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Einführung
Im Laufe der vergangenen etwa 50 Jahre haben »neue« Ideen, wie wir uns verhalten sollten, unser Denken korrumpiert. Inzwischen sehen wir Schwarz als Weiß an, Schlechtes als Gutes: Es ist moralisch, unmoralisch zu sein. Dieser Wandel hat enorme Auswirkungen, wurde jedoch durch viele kleine, kaum erkennbare Schritte erreicht.
Natürlich sind wir heute von Haus aus nicht weniger rechtschaffen als frühere Generationen. Und dies ist keine einfache Geschichte über Menschen, die sich wissentlich schlecht verhalten. Vielmehr geht es darum, dass wir in dem Glauben bestärkt wurden, bestimmte Verhaltensweisen und Aktivitäten seien akzeptabel, natürlich, rational, eingewoben in die Eigenlogik der Dinge – obwohl sie noch vor wenigen Generationen für dumm, befremdlich, schädlich oder einfach niederträchtig gehalten wurden. Es hat sich ein Wandel vollzogen in unserem Verständnis vieler Ideen und Wertvorstellungen, an denen wir unser Leben ausrichten: Ideen über Vertrauen, Gerechtigkeit, Fairness, Entscheidungsfreiheit und soziale Verantwortung – Ideen, die unsere Wirtschaft und Gesellschaft zutiefst prägen. Obwohl diese Entwicklungen relativ neu sind, haben sie sich inzwischen in unserem Alltag dermaßen ausgebreitet und so tief verwurzelt, dass sie uns kaum noch bewusst sind.
Nehmen wir zum Beispiel die globale Finanzkrise, die 2007 begann. Es besteht weitgehend Einigkeit, dass die Verantwortung für diese Krise zum großen Teil bei den Aufsichtsbehörden liegt, bei den Menschen, die beim Staat beschäftigt sind, um die Aktivitäten von Banken und anderen Finanzinstitutionen zu beaufsichtigen. Heute ist oft zu hören: »Schuld sind die Bankenaufseher« – aber das sollte uns schockieren. Wir machen ja auch nicht die Polizei dafür verantwortlich, wenn bei uns zu Hause eingebrochen wird. Warum schieben wir also den Bankenaufsehern die Schuld dafür in die Schuhe, wenn Banker sich leichtsinnig (und manchmal kriminell) verhalten haben? Die Antwort lautet im Wesentlichen: »Banker sind
nun mal so«, und es sei sinnlos, sie dafür zur Verantwortung zu ziehen. Und wenn der eine Banker sich zurückhält, wird ein anderer in die Bresche springen und die sich bietende Gelegenheit ausnutzen. Die Märkte seien auf Gier angewiesen, um ordentlich zu funktionieren. Indem wir nichts dagegen unternommen haben, dass diese gefährlichen Ideen um sich greifen, haben wir den Bankern eine Entschuldigung dafür geliefert, gierig zu sein, und die Erlaubnis, das System auszunutzen: eine Lizenz zu korruptem Verhalten.
Aber es sind ja nicht nur die Banker. Der Verfall der Sitten reicht viel weiter und tiefer. Nehmen wir das Beispiel Volkswagen: Wie konnte der größte Automobilkonzern der Welt sich von einem bescheidenen, vorsichtigen Hersteller eines einzigen Fahrzeugmodells in ein Großunternehmen verwandeln, das mit ausgeklügelter Raffinesse eine zynische, breit angelegte Täuschung seiner Kunden ins Werk gesetzt hat?
Zumindest ein Teil der Erklärung ist sicherlich im Wandel der Unternehmenskultur zu finden, der von Milton Friedma
n vorangetrieben wurde, einem Ökonomen der University of Chicago. Im Jahr 1970 veröffentlichte Friedma
n – der später als Berater des US
-Präsidenten Ronald Reaga
n und der britischen Premierministerin Margaret Thatche
r fungierte – in der New York Times
einen einflussreichen Artikel mit der Überschrift »The Social Responsibility of Business is to Increase Its Profits« (»Die gesellschaftliche Verantwortung eines Unternehmens besteht darin, seine Gewinne zu steigern«). Um Missverständnissen vorzubeugen: Friedma
n vertrat darin die Auffassung, dass Profit die einzige
Verantwortung eines Unternehmens sei. Und der Einfluss solcher neueren ökonomischen Ideen erstreckt sich nicht nur auf die Welt der Industrie- und Finanzkonzerne. Etwa zur gleichen Zeit, als Friedma
n die Verantwortlichkeiten von Unternehmen umdefinierte, wurden auch die Verantwortlichkeiten des einzelnen Bürgers durch neu aufkommende Ideen geprägt.
Nehmen wir eine Idee, die als »Free-Riding« (Trittbrettfahren) bekannt ist. Diese Theorie impliziert, dass kooperatives Verhalten in vielen Fällen irrational sei, und zwar aus folgenden Gründen: Selbst wenn der Einzelne sich kooperativ verhält, wird es niemand anders tun – und auf jeden Fall sei der Beitrag des Einzelnen zu klein, um einen Unterschied zu machen. Obwohl der Einfluss dieser Theorie auf die gesellschaftliche
Entwicklung bis heute nicht allgemein anerkannt ist, haben die ihr zugrunde liegenden Ideen unser alltägliches Denken durchdrungen und das verbreitete Gefühl, jeder müsse »einen Beitrag leisten«, verdrängt. Wir alle sind korrumpiert worden, bis hinunter auf die Ebene kleiner, alltäglicher Entscheidungen. Mittlerweile glauben wir, dass es sinnlos sei, wählen zu gehen, und harmlos, Musikdateien, Nachrichtenseiten und andere Online-Inhalte zu nutzen, ohne dafür zu bezahlen. Wir halten es für selbstverständlich, dass viele Menschen routinemäßig Versicherungsschäden zu hoch angeben und Steuern vermeiden, wann immer es möglich ist. Und während wir im dichten Gedränge an verstopften Großstadtstraßen entlanggehen, starren wir auf unser Smartphone, ohne ausreichend darauf zu achten, Kollisionen mit anderen Fußgängern zu vermeiden. In all diesen Fällen verlassen wir uns darauf, dass »die anderen« schon ihren Beitrag leisten und aufpassen werden, weil sonst so eine gemeinschaftliche Aktivität unmöglich wäre. Bei anderen Gelegenheiten kommt es gar nicht erst zu einer wirklich gemeinschaftlichen Aktivität, weil wir aufgrund der vorherrschenden Trittbrettfahrer-Mentalität die Hoffnung schon aufgegeben haben, bevor wir überhaupt anfangen. Das führt zum Beispiel dazu, dass viele Menschen angesichts der Klimaveränderung verzweifeln.
