichte und Funktionsbestimmung der unterschiedlichen Museumsgattungen explizit reflektieren und insgesamt nach neuen demokratischen Möglichkeiten der Gestaltung suchen. Während in den geschichtlich frühen Sammlungen, Kabinetten, Schatz- und Wunderkammern ein gleichwertiges Nebeneinander von Kunst,- Natur- und Technikdingen dominierte, beginnt mit der Institutionalisierung der Museen in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts eine Abspaltung von Natur- und Kunstmuseen. Nach der weitgehenden Enteignung von Adel und Kirche im Zuge der Französischen Revolution geht im Jahre 1793 erstmalig die königliche Kunstsammlung in Paris in das Eigentum der Nation über, wobei der ursprüngliche Königspalast zum zentralen Kunstmuseum ausgebaut wird – der Pariser Louvre birgt bald die größte Kunstsammlung Europas in sich. Ab 1796, so führt es die Museumstheoretikerin Anke te Heesen aus, setzt sich im Lou473vre eine Ordnung der Bilder nach Schulen durch. »Dabei handelte es sich um eine historische Unterrichtung, die in der sukzessiven und chronologischen Hängung der Bilder nicht zuletzt das politische Argument der höchsten Vervollkommnung der historischen Entwicklung in der Gegenwart und der Revolution sah und diese räumlich zu verwirklichen wusste.«[11]
In funktionaler und räumlicher Hinsicht differenziert sich das Museum weiter aus und unterscheidet zwischen Depot und Sammlung auf der einen Seite und Schauausstellung auf der anderen. Von nun an sind die Aufgaben des Museums entsprechend gespalten in: Sammeln, Bewahren und Forschen einerseits und in die didaktisch-unterhaltsame Inszenierung der Werke im Namen der Wissensvermittlung, Publikumserziehung und Unterhaltung andererseits.
Die vormals privaten Sammlungen, die nur für Expert*innen und Eliten zugänglich waren, werden nun auch an Laien und Kinder adressiert. Mit der anonymen Adressierung, so bringt es te Heesen auf den Punkt, gehe im rückwirkenden Effekt jedoch auch eine Anonymisierung der Adressat*innen einher. Hätte Goethe noch in der Schrift »Der Sammler und die Seinigen« (1788) von der Sammlung als Physiognomie der sie besitzenden Personen gesprochen, so stellt sich ihr zufolge mit der neuen musealen Präferenz für abstrakt-taxonomische Einordnungen und didaktische Anordnungen der Exponate in Epochen und Schulen eine entpersonalisierende Präsentationsästhetik und Ausstellungslogik in den neuen Museen ein. Neben die Bemühungen um Demokratisierung und Massenbildung, die mit sich brachten, dass Museen erstmals einem zahlenden und standesübergreifenden Publikum zu feststehenden Öffnungszeiten Zutritt zu vormals arkanen Dingen verschaffen, tritt eine deutlich nationalstaatliche Verankerung und Zentralisierung der Sammlungen. Wer die Kunst und Beutekunst im Louvre betrachtete, sollte sich zugleich mit Napoleons Siegen und Frankreichs Geschichte identifizieren und zu begeisterten Staatsbürger*innen werden.
Mit dem Aufstieg der Museen ist zudem ein Paradigmenwechsel in der Wissensbildung verbunden. Die Bildlichkeit verliert ihren sekundären Status gegenüber dem schriftbasierten Bücherwissen; sinnliche Anschauung wird als erkenntnisfähiger Zugang zur Welt 474nobilitiert, immersive Adressierungsstile setzen auf die affektive Involvierung des Publikums in ihren Schauanordnungen (etwa in Form von Dioramen), die zunehmend selbst ästhetische Mittel verwenden, um zu bilden. Auch an diesem Punkt erweist sich das Museum als ein wirksames und hervorbringendes Medium im Sinne McLuhans: Mithilfe der neuen musealen Adressierungsgesten wird eine bürgerliche Öffentlichkeit nicht nur angesprochen, so als hätte es sie bereits vorab gegeben, sondern allererst hervorgebracht.
