4   Der Staat als Gegner
Anfang der 1950er-Jahre waren John von Neuman n und John Nas h nicht die einzigen Genies bei der RAND Corporation. RAND war der Brutkasten für eine weitere intellektuelle Revolution, die ebenso wichtig war wie die Spieltheorie, damit aber überhaupt nichts zu tun hatte. Und dieses Mal war das Genie, das dahintersteckte, ein bescheidener Praktikant.
Die ersten und eifrigsten Anwender der Spieltheorie waren die Militäranalysten der RAND Corporation gewesen, die ihre potenten mathematischen Werkzeuge einsetzen wollten, um die Sowjets bei den atomaren Strategiespielen im Kalten Krieg auszumanövrieren. Doch für die Intelligenzbestien der RAND Corporation war strikte Logik das Wichtigste, und spätestens 1948 war aus spieltheoretischer Sicht ein möglicher Fehler in der Logik der Analyse eines Atomkriegs entdeckt worden. Ob das Spiel nun Scrabble oder Armageddon heißt, die Spieltheorie betrachtet jeden Spieler gleichermaßen als rationales Individuum. Aber war es wirklich passend, das dichte schwarze Netz des riesigen Sowjetreichs unter Stalin s Herrschaft als Individuum zu betrachten? Anders gefragt: Wer genau spielte eigentlich die nuklearen Kriegsspiele gegen die USA ? Sicherlich nicht Stali n selbst. Man sollte sich den Gegner nicht als Individuum vorstellen, sondern als eine Gruppe, ein Kollektiv. Doch diese Interpretation stellt für die Spieltheorie ein Problem dar, weil von deren Spielern angenommen wird, dass sie klare Präferenzen zeigen zwischen den Alternativen, die sich ihnen stellen. Diese Annahme scheint für ein hyperrationales Individuum plausibel zu sein, aber für eine Gruppe wird sie zu einem Rätsel und wirft einige schwierige Fragen auf: Was bedeutet es, von den Präferenzen einer Gruppe, eines Kollektivs zu sprechen? Worauf basieren diese Präferenzen? Und ist es sinnvoll, eine Gruppe als »rational« zu betrachten?
Ein paar Dinge im Büroalltag ändern sich nie. Wenn du ein paar wirklich knifflige, abstrakte Fragen hast, auf die Antworten gefunden werden müssen, frag jemanden, der nicht Nein sagen kann und dem es hoffentlich nichts ausmachen wird, sich lächerlich zu machen: Frag den Praktikanten.
Im Sommer 1948 machte Kenneth Arro w, ein Doktorand aus New York, ein Praktikum bei der RAND Corporation. Seine Antworten auf diese Fragen waren in einem RAND -Bericht enthalten, den er im Folgejahr fertigstellte: »Social Choice and Individual Values« (»Soziale Entscheidungen und individuelle Werte«). Bis 1951 hatte er das Papier zu einem kleinen Buch mit dem gleichen Titel erweitert, das einen so enormen Einfluss entfaltete, dass Arro w dafür zwei Jahrzehnte später im Alter von 51 Jahren den Wirtschaftsnobelpreis zugesprochen bekam – damit war er jünger als jeder andere Nobelpreisgewinner vor oder nach ihm.
Arrow s Rang in der Welt der Ökonomen ist kaum zu überschätzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die Wirtschaftslehre gewandelt – zuerst in den Vereinigten Staaten, dann auf der ganzen Welt. Sie hatte sich von einer Disziplin, die erkennbar Fächern wie Politikwissenschaften und Geschichte ähnelte, zu etwas entwickelt, was eher einem Zweig der angewandten Mathematik gleichkam. Kenneth Arro w war vermutlich die Einzelperson, die den größten Einfluss auf diese radikale Neupositionierung der Wirtschaftswissenschaften hatte. Arro w ging an ökonomische Fragen völlig anders heran als so gut wie jeder andere, der ihm vorangegangen war, und erfolgreicher als die wenigen, die es versucht hatten. Arro w setzte den Standard für das prestigeträchtigste Forschungsgebiet der Wirtschaftswissenschaften – die Wirtschaftstheorie. Arro w taucht häufig in Rankings der »größten« Wirtschaftsnobelpreisträger auf, und mit seinen Arbeiten hat er sich eigentlich für drei Nobelpreise qualifiziert, weil er damit im Grunde genommen drei wichtige Teilgebiete der Wirtschafttheorie begründet hat. Fünf seiner Studenten gewannen ebenfalls einen Nobelpreis.
Wie bei vielen anderen aus seiner Generation war Arrow s Studium durch den Krieg unterbrochen worden. Von 1942 bis 1946 diente er als Wetteroffizier des US Army Air Corps. Bei seiner Arbeit für diesen Vorläufer der US Air Force etablierte er ein Muster, das sich in den kommenden 20 Jahren wiederholen sollte: den Einsatz mathematischer Verfahren für militärische Zwecke. Sein erster veröffentlichter Forschungsbericht, »On the Optimal Use of Winds for Flight Planning« (»Über die optimale Nutzung von Winddaten bei der Flugplanung«), stammt aus dieser Zeit. Arro w und seine Statistiker hatten den Auftrag, die Anzahl der Regentage des jeweils bevorstehenden Monats zu prognostizieren. Sie schickten ein Memo an den kommandierenden General des Air Corps, in dem sie feststellten, dass ihre Vorhersagen erwartungsgemäß unbrauchbar waren und dass ihre Gruppe aufgelöst werden sollte. Sechs Monate später kam die Antwort von einem Sekretär des Generals: »Der General weiß, dass Ihre Prognosen nicht gut sind, aber sie werden für Planungszwecke gebraucht.« Die Prognosen wurden fortgesetzt. [1]
Arrow s Leben während der 1950er- und 60er-Jahre scheint unauffällig verlaufen zu sein, aber andererseits unterliegen zahlreiche Aspekte seines Lebens nach wie vor der militärischen Geheimhaltung: Aufgrund seines maßgeblichen Einflusses auf das strategische Denken der US -Militärs hatte er von 1949 bis 1971 eine »Top Secret«-Sicherheitsfreigabe.