Wie ist es so weit gekommen? Und wie sind wir zu einer Welt geworden, in der die reichen Länder immer reicher werden, während immer mehr ihrer Bürger auf Suppenküchen und gemeinnützige Tafeln angewiesen sind? Könnte es unter anderem daran liegen, dass uns gesagt wurde, die Reichen noch reicher zu machen, sei gut für die Wirtschaft, aber die Armen reicher zu machen, sei schlecht? Wie kommt es, dass so viele von uns all diese Dinge glauben, obwohl es noch gar nicht so lange her ist, dass wir ganz andere Überzeugungen und Wertvorstellungen hatten?
Wie auch immer Sie zu Bankern stehen mögen, zu den Profiten großer Konzerne, zu Wahlen, kostenlosen Online-Inhalten, zur Klimaveränderung oder zu gesellschaftlichen Ungleichheiten – nur allzu oft scheinen wir in unserer heutigen Weltanschauung gefangen zu sein (manche Kommentatoren haben sie »Neoliberalismus« genannt, aber dieses Wort wird Ihnen in diesem Buch nicht noch einmal begegnen
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). Die Wirtschaftswissenschaften scheinen unsere Entscheidungsmöglichkeiten einzuschränken.
Darüber hinaus prägen sie die Fragen, die wir stellen, und die Probleme, die wir sehen. Welche Antworten akzeptabel sind, wird von unseren aus der Ökonomik abgeleiteten Moralvorstellungen beeinflusst. Wenn wir uns also gesellschaftlichen Wandel erhoffen, ist der entscheidende erste Schritt zu verstehen, wie es so weit kommen konnte – wo diese machtvollen neuen Ideen herkamen und wie sie es geschafft haben, uns so fest in ihren Bann zu schlagen.
Die Antwort ist keineswegs offensichtlich, denn schließlich haben wir die Ökonomik mal ins Lächerliche gezogen und uns ihr ein andermal gebeugt. Unsere aktuelle Weltanschauung haben wir uns nicht aus freien Stücken zugelegt, aber sie ist auch nicht von ungefähr gekommen – sie war nicht das Ergebnis einer Verschwörung, obwohl es aus mancherlei Sicht so wirkt.
Um zu sehen, wo das alles begann, müssen Sie ins schweizerische Genf reisen. Nehmen Sie einen Zug, der nach Osten fährt, an den Ufern des Genfersees (Lac Léman) entlang. Steigen Sie in Vevey aus und nehmen Sie dort die Seilbahn, die am Hang des Mont Pèlerin nach oben fährt. Ihr Hotel ist nur zwei Gehminuten von der oberen Endhaltestelle der Seilbahn entfernt. Im Jahr 1947 machten etwa 50 Personen die Reise zu diesem Hotel, das damals »Hôtel du Parc« hieß. Die meisten von ihnen waren Universitätsprofessoren, neben einigen Journalisten und Geschäftsleuten. Was sie verband, waren ihre Befürchtungen und ihr Abscheu gegen die Richtung, die viele Länder einzuschlagen schienen.
In fast allen Ländern strebte damals der Staat eine wichtigere Rolle an als zuvor. Die Weltwirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit der 1930er-Jahre waren noch immer in lebhafter Erinnerung; die wirtschaftliche Krise hatte beim Aufstieg des Faschismus und der darauf folgenden Katastrophe des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Rolle gespielt. Als in Europa wieder Frieden einkehrte, wollte niemand, dass auch die Massenarbeitslosigkeit zurückkehrt, und mit seiner neuen Ökonomik zeigte John Maynard Keyne
s, dass eine Regierung durchaus die Macht hat, das zu verhindern. Keyne
s, der die Fundamente der modernen Makroökonomik legte, war der wahrscheinlich einflussreichste Ökonom des vergangenen Jahrhunderts. Es war Keyne
s, auf den die heute allgemein bekannte Idee zurückgeht, dass eine Regierung in einem wirtschaftlichen Abschwung die Staatsausgaben erhöhen oder die Steuern senken sollte,
um die Wirtschaft anzukurbeln. Die keynesianisch
e Volkswirtschaftslehre ergänzte die »New Deal«-Politik der Vereinigten Staaten und die Schaffung des Wohlfahrtsstaats in Großbritannien, nachdem 1942 der Beveridg
e Report
veröffentlicht worden war. Der Ökonom William Beveridg
e war von der britischen Regierung beauftragt worden, das Problem der Arbeitslosenversicherung und der damit zusammenhängenden Sozialleistungen zu untersuchen und entsprechende Empfehlungen auszusprechen. In seinem bahnbrechenden Bericht befürwortete er eine staatliche Sozialversicherung »von der Wiege bis zur Bahre«.
Ironischerweise war es Beveridg
e, der 1931 einen Mann eingestellt hatte, der sein Leben der Aufgabe widmen würde, so gut wie alles, woran Beveridg
e glaubte, infrage zu stellen. Als Beveridg
e in seiner Funktion als Direktor der London School of Economics einem kaum bekannten österreichischen Ökonomen namens Friedrich August von Haye
k eine Dozentenstelle anbot, konnte er nicht ahnen, welche Folgen das haben würde. Es war von Haye
k, der 1947 die Zusammenkunft auf dem Mont Pèlerin organisierte.
Von Haye
k hatte sich aus nahezu totaler Anonymität ins Rampenlicht katapultiert, als 1944 sein Buch The Road to Serfdom
(deutsche Ausgabe: Der Weg zur Knechtschaft
) veröffentlicht wurde. Darin sagte er im Wesentlichen, dass Großbritannien durch den vorherrschenden Trend zu mehr zentraler Planung und stärkerer Einmischung der Regierung in die Wirtschaft auf einen Weg geraten werde, der letzten Endes in einen totalitären Staat nach dem Beispiel Nazideutschlands führen werde. Innerhalb weniger Tage nach Erscheinen war Der Weg zur Knechtschaft
ausverkauft, und weil im Krieg das Papier knapp war, konnten auch die im folgenden Jahr aufgelegten Nachdrucke die ungebrochene Nachfrage nach dem Buch nicht decken. Wegen seine
r kontroversen Botschaft wurde das Buch von drei US
-Verlagen abgelehnt, bis ein Ökonom in Chicago – der auf den passenden Namen Aaron Directo
r hörte – die University of Chicago Press überzeugte, das Buch zu verlegen.