Anders als es die zeitgleich neu gegründeten Naturkundemuseen handhabten, die ihre musealen Sammlungen dicht an Forschung und Lehre der Universitäten koppelten, spalteten sich die Kunstmuseen von der Ausbildung der Künstler*innen in den Akademien und von diesen selbst ab. In Berlin wurde 1830 auf Karl Friedrich Schinkels Betreiben hin das neu zu gründende Kunstmuseum als Altes Museum in zentraler Lage, gegenüber dem Schloss, in einem sakralen Gebäude errichtet.[12] Unter der Leitung einer vom König eingesetzten Kommission, der Wilhelm von Humboldt vorstand, wurde die Einrichtung des Museums und die Auswahl der Kunstwerke beraten und vorgenommen. Nach Humboldts Berichten sollten die Begriffe Galerie und Museum ab jetzt austauschbar werden und eine Institution entstehen, die ohne Vorbild ist. Er schreibt:
Von Staaten gemachte Sammlungen können nicht anders als durch Erwerbungen großer Privatsammlungen den Grad der Vollständigkeit gewinnen, von welchem aus man durch einzelnen Kauf weiter voranschreiten kann. […] Der Zweck des Museums ist die Beförderung der Kunst, die Verbreitung des Geschmacks an derselben und die Gewährung ihres Genusses. Wenn aber von Kunst die Rede ist, so muss man an erster Stelle an die antike Skulptur und die Malerei in allen ihren Schulen und Epochen denken.[13]
Die kontemplative Versenkung in die eurozentrisch kanonisierte Kunst an einem abgezirkelten Ort soll nun auch das aufstrebende Staatsbürgertum erlernen, das damit zugleich eine neue Kompetenz der selbstbildenden Beschäftigung erwirbt, die kompensatorisch zur Last des Arbeitslebens steht. Das Kunstmuseum wird so auch zum Ort des Privatvergnügens. Die Ausrichtung der Schauanordnungen auf ein Massenpublikum tritt zur ursprünglich wis475senschaftlich-forschenden Beschäftigung mit den Sammlungen in Spannung. Ebenfalls im 19.Jahrhundert kommen die Weltausstellungen und Messen auf, die die Massen anzuziehen vermögen und einen spektakulären Ausstellungsmodus instituieren, der verkaufsträchtig ist. Diese wettbewerbsorientierten Großausstellungen wirken nach der Einschätzung der Museolog*innen auf die Museen so zurück, dass der Hiatus zwischen Sammeln und Ausstellen in ihnen immer größer wird und die Tendenz zu spektakulären Sonder-, Wander- und Wechselausstellungen in nahezu allen Museen Konjunktur hat, die bis heute nicht abreißt. Dass diese Entwicklung der kommerziellen Entgrenzung der Museen wiederum Spektakelkritiken auf sich zieht, erklärt sich wohl von selbst. Das in Zusammenarbeit mit der UNESCO seit 1946 bestehende International Council of Museums legt nicht umsonst international verbindliche ethische Richtlinien für den Umgang mit Museen fest und hat zuletzt im Jahre 2010 folgende Definition von Museum ausgegeben: »Ein Museum ist eine gemeinnützige, auf Dauer angelegte, der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung im Dienste der Gesellschaft und ihrer Entwicklung, die zum Zwecke des Studiums, der Bildung und des Erlebens materielle und immaterielle Zeugnisse von Menschen und ihrer Umwelt beschafft, bewahrt, erforscht, bekannt macht und ausstellt.«[14]
Neben der aktualisierenden Exponierung von Dingen ist die Bewahrung des kulturellen Erbes unter nichtkommerziellen Bedingungen wichtiger Bestandteil von Museumsarbeit generell. Die kollektive Erinnerungsarbeit anhand von zu bewahrenden Kunstwerken und Kulturgütern zu unterstützen, gehört traditionell zu den Kernaufgaben eines jeden Museums. Nicht umsonst stammt das Wort »Museum« etymologisch von griech. Museion, der Heiligen Stätte der Musen, die zugleich die Schutzgötter der Künste sind und von denen Hesiod in seiner Theogonie berichtet, sie seien den beiden olympischen Göttern Zeus und Mnemosyne – der Göttin der Erinnerung – entsprungen.