Das zentrale mathematische Ergebnis im Kern seines Buches Social Choice and Individual Values ist ein Lehrsatz, der später als das Allgemeine Unmöglichkeitstheorem bekannt wurde. Während sein mathematischer Beweis nur für Spezialisten interessant ist, haben die Implikationen des Unmöglichkeitstheorems ein breites Publikum erreicht – und verblüfft. Seine einfachste und kürzeste Zusammenfassung – die sich dann auch als die populärste erwies – passt sogar bequem auf einen Autosticker: DEMOKRATIE IST UNMÖGLICH . Dies war freilich ein Sticker, den eine ganze Generation von Politikstudenten voller Stolz auf ihre Stoßstangen klebte, die sich, nachdem sie Arrow s Buch gelesen hatten, mit Vorliebe als Politikwissenschaftler bezeichneten.
Wie konnte es angehen, dass diese nihilistische Auffassung von Demokratie ernst genommen und nicht als politphilosophisches Argument, sondern als unanfechtbare Tatsache der mathematischen Logik präsentiert wurde? Arro w brauchte sich nicht mit der jahrtausendealten Debatte um die Machbarkeit von Demokratie zu belasten, um zu diesem Schluss zu kommen, und das konnte er auch gar nicht. Seine Ideen waren völlig anders, noch nie da gewesen. Tatsächlich war er in der Lage, den Großteil der intellektuellen Geschichte der Demokratie völlig zu umschiffen.
In Social Choice and Individual Values begründete Arro w ein Feld der Ökonomik, das heute als Sozialwahltheorie oder Theorie kollektiver Entscheidungen bekannt ist. Vor Arro w existierte dieses Feld nicht; es hatte keinen Namen, und nur ein paar Amateure beschäftigten sich damit. Arrow s intellektueller Vorläufer war weniger Aristotele s, sondern eher Alice im Wunderland. Der Reverend Charles Lutwidge Dodgso n – besser bekannt als Lewis Carroll, der Autor des Kinderbuches Alice im Wunderland  – war ein Mathematiker, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Oxford lebte. Abgesehen von Mathematik und Alice im Wunderland beschäftigte sich Dodgso n mit wegbereitenden Konzepten zu Wahlsystemen. Vor Arro w hatte Dodgso n die bei Weitem umfassendste Analyse von Wahlsystemen angestellt, doch diese Arbeit blieb in einem Stapel unveröffentlichter Pamphlete liegen, sodass Arro w nichts davon wusste, als er begann, sich mit den scheinbar obskuren Fragen zu beschäftigen, die ihm die RAND -Analysten im Sommer 1948 gestellt hatten. 8
Arro w wusste mit Sicherheit nicht, dass seine Antworten nicht nur eine Fußnote der militärischen Analysen der RAND Corporation bleiben, sondern auch unser Verständnis von Demokratie von Grund auf verändern würden: Im Lichte von Arrow s Arbeit würde Demokratie als fundamentale Fehlkonstruktion erscheinen, die bestenfalls eine Serie von wenig überzeugenden Kompromissen verkörpert.
Das Unmöglichkeitstheorem
Um die Spieltheorie zur Entwicklung der Atomstrategie im Kalten Krieg einsetzen zu können, musste RAND davon ausgehen, dass der sowjetische Gegner sich rational verhalten würde. Da »Rationalität« in der Spieltheorie im Wesentlichen einfach bedeutet, sich konsistent zu verhalten, ist sie ein Kriterium, das ein Individuum – selbst ein paranoider, größenwahnsinniger Diktator wie Stali n – relativ leicht erfüllt. Wenn es sich jedoch bei einem der »Spieler« in einem nuklearen Kriegsspiel tatsächlich um eine Gruppe von Individuen handelt, ist keineswegs von vornherein klar, ob sich diese Gruppe in ihren Ansichten oder Entscheidungen konsistent verhalten wird. Arro w begann seine Analyse dieses Problems mit folgender Annahme: Wenn einer Gruppe von Menschen – ganz gleich, ob es sich dabei um sowjetische Militärstrategen oder einen Freundeskreis handelt – eine »kollektive Präferenz« zu etwas zugeschrieben werden kann, dann muss diese kollektive Präferenz aus den individuellen Präferenzen der Gruppenmitglieder abgeleitet werden. Daher konzentrierte Arro w sich sofort auf Wahlsysteme, also die verschiedenen Arten, wie die Präferenzen individueller Wähler kombiniert werden können, um eine kollektive Entscheidung oder Präferenz zu ermitteln.