Directo
r hatte unter seinem eigenen Namen relativ wenig publiziert, doch er hatte – neben seiner Rolle bei der Veröffentlichung von
Der Weg zur Knechtschaft
– maßgeblichen Einfluss auf die Arbeit einiger wichtiger Ökonomen, etwa seines Schwagers Milton Friedma
n. Während seines Grundstudiums an der Yale University war Directo
r ein Anti-Establishment-Bilderstürmer gewesen, der zusammen mit einem engen Freund,
dem Maler Mark Rothk
o, eine Underground-Zeitung namens
Yale Saturday Evening Pest
produziert hatte. Gleichwohl war Directo
r in seinem späteren Leben konservativ genug, um Friedma
n – der ja immerhin als Berater der Konservativen Reaga
n und Thatche
r fungiert hatte – als »meine
n radikalen Schwage
r« zu bezeichnen.
[1]
Der Weg zur Knechtschaft
war auch in den Vereinigten Staaten ein großer Erfolg. Ebenso wie in Großbritannien hatte der Verlag mit den Behörden zu kämpfen, die für die Rationierung von Papier zuständig waren, um genug Exemplare des Buches drucken zu können, damit die Nachfrage gedeckt werden konnte. Doch dann veröffentlichte Reader’s Digest
eine gekürzte Fassung von 20 Seiten in einer Auflage von mehreren Millionen Exemplaren. Zu diesem Zeitpunkt befand sich von Haye
k auf einem Schiff, das nach New York unterwegs war. Nachdem es dort angelegt hatte, wurde ih
m gesagt, die bescheidene, für seine US
-Reise geplante Vorlesungsreihe sei gestrichen worden, weil er stattdessen eine Vortragsreise durchs ganze Land machen sollte. Die erste Vorlesung hielt er in der New York Town Hall, deren 3000 Plätze vollständig ausverkauft waren; in den Gängen und Nebenräumen drängten sich viele weitere Zuhörer.
Aufgrund seines wachsenden Einflusses und Ruhmes war es kein Wunder, dass von Haye
k für den Vordenker der Gruppe gehalten wurde, die später auf dem Mont Pèlerin zusammenkam (und bald als »Mont Pèlerin Society« bekannt wurde). Sowohl Friedma
n als auch Directo
r saßen im Publikum. Am 1. April, dem Tag ihrer ersten Begegnung, hatte von Haye
k die Aufgabe umrissen, die sich ihnen stellte – nämlich Großbritannien, die Vereinigten Staaten und andere Länder vor dem zu retten, was er und seine Reisegefährten für einen Abstieg in den Totalitarismus hielten. Von Haye
k war davon überzeugt, dass die zunehmende Einmischung von Regierungen in die Wirtschaft eine direkte Bedrohung individueller Freiheiten darstelle – Freiheiten, die nur wiederhergestellt werden könnten, indem man die Einmischungen des Staates beharrlich, langsam und geduldig zurücknähme und letzten Endes zu einer echten freien Marktwirtschaft zurückkehrte. Von Haye
k ließ keinen Zweifel an dem gewaltigen Umfang der Herausforderung.
Aus von Hayek
s Sicht war die keynesianisch
e Wirtschaftslehre weit mehr als nur ein Sortiment politischer Empfehlungen zur Bekämpfung
von Arbeitslosigkeit. Es entstand sehr schnell ein Konsens, dem zufolge die wichtigste Pflicht einer Regierung darin bestand, für Vollbeschäftigung zu sorgen. (Selbst die Banker schienen das so zu sehen: In einem für die britische Regierung bestimmten Memo wies Keyne
s darauf hin, dass internationale Finanziers eine signifikante Arbeitslosigkeit in Großbritannien missbilligen würden.
[2]
) Darüber hinaus bestand Keyne
s darauf, dass eine Regierung die Aufgabe habe, die Kräfte des Marktes zum Nutzen der gesamten Gesellschaft zu regulieren und zu ergänzen. Und es galt als selbstverständlich, dass Regierungen in der Regel kompetent und kenntnisreich seien und sich zuverlässig für das Gemeinwohl einsetzen würden. Dies war die Brille, durch welche die Menschen die Wirtschaft inzwischen sahen. Von Haye
k hatte erkannt, dass es eine ganz andere Perspektive erfordern würde, die keynesianisch
e Lehrmeinung umzustoßen – dafür müsste die Sicht der Menschen von Wirtschaft und Staat auf fundamentaler Ebene verändert werden. Er kam zu dem Schluss, dass die Mont Pèlerin Society »sich weniger damit beschäftigen sollte, was unmittelbar praktikabel wäre, sondern vielmehr mit den Überzeugungen, die wieder die Vorherrschaft erringen müssen«.
[3]
Es sei ein langfristiges Projekt, die Überzeugungen zu verändern, die dem »gesunden Menschenverstand« der Leute zugrunde liegen. Anders ausgedrückt: uns zu einer anderen Weltanschauung hinzuführen.
In dieser Hinsicht würden von Haye
k und seine Kollegen von der Mont Pèlerin Society letzten Endes weit erfolgreicher sein, als sie es erwartet hatten. Sie wussten, dass es eine enorme Herausforderung sein würde, die vorherrschende Weltanschauung zu verändern. Hinzu kam noch, dass 1947 die Mont-Pèlerin-Gruppe weit abseits des politischen und wirtschaftlichen Mainstreams stand – zwar wurden sie nicht unbedingt als Spinner angesehen, aber doch belächelt. Es würde weitere drei Jahrzehnte dauern, bis ihr
e Ideen sich durchsetzen konnten. Rückblickend ist es leicht, den Wendepunkt zu erkennen.
