2    Traue niemandem
Oh, die RAND Corporation ist der Segen der Welt;
Sie denken den ganzen Tag gegen Geld.
Sie sitzen da und machen Spiele über das Aufgehen in Rabatz,
Für ihre Berechnungen benutzen sie dich und mich, mein Schatz,
Für ihre Berechnungen benutzen sie dich und mich. [1]
Zwar waren die meisten der Doktoranden im Fachbereich Mathematik, die im Herbst 1948 an die Princeton University in New Jersey zurückkehrten, ziemlich eingebildete Burschen, aber eine r von ihnen war noch eingebildeter. Obwohl er erst 19 Jahre alt war, gab er ständig mit seinem mathematischen Wissen an. Niemand kann sich erinnern, ihn jemals in einer normalen Vorlesung gesehen zu haben; niemand hat ihn je mit einem Buch in der Hand gesehen. Das mag zum Teil daran gelegen haben, dass e r Legastheniker war, aber wohl auch daran, dass er glaubte, durch zu vieles Lesen würde er seine Kreativität unterdrücken. Er machte regelmäßig einen Umweg über die Mercer Street, weil e r hoffte, ihren berühmtesten Anwohner zu Gesicht zu bekommen – Albert Einstei n. Eines Tages hatte er Glück. Doch ein paar Wochen nach Beginn des Semesters beschloss er, dass ihm ein Blick aus der Ferne nicht reiche, und machte einen Termin, um Einstei n zu treffen.
Er erzählte Einstein s Assistentin, er habe eine Idee über Schwerkraft, Reibung und Strahlung, über die er mit dem großen Mann sprechen wolle. Einstei n hörte ihm höflich zu und saugte an seiner kalten Pfeife, während der 20-jährige Student Gleichungen an die Tafel schrieb. Das Treffen dauerte fast eine Stunde, und am Ende grummelte Einstei n: »Sie sollten noch mehr Physik studieren, junger Mann.« [2] Der Student befolgte Einstein s Rat zwar nicht sofort, aber viele Jahre später wurde ihm der Nobelpreis zugesprochen – freilich nicht für Physik, sondern für Wirtschaft. Dieser Student war John Nas h, und die Idee, die ihm den Nobelpreis eintrug, sollte zu einem zentralen Stützpfeiler unserer heutigen Sicht von Interaktionen zwischen Menschen mit gegensätzlichen Interessen werden.
Um Nash s brillante Idee zu verstehen – und wie sie nicht nur die Richtung der Ökonomik, sondern auch großer Teile der Sozialwissenschaften, Biologie, Philosophie und Rechtswissenschaften verändert hat –, müssen wir mit der Zeit, der Örtlichkeit und der Theorie beginnen, aus der heraus sie entstand.
Als Ort und Zeitpunkt sind zu benennen: Santa Monica in Kalifornien zu Beginn der 1950er-Jahre, genauer: am Ende des Malibu Beach Crescent, etwas westlich von Los Angeles. An der Strandpromenade gab es Hotels und Seniorenheime, in sanften Beige- und Rosatönen gehalten, durchsetzt von bunt blühenden Bougainvilleen. Der Duft von Oleander hing in der Luft. An einem Ort wie Santa Monica würde man die Büros der RAND Corporation, eines geheimnisvollen Thinktanks, wo Mathematiker und Wissenschaftler Strategien für einen denkbaren Atomkrieg mit der UDSSR entwickelten, zuletzt erwarten. Gerade hatte der Koreakrieg begonnen, und der Kalte Krieg wurde immer heißer. Die Atmosphäre in der RAND Corporation war von Verfolgungs- und Größenwahn sowie der Anbetung abstrakter Logik geprägt. Die Atomwaffentechnologie steckte noch in den Kinderschuhen. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs hatten die US -Generäle erkannt, dass sie den Rat von Experten brauchen würden, wie die neuesten Waffen – angefangen beim Radar über Langstreckenraketen bis hin zur Atombombe – am besten einzusetzen sein würden. Zu diesem Zweck wurde 1948 die RAND Corporation gegründet (der Name ist ein Akronym für »Research AN d Development«), ursprünglich als Ableger des Flugzeugherstellers Douglas Aircraft Corporation. RAND wurde beschrieben als »das Projekt der Air Force, um kluge Köpfe einzukaufen«. [3] Mit den Worten des einflussreichen RAND -Atomphysikers Herman Kah n war es ihre Aufgabe, das »Undenkbare zu denken«.
Die intellektuelle Grundlage für all diese Nuklearstrategien war die Spieltheorie, das perfekte Werkzeug für die RAND -Variante von militärischem Denken. Die Spieltheorie nimmt an, der Mensch sei durch und durch selbstsüchtig und hyperrational, und nicht nur im Besitz sämtlicher für seine Entscheidungen benötigten Informationen, sondern darüber hinaus in der Lage, perfekt zu rechnen und logisch zu denken.
Normalerweise wird John von Neuman n als Begründer der Spieltheorie gesehen. Nas h mag vielleicht ein Genie gewesen sein, doch im Vergleich zu von Neuman n war er fast ein mathematischer Niemand.
Dr. Seltsam und der Enkel des Kaisers
In der Filmsatire Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben , die 1964 in die Kinos kam, wurde der Kalte Krieg auf die Schippe genommen. Es wurde das Märchen von einem unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang erzählt, der von einem verrückten General der US Air Force ausgelöst wird, indem er einen atomaren Erstschlag gegen die UDSSR befiehlt. Falls Sie den Film gesehen haben, werden Sie sich vielleicht an Dr. Seltsam selbst erinnern, wie er in seinem Rollstuhl wild gestikuliert und in einem merkwürdigen mitteleuropäischen Akzent herumschwadroniert. Obwohl der Film so grotesk wirkt, war er in hohem Maße von tatsächlichen Ereignissen inspiriert. Im Jahr 1956 traf Präsident Eisenhowe r sich regelmäßig insgeheim mit einem ungarischen Mathematike r, der auf einen Rollstuhl angewiesen war und per Limousine von seinem Krankenbett im Washingtoner Walter Reed Hospital abgeholt und von dort ins Weiße Haus und wieder zurückgebracht wurde. Der Patien t wurde Tag und Nacht von bewaffneten Wärtern bewacht, da er häufig Anfälle erlitt, bei denen er unkontrolliert vor sich hinbrabbelte, sodass man befürchtete, er könne militärische Geheimnisse ausplaudern, falls es einem feindlichen Agenten gelingen würde, bis in sein Krankenzimmer vorzudringen. Dieser Patient war John von Neuman n in seinem letzten Lebensjahr, zweifellos eine der Inspirationen für die Filmfigur des Dr. Seltsam. (An einer Stelle des Films spricht Dr. Seltsam von Forschungen der »Bland Corporation«.)
Vor dem tragischen Verfall seiner Gesundheit war »Johnny« von Neumann s Genie so überragend, dass es sich kaum zusammenfassend beschreiben lässt. Er war ein Wunderkind der Mathematik: Schon mit acht Jahren konnte e r , wenn man ihm zwei achtstellige Zahlen nannte, die eine durch die andere im Kopf dividieren. Obwohl er als Begründer der Spieltheorie gilt, betrachten die meisten Mathematiker von Neumann s Arbeiten in theoretischer Mathematik als seine größere Leistung. E r war zweifellos einer der herausragendsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts und wird häufig für den bedeutendsten überhaupt gehalten. Sei n Gedächtnis ist einfacher zu beschreiben: Sobald er ein noch so langes Buch nur einmal gelesen hatte, konnte er den gesamten Text wörtlich rezitieren (dieses Kunststück zeigte e r zum ersten Mal im Alter von sechs Jahren, anhand von verschiedenen Seiten des Budapester Telefonbuchs). Er war einer der Vordenker auf dem Weg zur Erfindung der Atombombe und des modernen Computers; er konnte im Kopf ein Computerprogramm (mit 40 komplexen Programmzeilen) schreiben und testen. In der Publikumspresse wurde er ernsthaft als »der schlaueste Kopf der Welt« bezeichnet. An der Princeton University erwarb e r sich unter seinen Kollegen einen legendären Ruf; man witzelte, er sei gar kein Mensch, sondern ein Halbgott, der den Menschen gründlich studiert und gelernt habe, ihn perfekt zu imitieren. Bemerkenswerterweise erzählte man sich diesen Witz über John von Neuman n und nicht über Einstei n, der zur gleichen Zeit an der Princeton University war.
Von Neumann s Meinung über Sowjetrussland passte ebenso gut zum RAND -Weltbild wie seine Spieltheorie. Im Hinblick auf die Möglichkeit einer atomaren Auseinandersetzung mit der UDSSR sagte er schlicht: »Die Frage ist nicht ob, sondern nur wann.« Angesichts dieser Prämisse steckte etwas von spieltheoretischer Logik in von Neumann s Befürwortung eines Präventiv-Atomkriegs. Oder, wie e r 1950 einmal bemerkte: »Wenn Sie sagen, warum sollten wir sie nicht morgen bombardieren, dann sage ich: warum nicht heute? Wenn Sie sagen, heute um fünf, dann sage ich: warum nicht um eins?« [4] Nachdem die USA die Wasserstoffbombe entwickelt hatten (zum Teil basierend auf Konzepten von Neumanns), konnten sie aus seiner Sicht ihren Vorsprung im atomaren Spiel nur halten, indem sie die Sowjets bombardierten, bevor die auch eine Wasserstoffbombe gebaut hatten. Der US -Außenminister John Foster Dulle s ließ sich durch von Neumann s spieltheorische Logik überzeugen; zum Glück war Präsident Eisenhowe r nicht so sicher.
Von Neumann s Argumentation stammte direkt aus seinem Buch Theory of Games and Economic Behavior (deutsche Ausgabe: Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten ), das er gemeinsam mit dem Princeton-Ökonomen Oskar Morgenster n verfasst und 1944 veröffentlicht hatte. Wie von Neuman n war auch Morgenster n ein österreichisch-ungarischer Emigrant mit keiner allzu hohen Meinung vom Intellekt der meisten Menschen. Morgenster n kultivierte ein exzentrisches Image: Er prahlte damit, ein (illegitimer) Enkel des Kaisers Friedrich III . zu sein und ritt hoch zu Ross in maßgeschneiderten Dreiteilern in Princeton herum. Morgenster n spielte eine wichtige, aber untergeordnete Rolle bei der Entwicklung der Spieltheorie, eine Art Dr. Watson für von Neumann s Sherlock Holmes.