Vor allem wollte Arro w herausfinden, ob die kollektive Präferenz, die ein vernünftiges Wahlsystem hervorbringt, konsistent sein würde. Um zu definieren, was er mit »vernünftig« meinte, stellte er einen Satz von Prinzipien auf, eine Reihe von erwünschten Eigenschaften, die jedes vernünftige Wahlsystem seiner Meinung nach haben sollte. Anhand dieser Liste scheint das weitere Vorgehen klar zu sein: Man untersucht verschiedene Wahlsysteme, die diese Eigenschaften haben, und beurteilt für jedes dieser Systeme, ob die von ihm hervorgebrachten Entscheidungen konsistent sind. Dies ist der Ansatz, den die Forscher vor Arro w verfolgt hätten. Doch Arro w tat etwas völlig anderes.
Zuerst erkannte Arro w, dass ein Wahlsystem als ein generelles mathematisches Verfahren betrachtet werden kann. Es ähnelt einem Computerprogramm, in das jeder Wähler seine Präferenzen eingibt, die der Computer anhand eines Regelwerks auswertet und zusammenfasst, um dann die kollektive Präferenz auszuwerfen. Als Nächstes fasste Arro w sowohl die erwünschten Eigenschaften von Wahlsystemen als auch die Bedeutung dessen, was er mit der Konsistenz der kollektiven Präferenzen meinte (worauf wir später noch näher eingehen werden), in mathematische Begriffe. Als er all das zusammenfügte, ergab sich eine völlig unerwartete Inkompatibilität: Es gibt, zu diesem Schluss kam Arro w, kein Wahlsystem – auch kein bislang noch gar nicht konzipiertes –, das sowohl die erwünschten Eigenschaften aufweist als auch eine konsistente kollektive Präferenz hervorbringt. Diese Erkenntnis ist das Unmöglichkeitstheorem.
Die Grundzüge des Theorems waren bereits in dem Memo enthalten, das Arro w als Praktikant bei RAND geschrieben hatte, wofür er im September 1948 fünf Tage gebraucht hatte. [2] Arro w war ein bescheidener Mensch. Er erinnerte sich erst daran, dass er auf das Unmöglichkeitstheorem gekommen war, als alle seine anderen Versuche, die RAND -Fragen zu beantworten, gescheitert waren. Aber Arro w hatte auch Glück. Das Unmöglichkeitstheorem hätte er nicht entwickeln können, wenn er nichts von einer damals weitgehend unbekannten mathematischen Sprache, der sogenannten relationalen Logik, gewusst hätte, über die er erst durch eine Verkettung von Zufällen erfuhr. Erstens hatte Arro w, da sein Vater in der Weltwirtschaftskrise alles verloren hatte, wegen der ärmlichen Lebensverhältnisse seiner Familie keine andere Wahl, als sein Grundstudium am City College in New York zu absolvieren statt an einer renommierteren Hochschule. Freilich lehrten damals etliche beeindruckende Persönlichkeiten am City College: Der führende Logiker Bertrand Russel l stand im Begriff, dort eine Professur zu übernehmen, und Arro w, der schon vorher ein Interesse für mathematische Logik entwickelt hatte, schrieb sich in Russell s Kurs ein. Zweitens wurde Russel l, noch bevor er überhaupt in New York eingetroffen war, wegen »moralischer Unschicklichkeit« gefeuert. Die Mutter einer potenziellen Studentin (eher »potenziell« als »Studentin«: das Mädchen war erst zwölf Jahre alt) hatte das City College verklagt, weil Russell s Philosophie der »freien Liebe« – die ein gewisses öffentliches Aufsehen erregt hatte – die Moral von Studentinnen untergrabe. Der Richter donnerte bei der Urteilsverkündung, das College wolle einen »Lehrstuhl der Unschicklichkeit« einrichten. 9 Dann kam der dritte Zufall: Entgegen allen Erwartungen gelang es dem College, einen renommierten Ersatz für Russel l zu finden. Alfred Tarsk i, einer der größten Logiker des 20. Jahrhunderts, war im August 1939 aus seiner Heimat Polen abgereist, um eine Vorlesungsreihe an der Harvard University abzuhalten. Dann stellte sich heraus, dass er das letzte Schiff genommen hatte, das in die Vereinigten Staaten fuhr, bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach und deutsche und sowjetische Armeeverbände Polen überrannten. Da Tarsk i Jude war, konnte er nicht nach Polen zurückkehren, und da er kein Einkommen hatte, nahm er dankend an, als das City College ihm einen Job anbot. Im Frühjahr 1940 hörte Arro w seine Vorlesungen über relationale Logik. Tarsk i war nicht nur der führende Experte für diese neue Art der Logik; er war ihr Pionier. Dann bekam Arro w die Gelegenheit, seine Kenntnisse noch zu vertiefen, als Tarsk i, der in ihm einen hochbegabten Studenten erkannt hatte, den 18-jährigen Undergraduate-Studenten bat, als Chefkorrektor sein maßgebliches Standardwerk über Logik, das 1941 veröffentlicht wurde, durchzusehen. [3]
Arrow s Buch Social Choice and Individual Values wurde weithin mit großem Beifall aufgenommen. Doch außerhalb eines engen Kreises konnte kaum jemand Arrow s mathematischen Ausführungen folgen, und noch weniger Menschen interessierten sich überhaupt dafür. Und es war von Anfang an ein sehr enger Kreis. So fehlte zum Beispiel in dem Beweis für das Unmöglichkeitstheorem ein notwendiger Schritt, was dem Redakteur vor der Veröffentlichung nicht aufgefallen war – vermutlich, weil die verwendete mathematische Sprache so neu und fremdartig war, dass sie das Fehlen dieses Schrittes verschleierte. (Ein paar Jahre später fiel dieses Problem auf und wurde dann mühelos behoben.) Diese mathematische Hürde hat in den folgenden Jahren immer wieder dazu geführt, dass sowohl Befürworter als auch Kritiker von Demokratie die Details von Arrow s Arbeit ignorierten und sie stattdessen mit den primitiveren Sticker-Botschaften assoziierten. Wenn wir seine Arbeit besser verstehen wollen, müssen wir tiefer in die Materie einsteigen, um uns zumindest eine Vorstellung davon zu machen, was mit »konsistenten« kollektiven Entscheidungen gemeint ist und wieso sie mathematisch unmöglich sein können.