Die zu sammelnden wie neu präsentierten Dinge werden sowohl im Falle der Natur- und Technikmuseen wie im Falle der Kunstmuseen ihrer ursprünglichen Kontexte entzogen – im Falle des Kunstwerks etwa der Werkstatt, dem Atelier, dem Studio –, um im artifiziellen Ausstellungsraum des Museums die Funktion des Exponats oder der Museumskunst übernehmen zu können. Der musealen Exponierung von Dingen ist also ein doppelter Prozess der De- und Rekontextualisierung eingeschrieben, der sie transformiert. Dem Museumshistoriker Christoph Pomian zufolge werden in diesem doppelten Transformationsprozess die Dinge im Museum zu materiellen Bedeutungsträgern, zu sogenannten »Semiophoren«:
Als Semiophoren sind unsere Gefäße Mitglieder einer großen Familie von Gegenständen, die sich zusammensetzt aus Gemälden, Zeichnungen, Drucken, Skulpturen, Manuskripten und Druckerzeugnissen, Gewichten und Maßen, Geld, verzierten Gegenständen (Utensilien, Werkzeuge, Waffen, Gebäude, Kleider); auch der menschliche Körper gehört dazu, wenn er bemalt, tätowiert, frisiert oder rituell verstümmelt ist. Alle Semiophoren sind zweiseitige Gegenstände: Sie weisen einen materiellen und einen semiotischen Aspekt auf. Der materielle Aspekt eines Zeichenträgers besteht wie der jedes Gegenstandes in der Gesamtheit seiner physischen und äußeren Merkmale: Sein Ausgangsmaterial mit all seinen Eigenschaften, doch auch die Form, die er erhalten hat, da sie seine physischen Beziehungen zu anderen Gegenständen bestimmt. […] Was den semiotischen Aspekt eines Zeichenträgers betrifft, so sind es im wesentlichen seine sichtbaren Merkmale, in denen man eine Verweisung auf etwas sehen kann, das augenblicklich nicht da ist, möglicherweise auch auf etwas, das ganz einfach als unsichtbar gilt. Die sichtbaren Merkmale dienen hier als Träger unsichtbarer Beziehungen; diese werden im Gegensatz zu physischen Beziehungen nicht so sehr durch die Hand hergestellt, als vielmehr durch Blick und Sprache.[15]
Demnach werden Dinge und Kunstwerke erst im Museum in ihrer materiell-semiotischen Janusköpfigkeit, die sie als Semiophoren annehmen, zu beredten Zeitzeugen. Auf die Kunstwerke bezogen könnte man nun sagen: Die Rolle musealer Semiophoren spielend, werden sie qua Ausstellungskontext in öffentliche Güter der Wahrnehmung und Agenten der Wahrnehmungskonfiguration transfor477miert. Denn nun können sie mithilfe dieser Rollenmaske (Semiophor) im Museum ein Publikum adressieren, das wiederum durch Paratexte unter anderem kuratorisch und museumspädagogisch dazu angeleitet wird, sich mit der Museumskunst überhaupt auseinanderzusetzen, und dies speziell dort, wo Kunst sperrig ist. Insofern den Kunstwerken dieser Ansicht nach ein mehr oder weniger geheimer Wille zur Kunst inhäriert, können Kunstwerke diesen Willen immerhin vermittelt über die Maske ihrer Semiophorizität kommunizieren, ohne ihn preisgeben zu müssen. Kunstwerke belegen ihren Kunststatus auf nachdrückliche Weise dann, wenn sie unter faire Rahmenbedingungen einer musealen Vermittlung versetzt werden, die es ihnen qua Maskierung als Semiophor im Museumskontext ermöglichen, Urteilsvermögen und Perspektiven zu irritieren und dennoch ihren voluntativen Selbstbezug vor Relativierung und direkter Beurteilung zu bewahren.