Zu dieser Zeit, also gegen Ende der 1940er-Jahre, orientierte sich die orthodoxe Schule der Wirtschaftslehre immer noch an Keyne s’ Vision des idealen Ökonomen, der zugleich »Mathematiker, Historiker, Staatsmann und Philosoph« sein müsse. [5] (Zugegebenermaßen führte dieser interdisziplinäre ökonomische Ansatz häufig zu Einerseits-andererseits-Empfehlungen, die Präsident Harry S. ​Truma n zu dem Ausruf brachten: »Gebt mir einen Ökonomen mit nur einer Seite!«) Von Neuman n und Morgenster n zeigten nicht das geringste Interesse an dieser keynesianische n Vision der Wirtschaftslehre; sie waren sich völlig darüber einig, dass die Wirtschaftswissenschaften in einem beklagenswerten Zustand seien. Von Neuman n: »Die Ökonomik ist noch mindestens eine Million Meilen von … einer fortschrittlichen Wissenschaft wie der Physik entfernt.« [6] Morgenster n: »Ökonomen haben schlichtweg keine Ahnung, was Wissenschaft bedeutet. Ich bin angewidert von all diesem Unsinn. Ich komme immer mehr zu dem Schluss, dass Keyne s ein Scharlatan der Wissenschaft ist und seine Anhänger noch nicht einmal das.« [7] Wenn aber die Ökonomik in Trümmern lag, dann war es ihre Tandemaufgabe, sie wieder aufzubauen. Sie fassten den Plan, die Spieltheorie einzusetzen, um aus der Ökonomik eine ordentliche Wissenschaft zu machen.
Ihr Buch Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten begann mit der Vermutung, dass die Spieltheorie ähnlich gravierende Auswirkungen auf die Wirtschaftswissenschaften haben werde wie Newton s Entdeckung der Schwerkraft auf die Physik. Tatsächlich untertrieb diese Behauptung sogar noch von Neumann s und Morgenstern s Ambitionen; ursprünglich hatten sie geplant, ihr Buch unter dem Titel Allgemeine Theorie des rationalen Verhaltens zu veröffentlichen, weil sie hofften, dass die Spieltheorie sich letztlich zum einzigen grundlegenden Rahmenwerk für die Analyse menschlicher Beziehungen entwickeln würde.
Die ersten Rezensionen des Buches waren euphorisch. Von einem Tag auf den anderen verwandelte sich die Spieltheorie von einem obskuren Randgebiet der Mathematik in eine neue Wissenschaft der sozialen Interaktion, die auf großes öffentliches Interesse stieß: Im März 1946 erschien ein Artikel über Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten auf Seite Eins der New York Times .
Allerdings wies diese neue Wissenschaft eine klaffende Lücke auf. In ihrem Buch unterscheiden von Neuman n und Morgenster n zwischen kooperativer und nichtkooperativer Spieltheorie. Bei kooperativen Spielen können die Spieler Vereinbarungen treffen oder Verträge abschließen, bevor das eigentliche Spiel beginnt. Die nichtkooperative Spieltheorie nimmt dagegen an, dass solche Vereinbarungen nicht möglich sind, da sie nicht durchgesetzt werden können (Spieler können zwar Versprechungen machen, sie dann aber brechen). Doch das Buch geht nicht auf den Großteil der nichtkooperativen Spiele ein, sondern nur auf eine bestimmte Art von Spiel, nämlich Nullsummenspiele zwischen zwei Spielern.
Ein Nullsummenspiel ist jedes Spiel, bei dem alles, was für den einen Spieler gut ist, für den anderen schlecht ist. Diese Randbedingung kann einen großen Unterschied für die Analyse ausmachen. Das atomare Patt zwischen den Vereinigten Staaten und der UDSSR war ein gefährliches, unbestreitbar »nichtkooperatives« Spiel – aber war es auch ein Nullsummenspiel? Sollten die Strategen der RAND Corporation und des Pentagons von vornherein die Möglichkeit von Ergebnissen ausschließen, bei denen keine Seite gewinnt? Und auch die Möglichkeit ausschließen, dass beide Seiten gewinnen (der Ursprung des Begriffs »Win-win-Situation«)? Wenn sie von Neumann s und Morgenstern s nichtkooperative Nullsummenspieltheorie übernahmen, konnten sie solche Möglichkeiten nicht analysieren.
Die Lehre aus dieser Art von Spieltheorie ist ganz einfach. Die beste Strategie ist, für jede zur Verfügung stehende Alternative den denkbar schlechtesten Ausgang zu berechnen und dann die Alternative zu wählen, die zu dem am wenigsten schlechten unter all diesen denkbar schlechtesten Ergebnissen führt. Diese Minimax -Strategie wird so genannt, weil Sie dabei Ihren maximal möglichen Verlust minimieren. Im Endeffekt nehmen Sie an, dass Ihr unkooperativer Gegner versuchen wird, Ihnen einen möglichst großen Verlust beizufügen (was schlecht ist für Sie, muss gut sein für ihn), also minimieren Sie dieses Risiko. Von Neuman n wurde zu seiner Zeit weithin für den »Erfinder« der Minimax-Strategie gehalten, 4 und es war genau diese Argumentation, die ihn zu seiner Überzeugung brachte, dass die Vereinigten Staaten eine Wasserstoffbombe auf Russland abwerfen sollten, bevor die Sowjets auch eine entwickelt hätten.
Doch die reale und die intellektuelle Welt veränderten sich schnell. Im Jahr 1953 führte die Sowjetunion ihren ersten Wasserstoffbombentest durch, wodurch von Neumann s Empfehlung hinfällig wurde. Und bis dahin war die Minimax-Strategie weitgehend ad acta gelegt worden – und zwar von Nas h selbst, der mittlerweile eine wesentlich allgemeinere Strategie für nichtkooperative Spiele veröffentlicht hatte, die auch bei Nichtnullsummenspielen mit mehr als zwei Spielern anwendbar war.
Im Jahr 1950 veröffentlichte Nas h die einfache und elegante Idee, mit der er sich einen Namen machte und die heute als Nash-Gleichgewich t bekannt ist. Sein Artikel war kaum 300 Worte lang und von dem renommierten Wissenschaftsjournal Proceedings of the National Academy of Sciences zur Veröffentlichung akzeptiert worden – für einen Doktoranden eine hervorragende Leistung. Von Neuman n wusste von dieser Weiterentwicklung der Spieltheorie, erkannte jedoch ihre Bedeutung nicht. Wir wissen, dass er davon wusste, weil Nas h ein Treffen mit von Neuman n initiiert hatte, um ihm davon zu berichten. Nash s Begegnung mit von Neuman n war noch weniger erfolgreich als sein Treffen mit Einstei n ein Jahr zuvor.
Erneut hatte der 21-jährige Nas h das Gefühl, eine Idee zu haben, die der Aufmerksamkeit eines weltberühmten Genies würdig war. Doch dieses Mal war die Ablehnung ziemlich schroff; Nas h hatte kaum mehr als ein paar Sätze vorgebracht, um den mathematischen Beweis zu skizzieren, der ihm vorschwebte, als von Neuman n ihn unterbrach: »Wissen Sie, das ist banal. Das ist lediglich ein Fixpunktsatz.« [8]
In gewisser Hinsicht hatte von Neuman n recht. Die Definition des Nas h-Gleichgewichts war nur eine (mathematisch unkomplizierte) Erweiterung eines bekannten mathematischen Satzes. Nash s Beitrag war mathematisch nicht so tiefschürfend wie jede der großen mathematischen Leistungen von Neumann s. Doch indem sie eine allgemeinere Strategie für nichtkooperative Spiele liefert, macht Nash s Idee vom Gleichgewicht letzten Endes von Neumann s Spieltheorie überflüssig. Und sie beleuchtet einen zentralen Aspekt dessen, was es bedeutet, menschlich zu sein – Interdependenz oder wechselseitige Abhängigkeit.
Da sich unsere Entscheidungen wechselseitig beeinflussen, hängt die beste Strategie eines Individuums davon ab, welche Strategien die anderen wählen. Doch in vielen Situationen – sei es beim Pokerspiel oder im Wettbewerb gegen einen Erzrivalen im geschäftlichen Bereich – müssen Sie eine Strategie wählen, ohne zu wissen, welche Strategien die anderen verfolgen. Und entsprechend müssen auch die anderen sich entscheiden, ohne Ihre Strategie zu kennen. Vor Nas h schien die Argumentationskette in solchen Situationen in eine immer tiefere, endlose Regression zu fallen: »Wenn du glaubst, ich werde mich für X entscheiden, ist es besser für mich, wenn ich mich für Y entscheide. Aber wenn du meinst, dass ich das erkannt habe, dann …« Anders ausgedrückt: Argumentationsketten für eine bestimmte Strategie fallen oft in sich zusammen, sobald Sie erkennen, dass auch Ihr Gegner sich dieser Logik wahrscheinlich bewusst sein wird.
Nas h durchbrach diesen Zirkelschluss mit der einfachen, aber brillanten Erkenntnis, dass ein Muster von sozialem Verhalten verschwinden wird, sobald einer der Beteiligten erkennt, dass er besser abschneiden kann, wenn er sich anders verhält. Daraus folgt: Wenn ein bestimmtes soziales Interaktionsmuster anhalten soll, darf keiner der Beteiligten mehr einen Grund haben, sein Verhalten zu ändern. Und das muss bedeuten, dass sich alle schon im Bewusstsein der von den anderen gewählten Strategien für die bestmögliche Strategie entschieden haben. Das ist ein Nash-Gleichgewich t. Obwohl keiner, während er seine Entscheidung trifft, weiß, was alle anderen tun werden, ist es so, als ob jeder die von jedem anderen verfolgte Strategie richtig erraten hat und entsprechend reagiert. Diese Situation wird zu Recht als Gleichgewicht bezeichnet, weil sie stabil ist: Niemand kann besser abschneiden, indem er sein Verhalten ändert.
Die Spieltheorie hat zwei offenkundige Anwendungen. Erstens dient sie als Entscheidungshilfe für Spieler, die in der realen Welt an einem Spiel teilnehmen – eine Spielanweisung, die Ihnen sagt, welche Strategie Sie in einer bestimmten Situation am besten einsetzen sollten. Zweitens ist sie ein Werkzeug für andere, mit dem sie vorhersagen können, was passieren wird – wie das Spiel tatsächlich verlaufen wird. Die Bedeutung dieser zweiten Anwendung trat im Kalten Krieg zutage, als die ganze Welt abwartete und sich fragte, wie der nukleare Rüstungswettlauf zwischen den USA und der UDSSR ausgehen würde. Doch sie spielt auch eine Rolle, wenn der Einsatz niedriger ist: Wenn Samsung und Apple strategische Spiele miteinander spielen, bei denen es um Preis und Design von neuen Smartphone-Modellen geht, versuchen viele Außenseiter zu prognostizieren, was passieren wird – Verbraucher, Aufsichtsbehörden und Chiphersteller sind allesamt daran interessiert, wie das Spiel ausgehen wird. Kurzum, wir greifen auf die Spieltheorie zurück, um Antworten zu finden, eine Lösung, zu der auch eine Spielanweisung gehört, oder eine Prognose, wie das Spiel ablaufen wird, oder beides. Seit Nash s 1950 veröffentlichter Arbeit ist das Nash-Gleichgewich t die Grundlage solcher Antworten gewesen: Es liefert zugleich eine Prognose, wie ein stabiles Ergebnis aussehen muss, und eine Spielanweisung.