Niemand bezweifelt heute, dass es einen fundamentalen politischen und wirtschaftlichen Einschnitt bedeutete, als 1979 in Großbritannien Margaret Thatche
r an die Regierung gewählt wurde und kurz darauf in den
USA
Ronald Reaga
n. Als Thatcher und Reagan die Führung übernahmen, wurde der keynesianisch
e Konsens der Nachkriegszeit hinweggefegt. Thatche
r
wurde im Februar 1975 zur Vorsitzenden der British Conservative Party gewählt. Die Konservativen drängte es zur Macht, und auf einer Strategiesitzung im Sommer jenes Jahres wurde vorgeschlagen, dass die Parteipolitik fortan ausdrücklich einem »Kurs der Mitte« folgen solle, unter Vermeidung von zu links- oder rechtsextremen Positionen. Thatche
r ergriff das Wort, zog ein Buch von Hayek
s aus der Aktentasche und hielt es hoch, sodass es alle sehen konnten. »Das ist es, woran wir glauben«, verkündete si
e und knallte das Buch auf den Tisch.
[4]
Batteriehühner für die Freiheit
Als der britische Milchbauer Antony Fishe
r die Reader’s-Digest-Version von
Der Weg zur Knechtschaft
las, machte das Buch einen großen Eindruck auf ihn. Von Haye
k schien Fisher
s eigenes Bauchgefühl zu teilen, dass die individuellen Freiheiten bedroht seien. Fisher schrieb von Haye
k einen Brief, in dem er ihn fragte, was er selbst tun könne und ob er vielleicht in die Politik gehen solle. Von Haye
k antwortete Fishe
r, dass er etwas Wertvolleres tun könne und erklärte ihm, dass in der Schlacht der Ideologien die »Gebrauchtwarenhändler der Ideen« eine wichtigere Rolle spielten als Politiker – nämlich die Journalisten, politischen Berater, Kommentatoren und Intellektuellen, welche die öffentliche Debatte und das politische Bewusstsein prägten und lenkten. Von Haye
k empfahl Fishe
r, in Zusammenarbeit mit der Mont Pèlerin Society Forschungsinstitute ins Leben zu rufen mit dem Ziel, solche »Ideenhändler« zu beeinflussen. Im Jahr 1952 reiste Fishe
r in die Vereinigten Staaten, um eines dieser neu gegründeten Institute zu besuchen, die Foundation for Economic Education. Einer ihrer Gründer war der Ökonom F. A. »Baldy« Harpe
r, der fünf Jahre zuvor an dem Treffen am Mont Pèlerin teilgenommen hatte. Und da Fisher Landwirt war, zeigte Harpe
r ihm auch ein neues landwirtschaftliches Verfahren, nämlich eine neue Züchtung schnell wachsender Hühner, die sogenannten »Broiler«, die in winzigen Käfigen herangezogen wurden. Weil damals die Hühnerhaltung in Käfigbatterien in Großbritannien noch unbekannt war, erkannte Fishe
r, dass er damit ein Vermögen verdienen konnte. Also nahm er Broiler-Hühner mit zurück nach Großbritannien.
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Er lieh sich 5000 Pfund, um eine Batterie-Hühnerhaltung aufzubauen. Als e
r den Betrieb 15 Jahre später verkaufte, war er 21 Millionen Pfund wert.
Fishe
r setzte sein wachsendes Vermögen ein, um von Hayek
s Träume wahr zu machen. E
r begann damit, dass er 1955 das Institute of Economic Affairs gründete – einen »Thinktank«, eine Forschungs- und Lobbyorganisation mit dem Ziel, das Projekt voranzutreiben, das von Haye
k beim ersten Treffen der Mont Pèlerin Society konzipiert hatte. Es war dieses Institut, das 20 Jahre später das erste Treffen zwischen von Haye
k und Thatche
r in die Wege leitete – einige Monate, bevor Thatche
r auf der Sitzung der Conservative Party von Hayek
s Buch hochgehalten hatte. Das Treffen zwischen Thatche
r und von Haye
k fand unter vier Augen im Konferenzraum des Instituts statt. Es dauerte etwa 30 Minuten, und danach versammelte sich der Stab des Instituts um von Haye
k, um sein Urteil zu hören. Nach einer langen Pause sagte er, offensichtlich zutiefst bewegt: »Sie ist so schön.«
[5]
Das Institute of Economic Affairs ist nur eines der Elemente der Atlas Economic Research Foundation, die Fishe
r 1981 ins Leben rief, um die Gründung ähnlicher Thinktanks in aller Welt zu fördern. Sie hat sich zu einem großen internationalen Dachverband entwickelt, einem Netzwerk, das im Laufe der Jahre immer größer geworden ist und zu dem inzwischen mehr als 500 Organisationen in über 90 Ländern gehören. Dieses Netzwerk setzt sich für die Grundsätze der freien Marktwirtschaft ein und unterhält diverse Expertengruppen, welche die gesamte Bandbreite von Klimawandelleugnern bis hin zu Lobbyverbänden der Tabakindustrie abdecken. Einer der im gesamten Netzwerk zu beobachtenden Aspekte ist, dass seine Mitgliedsorganisationen durch Großkonzerne und Plutokraten finanziert werden.
An dieser Stelle beginnen Verschwörungstheorien aufzutauchen. Angefangen bei der Mont Pèlerin Society bis hinauf zur Atlas Foundation betrachten Verschwörungstheoretiker die hochfliegenden philosophischen Ambitionen dieser Organisationen als bloße Tarnung für einen konspirativen, langfristig angelegten Plan, um den Reichtum und Einfluss von wohlhabenden und mächtigen Wirtschaftseliten auszubauen. Und es ist richtig, dass diese Organisationen, obwohl sie formal unabhängig von den Reichen und Mächtigen sind, auf jedem Schritt des Weges von ihnen finanziert wurden. Und auch in einem tieferen
Sinne sah die Mont Pèlerin Society die Politik als Diener wirtschaftlicher Interessen. Von Haye
k wollte nicht nur Laissez-faire erreichen – die alte Idee, dass der Staat sich aus den Märkten und der Wirtschaft herauszuhalten habe –, sondern er sah Märkte und Wirtschaft nicht als etwas Separates an, das sich in einer vom übrigen menschlichen Leben getrennten Sphäre abspielt. Für ihn umfassten Märkte und Wirtschaft das
gesamte
Leben. Von Haye
k war der Meinung, dass sämtliche Triebfedern des menschlichen Handelns wirtschaftlicher Art seien: »Ein isoliertes wirtschaftliches Motiv existiert nicht.«
[6]
Inzwischen haben von Hayek
s Ideen unsere heutige Kultur ebenso stark geprägt wie unsere Politik: Im Laufe der vergangenen 40 Jahre wurde das, was wir respektieren und denken, durch das Eindringen von marktwirtschaftlichen Konzepten in unseren Alltag völlig verändert.