Da das Unmöglichkeitstheorem ausschließlich in mathematischen Begriffen formuliert ist, kann es für sich in Anspruch nehmen, universell anwendbar zu sein. Die Mathematik schränkt in keiner Weise ein, wer wählt, wie man wählt und wen oder was man wählt (solange es mindestens drei Alternativen gibt, zwischen denen man sich entscheiden kann). Es könnten die sowjetischen Militärstrategen sein, die entscheiden wollen, welche US -Stadt ihr primäres Ziel für einen Atombombenabwurf sein soll – oder es könnten ein paar Teenager sein, die entscheiden wollen, ob sie Pizza, Burger oder Sushi essen wollen. Das heißt, dass Arro w, als er auf Seite 2 von Social Choice and Individual Values ein »Wahl-Paradoxon« einführte, es mit einem breiten Spektrum unterschiedlicher Kontexte hätte veranschaulichen können. Aber natürlich griff er auf ein Beispiel zurück, das seine Arbeit bei RAND reflektierte, in Form einer Entscheidung zwischen den drei Alternativen »Abrüstung, Kalter Krieg oder Heißer Krieg«. Nehmen wir an, die Entscheider sind drei RAND -Analysten namens Tom, Dick und Harry, die folgende Präferenzen haben: Tom bevorzugt Abrüstung vor einem Kalten Krieg und einen Kalten Krieg vor einem Heißen Krieg; Dick bevorzugt einen Kalten Krieg vor einem Heißen Krieg und einen Heißen Krieg vor Abrüstung; und Harry bevorzugt einen Heißen Krieg vor Abrüstung und Abrüstung vor einem Kalten Krieg. 10 Wenn Tom jetzt Abrüstung vorschlägt, könnten Dick und Harry einen Heißen Krieg vorschlagen, weil sie ihn beide bevorzugen (in einer Abstimmung über Heißen Krieg oder Abrüstung gewinnt der Heiße Krieg). Entsprechend können Tom und Dick, falls Harry seine erste Wahl – einen Heißen Krieg – vorschlägt, sich verbünden und ihn überstimmen, da sie beide einen Kalten Krieg vor einem Heißen Krieg bevorzugen. Und wenn im dritten Fall Dick seine erste Wahl – Kalten Krieg – vorschlägt, können Tom und Harry sich verbünden, um ihn zu überstimmen, da sie beide eine Abrüstung einem Kalten Krieg vorziehen.
Es gibt keinen Gesamtsieger, weil jeder Vorschlag mit einem Gegenvorschlag durch zwei von drei Wählern überstimmt werden kann. Das heißt, dass die Präferenz der Gruppe inkonsistent ist: Abrüstung schlägt Kalten Krieg, Kalter Krieg schlägt Heißen Krieg, aber Heißer Krieg schlägt Abrüstung. Arrow s Unmöglichkeitstheorem zeigt, dass Probleme wie dieses Paradox bei einer beliebigen Zahl von Wählern, bei einem beliebigen Wahlsystem und in einem beliebigen Kontext auftreten können: Das Problem entsteht aus dem Muster der Wählerpräferenzen, nicht aus deren Inhalten. In diesem Sinne ist das Unmöglichkeitstheorem universell anwendbar.
Das Unmöglichkeitstheorem wurde von Anfang an falsch verstanden und dargestellt. Die Leser des Theorems fielen im Grunde genommen in zwei Kategorien: Solche, die die Mathematik nicht verstanden, aber das daraus folgende Ergebnis der Unmöglichkeit erstaunlich fanden; und solche, die die Mathematik durchaus verstanden und von der darauf beruhenden Unmöglichkeit keineswegs erstaunt waren.
Unterdessen ahnten viele aus der letzteren Gruppe, dass dieses von Arro w beschriebene Paradoxon nicht wirklich neu war. Es war nämlich als das Condorce t-Paradoxon bekannt, das schon 1785 von dem französischen Philosophen und Mathematiker Marquis de Condorce t entdeckt worden war (was Arro w allerdings nicht wusste – vermutlich wegen seines »mangelnden Eifers« bei der Recherche). Wichtiger ist jedoch, dass Wirtschaftsmathematiker rasch Möglichkeiten fanden, das durch das Theorem aufgeworfene Problem zu vermeiden, indem sie Wahlmodalitäten entwickelten, die letzten Endes doch konsistente kollektive Entscheidungen gewährleisten. Doch eine Frage bleibt: Wenn das durch das Unmöglichkeitstheorem aufgeworfene Problem so mühelos zu lösen war, warum hat dann Social Choice and Individual Values einen so enormen Einfluss entfaltet? Vielleicht war Arro w einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort; jemand anders hätte vielleicht weniger Glück gehabt.