Das Nas h-Gleichgewich t hat die Merkmale eines echten intellektuellen Durchbruchs – eine Idee, die vor Nas h noch niemandem gekommen war, die jedoch rückblickend völlig offensichtlich erscheint. Gemeinsam hatten von Neuman n, Morgenster n und Nas h eine Revolution unseres Denkens über menschliche Interaktion ausgelöst. Was passierte als Nächstes?
Nichtkooperation zum Thema Nichtkooperation
Zunächst passierte gar nichts. Ökonomen übernahmen die Spieltheorie nicht; ein paar Mathematiker vertieften die mathematischen Bestandteile der Spieltheorie als Projekt in theoretischer Mathematik; und die RAND Corporation verfolgte hartnäckig einen spieltheorischen Ansatz zur Militärstrategie, kam jedoch kaum zu Ergebnissen von praktischer Bedeutung. 5 Trotz des anfänglich überschwänglichen Lobes, mit dem Ökonomen von Neumann s und Morgenstern s Ideen überhäuften, gab es so gut wie keinen Fortschritt in ihrem grandiosen Projekt, für die Sozialwissenschaften das zu leisten, was Newto n für die Mechanik gelungen war. Ein paar Spielverderber hatten sogar auf die entscheidende Schwachstelle der Analogie hingewiesen: Bälle, Planeten und alle anderen Objekte der newtonschen Mechanik sind sich der Tatsache, dass sie untersucht werden, nicht bewusst. Der Mensch ist sich dagegen dieses Umstandes sehr wohl bewusst – und wird womöglich sein Verhalten entsprechend ändern.
Derweil hatte das Projekt unter menschlichen Problemen zu leiden: Es wurde beinahe zu einem totalen Rohrkrepierer. Der Umstand, dass von Neuman n Nash s Idee vom Gleichgewicht abgelehnt hatte, sowie einige relativ geringfügige Kritikpunkte von seinem Doktorvater führten Nas h – dem es schwerfiel, intellektuelle Kritik anzunehmen – dazu, ernsthaft zu überlegen, seine Forschungsarbeit zur Spieltheorie völlig aufzugeben. Spätestens Ende der 1950er-Jahre traten die Ursachen seiner Probleme zutage: Er wurde mit einer paranoiden Schizophrenie diagnostiziert und musste immer längere Zeiten im Krankenhaus verbringen. Schon damals dominierte die Krankheit sein Verhalten: Er war aggressiv ehrgeizig, selbst nach den Standards der jungen Mathematiker-Elite, in deren Kreisen er sich bewegte. Und er war sich der dreisten Aggressivität, mit der er andere vor den Kopf stieß und sich von ihnen entfremdete, praktisch nicht bewusst.
Während viele der größten intellektuellen Leistungen von Neumann s in Zusammenarbeit mit anderen entstanden und der größte Teil des (mit einem Koautor verfassten) Werkes Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten sich der kooperativen Spieltheorie widmete, war Nas h ein Einzelgänger. Tatsächlich argumentierte er sogar (in einem weiteren bahnbrechenden Artikel, den er kaum ein Jahr nach seiner Arbeit zum Nash-Gleichgewich t veröffentlichte), von Neumann s kooperative Spieltheorie sei überflüssig. Sämtliche kooperativen Spiele, so Nas h, sollten de facto als nichtkooperativ aufgefasst werden: Die scheinbar kooperative Phase, bei der die Spieler Vereinbarungen treffen, bevor das eigentliche Spiel beginnt, sollte selbst als ein separates, nichtkooperatives Spiel betrachtet werden. Mit anderen Worten: Für Nas h erweist sich das, was auf den ersten Blick wie Kooperation aussieht, als etwas völlig anderes. Dieser Ansatz, der als das Nash-Program m bekannt wurde, war das erste einer ganzen Reihe von Programmen in den Sozialwissenschaften, die ab den 1960er-Jahren scheinbar kooperatives oder altruistisches Verhalten als eigentlich unkooperativ und im Grunde genommen egoistisch »erklären«. Weder Nas h noch seine Spieltheorie war kooperativ. Vier Jahrzehnte später zeigte sich Nas h aus der entspannten Sicht eines Nobelpreisträgers desinteressiert an der anfänglichen Ablehnung seines Gleichgewichtskonzepts durch von Neuman n und andere, doch seine spieltheoretisch geprägte Sicht der Welt bleibt erstaunlich: »Ich spielte ein nichtkooperatives Spiel mit von Neuman n, anstatt einfach zu versuchen, mich seinem Netzwerk anzuschließen. Und natürlich war es aus psychologischer Sicht verständlich, daß er sich für den theoretischen Ansatz eines Konkurrenten nicht allzu sehr begeistern konnte.« [9]
Nash s Abstieg in die Schizophrenie war sicherlich einer der Gründe, warum die Spieltheorie von Ökonomen nur zögerlich angenommen wurde: Der führende Vordenker der nichtkooperativen Spieltheorie verstummte. Doch von Neumann s Einstellung spielte eine ebenso wichtige Rolle; Mitte der 1950er-Jahre war er mit der Entwicklung der Atombombe und des Computers vollauf beschäftigt. Als er dann Zeit fand für die Spieltheorie, beklagte er abermals, dass die Mainstream-Wirtschaftstheorie mathematisch primitiv sei. Damit machte er sich viele der selbsternannten »mathematischen« Ökonomen seiner Zeit zu erbitterten Feinden. Doch ganz gleich, was von Neuman n von ihrer Mathematik gehalten haben mag, waren sie doch ganz offensichtlich die Menschen mit genug mathematischer Bildung, um die Aufgabe in Angriff zu nehmen, die Spieltheorie in die Sozialwissenschaften einzuführen. Von Neuman n hatte genau das akademische Publikum entfremdet, das für seine Studien vermutlich am empfänglichsten sein würde.
In Anbetracht der hochfliegenden Ambitionen von Neumann s für die Sozialwissenschaften war es ironisch, dass es nicht die Mathematik war, die letztlich die Spieltheorie aus dem Dunstkreis der RAND Corporation und der mathematischen Fakultäten von Universitäten herausbeförderte, sondern eine Geschichte.
Albert Tucke r war John Nash s Doktorvater. Im Mai 1950, kurz nachdem er seinen eigensinnigen Studenten davon überzeugt hatte, seine Doktorarbeit über Spieltheorie nicht aufzugeben, wurde Tucke r gebeten, vor einer Gruppe von Psychologen einen Vortrag über die neue Theorie zu halten. Da sein Publikum weder mit der Theorie noch mit der damit verknüpften Mathematik vertraut war, beschloss Tucke r, ihnen ein Spiel zu präsentieren, über das er von einigen RAND -Forschern in Form einer kleinen Geschichte erfahren hatte. Er nannte es das Gefangenendilemm a.
Zwei Mitglieder einer Gangsterbande sind getrennt inhaftiert worden. Die Polizei hat genug Beweise, um beide einer minderschweren Straftat zu überführen, aber nicht wegen des schweren Verbrechens, dessen sie verdächtigt werden. Also bietet sie jedem der Häftlinge folgendes Geschäft an: Wenn du gestehst und deinen Komplizen belastest, kommst du frei, während dein Ex-Komplize für zehn Jahre hinter Gitter wandert. Wenn ihr beide den Mund haltet, werdet ihr beide wegen der minderschweren Straftat zu zwei Jahren Haft verurteilt. Der Haken ist allerdings, dass ihr, falls ihr beide gesteht, nicht laufen gelassen werdet, sondern beide für insgesamt acht Jahre einsitzen müsst, nämlich jeder für je vier Jahre.​
Angenommen, jeder der Häftlinge ist nur daran interessiert, für sich selbst das beste Urteil herauszuschlagen – wie sollten sie sich verhalten? Obwohl sie nicht die Möglichkeit haben, miteinander zu kommunizieren, glauben beide, dass ihnen der gleiche Deal angeboten wurde. Aber durch logisches Denken können sie beide einen Ausweg aus dem Dilemma finden. »Falls mein Ex-Komplize nicht gesteht, aber ich, bekomme ich das geringstmögliche Urteil. Falls er dagegen gesteht, werde ich, wenn ich auch gestehe, ein milderes Urteil bekommen als wenn ich nicht gestehe. Also sollte ich in beiden Fällen ein Geständnis ablegen.« Das Problem ist allerdings Folgendes: Wenn beide Häftlinge so argumentieren und daher beide ein Geständnis ablegen, dann würden sie beide zu acht Jahren verurteilt werden, also deutlich länger, als wenn keiner von ihnen gesteht. Selbst wenn die beiden Kumpanen miteinander kommunizieren und vereinbaren könnten, den Mund zu halten, wäre das Ergebnis sicherlich das gleiche, da jeder von ihnen versucht wäre, die Vereinbarung zu brechen, weil er sich davon ein milderes Urteil erhofft.
Niemand hat 1950 geahnt, dass dieses Gefangenendilemm a später zum einflussreichsten Spiel der Spieltheorie werden würde. Es liegt auf der Hand, dass RAND für militärische Zwecke an dem Spiel interessiert war: Das atomare Wettrüsten zwischen den USA und der UDSSR war ein klassisches Gefangenendilemm a, da beide Seiten in dem vergeblichen Versuch, sich einen Vorteil zu verschaffen, immer mehr und immer bessere Waffen bauten. Doch die Struktur des Spiels (nicht seine Geschichte) deckt mehr ab als einfach nur die Rivalitäten im Kalten Krieg. Sie bringt sehr elegant den Konflikt zwischen individuellen und kollektiven Interessen in vielerlei Situationen aus der realen Welt zum Ausdruck. Firmen, die ähnliche Produkte herstellen – etwa die Ölkonzerne der OPEC -Länder oder Coca-Cola und Pepsi –, senken ihre Preise, um Marktanteile zu gewinnen, aber da ihre Wettbewerber das Gleiche tun, leiden sie dann alle unter geringeren Profiten. Das Gefangenendilemm a beschreibt dieses und viele andere Beispiele eines »race to the bottom«, eines »ruinösen Wettbewerbs«. Entsprechend handelt es sich auch bei der »Tragik der Allmende« um ein Gefangenendilemm a: Wenn alle Mitglieder einer Gemeinschaft freien Zugang zu einer gemeinsam genutzten Ressource haben, wird jeder sie unabhängig davon, was die anderen tun, verbrauchen, was dazu führt, dass diese Ressource geschädigt, erschöpft oder zerstört wird, sodass es dann allen schlechter ergeht. Auch die Herausforderung, die sich der Menschheit in Form der Klimaveränderung stellt, wird generell als ein Gefangenendilemm a betrachtet: Allen würde es besser ergehen, wenn die weltweiten CO 2 -Emissionen reduziert würden, aber jedes einzelne Land sträubt sich, seine Emissionen zu senken, unabhängig davon, was andere Länder tun. Wenn Sie sich ein Sportereignis ansehen, sind Sie und alle anderen Zuschauer bei der Entscheidung, ob Sie aufstehen sollen oder nicht, um besser sehen zu können, mit einem Gefangenendilemm a konfrontiert: Wenn alle aufstehen, sehen alle schlechter, als wenn sie sitzen geblieben wären.