Und dennoch waren die Auswirkungen dieser Entwicklung nicht ganz so, wie von Haye
k es sich auf jener konstituierenden Sitzung der Mont Pèlerin Society vorgestellt haben mag, da die Wirtschaftswissenschaften selbst sich seither erheblich verändert haben. Der Aufstieg der Mont Pèlerin Society hat sich als ein nur kleiner Teil der ganzen Geschichte erwiesen, und an dieser Stelle kollabieren die Verschwörungstheorien.
Viele der einflussreichsten Denker hinter dem Triumph der Marktwirtschaftslehre waren Mitglieder der Mont Pèlerin Society, etwa Gary Becke
r, James Buchana
n, Ronald Coas
e, Milton Friedma
n, Richard Posne
r und George Stigle
r. Aber sie waren nicht immer einer Meinung mit von Haye
k. Und manche Ökonomen, zum Beispiel Kenneth Arro
w und Thomas Schellin
g, waren ebenso einflussreich, obwohl sie eine völlig andere politische Weltanschauung hatten als die Mont-Pèlerin-Clique.
In den folgenden Kapiteln werde ich erkunden, wie die radikalen Ideen dieser Denker es schafften, der modernen Mainstream-Ökonomik ihren Stempel aufzudrücken. Es waren diese neuen Ideen – weit mehr als eine Verschwörung der Reichen und Mächtigen –, welche die marktgetriebene Welt entstehen ließen, in der wir heute leben. Ich konzentriere mich dabei vor allem auf die Mikro
ökonomik, die Betriebswirtschaftslehre (im Gegensatz zur Makro
ökonomik, der Volkswirtschaftslehre), da die meisten wichtigen Entwicklungen der Wirtschaftswissenschaften nach dem
Zweiten Weltkrieg sich in der Mikroökonomik vollzogen haben. Die Mikroökonomik ist die Lehre von wirtschaftlichen Aktivitäten auf der Ebene des einzelnen Menschen, und so ist es kein Wunder, dass sie mehr Einfluss darauf hatte, wie wir – als Individuen – die Welt sehen.
Doch zunächst müssen wir versuchen, den dichten Nebel der Behauptungen und Gegenbehauptungen über die moderne Wirtschaftslehre zu durchschauen. Ein wichtiger Grund, warum wir im heutigen ökonomischen Denken gefangen zu sein scheinen, liegt darin, dass wir in der Debatte zu diesem Thema in der Regel vor die Entscheidung zwischen zwei gleichermaßen unplausiblen Alternativen gestellt werden. Einerseits ist die Ökonomik eine Wissenschaft, die Erkenntnisse darüber liefert, wie wir zwangsläufig von Natur aus denken und uns verhalten. Andererseits beschwört die Wirtschaftslehre eine Fantasiewelt herauf, die nicht von plausiblen Inkarnationen des Menschen bevölkert ist, sondern von selbstsüchtigen, endlos berechnenden und Entscheidungen treffenden Robotern – die auch als homo oeconomicus
bekannt sind. Diese Debatte mag unbefriedigend sein, doch der Status der Wirtschaftswissenschaften ist nicht nur von akademischem Interesse. Die globale Finanzkrise hat uns ermahnt, dass fehlerhafte Ökonomik sehr schmerzhaft sein kann. Wenn ökonomische Theorien – wie sie weithin von Finanzinstitutionen, den für sie zuständigen Aufsichtsbehörden und anderen eingesetzt werden – fundamentale Fehler haben, ist es kein Wunder, dass es zu einer globalen Finanzkrise kommen konnte und wir ständig Gefahr laufen, eine neue Krise heraufzubeschwören.
Seit den 1950er-Jahren leiden immer mehr Ökonomen unter dem »Physikneid« – die Sehnsucht, die Ökonomik nach dem Modell einer exakten Wissenschaft wie der Physik neu zu erfinden. Und zweifellos begann die Ökonomik, sich einen wissenschaftlicheren
Anschein
zu geben: Die Mathematik wurde zur bevorzugten Sprache, um ökonomische Gedankengänge auszudrücken. Es liegt auf der Hand, dass der Einsatz von Mathematik mehr Präzision und Stichhaltigkeit herbeiführen kann. Ein gültiger mathematischer Beweis ist unanfechtbar; er scheint die verlockende Aussicht zu eröffnen, die gewundenen Einerseits-andererseits-Argumente zu durchbrechen und eine klare Antwort zu liefern. In seiner Eigenschaft als Chefökonom der Weltbank hat Larry Summer
s (der spätere
US
-Finanzminister und Präsident der Harvard University) diese Zuversicht ausgestrahlt: »Verbreitet die Wahrheit – die Gesetze der Wirtschaftslehre sind wie die Gesetze der Ingenieurwissenschaften. Die gleichen Gesetze funktionieren überall.«
[7]
Aber natürlich kann die Mathematik uns keine Wirtschaftsgesetze liefern, die den Naturgesetzen oder den Regeln der Ingenieurwissenschaften gleichen. Die Mathematik kann uns helfen, ökonomische Theorien klarer und konsistenter zu machen, aber sie kann nicht dafür sorgen, dass diese Theorien uns etwas über die reale Welt erzählen. Ein weiteres Problem von Summer
s’ Sicht der Dinge ist, dass sie politische und moralische Fragen aus der Wirtschaftslehre auszuklammern scheint, weil ihre Beantwortung unwissenschaftliche Werturteile notwendig macht, die eben nicht »überall funktionieren«. Doch die Fragen bleiben bestehen, weil politische und moralische Abwägungen im Kontext der Wirtschaftswissenschaften unvermeidbar sind. Das führt dazu, dass solche Werturteile nach wie vor getroffen werden, aber meistens auf eine indirekte Art. Ein großer Teil der modernen Ökonomik geht mit einer versteckten politischen und moralischen Agenda einher, erweckt jedoch den Anschein einer objektiven Wissenschaft. Das Ergebnis ist eine Wirtschaftslehre, die unser Leben im 21. Jahrhundert allumfassend beeinflusst – obwohl sie in vielerlei Hinsicht weit davon entfernt ist, einfach oder offensichtlich zu sein.