USA – Schottland 1:0
Duncan Blac k kam 1908 arm, aber mit Intelligenz gesegnet zur Welt, in der schottischen Stadt Motherwell. Nach einem Studium der Mathematik und Wirtschaftswissenschaften an der Glasgow University trat e r eine Stelle als Dozent an der neu gegründeten Dundee School of Economics an, wo er sich bald mit einem anderen neuen Dozenten anfreundete, dem jungen Ronald Coas e. Blac k hatte schon früher ein Interesse für Wahlsysteme entwickelt, vor allem für die Frage, wie ein Komitee abstimmen kann, um zu einer kollektiven Entscheidung zu kommen. Wie bei Arro w wurde auch Black s Laufbahn unterbrochen, weil er Kriegsdienst leisten musste. Er diente als nächtlicher »Brandwart« im Warwick Castle – mit der Aufgabe, Alarm zu schlagen, wenn am Nachthimmel deutsche Bomber auftauchten –, und es war in einer einsamen Nacht im Februar 1942, dass ihm dort »wie ein Geistesblitz« eine Schlüsselidee zu Wahlsystemen kam. Daraus entwickelte sich Black s Medianwählertheorem  – die Idee, dass bei einer Wahl, bei der die Wähler einfache Präferenzen zwischen zwei Kandidaten haben, derjenige gewinnen wird, der sich die Unterstützung des politischen Zentrums der Wählerschaft (des Medians) sichern kann. Im Jahr 1946 hatte Blac k eine weitere wichtige Erkenntnis, aber als ihm klar wurde, welche negativen Implikationen sie für die Entwicklung zuverlässiger Wahlsysteme haben würde, »wurde mir schlecht, fast so, als ob ich richtig krank wäre«. [4] Blac k erfuhr erst später, dass seine Erkenntnis nicht neu war – es handelte sich abermals um das Condorce t-Paradoxon (das von Dodgso n im 19. Jahrhundert in Oxford wiederentdeckt worden, dann aber gleich wieder in Vergessenheit geraten war). Blac k veröffentlichte seinen ersten größeren Artikel zu diesem Thema 1948, also drei Jahre, bevor Arrow s Buch erschien. Dann, im November 1949, reichte Blac k eine weitere wichtige Arbeit an die Econometrica zur Veröffentlichung ein, der führenden Fachzeitschrift der mathematischen Ökonomik. Der Erste zu sein, der eine neue Idee veröffentlicht, ist in der akademischen Welt ausgesprochen prestigeträchtig, sodass Blacks Rang auf diesem Gebiet gesichert zu sein schien.
Aber Blac k hatte nicht so viel Glück. Er arbeitete immer allein: Ronald Coas e beschrieb ihn als »weltabgewandt, bescheiden, zurückhaltend«, und ein anderer akademischer Kollege spottete: »Er war Experte für Komitees, aber ich habe ihn nie in einem sitzen sehe n.« [5]
Im Gegensatz zu Arro w bei der RAND Corporation war Blac k nicht von Mathematikern umgeben und keiner seiner Kollegen wusste etwas über seine Forschungen. Von Econometrica hörte er nichts wegen seines Artikels, bis er 18 Monate später, im Mai 1951, den Chefredakteur direkt darauf ansprach. Dieser antwortete, dass man Black s Artikel drucken wolle – aber nur unter der Bedingung, dass Black ihn vorher komplett überarbeitete und Arro w als Urheber dieser Ideen angab, da Arrows Buch etwa einen Monat zuvor erschienen war. Blac k war wütend, weil Arrow s Buch nur wegen der Trägheit von Econometrica früher erschienen war, und er wurde noch wütender, als eine mögliche Erklärung für diese Trägheit zutage trat: Der Chefredakteur war voreingenommen, da er Forschungsdirektor der Cowles Commission for Research in Economics in Chicago war, wo Arro w gerade den größten Teil seines Buches geschrieben hatte.
Eigentlich hätte das ein nur vorübergehender Rückschlag für Blac k sein können, doch tatsächlich war seine Niederlage von Dauer. Seine Arbeit über Sozialwahltheorie zog sowohl vor als auch nach Erscheinen von Arrow s Buch nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit und des Lobes auf sich wie Arrow s Arbeit. Arrow war tatsächlich zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Arro w hatte ja nicht nur durch seine Beziehungen zu RAND und Cowles Kontakte und Einfluss gewonnen, die im abgelegenen Dundee unvorstellbar waren; sein intellektuelles Umfeld war ebenso weit entfernt von dem Blacks. Blac k sah sich als neutraler Gelehrter, der eine reine Wissenschaft der Politik entwickelte; als 1948 ein RAND -Forscher Blac k einen Brief schrieb, um ihn um Leseempfehlungen für das RAND -Team zu bitten, beschloss Blac k, nicht zu antworten, weil er einer geheimnistuerischen, militaristischen Organisation wie RAND nicht helfen wollte. Arro w hatte dagegen ein differenziertes, aber klar abgestecktes philosophisches und politisches Weltbild, das gut zum Selbstbild der RAND Corporation als Verteidiger der Freiheit passte. Es war dieser breiter angelegte philosophische und politische Horizont, der Social Choice and Individual Values maßgeblich geprägt hatte und letztlich weit größeren Einfluss entfaltete als das Unmöglichkeitstheorem allein. Arro w hatte, ohne es zu wollen, ein Denkgerüst errichtet, das sich in späteren Jahren zahlreiche Vorkämpfer für »freie Märkte« zu eigen machen würden.