In dem ursprünglichen Gefangenendilemm a impliziert die oben beschriebene Argumentation, dass beide Spieler ein Geständnis ablegen, also unkooperativ handeln. Und dieses Ergebnis ist ein Nas h-Gleichgewicht: Falls Ihr Gegenspieler gesteht, schneiden Sie am besten ab, wenn Sie ebenfalls gestehen. Also scheint es so, als ob der Grund für die schädliche Nichtkooperation innerhalb von John Nash s Idee eines Gleichgewichts liegen könnte. Doch obwohl heute viele Millionen Studenten der Sozialwissenschaften, Philosophie, Jura und Biologie die Spieltheorie anhand des Gefangenendilemmas und seiner »Lösung«, des Nas h-Gleichgewichts, präsentiert bekommen, ist Nashs Idee eines Gleichgewichts hier nicht die treibende Kraft, die den Ausgang bestimmt. Vielmehr ist dabei eine fundamentalere Logik am Werk: Ganz gleich, was der andere Spieler tut, schneiden Sie immer am besten ab, wenn Sie ein Geständnis ablegen. Alle Vorhersagen über sein Verhalten oder Vereinbarungen mit ihm sind irrelevant: In einem Gefangenendilemm a werden Sie immer dann besser abschneiden, wenn Sie mit einer »unkooperativen« Aktion reagieren.
Vertrauen ohne echtes Vertrauen
In Anbetracht des Aufbaus des Gefangenendilemmas ist diese Logik zwingend. Ein rationaler Spieler muss das Gefangenendilemm a unkooperativ spielen – und die Konsequenzen tragen, sei es eine längere Haftstrafe oder ein atomares Wettrüsten. Das folgt direkt aus der Prämisse der Spieltheorie, dass der Mensch sich unkooperativ und misstrauisch verhält. Für von Neuman n kam nichts anderes infrage: »Es ist ebenso töricht zu beklagen, dass der Mensch egoistisch und unzuverlässig sei«, behauptete er, »wie es töricht ist, darüber zu klagen, dass ein Magnetfeld nicht stärker wird, wenn das elektrische Feld nicht gekrümmt ist. Beides sind Naturgesetze.« [10]
Es ist naheliegend, angesichts dieser vereinfachenden Sicht des menschlichen Wesens zu erschaudern oder über sie zu spotten – und genau so reagierten 1944 die Kritiker, als von Neuman n und Morgenster n ihr Opus magnum veröffentlicht hatten. Der einflussreiche britische Anthropologe Gregory Bateso n merkte an, dass »Prämissen des Misstrauens in von Neumann s Modell eingebaut sind«, ebenso wie »die abstraktere Prämisse, die menschliche Natur ist unveränderlich«. E r kam zu dem Schluss, dass »von Neumann s Spieler« nichts Menschliches hätten, da sie sich »zutiefst von Menschen und Säugetieren unterscheiden, weil diese Roboter keinerlei Humor haben und völlig außerstande sind zu ›spielen‹ (in dem Sinne, wie das Wort auf Kätzchen und Welpen angewendet wird)«. [11]
Die Spieler gemäß der Spieltheorie sind anders als echte Menschen. Bestenfalls sind sie bruchstückhafte, unvollständige Modelle eines Menschen. Zudem verpasst die Spieltheorie einen entscheidenden Teil dessen, was es bedeutet, ein Spiel zu spielen, da ihre Prämisse des rationalen Verhaltens alles Spielerische ausschließt, den ganzen Spaß. Aber was macht das schon? Selbst wenn die Spieltheorie eine Menge auslässt, kann sie uns womöglich doch wertvolle Erkenntnisse über soziale Interaktion liefern – zum Beispiel in Kontexten, in denen die selbstsüchtige, skrupellose, berechnende Seite des menschlichen Wesens zum Tragen kommt.
Aber was sind das für Kontexte? Als die Spieltheorie ab den 1960er-Jahren begann, aus ihrer akademischen Nische hervorzukriechen und einzudringen in breiter angelegte Debatten in sozialwissenschaftlichen Fakultäten und jenseits davon, wurde klar, dass die größte Herausforderung für das Gefangenendilemm a die Realität ist – die unbestreitbare Tatsache, dass es in zahlreichen realen Situationen, die genau wie ein Gefangenendilemm a aussehen, zu einer Kooperation kommt. Wenn wir zu den oben erwähnten, angeblichen Gefangenendilemmata zurückkehren, stellen wir fest, dass viele Firmen der Versuchung von Preissenkungen widerstehen, weil sie genau wissen, dass ein Preiskrieg ihnen schadet. Gemeinschaftlich genutzte Ressourcen werden in vielen Fällen nachhaltig gemanagt, und viele Länder haben miteinander kooperiert, um ihre CO 2 -Emissionen zu begrenzen. Bei Sportereignissen stehen wir nicht alle auf, und letzten Endes sind Atomwaffenkontrollmechanismen vereinbart worden. Wenn das Gefangenendilemm a die Essenz dieser Interaktionen reflektiert, warum beobachten wir dann in der realen Welt immer wieder Kooperationen?
Echte Menschen in einer Gefangenendilemm a-Situation können kooperieren, indem sie das vor Beginn des Spiels vereinbaren. Sie vertrauen sich gegenseitig, ihre Versprechen zu halten. Für die meisten Menschen ist es ihr normales und gewohntes Verhalten, ihre Versprechen zu halten und anderen zu vertrauen, weil sie so aufgewachsen sind und dazu erzogen wurden, sich so zu verhalten, und weil ihnen die Lebenserfahrung zeigt, dass solches Verhalten das Leben lebenswerter macht. Anders ausgedrückt: Wir entgehen den destruktiven Folgen des von der Spieltheorie vorgeschriebenen »rationalen« Verhaltens im Gefangenendilemm a, indem wir diese Definition von »rational« ablehnen. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Se n hat es 1977 so auf den Punkt gebracht: Die Empfehlung der Spieltheorie, wie wir uns im Gefangenendilemm a verhalten sollten, zeigt uns nicht, wie wir rational sein können, sondern wie wir uns zum »rationalen Idioten« machen. [12] Die überwältigenden Belege für Kooperation bei Gefangenendilemmata in der realen Welt lassen vermuten, dass die Spieltheorie nicht nur schlecht vorhersagen kann, wie wir uns tatsächlich verhalten, sondern auch, dass ihre Empfehlungen, wie wir uns verhalten sollten , ebenfalls suspekt sind. Niemand will ein rationaler Idiot sein.
Doch bis Ende der 1970er-Jahre hatten einige Spieltheoretiker eine Antwort auf diese Herausforderung entwickelt: die Theorie der wiederholten Spiele. Bei wiederholten Spielen kooperieren Menschen, weil sie die Zukunft im Blick haben. Selbst in einem Gefangenendilemm a kooperieren die Spieler, um sich in der Zukunft nützliche Beziehungen zu bewahren. Schummler, also Leute, die ihre Versprechen nicht halten, und Egoisten werden generell gemieden; ihnen entgehen die Vorteile zukünftiger Kooperationen. Dies ist die gleiche kalte und berechnende Sicht zwischenmenschlicher Interaktionen wie jene, die dem Gefangenendilemm a zugrunde liegt – sie ist das Gefangenendilemm a, das jedoch wiederholt gespielt wird. Wenn Sie wissen, dass Sie in einer künftigen Gefangenendilemm a-Situation wieder auf denselben Gegner treffen werden, könnten Sie jetzt kooperieren, um langfristigen Nutzen aus der Kooperation zu ziehen – da Sie, wenn Sie jetzt Ihr Versprechen brechen oder egoistisch handeln, damit rechnen müssen, dass Ihr Gegner Sie dafür in Zukunft durch unkooperatives Verhalten bestrafen wird. Diese Idee gilt auch für mehr als zwei Menschen: Eine Gruppe von Menschen kann kooperatives Verhalten untereinander herbeiführen, indem sie permanent droht, egoistisches Verhalten von Gruppenmitgliedern, die nicht im Interesse der Gruppe handeln, zu bestrafen. Die Strafe ist normalerweise kurz und schmerzhaft – Spieltheoretiker bezeichnen sie passenderweise als »Tit for Tat« (»Zug um Zug«) –, aber nicht zu streng, weil das für die Strafenden zu kostspielig wäre. Das impliziert unter anderem, dass eine Gruppe nicht auf externen Druck – etwa durch Gesetze, Zwang oder soziale Konventionen – angewiesen ist, um Kooperation aufrechtzuerhalten; Tit for Tat genügt, obwohl das Verhalten einer solchen Gruppe für Außenseiter eher wie eine Anarchie aussehen kann als eine stabile Gesellschaft. Die Mafia ist ein perfektes Beispiel für Tit for Tat in Aktion. Vor über 100 Jahren stellte der neapolitanische Politiker Pasquale Villar i fest: »Die Mafia hat keine schriftlichen Statuten; sie ist keine Geheimgesellschaft, ja kaum eine Vereinigung. Sie entsteht spontan.« [13] In jüngerer Vergangenheit haben Fans von Friedrich August von Haye k diesen Aspekt der Spieltheorie heraufbeschworen, um von Hayek s Idee zu untermauern, dass scheinbar anarchische Gesellschaften, die kaum eine oder gar keine Regierung haben, sich durch eine »spontane Ordnung« zusammenhalten können.
Obwohl die naheliegende politische Heimat für die Spieltheorie auf der rechten Seite des politischen Spektrums zu liegen scheint – unerbittlicher Wettbewerb zwischen egoistischen Individuen, sich selbst organisierende Gesellschaften ohne Bedarf für eine Regierung –, haben auch Intellektuelle der Linken sie in ihre Dienste gepresst. Sie haben argumentiert, dass die Spieltheorie – im Gegensatz zum ersten Anschein und zu den Ansichten von Neumann s – durchaus kompatibel sei mit einem freundlicheren, vertrauensvolleren Bild zwischenmenschlicher Beziehungen. Tatsächlich könne die Spieltheorie sogar erklären, warum wir einander vertrauen: Ich vertraue einer Person, wenn ich weiß, dass sie ein Motiv hat, ihre Versprechen zu halten. Wir spielen ein wiederholtes Spiel, bei dem wir beide wissen, dass jeder sofortige Vorteil, den einer von uns erlangen kann, indem er ein Versprechen bricht, durch Verluste aus zukünftiger Bestrafung geschmälert werden kann. Die Strafe kann nicht nur von dem Opfer gebrochener Versprechen verhängt werden, sondern auch von der größeren Gemeinschaft: Es ist in aller Interesse, dass Vertrauen möglich ist und Geschäfte gemacht werden können. Diese Auffassung von Vertrauen kann uns helfen zu verstehen, warum manche menschlichen Beziehungen und Institutionen so funktionieren, wie sie es tun. Doch diese Sicht wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet.