Ein großer Teil der politischen und moralischen Agenda scheint auf einem Bild des Menschen zu beruhen, das hauptsächlich aus Eigennutz besteht. Das bringt uns wieder zu dem Kritikpunkt zurück, dass die Ökonomik aus einer Sammlung hochgradig unrealistischer Geschichten über einen selbstsüchtigen und hyperrationalen homo oeconomicus
bestehe. Tatsächlich ermöglichen viele ökonomische Theorien eine breitere Palette menschlicher Beweggründe als nur Eigennutz. Und die Probleme der modernen Wirtschaftslehre sind nicht ohne Weiteres zu lösen, indem man diese Lehre realistischer macht.
Viele Ökonomen sehen sich selbst ganz stolz als unsentimentale und brutal ehrliche Wissenschaftler, die Klartext reden. Seit Jahrzehnten ist die gewohnte Arbeitsgrundlage eines Mainstream-Ökonomen die Prämisse, die natürliche und dominierende Determinante
von menschlichem Verhalten sei Eigennutz. Diese Idee spukt hinter so unterschiedlichen Slogans wie »Geschäft ist Geschäft« und »zunehmende Ungleichheit ist in einer Marktwirtschaft unvermeidlich« herum. Solche Ökonomen und ihre Unterstützer aus anderen Lebensbereichen (von denen es eine Menge gibt) berufen sich auf den Begründer der Wirtschaftslehre, Adam Smit
h, dessen Hauptwerk The Wealth of Nations
(1776, deutsche Ausgabe: Der Wohlstand der Nationen
) auf der felsenfesten Annahme beruht, der Mensch sei von Natur aus ein selbstsüchtiges Wesen. Dann kommen sie zu dem Schluss, die moderne Ökonomik sei – nach dem Irrweg, der mit Karl Mar
x begann und mit dem Fall der Berliner Mauer endete – zu dieser klassischen Tradition zurückgekehrt, obwohl John Maynard Keyne
s sich die größte Mühe gegeben habe, das Unabwendbare hinauszuzögern.
Leider geht diese Version der Geschichte von Beginn an in die Irre. Adam Smith
s Ideen reflektieren die intellektuelle Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in der er lebte, und lassen sich nicht ohne Weiteres auf unsere heutige Welt übertragen. Das Fundament der Weltanschauung im Zeitalter der Aufklärung war das Konzept des aufgeklärten Selbstinteresses, was keineswegs das Gleiche ist wie Egoismus. Das aufgeklärte Selbstinteresse des Adam Smit
h ging davon aus, dass der Mensch kultiviertes Verhalten, höfliche Manieren und »ethische Gefühle« entwickelt. So befürchtete Smit
h zum Beispiel, dass des Menschen »Hang, die Reichen und Großen zu bewundern, dagegen Personen in ärmlichen und niedrigen Verhältnissen zu verachten oder hintanzusetzen«, zur »Verfälschung unserer ethischen Gefühle« führen würde.
[8]
Das hat kaum etwas zu tun mit dem »Jeder ist sich selbst der Nächste«-Zerrbild von Smit
h, das heute gern ins Feld geführt wird, um Egoismus zu rechtfertigen. Demnach hat die moderne Ökonomik uns nicht etwa zurückgebracht zu einer ewigen Wahrheit, die von Adam Smit
h niedergelegt wurde, sondern uns ganz woanders hingeführt.
Die oben erwähnten Klartext-Ökonomen gehen davon aus, dass wir immer und überall in einem engen Sinne egoistisch sind. (Aber wenn das stimmen würde, warum sollten wir dann auf diese Ökonomen hören? Würden sie nicht einfach immer das sagen, wovon sie sich eine Beförderung/Gehaltserhöhung/den Nobelpreis erhoffen?) Andere Ökonomen erkennen dagegen an, dass der Mensch sich durchaus altruistisch (selbstlos, uneigennützig, hilfsbereit)
verhalten kann, und zwar nicht nur gegenüber Angehörigen und Freunden, sondern auch gegenüber Fremden: Viele Menschen versuchen, eine auf der Straße gefundene Brieftasche dem rechtmäßigen Besitzer zukommen zu lassen.
[9]
Gleichwohl wird allem Anschein nach uneigennütziges Verhalten häufig als verdeckter Egoismus interpretiert. Sie machen Ihrer Freundin ein Geschenk, weil Sie sich erhoffen, dafür etwas zu bekommen, jedenfalls laut Greg Manki
w (Präsident George W. Bushs
ökonomischer Chefberater und Verfasser eines der bestverkauften Ökonomik-Lehrbücher der jüngeren Vergangenheit). Sie verhalten sich hilfsbereit, um einem anderen Menschen Ihre Tugendhaftigkeit zu signalisieren, damit er Ihnen genug Vertrauen entgegenbringt, um etwas von Ihnen zu kaufen oder Sie einzustellen (und später können Sie ihn dann immer noch beschummeln). Bei diesem Ansatz wird Absurdität mit Tautologie gemischt: Jeder Akt kann »letztlich« als egoistisch interpretiert werden, doch je breiter der Begriff »egoistisch« definiert wird, desto belangloser wird er.
In dem Bemühen, diese Schwierigkeiten zu umschiffen, vermeiden es heute viele Ökonomen, von Egoismus zu sprechen. Stattdessen gehen sie in ihren Theorien und Modellen davon aus, dass der Mensch sich rational
verhalte – ein Wort, dem von verschiedenen Ökonomen unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben werden. Wichtiger als seine exakte Definition ist jedoch die schlüpfrige Macht dieses Wortes, das die Möglichkeit eröffnet, sich ausweichend zwischen der be
schreibenden und der vor
schreibenden Bedeutung des Begriffs hin und her zu schlängeln. Eine bestimmte Verhaltensweise als »rational« zu bezeichnen, kann entweder beschreibend sein – rationales Verhalten ist normal oder typisch. Oder es kann vorschreibend sein – Sie sollten
sich rational verhalten. Hält man einem Ökonomen die überwältigenden Belege aus der Psychologie und Verhaltensökonomik entgegen, die zeigen, dass wir uns nur allzu häufig irrational verhalten, kann er antworten, dass ökonomische Theorien lediglich die »Was wäre wenn«-Implikationen der Annahme erkunden wollen, dass alle Menschen dem Ideal des Ökonomen von rationalem Verhalten entsprächen. Diese Theorien sollen keine genaue Beschreibung der Realität sein. Das klingt harmlos, führt aber dazu, dass der Begriff »rational« eine pseudowissenschaftliche Begründung für die Annahme liefert, dass wir uns wie ein homo oeconomicus
verhalten
sollten, indem wir jede unserer Entscheidungen zwanghaft durchkalkulieren – und dass dieses berechnende Kalkül irgendwie lobenswert oder überlegen sei, ganz unabhängig davon, was wir dann tatsächlich zu tun beschließen. Schlechtes Verhalten wird legitimiert, weil es zu »rationalem« Verhalten umdefiniert wurde.