In den Nachwirren des Zweiten Weltkriegs war eine skeptische Sicht der Klugheit von Entscheidungen, die durch einen mehr oder weniger demokratischen Prozess herbeigeführt werden, gang und gäbe. Hitler war durch eine demokratische Wahl an die Macht gekommen. In seinem Buch Der Weg zur Knechtschaft hatte von Haye k betont, wie leicht wohlfeiles Gerede über »Gemeinwohl«, »öffentliches Interesse« und »gesellschaftliche Ziele« als bequemer Deckmantel verwendet werden kann, um eine Gesellschaft auf den Weg in ein totalitäres Herrschaftssystem zu führen. Doch e r hatte auch behauptet, dass keines dieser Konzepte überhaupt existiert, da eine Gesellschaft freier Individuen nie einen Konsens über gemeinschaftliche Ziele erreichen könne. Kein Wunder, dass Arrow s Unmöglichkeitstheorem unter von Hayek s Anhängern zahlreiche Unterstützer fand: Arro w schien einen mathematischen Beweis für von Hayek s Argumente geliefert zu haben.
Für die Anhänger freier Märkte hatte Arro w anscheinend mehr zu bieten. Wenn Demokratie unmöglich war, so hatte Arro w doch angedeutet, was an ihre Stelle treten konnte: Auf den ersten Seiten von Social Choice and Individual Values hatte er postuliert, dass es zwei Arten »sozialer Entscheidungen« gebe: Wahlen, um politische Entscheidungen herbeizuführen, sowie Märkte, die für wirtschaftliche Entscheidungen zuständig waren. Für Arro w waren Wahlen und Märkte in so hohem Maße »analog« (vergleichbar), dass die Unterschiede zwischen ihnen »vernachlässigt« werden konnten. Soweit es die Haye k-Chicago-Achse betraf, war die offensichtliche Reaktion auf das Unmöglichkeitstheorem, Politik und Wahlen durch Ökonomik und Märkte zu ersetzen. Dies war ein großer neuer Schritt, der über Adam Smit h, das Laissez-faire des 19. Jahrhunderts und andere traditionelle Formen von Konservatismus hinausging – eine Vision, nach der nicht nur staatliche Einmischungen in die Märkte fehlten, sondern der Staat selbst möglichst weitgehend ersetzt wurde. Und diese Vision schwebt heute über dem gesellschaftlichen Leben des 21. Jahrhunderts und manifestiert sich in der Annahme, dass Märkte der beste Weg seien, um Entscheidungen zu treffen, die früher auf politischer Ebene getroffen wurden.
Doch es gibt ein fundamentales Problem mit dieser Markteuphorie. Wenn Märkte praktisch das Gleiche sind wie Wahlen, dann gilt das Unmöglichkeitstheorem auch für Märkte, und daraus folgt, wie Arro w es unmittelbar nach der ersten Erwähnung seines Theorems formulierte, dass »der Marktmechanismus keine rationale soziale Entscheidung hervorbringt«. [6]
Doch dieser Teil von Arrow s Botschaft wurde ignoriert.
Mathematische Philosophie
Niemand, der sich ernsthaft mit Arrow s Arbeit beschäftigte, konnte zu dem Schluss kommen, dass er offenkundig die Märkte als Mittel, um den Menschen zu geben, was sie wollen, für besser geeignet hielt als Demokratie. Um es noch einmal zu wiederholen: Arro w vertrat die Auffassung, das Unmöglichkeitstheorem stelle die Legitimität von sowohl Märkten als auch Demokratie infrage. Noch wichtiger ist jedoch ein Aspekt, dessen Bedeutung alle, die Arrow s mathematische Schlussfolgerungen begriffen, sehr schnell erkannten, dass nämlich die logische »Unmöglichkeit« von Demokratie auf verschiedene Arten vermieden werden kann, indem man eine oder mehrere von Arrows Grundannahmen schwächt oder verändert. Jede dieser Modifikationen ebnet den Weg zu diversen Möglichkeiten, zuverlässige Wahlsysteme zu entwickeln.
War es Arro w peinlich, wie leicht sein Unmöglichkeitstheorem umgangen werden kann? Keineswegs. Das Umschiffen der Unmöglichkeit war ja genau der springende Punkt: Obwohl fast alle es »Arrows Unmöglichkeitstheorem« nannten, hatte Arro w es als Allgemeines Unmöglichkeitstheorem bezeichnet. Freunde von ihm scherzten, Arro w sei ein unverbesserlicher Optimist, doch es steckte mehr dahinter als das. Arro w wusste von Anfang an, dass sein Theorem nicht standhalten kann, wenn mindestens eine seiner Grundannahmen geschwächt wird. Er wollte nie beweisen, dass eine sinnvolle Form von Demokratie unmöglich sei, sondern vielmehr das Gebiet möglicher Kompromisse abstecken: Sein Theorem zeigt, dass Wahlsysteme, die ein höheres Maß einer bestimmten erwünschten Eigenschaft aufweisen, nur möglich sind, wenn eine andere erwünschte Eigenschaft mehr oder weniger aufgegeben wird. Es sollte anderen überlassen bleiben, sich anhand der von Arro w abgesteckten Landkarte für ein bestimmtes Ziel in Form eines Wahlsystems einzusetzen.