Zunächst impliziert sie, dass Sie nur einer Person vertrauen können, die kein Motiv hat, ihre Versprechen an Sie zu brechen. Diese spieltheoretische Sicht stellt unser normales Verständnis von Vertrauen auf den Kopf: Sie impliziert, dass wir einer Person nur dann vertrauen können, wenn wir es nicht nötig haben  – weil es in ihrem Interesse sei, ihre Versprechen trotzdem zu halten. Echtes Vertrauen bedeutet jedoch, den Glauben an einen Menschen zu haben, dass er seine Versprechen halten wird, das Richtige tun wird, weil wir an seinen guten Charakter glauben, selbst wenn wir wissen, dass er davon profitieren könnte, sein Versprechen zu brechen und uns in den Rücken zu fallen. Selbst in der konkurrenzorientierten Geschäftswelt brauchen die Menschen echtes Vertrauen viel mehr als die spieltheoretische Pseudovariante. Es gibt zu viele Situationen, in denen Kaufleute ein Geschäft abschließen wollen, ohne eine erneute zukünftige Interaktion zu erwarten: Sie können nicht davon ausgehen, dass sie ein wiederholtes Spiel spielen. Stattdessen verlassen sie sich unbewusst auf Gegebenheiten der menschlichen Psyche, die von der Spieltheorie ignoriert werden. So ist es zum Beispiel wesentlich leichter zu entscheiden, ob man jemandem vertrauen kann, wenn man diese Person von Angesicht zu Angesicht trifft. Das ist der Grund, warum Wirtschaftsmanager selbst im Zeitalter von Skype für ein wichtiges Meeting um die halbe Welt fliegen.
Es liegt auf der Hand, dass manche spieltheoretischen Erklärungen für Vertrauen und langfristige Kooperationen an der Sache vorbeizugehen scheinen. Aber davon abgesehen gibt es ein noch fundamentaleres Problem mit dieser Art von Reaktion auf das Gefangenendilemm a. Selbst wenn Strategien wie Tit for Tat helfen können, kooperatives Verhalten aufrechtzuerhalten, wenn bestimmte Personen über einen längeren Zeitraum wiederholt miteinander zu tun haben – wie ist es mit einmaligen Interaktionen? Auch hier klafft die Lücke zwischen Realität und Theorie: Die Spieltheorie sagt voraus, dass Menschen in einer einmaligen Gefangenendilemm a-Situation nicht kooperieren werden, obwohl sie das tatsächlich häufig tun. Für viele Jahre haben die Spieltheoretiker sich diesem Problem nicht gestellt; die meisten von ihnen wollten nicht wahrhaben, dass diese Tatsache überhaupt ein Problem ist . Stattdessen vollführen sie ein Umgehungsmanöver, auf das Ökonomen häufig zurückgreifen, wenn ihnen Belege für altruistisches, kooperatives oder moralisches Verhalten vorgehalten werden – sie deuten diese Belege so lange um, bis sie hinfällig sind. Also verhalten sich Spieler, die bei einem einmaligen Gefangenendilemm a anscheinend kooperieren, nicht wirklich so, weil sie eigentlich kein Gefangenendilemm a spielen. Per definitionem ist ein echtes Gefangenendilemm a ein Spiel, bei dem jeder Spieler sich nur für die eigene Gefängnisstrafe interessiert. Spieler, die auch am Schicksal ihres Gegners Anteil nehmen oder an Gruppensolidarität glauben oder wissen, dass sie unter einem schlechten Gewissen leiden werden, wenn sie ein Versprechen an ihren Gegner brechen oder Ähnliches mehr – die spielen ein ganz anderes Spiel. In der mathematischen Darstellung der Situation – die letzten Endes das Einzige ist, was Spieltheoretiker interessiert – werden solche anderen Rücksichten in der einen Zahl zusammengefasst, die den Vorteil oder Wert eines bestimmten Ausgangs für den Spieler darstellt. Solche zusätzlichen Rücksichten würden im Vergleich zu einem reinen Gefangenendilemm a für die meisten Ausgänge zu einer anderen Zahl führen – woraus gefolgert wird, dass das neue Spiel nicht das gleiche ist.
Der Haken an diesem Umgehungsmanöver ist, dass es im Extremfall eingesetzt werden kann, um jeden Beleg, der mit der Theorie kollidiert, wegzudefinieren. Auf jeden Fall wird es dadurch sehr schwierig, empirische Belege zu finden, die nicht mithilfe dieses Manövers ausgehebelt werden können. Es dauerte bis in die 1990er-Jahre hinein, bis genügend Beweise für Kooperation in einer Form aufgetaucht waren, die von Spieltheoretikern nicht umgangen oder ignoriert werden konnte, nämlich in Form von empirischen Beobachtungen bei sorgfältig aufgebauten experimentellen Spielen, die unter Laborbedingungen gespielt wurden und bei denen die Informationen, die den Teilnehmern gegeben wurden – und somit ihre möglichen Motive –, streng kontrolliert waren. Doch bis es soweit war, hatte sich das spieltheoretische Denken in der Ökonomik und der Gesellschaft insgesamt schon fest etabliert. Sein Einfluss ist so übermächtig geworden, dass wir selbst in Krisenzeiten darauf zurückgreifen, um uns zu helfen, unsere Zivilisation und Identität zu definieren. Drei Tage nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 versuchte ein Kommentator des New Yorker , deren Bedeutung zu erfassen:
Die Katastrophe geht natürlich weit über den Schaden für unsere Stadt hinaus … sie ist eine Zivilisationskrise. In den zehn Jahren seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich die Menschheit immer schneller zu einem einzigen Organismus entwickelt … Dieser Organismus ist auf eine bestimmte Art von Vertrauen angewiesen – nämlich die unsentimentale Erwartung, dass die Menschen, sowohl individuell als auch kollektiv, sich mehr oder weniger so verhalten werden, dass es ihren rationalen Eigeninteressen dient. [14]
Obwohl die Spieltheorie seit den 1960er-Jahren immer mehr Einfluss auf unser alltägliches Denken gewonnen hat, konzentrierten sich die Spieltheoretiker selbst auf deren Grenzen. Vor allem wurde ihnen allmählich klar, dass die Spieltheorie zu vielerlei Kontexten anscheinend kaum etwas zu sagen hatte.
Chicken: das Feiglingsspiel
Im Jahr 1955 legte der Philosoph Bertrand Russel l ein einflussreiches, gemeinsam mit Albert Einstei n verfasstes Manifest vor, das atomare Abrüstung forderte. Doch ein paar Jahre später beeinflusste Russel l, ohne es zu wollen, die Abrüstungsdebatte noch stärker, indem er ein Spiel veröffentlichte, das er »Chicken« genannt hatte. Er malte ein Bild, das dem Hollywood-Kassenschlager der damaligen Zeit hätte entstammen können, dem Drama Rebel Without a Cause (… denn sie wissen nicht, was sie tun ) mit James Dean. Russel l stellte sich die USA und die UDSSR als zwei rivalisierende junge Autofahrer vor, die auf einer langen, geraden Straße aufeinander zurasen. Falls keiner von ihnen ausweicht, werden beide sterben. Doch der Feigling, der als Erster ausweicht – das »Chicken« –, würde sich die ewige Verachtung seines Rivalen zuziehen.
In Diskussionen unter Strategen des Kalten Krieges, Spieltheoretikern und ihren Studenten wurde »Chicken« bald zu einem Benchmark-Spiel. In seine m einflussreichen, 1960 erschienenen Bestseller, dem 652 Seiten starken Wälzer On Thermonuclear War , hatte der RAND -Stratege Herman Kah n das Chicken-Spiel verwendet, um die Pattsituation zwischen den Atommächten zu beschreiben. Russel l stellte die Frage, wieso es in Kreisen der RAND Corporation moralisch akzeptabel zu sein schien, »Chicken« um den hohen Einsatz eines Atomkriegs zu spielen, während Teenager, die das Spiel um einen viel niedrigeren Einsatz spielten, kritisiert wurden:
Solange [das Chicken-Spiel] von jugendlichen Plutokraten gespielt wird, nennt man es dekadent und unmoralisch, obgleich nur die beiden Spieler ihr Leben riskieren. Wird dieses Spiel jedoch von regierenden Staatsmännern gespielt. … so hält jede Seite ihre Staatsmänner für Musterbeispiele an Mut und Weisheit und nur die Staatsmänner der anderen Seite für verächtlic h. [15]
Jedenfalls konnte das Chicken-Spiel keine nützliche spieltheoretische Analyse ermöglichen, weil es zwei Nas h-Gleichgewichte hat; das erste ist, »dein Gegenspieler weicht nicht aus, aber du«, und das zweite ist, »du weichst nicht aus, aber dein Gegenspieler«. In einer solchen Situation kann die Spieltheorie nicht vorhersagen, was passieren wird oder passieren sollte. Die Bedeutung dieser Einschränkung trat zwei Jahre später im Kontext der Kubakrise zutage, als im Oktober 1962 sowohl die USA als auch die UDSSR sich weigerten, in ihrem Konflikt über die Stationierung russischer Atomraketen auf Kuba nachzugeben. Für beide Seiten war offensichtlich, dass sie »Chicken« spielten, aber beide wollten wissen: welches Nash-Gleichgewich t? Oder anders gefragt: Welche Seite würde zuerst nachgeben? Ein Fehler konnte totale Vernichtung bedeuten. Die meisten Historiker sind sich einig, dass die Welt noch nie dichter an den Abgrund eines regelrechten Atomkriegs geraten ist als während der Kubakrise.
Um es noch einmal zu rekapitulieren: Die beiden offensichtlichen Anwendungen der Spieltheorie bestehen darin, eine Vorhersage über das Verhalten der Spieler zu liefern und/oder eine Spielanweisung, wie diese Spieler sich verhalten sollten. Bei Spielen mit mehr als einem Nas h-Gleichgewicht, etwa dem Chicken-Spiel, schien die Theorie in beiderlei Hinsicht zu versagen. Sogar Spieltheoretiker begannen sich zu fragen: Was soll das Ganze dann?
Hinzu kam noch, dass im Laufe der folgenden Jahre klar wurde, dass Spiele mit mehreren Nas h-Gleichgewichten keineswegs seltene Ausnahmen sind, sondern die Regel. In solchen Situationen konnte die Spieltheorie keine Orientierung liefern. Und als allmählich klar geworden war, wie wichtig und allgegenwärtig dieses sogenannte Multiplizitätsproblem ist, war Nas h nicht mehr in der Lage, einen Beitrag zu seiner Lösung zu leisten.