Hier beginnt sich ein generelles Muster abzuzeichnen. Ökonomische Konzepte – etwa, was es bedeutet, sich »rational« zu verhalten – verändern uns
, um uns dem hyperrationalen homo oeconomicus
ähnlicher zu machen. Wie kann das angehen?
Man sagt, die erfolgreichsten Politiker würden »das Wetter machen«: Das heißt, sie formen und verbiegen unsere Wahrnehmung der Realität, bis sie ihrer Vision und ihren Werten entspricht. Auch die Ökonomen, die uns in den folgenden Kapiteln begegnen werden, haben das Wetter verändert – und zwar langfristig. Ihre Ideen liefern uns eine Art, die Welt zu sehen, die wahr wird, wenn wir sie uns zu eigen machen. Mit anderen Worten: Manche ökonomischen Ideen bewahrheiten sich selbst, zumindest teilweise. Wenn man sie glaubt, hat man sie schon weitgehend wahr gemacht. Wenn jeder davon ausgeht, dass alle anderen egoistisch sind, werden alle egoistischer. Wenn alle Käufer und Verkäufer auf einem bestimmten Markt annehmen, dass eine bestimmte ökonomische Theorie diesen Markt zutreffend beschreibt, verhalten sie sich in höherem Maße gemäß dieser Theorie, und so tendiert das Marktverhalten dann eher zu dem in der Theorie beschriebenen Verhalten. Manch ein Markt, vor allem in der Finanzwelt, könnte ohne eine Theorie, die ihn erklärt und ihm Regeln gibt, gar nicht existieren: Die gehandelten Finanzprodukte sind so komplex, dass ein Trader ohne eine Theorie (oder deren Manifestation als Computermodell) überhaupt nicht beurteilen könnte, ob sie billig oder teuer sind.
Wenn Ökonomen die Kluft zwischen ökonomischen Theorien und menschlichem Verhalten in der realen Welt sehen, besteht ihre Lösung in vielen Fällen darin, die Welt entsprechend zu ändern, und nicht etwa die Theorie.
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Der Ökonom Richard Thale
r hat 2017 den Wirtschaftsnobelpreis gewonnen, für seine Arbeit, die zu der
Nudge
-Idee führte. Nudge-Ökonomen wollen das Umfeld verändern, in dem wir Entscheidungen treffen, um uns dazu zu bringen, uns so zu entscheiden, wie der
homo oeconomicus
sich entscheiden würde. Sie wollen erreichen, dass wir uns entsprechend der ökonomischen
Theorie verhalten, obwohl wir überhaupt nicht so denken. Dieser Ansatz, der unser Entscheidungsumfeld »idiotensicher« machen will, geht davon aus, dass die meisten von Menschen getroffenen Entscheidungen jenen des roboterhaften
homo oeconomicus
unterlegen sind, jedenfalls nie überlegen. Die Ökonomen unterstellen, dass wir uns wie der
homo oeconomicus
entscheiden würden, wenn denn nur unsere fehlerträchtige Natur das zuließe.
Das bringt uns zu einer direkteren Methode, wie die Ökonomik das Wetter machen, den Zeitgeist beeinflussen kann. Sie bietet uns Orientierung, eine Sammlung von Regeln für unser Leben, die zu befolgen uns empfohlen wird. Manchmal sind diese Regeln etwas sonderbar.
Lebensentwürfe
Im Jahr 1954 hielt Dennis Robertso
n, einer der führenden Ökonomen seiner Zeit, eine Vorlesung zum Thema: »What does the economist economize?« (»Womit geht der Ökonom sparsam um?«) Robertson
s Antwort: mit Liebe. Diese Antwort hätte die Mont Pèlerin Society sicherlich begrüßt. (Robertso
n selbst war keines ihrer Mitglieder, aber sein engster Kollege und Protegé Stanley Denniso
n war ein Freund von Hayek
s und von Beginn an Mitglied der Society.)
Robertso
n verwendete das Wort »Liebe« als Kürzel für Freundlichkeit, Solidarität, Großzügigkeit und andere altruistische Tugenden. Er argumentierte, dass Ökonomik und Ökonomen es vermeiden würden, »jene knappe Ressource Liebe« zu vergeuden, wenn sie politische Maßnahmen, Gesetze und Organisationen förderten, die sich ausschließlich auf Egoismus verließen. Für Robertso
n waren Liebe und unsere altruistischen Tugenden so ähnlich wie knappe Rohstoffe, deren Bestand bei jeder Verwendung schrumpft – also sollten sie wohlweislich für Notzeiten gehortet werden, anstatt verantwortungslos im Alltag verschwendet zu werden. Viele bedeutende Ökonomen teilen diese etwas befremdlich anmutende Fehleinschätzung des menschlichen Wesens. Der Nobelpreisträger Kenneth Arro
w sprach sich dafür aus, Blutkonserven über einen Markt bereitzustellen und nicht über ein Spendensystem, weil er befürchtete, auf Spenden sei kein Verlass: »Auf ethisches Verhalten sollten wir nur dann zurückgreifen«, so Arro
w
, »wenn das Preisfindungssystem zusammenbricht. … Wir wollen nicht den Fehler machen, die knappe Ressource altruistischer Motivation leichtfertig aufzubrauchen.«
[10]
Larry Summer
s hat den Umstand, dass Ökonomen sich auf Egoismus verlassen, mit ähnlichen Argumenten verteidigt: »Wir alle haben nur eine gewisse Menge an Altruismus in uns. Ökonomen wie ich betrachten Altruismus als ein wertvolles und seltenes Gut, mit dem sparsam umgegangen werden muss.«
[11]
Es ist richtig, dass eine Gesellschaft, in der die Menschen ständig gedrängt werden, sich solidarisch mit ihren Mitbürgern/Genossen zu zeigen, schnell an die Grenzen des Altruismus stoßen wird. Doch Altruismus wird nicht durch Beanspruchen aufgebraucht; das wäre wie der Autofahrer, der, nachdem er einen anderen Pendler im morgendlichen Berufsverkehr die Vorfahrt gelassen hat, sagt: »Für heute habe ich meine gute Tat getan; für den Rest des Tages kann ich mich wie ein Flegel aufführen.«
[12]
So funktionieren unsere altruistischen Tugenden nicht. Im Gegenteil, sie sind eher wie ein Muskel, der erlahmt und schrumpft, wenn er nicht regelmäßig gebraucht wird. Schon Aristotele
s hat betont, dass Tugend etwas sei, das wir durch Übung fördern: »So nun wird man auch gerecht dadurch, daß man gerecht handelt … und tapfer dadurch, daß man sich tapfer benimmt.«
[13]
Heute drücken wir es etwas weniger poetisch aus: »Use it or lose it.« (»Nutze es oder verliere es.«)
Auch hier sehen wir, wie wirtschaftliches Verhalten sich selbst bewahrheiten kann. Indem es sich auf unseren Egoismus konzentriert, führt ökonomisches Denken dazu, dass unsere altruistischen Tugenden schwinden und wir egoistischer werden – doch die Ironie liegt darin, dass all das getan wird, um diese altruistischen Tugenden zu bewahren.