Obwohl das Gesagte so klingt, als seien Museen stets Orte der Verlebendigung und der positiven Verstärkung des kunsthaften Existenzgrads, ist nicht zu vergessen, dass die musealisierende Dekontextualisierung und Neurahmung ihrer Exponate immer auch mit der potenziell destruktiven Abtrennung der Dinge vom Leben assoziiert worden sind. Dass Museen auch Ermüdung und Indifferenz hervorrufen können und sie ihre Exponate zum Teil sogar eher abtöten, als sie zu verlebendigen, wird von Museumsmacher*innen und Kritiker*innen nicht selten beklagt. So schreibt der Ausstellungsmacher Harald Szeemann polemisch: »Das Museum als Gefrierort der Prozesse, als Ort statischer Hinweise, um die Macht der Agierenden, des Stärkeren zu brechen. Das Museum als Drohung, Ausgeburt einer Niederlage […] warte nur, Dir zeige ich es, ich gründe ein Museum.«[16]
Die Einschätzung der Rolle von Museen für die Existenzfragen der Kunst schlägt auch unter Künstler*innen häufig in Aversion 478um. So erschien im Le Figaro in Paris am 20. Februar 1909 das Manifest des Futurismus von Filippo Tommaso Marinetti. Darin heißt es:
Museen: Friedhöfe! […] Wahrlich identisch in dem unheilvollen Durcheinander von vielen Körpern, die einander nicht kennen. Museen: öffentliche Schlafsäle, in denen man für immer neben verhassten oder unbekannten Wesen schläft! Museen: absurde Schlachthöfe der Maler und Bildhauer, die sich gegenseitig wild mit Farben und Linien entlang der umkämpften Ausstellungswände abschlachten! Wahrlich, ich erkläre euch, dass der tägliche Besuch von Museen, Bibliotheken und Akademien […] für die Künstler ebenso schädlich ist wie eine zu lange Vormundschaft der Eltern.[17]
Ähnlich aversiv gegenüber dem Museum schreibt der US-amerikanische Happeningerfinder und Aktionskünstler Allan Kaprow im Jahre 1967 in einem frühen Dokument zur künstlerischen Institutionenkritik: »Museen im Allgemeinen widern mich an – ihr Geruch nach einem heiligen Tod verletzt meinen Realitätssinn. Das Museum tut mehr, als die Kunstwerke vom Leben abzutrennen, es verleiht ihnen eine sakrale Aura und tötet sie damit.«[18]
Anders jedoch als Marinetti geht es Kaprow, wie vielen institutionskritischen Künstler*innen, nicht primär um die Abschaffung des Museums. Vielmehr liegt ihm an Reformen, die einer falschen Auratisierung der Künste in den Museen ebenso zuwiderlaufen sollen wie den Tendenzen zur massenhaften Kommerzialisierung und pädagogischen Reduktion der Künste. Was dabei nicht eigens bedacht wird und hier mithilfe des Ausgriffs auf Pomians Konzept des Semiophors ergänzt werden kann, ist die andere Überlegung, ob Museen unbeschadet ihrer potenziellen Dysfunktionalität nicht doch den entscheidenden Vorteil erbringen, dass sie die präsentierten Kunstwerke gewissermaßen in sich selbst spalten (und dabei gerade nicht vom Leben abspalten, sondern ihm zuführen). Museen wirken sich demzufolge als Medien der Kunstvermittlung auf die kunsthaften Existenzen so aus, dass sie diesen eine zusätzliche Rolle anbieten, eben die der Semiophoren, in deren Gewand Kunstwerke kommunikativ werden können, ohne sich dabei gänzlich mitzutei479len. Ihre komplexe Zeitstruktur, die sich über Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbezüge erstreckt, ermöglicht es den Kunstwerken zudem, immer wieder anders lesbar zu sein. Sie können in der Rolle des Semiophoren sozusagen immer neuen Stoff liefern, ohne dabei jedoch beliebig auszufransen, da ihr je inhärierender, unbedingter Wille zur Kunst, in seinen Singularisierungseffekten, dazu ein Gegengewicht bietet.