So hatte Arro w zum Beispiel gesagt, dass die kollektiven Präferenzen konsistent sein sollten: Wenn Option A vor Option B bevorzugt wird und B vor C, dann muss auch A vor C bevorzugt werden. Diese Anforderung von Konsistenz ist in dem oben beschriebenen Abstimmungsbeispiel über Strategien im Kalten Krieg nicht erfüllt: Eine Mehrheit zog Abrüstung einem Kalten Krieg vor, eine Mehrheit zog einen Kalten Krieg einem Heißen Krieg vor, aber eine Mehrheit zog auch einen Heißen Krieg einer Abrüstung vor. Arrow s Konsistenz-Anforderung ist reizvoll, weil sie alle Wahlsysteme, die zu solchen Situationen führen können, ausschließt: Sie schließt alle Wahlsysteme aus, die nicht unter beliebigen Umständen einen klaren Sieger hervorbringen. Doch es gibt auch noch andere Möglichkeiten, dafür zu sorgen, dass ein Wahlsystem immer einen Gewinner hervorbringt. Im Jahr 1998 gewann Amartya Se n den Wirtschaftsnobelpreis unter anderem für seine Arbeit auf diesem Gebiet. Se n meinte, Arro w würde von einem Wahlsystem zu viel verlangen: In vielen Fällen, so Se n, brauchen wir nur zu wissen, wer der Sieger ist. Doch Arrow s Ansatz sucht Wahlsysteme, die uns mehr Informationen liefern – nämlich die »kollektive Präferenz«, ein komplettes Ranking sämtlicher Alternativen von der ersten bis zur letzten, nicht nur das Bestimmen des Siegers. Se n schlug ein mathematisches Gerüst für Wahlsysteme vor, die nur den Sieger identifizieren; das ist deutlich weniger anspruchsvoll als Arrow s Ansatz und ermöglicht zahlreiche plausible Wahlsysteme. In diversen Situationen lohnt es sich, um der Eindeutigkeit des Ergebnisses willen darauf zu verzichten, in Erfahrung zu bringen, welche Alternativen an zweiter, dritter und allen weiteren Stellen bevorzugt werden.
Um eine weitere wichtige Fluchtroute aus der Sackgasse des Unmöglichkeitstheorems zu erkunden, müssen wir zwei der erwünschten Eigenschaften von Wahlsystemen näher betrachten, die Arro w spezifiziert hat. Sie wurden als »Universalität« und »Unabhängigkeit irrelevanter Alternativen« bekannt. Universalität bedeutet, dass ein Wahlsystem in der Lage sein muss, jegliche Art von Meinung oder Präferenz, die von individuellen Wählern zum Ausdruck gebracht werden kann, zu verarbeiten. Die Unabhängigkeit irrelevanter Alternativen erfordert, dass das vom Wahlsystem produzierte Ranking zweier beliebiger Alternativen ausschließlich davon abhängen darf, wie die einzelnen Wähler diese beiden Alternativen einstufen, und von nichts anderem. Auf den ersten Blick scheinen diese beiden Prinzipien den Geist der Demokratie einzufangen – sie sorgen dafür, dass die Meinungen der einzelnen Wähler das höchste Gewicht haben, um die kollektive Entscheidung zu ermitteln. Doch wenn Universalität »jegliche« Art von Meinung oder Präferenz zulässt, bedeutet das tatsächlich jegliche Art in einem mathematischen Sinne: Jede nach den Gesetzen der Logik zulässige Präferenz der Alternativen ist erlaubt. Auch hier kann es sein, dass Arro w die Hürde zu hoch gelegt hat: In einer Demokratie müssen wir nicht jede Art von Präferenz berücksichtigen, als ob wir erlauben wollten, dass die Menschen das Ranking ihrer Präferenzen völlig zufällig auswählen können, etwa durch Werfen einer Münze. Es wird einige nach den Gesetzen der Logik unmögliche Präferenzmuster geben, die einfach keinen Sinn ergeben und ausgeschlossen werden können. Darüber hinaus haben wahrscheinlich alle demokratischen Länder und Gesellschaften der Menschheitsgeschichte gewisse Einschränkungen der Präferenzen und Entscheidungsmöglichkeiten, die ihre Bürger an der Wahlurne zum Ausdruck bringen können, festgelegt. Diese Einschränkungen sind in vielen Fällen selbst das Ergebnis gewisser formeller oder informeller demokratischer Verfahren, die von der Agenda ihrer gewählten Abgeordneten bis hin zu expliziten Verboten in ihrer Verfassung reichen können, etwa dem Verbot antidemokratischer politischer Parteien in Deutschland. Wenn solche Einschränkungen legitim sind, dann kann Arrow s Universalitätsannahme fallen gelassen werden, was dann bedeutet, dass das Unmöglichkeitstheorem nicht greift.