Der Kaiser der Antarktis gewinnt den Nobelpreis
Spätestens Anfang 1959 hatte Nash s Abstieg in den Wahnsinn sich zu beschleunigen begonnen. Als ihm eine Top-Professur an der University of Chicago angeboten wurde, schrieb er zurück, er könne die Position nicht annehmen, weil er demnächst zum Kaiser der Antarktis ausgerufen werde. Und das war kein vereinzelter Ausreißer; ungefähr zu dieser Zeit gab Nas h einem seiner Studenten seinen abgelaufenen Führerschein, schrieb darauf den Spitznamen des Studenten über seinen eigenen Namen und erklärte ihm geheimnistuerisch, das Dokument sei ein »intergalaktischer Führerschein«. [16] John von Neuman n war zwei Jahre zuvor verstorben, und so waren beide Vordenker der Spieltheorie verstummt. Nach der Aufregung der Anfangsjahre war die Spieltheorie in den Augen der meisten Ökonomen von ihrem Status als größte Hoffnung für eine umfassende Sozialwissenschaft in eine intellektuelle Sackgasse geraten, festgefahren im Multiplizitätsproblem, an dem sich die Spieltheoretiker auf Jahre hinaus die Zähne ausbeißen würden. Und was Nas h selbst betraf, nahmen spätestens in den 1980er-Jahren viele jüngere Spieltheoretiker an, er sei tot. Es waren auch andere Gerüchte im Umlauf, die besagten, er habe sich einer Lobotomie unterzogen oder lebe in einer geschlossenen Psychiatrie. Und doch wurde Nas h 1994 zusammen mit John Harsany i und Reinhard Selte n, zwei anderen Spieltheoretikern, der Wirtschaftsnobelpreis zugesprochen. Wie konnte die Spieltheorie ein so brillantes Comeback hinlegen?
Es gibt zwei Versionen der Geschichte der Spieltheorie im Verlauf der rund 40 Jahre, die zwischen von Neumann s Tod und Nash s Nobelpreis vergingen. Fangen wir mit der offiziellen Version an. Sie ist ganz einfach: Harsany i, Selte n und andere erzielten gute Fortschritte auf dem Weg zu einer Lösung des Multiplizitätsproblems. Neben anderen Innovationen wie der Theorie der wiederholten Spiele war das Gesamtergebnis ihrer Arbeit, dass die Spieltheorie wieder nützlich wurde.
In den 1960er-Jahren definierte John Harsany i die Herausforderung, die sich der Spieltheorie stellte, ganz klar: Das Multiplizitätsproblem musste gelöst und eine eindeutige Lösung für jedes Spiel gefunden werden, die sich ausschließlich aus den allgemeinen Prinzipien rationalen Verhaltens ableiten ließe. Falls das erreicht werden konnte, würde es die reine Wissenschaft sozialer Interaktion hervorbringen, von der von Neuman n, Morgenster n und Nas h geträumt hatten. Der erste große Etappensieg im Kontext dieses monumentalen Projekts wurde 1965 von Reinhard Selte n vollbracht. Um das Problem multipler Nas h-Gleichgewichte anzugehen, besteht die offenkundige Angriffslinie darin, Gründe zu finden, um einige dieser Gleichgewichte als untergeordnet auszuschließen. Selte n argumentierte, dass manche Gleichgewichte nachrangig seien, weil sie nur auftauchen könnten, wenn Spieler unglaubwürdige Drohungen machen. So beruht zum Beispiel die MAD -Doktrin (»Mutually Assured Destruction«) der nuklearen Abschreckung darauf, dass die Atommächte für den Fall eines atomaren Angriffs einen katastrophalen Vergeltungsschlag androhen. Doch diese Drohung ist unglaubwürdig, wenn ihr Empfänger nicht glaubt, dass er durchgeführt werden wird. In der Satire Dr. Seltsam konstruierten die Russen eine Weltvernichtungsmaschine, die automatisch und unaufhaltsam einen katastrophalen Vergeltungsschlag auslösen würde, sobald ein Angriff festgestellt sei. Dadurch konnten sie die Möglichkeit des Ausbleibens einer Vergeltung komplett ausschließen und so ihre Drohung vollkommen glaubwürdig machen. 6 In der Geschäftswelt kommt es häufig vor, dass ein Unternehmen, das in einem bestimmten Markt ein Monopol hat, einem Konkurrenten, der überlegt, in diesen Markt einzusteigen, lautstark einen Preiskrieg androht. Wenn der neue Wettbewerber diese Drohung glaubt, kann es gut sein, dass er dem Markt fernbleibt, sodass der Monopolist weiterhin riesige Profite einsammeln kann.
Eine Drohung ist nur glaubwürdig, wenn der drohende Spieler dadurch, dass er die Drohung wahr macht, keinen Nachteil erleidet. Reinhard Selte n verallgemeinerte und erweiterte diese Idee auf sehr clevere Weise, indem er argumentierte, dass die Spieler in keiner Phase eines Spiels Entscheidungen treffen werden, durch die sie schlechter abschneiden würden, ganz gleich, was sie vorher gesagt haben. Da »schlechter abschneiden« davon abhängt, was Sie und die anderen Spieler im späteren Verlauf des Spiels tun werden, finden Sie Ihre beste Strategie, indem Sie überlegen, was am Ende des Spiels passieren wird, und von dort aus rückwärts schlussfolgern, bis Sie Ihren ersten Zug entschieden haben. Diese Prozedur ist als Rückwärtsinduktion bekannt und kann eine eindeutige Lösung liefern, eine Spielanweisung, wie sie die Spieltheoretiker sich erhofft hatten. Aber sie führt außerdem zu ein paar großen Überraschungen.
Stellen Sie sich eine TV -Gameshow mit folgendem Format vor: Die beiden Spieler (nennen wir sie Johnny und Oskar) wissen, dass der Showmaster höchstens 1000 Dollar an Preisgeld auszahlen kann. Er fängt an, indem er Johnny, dem ersten Spieler, ein Angebot macht – beide Spieler können 100 Dollar bekommen. Falls Johnny das Angebot annimmt, gehen beide Spieler mit 100 Dollar nach Hause. Wenn Johnny es ablehnt, macht der Showmaster dem zweiten Spieler, Oskar, ein neues Angebot: 50 Dollar für Johnny, 250 Dollar für Oskar – der Topf des auszuzahlenden Preisgelds wurde insgesamt um 100 Dollar erhöht, aber jetzt wird er ungleich aufgeteilt. Das Spiel ist zu Ende, falls Oskar das Angebot annimmt, aber wenn er es ablehnt, ist wieder Johnny an der Reihe. Wieder wird der Topf um 100 Dollar erhöht, aber jetzt soll er gleichmäßig aufgeteilt werden: 200 Dollar für jeden der Spieler. Wieder endet das Spiel, falls Johnny das Angebot annimmt; wenn er es ablehnt, wird der Topf abermals um 100 Dollar erhöht, aber ungleichmäßig verteilt: 150 Dollar für Johnny, 350 Dollar für Oskar. Und immer so weiter, falls beide Spieler ablehnen, bis der Showmaster Johnny 350 und Oskar 550 Dollar anbietet. Falls Oskar dieses letzte Angebot ablehnt, bekommt jeder von ihnen 500 Dollar und das Spiel ist zu Ende.
Es scheint, dass Johnny und Oskar, wenn sie nur ein bisschen geduldig sind, sich das maximale Preisgeld von 1000 Dollar teilen können. Aber Selten s Methode der Rückwärtsinduktion impliziert etwas anderes. Beide Spieler wissen, dass Oskar besser abschneiden wird, wenn er das letzte Angebot des Showmasters annimmt (und 550 Dollar mitnimmt) statt es abzulehnen (und nur 500 Dollar bekommt). Also wissen beide Spieler, dass Oskar dieses Angebot annehmen würde. Indem er davon ausgehend rückwärts schlussfolgert, weiß Johnny, dass er besser abschneiden würde, wenn er das vorige Angebot des Showmasters annimmt (jeder bekommt 400 Dollar) statt es abzulehnen (er würde 350 Dollar bekommen, wenn Oskar in der nächsten Runde annimmt). Die gleiche Logik gilt auch für alle vorherigen Spielrunden. Beide Spieler erkennen, dass sie immer dann besser abschneiden werden, wenn sie das Angebot des Showmasters annehmen, als im Spiel zu bleiben und einen kleineren Gewinn mitzunehmen, wenn der andere Spieler in der nächsten Runde das Angebot annimmt. Also sollte Johnny das allererste Angebot von 100 Dollar annehmen und das Spiel sofort beenden. Die Logik der Rückwärtsinduktion hindert jeden der Spieler daran, einen größeren Gewinn zu bekommen, weil keiner von ihnen sich darauf verlassen kann, dass der andere nach der nächsten Runde das Spiel weitergehen lassen wird. Es ist eine weitere Variante der bekannten Geschichte der Spieltheorie: Im Streben nach Hyperrationalität wird Kooperation untergraben und alle schneiden schlechter ab.
Natürlich denken echte Menschen kaum jemals so: In zahlreichen Experimenten, bei denen menschliche Teilnehmer Spiele wie dieses spielten, hat sich gezeigt, dass nur sehr wenige von ihnen sich so verhalten, wie es die Methode der Rückwärtsinduktion vorschreibt. In dem Versuch nachzuweisen, dass echte Menschen tatsächlich der Logik der Rückwärtsinduktion folgen, wenn sie nur schlau genug sind, haben einige Ökonomen vor Kurzem diese Experimente wiederholt, aber mit Schachgroßmeistern als Spieler. Die Ergebnisse waren nicht eindeutig: Einige Großmeister spielen gemäß der Logik der Rückwärtsinduktion, andere dagegen nicht. Das bringt uns zu einem fundamentalen Fehler in der Logik der Rückwärtsinduktion. Wenn Sie in der eben beschriebenen Gameshow zu dem Schluss kommen, dass Sie das erste Angebot über 100 Dollar annehmen sollten, müssen Sie davon überzeugt sein, dass Ihr Gegenspieler der Logik der Rückwärtsinduktion folgen wird und demnach das erste erhaltene Angebot annehmen würde. Mit anderen Worten: Selbst wenn Sie selbst clever genug sind, um die Logik der Rückwärtsinduktion zu verstehen, sollten Sie davon ausgehen, dass Ihr Gegenspieler ebenso schlau ist? Die Schachgroßmeister wussten, dass sie gegen andere Großmeister spielten, sodass sie von dieser Annahme als plausibel ausgehen konnten. Doch bei den meisten Menschen ist das nicht unbedingt so. Wenn Sie in der Gameshow sitzen und Ihr Gegenspieler das erste erhaltene Angebot ablehnt, dann wissen Sie allein aufgrund dieser Beobachtung, dass er sich nicht an die Regeln der Spieltheorie hält, da die Logik der Rückwärtsinduktion vorschreibt, dass er das erste Angebot annehmen sollte. Generell lässt sich feststellen, dass wir es häufig bei Interaktionen im realen Leben – außerhalb von Gameshows – mit Menschen zu tun haben, die sich nicht an die Regeln der Spieltheorie halten. Daher wäre es unklug, davon auszugehen, dass sie sich in Zukunft an diese Regeln halten werden. Spieltheoretiker nennen Menschen, die sich nicht an diese Regeln halten, »irrational« und bestehen darauf, dass wir davon ausgehen sollten, dass jeder Mensch sich rational verhalten wird. Aber nein: Wenn deutliche Anzeichen dafür sprechen, dass eine Person sich in der Vergangenheit »irrational« verhalten hat, dann wäre es tatsächlich irrational, davon auszugehen, dass sie sich in Zukunft »rational« verhalten wird.