Wo immer eine museale Inszenierung so weit getrieben wird, dass die semiophoren Masken der Kunstwerke einem Auratisierungs-, Erziehungs- oder Unterhaltungseffekt instrumentell untergeordnet werden, trifft eine Museumskritik à la Kaprow einen wichtigen Punkt.[19] Das haben auch die Institutionen mittlerweile gelernt. Schaut man sich heute zeitgenössische Kunstmuseen und Neugründungen an, so finden sich Kaprows Vorstellungen durchaus zunehmend in museumspraktischen und -theoretischen Selbstreflexionen wieder. Unter solchen kann hier beispielhaft die Mannheimer Kunsthalle hervorgehoben werden, die im Sommer 2018 ihren Neubau eröffnete, dem wiederum kontroverse Diskussionen über den Status und die Aufgabe moderner Kunstmuseen vorangegangen waren. Die Kunsthistorikerin und Leiterin des Museums Ulrike Lorenz diskutiert in einem Streitgespräch mit dem Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich die Fragen: Was muss das Museum? Was kann das Museum?[20] Darin erläutert sie ihre Auffassung von der medialen Funktion des Kunstmuseums so, dass sie im Anschluss an Umberto Ecos Konzept vom offenen Kunstwerk die programmatische Forderung nach einem offenen und demokratischen Museum aufstellt:
Das Kunstmuseum kann sich auf die Erweiterung des Kunstbegriffs seit den 1960er Jahren berufen. Künstler haben lange bevor das Museum darauf 480gekommen ist, nach Partizipationsstrategien gesucht und Modelle dafür entwickelt. Das ist für uns eine Steilvorlage: Künstler sind die eigentlichen Gewährsleute der Öffnung des Museums und mehr noch: einer Pädagogik der Emanzipation. Der Betrachter wird konstitutiver Teil des Werks. Das bedeutet die Inklusion unserer Körper, die Ausweitung von Wahrnehmungsmöglichkeiten, überhaupt eine Aktivierung aller Sinne und schließlich die Erweiterung unseres Bewusstseins.[21]
Gegen derlei utopisch gemeinte Inklusions- und Immersionsansprüche des modernen Kunstmuseums setzt Wolfgang Ullrich nun die Resistenz der Kunst, die er mit Adorno als im Kern unkommunikativ und inkommensurabel auszeichnet. Kunst müsse sich jeder sozialdemokratischen Vermittlungseuphorie und sonstigen Deutungstransparenz entziehen, wenn sie autark sein wolle. Ein rigoros integrativ gefasster Vermittlungsanspruch, wie er im Zitat von Lorenz formuliert wird, kann aus seiner abweichenden Sicht letztlich nur auf Kosten der Kunst gehen und nur gewaltsam gegen sie durchgesetzt werden. Hier wäre, auf diese Kritik Ullrichs bezogen, zurückzufragen, ob ihr nicht ein zu enges Verständnis von Kunstvermittlung zugrunde liegt. Wenn museale Kunstvermittlung jedoch nicht nach einem einseitigen und hierarchischen Sender-Empfänger-Modell gedacht wird, wie es Ullrichs museumsskeptischer Position offenbar zugrunde liegt, sondern so, dass symmetrischere und ergebnisoffene Begegnungen von Kunstwerken mit Semiophoren, Expert*innen und Laien im Raum des Museums denkbar sind, dann entfielen zumindest die Gründe für eine radikale Museums- und Vermittlungsskepsis. Zur Erweiterung musealer Vermittlungskonzepte über die Zielsetzung bloßer Belehrung, Erinnerung und Erziehung hinaus gehört es dann auch – und dafür spricht sich Lorenz nach meinem Verständnis explizit aus –, die logozentrischen Tendenzen museumsästhetischer Ansätze zu überwinden, wie sie ihr zufolge auch Umberto Ecos Kunstwerkeaufsatz noch zugrunde liegen. Auch Eco gehe es primär um sprachbasierte Deutungen von Kunstwerken und nicht um andere Formen der Verarbeitung von und Resonanz auf Kunst (in der Rolle als Semiophoren) wie etwa emotionale Reaktionen. Die bei Lorenz zur Sprache kommende Wende im Verständnis museumsästhetischer Vermittlung von Kunst läuft darauf hinaus, den traditionellen, hu481manistischen Bildungsbegriff, der bisher die Museumsarbeit grundiert, durch ein anderes Verständnis mindestens kritisch zu ergänzen. Diesem zufolge geht es dann darum, unterschiedliche Formen der Begegnung mit Kunst – von spielerisch-konsumistisch über affektiv bis sprachlich interpretierend – gleichberechtigt nebeneinander stehen zu lassen.