Der Neurowissenschaftler Antonio Damasi
o hat bahnbrechende Studien mit Patienten durchgeführt, bei denen das System des Gehirns, in dem Emotionen verarbeitet werden, durch eine Verletzung geschädigt war. Eines Tages wollte Damasi
o mit einem solchen Patienten den Termin für das nächste Treffen vereinbaren. Während der Patient fast eine halbe Stunde in seinem Terminkalender blätterte, »zählte er Gründe für und gegen die beiden Termine auf. Vorangehende Verabredungen, die zeitliche Nähe anderer Verabredungen, mögliche Wetterverhältnisse. … Er zwang uns, einer ermüdenden
Kosten-Nutzen-Analyse zu folgen, einer endlosen Aufzählung und einem überflüssigen Vergleich von Optionen und möglichen Konsequenzen.«
[14]
Das hörte erst auf, als Damasi
o ihm ins Wort fiel und ihm einfach mitteilte, wann das nächste Treffen stattfinden würde.
Wir alle wissen, dass niemand so leben kann wie der homo oeconomicus
. Und wenn »rational sein« bedeutet, endlose Berechnungen über Kosten und Nutzen anzustellen, dann können wir auch nicht rational sein. Warum also sind die Lebensmodelle der Ökonomen so einflussreich geworden?
Die Interessen der Reichen und Mächtigen spielen dabei natürlich eine wichtige Rolle, aber – wie es Regierungs-Insider häufig berichten – niemand gewinnt Einfluss auf die Regierungspolitik, indem er ganz unverfroren argumentiert: »Weil es mich reich machen wird.«
[15]
Sie brauchen eine respektable Sprache, um ihre Forderungen zu formulieren. Und die Ökonomik ist zu dieser Sprache geworden.
Keyne
s schloss sein einflussreichstes Buch mit einer Erklärung über die Macht ökonomischer Ideen:
Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen. Verrückte in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft hören, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Schreiberling ein paar Jahre vorher verfaßte. Ich bin überzeugt, daß die Macht erworbener Rechte im Vergleich zum allmählichen Durchdringen von Ideen stark übertrieben wird. … Aber früher oder später sind es Ideen, und nicht eigennützige (Gruppen-)Interessen, von denen die Gefahr kommt, sei es zum Guten oder zum Bösen.
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Von Haye
k, in vielerlei Hinsicht Keyne
s’ intellektueller Gegner, schloss sich dieser Einschätzung an: Er zitierte 1947 diese Passage aus Keyne
s’ Buch in seine
r Eröffnungsrede vor der Mont Pèlerin Society. Später wurde sie zum Motto des Institute of Economic Affairs erkoren.
Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die moderne Ökonomik zum Teil die Lücke füllt, die in modernen Gesellschaften durch den Niedergang der Religion entstanden ist. Im 21. Jahrhundert ist unsere Sicht der Welt unbewusst durch ökonomische Konzepte und
Werte konditioniert. Die Sprache der Ökonomik schränkt ganz erheblich die Menge der politischen und moralischen Fragen ein, die gestellt werden können. Mit der modernen Ökonomik als Orientierung sehen wir die anderen Fragen einfach nicht mehr. Um unsere Gesellschaft zu verändern – oder einfach nur zu entscheiden, ob Veränderungen notwendig sind –, müssen wir verstehen, wie eingeschränkt unser Denken geworden ist; wie wir Alternativen zur derzeit vorherrschenden Schulweisheit ablehnen oder ignorieren, ohne uns dessen überhaupt bewusst zu sein.
Um zu verstehen, wie diese ökonomischen Ideen aufkamen und Verbreitung gefunden haben, müssen wir einen Blick in die Vergangenheit werfen. In den folgenden Kapiteln werden wir sehr unterschiedliche Ökonomen auf ihren intellektuellen Reisen begleiten, mit denen sie zu den Hohepriestern unserer Zeit wurden. Wie bei wirklichen Reisen haben diese Ökonomen nicht immer den kürzesten Weg genommen – es gab Umwege, sei es gewollt oder ungewollt. Und auf der Reise kam es immer wieder zu Zwischenstationen: Ideen, die abgelegt und über Jahre oder Jahrzehnte in Vergessenheit gerieten, bis sie plötzlich wieder im zeitgenössischen Leben auftauchten. Manche Ideen fangen gut an, werden dann jedoch von späteren Denkern grob verfälscht oder falsch angewendet. Andere Ideen sind von Anfang an fehlerhaft. Inmitten all dieser chaotischen Vielfalt sehen wir das Zusammenspiel von Politik, Kultur und Zufall, das bestimmt, wie diese Ideen sich verbreiten. Und die paradoxe Qualität von reizvollen, verführerischen Ideen, von denen sich dann erweist, dass sie letzten Endes großen Schaden anrichten. Die Geschichten dieser Hohepriester sind sehr unterschiedlich, doch zusammen zeigen sie, wie es dazu kommen konnte, dass die Ökonomik unser Leben dominiert.