Die offizielle Geschichte der Spieltheorie hat diese Probleme weitgehend ignoriert. Manche Spieltheoretiker haben immer akzeptiert, dass echte Menschen sich häufig anders verhalten, als die Spieltheorie es vorhersagt. Etwas bescheidener vertreten solche Theoretiker die Auffassung, dass die Spieltheorie nicht als Werkzeug verstanden werden sollte, das Prognosen liefert, sondern lediglich als Anleitung dafür, wie man am besten spielen sollte. Doch Spiele wie die oben beschriebene Gameshow stellen selbst diesen bescheidenen Anspruch infrage, da sie zeigen, dass es keineswegs immer die beste Spielstrategie ist, den Anweisungen der Spieltheorie zu folgen. Und an dieser Stelle müssen wir näher auf die inoffizielle Geschichte der Spieltheorie eingehen.
Eine Zombie-Wissenschaft des menschlichen Lebens
Trotz anderslautender Gerüchte hatte Nas h, bevor ihm der Nobelpreis zugesprochen wurde, jahrelang in aller Stille an der Princeton University weitergearbeitet. An dem Nachmittag, als er die Nachricht aus Stockholm bekam, hielt er eine kurze Rede. Nash s schräger, etwas irritierender Humor war immer noch da. Er stellte fest, dass man von einem Nobelpreisträger, der zusammen mit anderen ausgezeichnet wird, wohl einen Dank erwarten würde, an der Ehre teilhaben zu dürfen. Doch Nas h sagte, er hätte es vorgezogen, den Preis allein zu bekommen, da er das Geld dringend bräuchte. Er schloss seine Rede, indem er die Spieltheorie mit der Stringtheorie aus der Physik verglich: Beides seien Gebiete, die Forscher um ihrer selbst willen faszinierend fänden – und deswegen würden sie gern so tun, als ob diese Theorien einen praktischen Nutzen hätten. [17] Vielleicht war es typisch für Nas h – vor allem nach der Nobelpreis-Ankündigung –, dass er die Bedeutung der Spieltheorie scherzhaft herunterspielte, denn ungefähr zu dieser Zeit hatte er seinen eigenen Beitrag zur Spieltheorie als seine »trivialste Arbeit« bezeichnet. 7 Aber auch einer der anderen Nobelpreisträger an Nash s Seite äußerte Bedenken hinsichtlich der Trivialität der Spieltheorie: Reinhard Selte n . In einem Versuch, das Multiplizitätsproblem zu lösen, hatte er das paradoxe Verfahren der Rückwärtsinduktion eingesetzt, dann aber solche theoretischen Beschäftigungen aufgegeben. Seit Ende der 1970er-Jahre hatte Selte n immer wieder betont, die Spieltheorie sei zu formal und mathematiklastig, um zuverlässige Prognosen darüber liefern zu können, wie echte Menschen sich bei sozialen Interaktionen tatsächlich verhalten würden: Die »Spieltheorie ist nützlich, um Theoreme zu beweisen, aber nicht, um Spiele zu spiele n.« [18]
Allerdings scheint es eine klare Ausnahme von diesem negativen Urteil zu geben. Die Spieltheorie kann uns sagen, wie wir uns in wirtschaftlichen und sozialen Kontexten clever verhalten können – allerdings nur in Situationen, in denen jeder der Spieler weiß, dass jeder andere Spieler sich mit der Spieltheorie auskennt, ungefähr so, als habe er ein aktuelles Lehrbuch zur Hand. Wenn also ein Schachgroßmeister gegen einen anderen Großmeister spielt, können sie beide plausibel annehmen, dass der Gegner die Spieltheorie sehr gut kennt. Ein solches Argument zur Verteidigung der Spieltheorie ist (ein bisschen) weniger nutzlos, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Am 5. Dezember 1994, dem Tag, an dem John Nas h aus den USA nach Stockholm abreiste, um dort seinen Nobelpreis in Empfang zu nehmen, kündigte Vizepräsident Al Gor e die »größte Versteigerung aller Zeiten« an – eine Versteigerung der Frequenzbänder, die für Mobilfunknetze verwendet werden sollten. Auch Versteigerungen sind eine Art von Spiel, und diese Auktion war sorgfältig so organisiert worden, dass die neuesten Erkenntnisse der Spieltheorie zur Anwendung kamen. Als die Auktion im März 1995 beendet wurde, war die US -Regierung euphorisch: Sie hatte Gebote in Höhe von über sieben Milliarden Dollar erhalten. Die Frequenzbandauktionen waren eine sehr erfolgreiche Maßnahme der Regierung, um Einnahmen zu erzielen, und wurden als Triumph einer praktischen Anwendung der Spieltheorie gefeiert. Hier hatte sie sich endlich in einer Situation bewährt, in der völlig »rationale« Spieler interagierten – große Konzerne, denen jeweils ein Team von Spieltheoretikern zur Verfügung stand und die bei einer Versteigerung gegeneinander antraten. Das führte zu Ergebnissen, die von den Spieltheoretikern, welche die Auktion organisierten, vorhergesagt und optimiert werden konnten – und das alles zugunsten des Staates. So sah es jedenfalls aus.
In Wirklichkeit lieferte die Spieltheorie keineswegs das Rezept für eine optimale Auslegung der Auktion, um die Ziele der Regierung zu erreichen, da die Theorie keine Hilfe bei der Entscheidung zwischen verschiedenen Auktionsformen bieten konnte. Verschiedene Spieltheoretiker machten unterschiedliche Empfehlungen. Das war auch kein Wunder, da diese Theoretiker jeweils von konkurrierenden Konzernen als Berater engagiert worden waren. Davon abgesehen sollten diese Berater aber nicht nur strategische Empfehlungen aussprechen, wie bei einer vorher festgelegten Auktionsform zu verfahren sei, sondern sie waren von Anfang an engagiert worden, um sich als Lobbyisten des jeweiligen Konzerns für eine bestimmte Auktionsform einzusetzen – für bestimmte Regeln, die ihrem Auftraggeber in die Karten spielen würden. Und letzten Endes zeigten die Ergebnisse, dass die bietenden Konzerne keineswegs hyperrationale Spieler waren. Viele erfolgreiche Bieter leisteten die vereinbarten Zahlungen nicht, und die spätere Zunahme an Insolvenzen und Übernahmen in der Telekommunikationsindustrie wurde häufig auf die Last viel zu hoher Gebote zurückgeführt. [19] Bei einer Frequenzbandauktion in Großbritannien im Jahr 2000, die ebenfalls unter dem starken Einfluss von Spieltheoretikern stattfand, wurden ähnliche Erfahrungen gemacht: Die Spieltheorie konnte weder der Regierung sagen, wie die Auktion am besten zu organisieren sei, noch konnte sie das Verhalten der Bieter adäquat erklären.
Wenn die Spieltheorie selbst in Situationen wie solchen Versteigerungen – die von Spieltheoretikern als potenziell ideale Spielwiese für die Theorie ausgelegt wurden – einen so eingeschränkten Nutzen hat, warum genießt sie dann heute einen so hervorragenden Status in der Wirtschaft? Es besteht keine Einigkeit über die Antwort auf diese Frage, doch immerhin über gewisse Faktoren.
Der erste davon ist, dass der Aufstieg der Spieltheorie nicht etwa auf ihre Erfolge oder Stärken zurückzuführen war, sondern darauf, dass manche Ökonomen auf sie zurückgriffen, um Probleme in anderen Teilgebieten der Wirtschaftswissenschaften zu lösen, oder um zumindest neue Verfahren zu finden, mit denen Pattsituationen in seit Langem schwelenden Debatten aufgelöst werden konnten. So wurde zum Beispiel spätestens in den 1970er-Jahren die Regulierung großer Konzerne hauptsächlich von den Ideen von Anwälten und Ökonomen geprägt, die an der University of Chicago studiert hatten. Die Befürworter des Chicagoer Ansatzes zur Thematik »Law and Economics« (hier sinngemäß: »Regulierung und Wirtschaft«) argumentierten im Wesentlichen: Je weniger Regulierung, desto besser. Marktbeherrschende Konzerne, so die Chicagoer Schule, hätten ihre Vormachtstellung errungen, weil sie bessere Produkte zu niedrigeren Preisen anböten, und nicht etwa durch wettbewerbsverzerrende Praktiken. Andererseits lieferte die Spieltheorie den Gegnern der Chicagoer Schule ein neues Regelwerk, das wettbewerbsverzerrendes Verhalten ernst nahm – ein Regelwerk, das Aufsichtsbehörden und Gerichte durch seine anspruchsvollen mathematischen Grundlagen beeindruckte. Etwas weniger wohlwollend ausgedrückt: Sie war ein neuer Trick, der einem möglicherweise einen Vorteil in einer politischen oder juristischen Auseinandersetzung verschaffen konnte. Andernorts machten ehrgeizige Ökonomen imperialistische Raubzüge in Lebensbereiche außerhalb der Finanzmärkte und Börsenkurse, und daher auch außerhalb des Anwendungsgebiets der traditionellen Werkzeuge wirtschaftlicher Analysen. Die Spieltheorie lieferte jenen Ökonomen einen neuen Werkzeugkasten, die sich als soziale Ingenieure sahen, die neue Institutionen und Mechanismen konstruierten, um so erwünschte gesellschaftliche Ergebnisse herbeizuführen. Aus ihrer eigenen Sicht waren diese akademischen Anwender der Spieltheorie bemerkenswert erfolgreich: Nachdem 1994 Nas h, Harsany i und Selte n den Wirtschaftsnobelpreis gewonnen hatten, führten andere Forschungen, die im Wesentlichen auf der Spieltheorie beruhten, zu Nobelpreisen für weitere acht Ökonomen im Laufe der darauffolgenden 20 Jahre.