In Annäherung an das, was Kunstmuseen ausstellend vermitteln, namentlich Kunst, könnten sie selbst zu einem experimentellen öffentlichen Ort für die Artikulation heterogener Positionen und Kunstverständnisse werden. Das ist eine Vorstellung von Kunstvermittlung, die, wie Lorenz selbst anmerkt, nahe an die von Künstler*innen wie Joseph Beuys oder Rémy Zaugg herankommt. Ein stärker in Richtung auf experimentelle und situationssensible Auslotungen von Museums- und Ausstellungsgestaltungen hinauslaufendes Verständnis von musealer Kunstvermittlung würde nicht nur den Museumsbesucher*innen und Kunstwerken vielgestaltige Verbindungsmöglichkeiten eröffnen. Darüber hinaus, so fährt Lorenz fort, würde dies auch der erbbeladenen Institution Museum mit ihren Expert*innen dazu verhelfen, sich vom eurozentrisch-museologischen Anspruch zu emanzipieren, eine Instanz machtvoller Deutungshoheit zu sein. So selbstkritisch das auch klingt, so ist auch diese Version der Museumsverteidigung durch Lorenz nicht gegen Kritik immun. Jede Zweckbestimmung musealer Vermittlungstätigkeit, und sei diese auch noch so demokratisch und offen ausgerichtet, bleibt mit dem Problem konfrontiert, der freien Kunst, der sie ja zur verstärkten Existenz verhelfen will, etwas zu oktroyieren, das ihrer Autarkie fremd ist. Wenn das so weit geht, dass Kunst im Museum zum bloßen Anlass dafür wird, eine Form von demokratischer Selbstbefreiung oder -erfahrung zu erproben, so gibt Ullrich an diesem Punkt der Überlegungen selbst zu bedenken, ist sogar eine nur noch größere Instrumentalisierung der autonomen Kunst seitens der Museen zu befürchten. Denn dann würden die Kunstwerke ja wiederum nicht um ihrer selbst willen ausgestellt und vielmehr umgekehrt in die Position eines Mediums der Vermittlung von (Museums-)Politik versetzt. Am Ende des Gesprächs räumt Lorenz ein, dass das Kunstmuseum der nahen Zukunft sogar die ursprünglich angestammte museale Aufgabe des Sammelns und Bewahrens ganz aufgeben müsse, um mit der Art und Weise, wie es aktualisierte Ausstellungen und die sie 482begleitenden Programme betreibe, eine kritische und kritikfähige Öffentlichkeit herzustellen, was dann auch zum neuen Maßstab der Leistung von Kunstmuseen werden könne. Die widerständige Sperrigkeit speziell der modernen bildenden Kunst sei dabei aber gerade nicht wegzudenken, so Lorenz weiter. Vielmehr könne doch umgekehrt die museale Gründungsidee revidiert werden, die, wie oben kurz erläutert, besagt, es gehe in Museen um Identifikation. Stattdessen gehe es gerade angesichts der modernen Kunst um Fremderfahrung, Unverständnis und Irritation, und ebendarin böten moderne Kunstmuseen einen Übungs- und Spielraum – genauer einen Übungsraum für ein Probehandeln mit Alteritäten und Verunsicherungen, das sich an der modernen Kunst experimentell im Museum durcharbeiten ließe.[22]
Abschließend ist für das noch wesentlich weiter reichende Gespräch über die Zukunft des Kunstmuseums Folgendes festzuhalten: Was die Museumsdirektorin hier aus der Praxis des Museumsmachens heraus und vor dem Hintergrund einer heute erneut diagnostizierten Legitimationskrise der Kunstmuseen über den Anspruch der Museumsarbeit sagt, unterscheidet sich kaum mehr von dem, was moderne Kunst selbst zu leisten beansprucht. Die Gefahr ist jedoch meines Erachtens, dass die notwendig bleibende Vermittlung von Kunst durch ein fremdes Medium, wenn es so läuft, wie Lorenz es ausmalt, perspektivisch da entfallen würde, wo das Kunstmuseum selbst zu Kunst wird. Damit aber endete die Möglichkeit des Kunstmuseums, als eine der Kunst gegenüber, im produktiven Sinne, externe Vermittlungsinstanz aufzutreten.