Dagegen wurden Ökonomen, welche die Spieltheorie infrage stellten, geächtet. So hatte sich Selte n selbst zu einem überzeugten Anhänger von Laborexperimenten entwickelt, mit denen e r untersuchte, wie Menschen sich tatsächlich verhalten, anstatt der üblichen Praxis von Spieltheoretikern zu folgen, Annahmen über das menschliche Verhalten aufzustellen. In den Augen mancher Spieltheoretiker reduzierte ih n das auf einen »Wendehals, der den richtigen Weg zum ›reinen und wahren‹ Ziel der Spieltheorie verloren oder (schlimmer noch) verlassen hat.« [20]
Aber Selte n war eine Ausnahmeerscheinung unter den Ökonomen. Der Spieltheorie mangelte es keineswegs an reinen und wahren Gläubigen; ihre verführerische Macht sollte nicht unterschätzt werden. Ungeachtet der Probleme mit der Theorie hat sich die Verlockung einer reinen Gesellschaftswissenschaft, einer grandiosen vereinheitlichenden Theorie für die Sozialwissenschaften – die es mit jener aufnehmen kann, die Physiker sich für ihr Fachgebiet erhoffen – als unwiderstehlich erwiesen. Diese verführerische Macht wurde noch verstärkt durch das, was Robert Axelro d – ein US -amerikanischer Politikwissenschaftler, der zum Spieltheoretiker mutiert ist – das »Gesetz des Instruments« genannt hat: Gib Akademikern (oder Kindern) einen Hammer, und sie werden etwas zum Hämmern finden. So wurde zum Beispiel die Spieltheorie herangezogen, um Vertrauen zu »erklären« – obwohl keineswegs sicher war, dass es vor der Erfindung der Spieltheorie irgendein Rätsel um Vertrauen gegeben hätte, das erklärt werden musste. Die Spieltheorie ist eine Art Zombie-Wissenschaft, eine Vision der menschlichen Interaktion, die – ganz gleich, wie hinfällig sie zu sein scheint – einfach nicht sterben will. Viele kluge Köpfe haben das Projekt aufgegeben, aber immer neue Rekruten lassen die grandiosen Träume wiederauferstehen. Einer von ihnen, der unlängst konvertiert ist, hat es ganz ergriffen so formuliert: »Die Spieltheorie ist ein Universallexikon, das für sämtliche Lebensformen anzuwenden ist. Strategische Interaktion trennt säuberlich die lebenden von den nichtlebenden Gebilden und definiert das Leben selbst.« [21]
Solche Fantasien wirken sich auch auf alle anderen von uns im alltäglichen Leben aus. Die Ideen der Spieltheorie sind aus der akademischen Welt hervorgekrochen, haben sich ausgebreitet und sind zu einem Bestandteil des Denkens geworden, das wir den »gesunden Menschenverstand« nennen. Doch auf diesem Weg sind einige ihrer Feinheiten verloren gegangen. Es wird generell angenommen, dass Kooperation hauptsächlich etwas für Trottel sei und dass nur Naivlinge sich auf Vertrauen verlassen würden. Insbesondere ist die Spieltheorie so verstanden worden, dass sie mithilfe unwiderlegbarer logischer Argumente den Nachweis geführt habe, es sei irrational, sich altruistisch, zuverlässig oder kooperativ zu verhalten, selbst wenn die Menschen, mit denen man es zu tun hat, altruistisch, zuverlässig oder kooperativ sind. Aber das ist eine fundamentale Fehlinterpretation der Theorie.
Ja, viele Spieltheoretiker – vor allem in den frühen Tagen von Neumann s, Nash s und der RAND Corporation – gehen von der Annahme aus, der Mensch würde sich stets eigennützig verhalten. Aber die Randbedingungen, unter denen die Spieltheorie eigennütziges Verhalten rechtfertigt oder empfiehlt, sind erstaunlich eng gefasst. Nash s Idee vom Gleichgewicht impliziert im Grunde genommen Folgendes: Falls alle anderen sich egoistisch verhalten, sollten Sie selbst das auch tun – dann ist Eigennutz Ihre beste Reaktion. Und der Eigennutz der anderen ist dann auch deren beste Reaktion auf Ihr eigenes egoistisches Verhalten: Wir können in nichtkooperative Situationen hineingetrieben werden. Aber der springende Punkt ist, dass wir in vielerlei Kontexten nicht davon ausgehen können, dass alle anderen sich von vornherein eigennützig verhalten werden. Und ohne diese Annahme verschwindet der Grund, warum wir in nichtkooperative Situationen hineingetrieben werden können.
Anders ausgedrückt: Die Spieltheorie besagt, wir würden immer in einem Nas h-Gleichgewicht landen, aber sie erklärt nicht, in welchem Gleichgewicht – im kooperativen, im nichtkooperativen oder in einem anderen. Es ist ein Nash-Gleichgewich t, dass alle auf derselben Seite der Straße fahren, und es existieren zwei Gleichgewichte: Alle fahren auf der linken Seite, und alle fahren auf der rechten Seite. Die Spieltheorie kann wenig dazu sagen, welches Gleichgewicht auftreten wird, und warum sich das von Land zu Land unterscheidet. Ganz ähnlich ist auch das QWERTZ -Tastaturlayout ein Nas h-Gleichgewicht: Wenn fast alle Menschen das QWERTZ -Tastaturlayout gewohnt sind und fast alle Tastaturen mit diesem Layout produziert wurden, dann sollten auch Sie mit diesem Layout tippen lernen, und neue Tastaturen werden mit diesem Layout hergestellt werden. Darum wird das Gleichgewicht erhalten bleiben, obwohl man auf einer QWERTZ -Tastatur bei Weitem nicht so schnell schreiben kann wie mit anders angeordneten Tastaturen, etwa mit dem DVORAK -Layout: Das Gleichgewicht bleibt bestehen, obwohl alle Tastaturnutzer dadurch schlechter abschneiden (weil sie nicht so schnell tippen können). Auch hier kann die Spieltheorie nicht erklären, wie wir in diesem langsamen Gleichgewicht stecken geblieben sind, mit dem langsamen QWERTZ -Layout.
Die Schlüsselfrage ist also in vielen Fällen nicht so sehr, ob ein Nas h-Gleichgewicht bestehen bleibt, sobald die Spieler nach ihren Gleichgewichtsstrategien spielen, sondern eher, ob dieses Gleichgewicht überhaupt erreicht wird: eine Frage der Spielgeschichte, nicht der Spieltheorie. (Im Falle des QWERTZ -Layouts war die Ineffizienz dieser Anordnung genau das, worauf es ankam: Es wurde erfunden, um die Schreibgeschwindigkeit zu bremsen, weil in einer Ära mechanischer Schreibmaschinen die Typenhebel dazu neigten, sich zu verklemmen, wenn zu schnell getippt wurde.) Doch der größte Störfaktor für alle spieltheoretischen Schulweisheiten ist, dass selbst bei einem Spiel mit nur einem Nash-Gleichgewich t nicht garantiert ist, dass dieses Gleichgewicht erreicht wird – dass dies das Ergebnis sein wird, wenn das Spiel tatsächlich gespielt wird. Das Spiel nach der Nas h-Gleichgewichtsstrategie zu spielen, ist nur dann Ihre beste Spielstrategie, wenn auch alle anderen nach der Nas h-Gleichgewichtsstrategie spielen. Aber wie wir schon gesehen haben, gibt es eine ganze Reihe von guten Gründen, warum Sie denken könnten, dass andere nicht der eigenen Nas h-Strategie folgen werden – vielleicht, weil sie nicht egoistisch sind, oder weil sie anders denken als Spieltheoretiker. Dies ist ein fundamentaler Fehler der Theorie, doch er wird in keinem Lehrbuch erwähnt.
Auf dem Höhepunkt von George Orwell s düsterem Science-Fiction-Roman 1984 geraten Winston und Julia buchstäblich in ein Gefangenendilemm a: Beide werden getrennt eingesperrt und gefoltert, um sie dazu zu bringen, sich gegenseitig zu verraten. Doch hier ist die Vorhersage der Spieltheorie falsch: Keiner von ihnen verrät den anderen. Für Orwells Verständnis dessen, was es bedeutet, menschlich zu sein, sind Liebe, Freundschaft und Loyalität am allerwichtigsten. Dies sind Konzepte, für die in der konventionellen Spieltheorie kein Platz ist. Aber warum ist das eigentlich so? Warum kann die konventionelle Spieltheorie nicht auf einem umfassenderen Verständnis dessen, was es bedeutet, menschlich zu sein, aufbauen?
Wie wir schon gesehen haben, reagieren Spieltheoretiker auf Menschen, die in einem vermeintlichen Gefangenendilemm a sind, aber darauf anders reagieren, als die Spieltheorie es vorhersagt, indem sie behaupten, diese Spieler könnten sich nicht in einem echten Gefangenendilemm a befinden. Die Spielregeln schreiben fest, dass die Spieler in einem engen Sinne eigennützig sein müssen, woraus folgt, dass per definitionem Menschen wie Winston und Julia nicht in einem Gefangenendilemm a stecken. Sobald wir Winston und Julias Gefühle füreinander in das mathematische Modell des Spiels mitaufnehmen, wird es empfehlen, dass sie einander nicht verraten sollten. Ihre Liebe, Freundschaft und Loyalität verändern das Ergebnis der Berechnung der »besten Strategie« zugunsten der Kooperation. In allgemeinerer Form lautet das Argument, dass grundsätzlich alles , was einem Spieler wichtig ist, in der Spieltheorie berücksichtigt werden kann, indem die Zahlen angepasst werden, welche die Konsequenzen darstellen, die aus jeder Entscheidungsmöglichkeit folgen.
Doch die Spieltheorie führt eine subtile, aber entscheidende Einschränkung ein: Sie beschäftigt sich nicht mit dem historischen Kontext verschiedener Entscheidungen, sondern ausschließlich mit deren Konsequenzen oder Ergebnissen. [22] Konsequenzen entstehen von Natur aus in der Zukunft, während unsere moralischen Überlegungen zu Aspekten wie Gerechtigkeit und Verantwortung typischerweise rückblickend sind: Sie drehen sich um die Historie dessen, wer was getan hat und warum. Allein dieser Fokus auf Konsequenzen bedeutet, dass die Spieltheorie unvermeidlich innerhalb eines eingeschränkten, partiellen Verständnisses dessen, was es bedeutet, menschlich zu sein, operieren muss – eines Verständnisses, das darauf besteht, dass unsere Zukunft stets wichtiger sei als unsere Vergangenheit. In späteren Kapiteln wird uns ein ähnliches Muster begegnen, das wiederholt in einem anderen Zusammenhang zutage tritt: der Versuch, moralische Überlegungen in die üblichen ökonomischen Theorien zu integrieren, wobei sie eingeschränkt, verzerrt oder untergraben werden.
In den letzten Monaten seines Lebens tat John von Neuman n etwas, das alle, die ihn kannten, schockierte. Vielleicht hatte selbst er begonnen, über die eingeschränkte Sicht von Menschlichkeit, die der Spieltheorie zugrunde liegt, hinauszuschauen. Oder vielleicht war es auch nur eine Nebenwirkung des geistigen und körperlichen Verfalls durch die Krebserkrankung, die ihn überwältigte. Obwohl er sein ganzes Leben lang ein überzeugter Agnostiker war, ließ er sich jetzt zum Katholiken taufen. Als er im Krankenhaus lag und sein Bett nicht mehr verlassen konnte, wurde er regelmäßig von Pater Anselm Strittmatte r besucht, einem Benediktinermönch, der ihm die Beichte abnahm. Doch das schien ihm nicht zu helfen; Strittmatte r erinnert sich, dass von Neuman n bis zu seinem Ende entsetzliche Angst vor dem Tod hatte. Als e r nach dem Begräbnis, bei dem die vollständigen katholischen Rituale vollzogen wurden, mit einem Taxi davonfuhr, sagte der Direktor des Los Alamos Laboratory zu einem Kollegen, der Physiker war: »Wenn Johnn y jetzt dort ist, wo er hinzukommen glaubte, werden da wohl ungefähr jetzt einige sehr interessante Gespräche stattfinden.« [23]