Der mediale Beitrag des Museums zur Existenzverstärkung von Kunstwerken besteht nach der hier vertretenen Position jedoch in zweierlei: erstens darin, dass es den Kunstwerken eine Selbstverdopplung als Semiophoren anbietet, so dass sie in dieser Rolle in Beziehung zu einem anonymen Publikum treten können. Die mit dem Museum verbundene Janusköpfigkeit, die sich in ihrer Doppelbewegung von Verdecken und Aufdecken artikuliert und von 483der Pomian spricht, schiebt sich quasi maskierend und schützend vor den bereits antithetischen Schein der Kunstwerke, der so jedem allzu direkten Zugriff entzogen bleibt. Erst als Semiophoren können Kunstwerke unbeschadet ihrer latent bleibenden, notwendigen Selbstbezüglichkeit kommunikativ werden. Insofern werden sie in dieser Rolle dem Leben allererst eingefügt und nicht diesem entfremdet (wie die Kritiker*innen des White-Cube-Modells irrtümlich meinen).[23] Zweitens bewirtschaftet das Museum in teils räumlich-konstellativer Hängung Dialoge zwischen Kunstwerken und konkretisiert damit den intrinsischen Willen aller Kunstwerke selbst (nämlich im Raum der Kunst Bürgerrechte zu haben). Der Kunststatus von Kunstwerken im Plural und im Fächerspiegel der Genres ist strikt genommen weder neutral überprüfbar noch intentional herstellbar, sondern bleibt der überzeugenden Artikulation der Willensbekundung kunsthafter Existenzen überlassen. Diese Artikulation muss aber vernehmbar sein, und der ideale Ort dafür ist eben: das Museum. Das Museum, das Kunst ausstellt, stellt ja in verallgemeinernder Geste mit aus, dass es seinen Exponaten, bis auf Widerruf, ihre Kunsthaftigkeit, ihren Willen zur Kunst, schlicht glaubt. Oder anders gesagt: Die museale Rahmung übernimmt die Haftung für das Versprechen der einzelnen Werke, tatsächlich Kunst zu sein. Ohne diese kunstbejahende Geste musealer Rahmungen bleibt der Wille zur Kunst von Kunstwerken, die nicht ins Museums gelangen, auf ihre je partikularen Bestätigungen angewiesen und existieren dementsprechend resonanzschwächer. Dass dies gegebenenfalls viel eher zu einer auch unproduktiven Einbeziehung der Kunstwerke ins Alltagsleben führt, ist immerhin mitzubedenken, wenn man Museumskritik übt.
Kunst ist bei aller Autarkie »fürsorgebedürftig« (Souriau), das heißt vermittlungsbedürftig.[24] Gerade weil die pädagogischen und translatorischen Herausforderungen des Ästhetischen auf das Medium des Kunstmuseums übertragen werden können, gewinnt die voluntative Kunst die Freiheit, von ebendiesen Selbstvermittlungsanforderungen und daran hängenden Kompromissen entlastet zu 484werden. Was immer im Museum misslingt, fällt zunächst auf das Museum, nicht direkt auf die Kunst zurück. Wenn Kunstwerke im Museum ihre Rolle als Semiophoren einnehmen, erübrigt sich das Problem der grundsätzlichen Infragestellung ihres voluntativen Kunstwerkestatus im Ganzen. Stattdessen können Auseinandersetzungen mit dem detaillierten Wie der Umsetzung ihres Willens zur Kunst in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Erst im Schutzmilieu des Museums kann ein differenzierendes Sich-Einlassen auf ein Kunstwerk überhaupt anheben. Falls es also je zu einer Annäherung von musealen und kunsthaften Funktionen dergestalt kommen sollte, dass ihre Differenz entfiele, so entspräche dies vielleicht einer radikalen Demokratisierung, weil dann zum Beispiel keine Hierarchisierungsmöglichkeiten mehr zwischen Publikum und Darstellung, zwischen Museumskunst und Nichtmuseumskunst existieren würden. Doch vor dem Hintergrund der hier vertretenen These von der Medienabhängigkeit aller Kunst würde damit letztlich eine Schwächung kunsthafter Existenzen einhergehen und wäre von daher keine wünschenswerte Entwicklung.