Diskussionen wie diese – über die Kompromisse, die notwendig werden, wenn eine von Arrow s Grundannahmen geschwächt wird, um die anderen zu retten – haben über Jahrzehnte getobt und einen riesigen Bestand an wissenschaftlicher Literatur hervorgebracht, der jedoch von Laien weitgehend ignoriert wird, weil sie sich nur allzu gern mit der griffigen Autosticker-Version »Demokratie ist unmöglich« zufriedengeben.
Doch Arrow s Einfluss reicht weit über das Unmöglichkeitstheorem hinaus. Er baute einen Rahmen für unser Denken über Politik und Ökonomik auf, den er als wissenschaftlich und universell gültig präsentierte und mit dem er die Essenz von Demokratie einfangen wollte, die aus seiner Sicht auf zwei Stützpfeilern ruht: die individuelle Freiheit, jegliche Meinung oder Präferenz zu beliebigen Fragen äußern zu können, und zu kollektiven Entscheidungen zu kommen, die ausschließlich aus diesen individuellen Präferenzen folgen. Doch diese Vision von Demokratie war weitgehend in seinen mathematischen Definitionen von »Universalität« und der »Unabhängigkeit irrelevanter Alternativen« verborgen (oder, wie seine Mathematik-affinen Leser es bald ausdrückten, in »Axiom U« und »Axiom I«, nach dem englischen Wort »Independence«). Mit anderen Worten: Arro w fasste seine persönlichen philosophischen Ansichten – denn nichts anderes waren sie – so, als wären sie universelle mathematische Gesetze; er drückte sie in einer mathematischen Sprache aus, und darüber hinaus auch noch in einer ungewohnten mathematischen Sprache.
Zusammengenommen definieren Arrow s zwei Axiome Demokratie in Begriffen einer starken Form von Individualität und moralischem Relativismus und schließen dabei jede Gesellschaftsphilosophie aus, die hin und wieder legitimen Vorrang vor der individuellen Meinung begründen kann. Arrow s primäres Angriffsziel waren totalitäre Philosophien wie der Sowjetkommunismus (was Leser aus dem von Haye k/RAND /Chicago-Lager zufrieden zur Kenntnis nahmen), doch seine Axiome U und I verwarfen auch potenziell gutartigere Philosophien von Rousseau bis Kant. In praktischer Hinsicht bedeuten Arrow s allem Anschein nach abstrakten Axiome, dass individuelle Präferenzen, so niederträchtig, selbstsüchtig, rassistisch oder verwerflich sie auch sein mögen, nie in die Schranken gewiesen werden können, selbst wenn sie mit dem Gesetz, der Verfassung oder den Menschenrechten kollidieren.
Arrow s Ansatz beruht auf einer fundamental falschen Einschätzung der Bedeutung von Demokratie. Bei Demokratie geht es um mehr als Wahlsysteme, die es ermöglichen, die unantastbaren und feststehenden Präferenzen der Bürger zu ermitteln. In einer Demokratie sind solche Präferenzen nicht unantastbar – nicht nur, weil sie verwerflich sein können, sondern auch, weil sie womöglich das Produkt von Propaganda oder irreführender Werbung sind: In solchen Fällen versuchen wir immer, die Bürger davon zu überzeugen, sich eines Besseren zu besinnen und ihre Meinung zu ändern. Generell geht es in einer demokratisch verfassten Gesellschaft um Dinge wie öffentlichen Diskurs, Debatten und Überzeugungsarbeit, durch die hoffentlich eine Annäherung der unterschiedlichen Standpunkte erreicht werden kann. Selbst wenn solche Lösungsversuche nur zu einem geringen Teil erfolgreich sind, werden sie zu einem engeren Spektrum von Wählerpräferenzen führen, als das Universalitätsprinzip es erfordert. Wenn jede Form von Annäherung ausgeschlossen wird, ist es kein Wunder, dass es unmöglich ist, eine konsistente kollektive Präferenz zu ermitteln.
Niemand – anscheinend nicht einmal Arro w selbst – scheint sich der vollen Implikationen der politischen Philosophie, die sich in seinen mathematischen Schlussfolgerungen verbirgt, sofort bewusst geworden zu sein. Anscheinend kam er damit durch, weil eher philosophisch geneigte Kritiker Schwierigkeiten hatten, seiner Argumentation zu folgen, da sie ja in mehrere Ebenen mathematischer Definitionen und Ableitungen eingewoben war. Arro w inspirierte eine ganze Generation von Akademikern, nach einer Wissenschaft der Politik zu suchen, von der sie annahmen, sie lasse sich in ausschließlich mathematischen Begriffen ausdrücken, auf der Basis von Prämissen, die für allgemeingültig gehalten wurden. Als in der damaligen Zeit westliche Staaten versuchten, in Ländern eine repräsentative Demokratie einzuführen, die mit einer solchen Staatsform keinerlei Erfahrung hatten, reflektierte die Annahme, es gebe universelle, immer und überall geltende Wahrheiten über Demokratie, die außerordentliche Reichweite und den enormen Einfluss von Arrow s Weltanschauung.
Doch bevor wir näher auf diese zeitgenössischen Auswirkungen eingehen, müssen wir die Entwicklung dieser neuen Politikwissenschaft von der wohlgeordneten Welt Arrow s in den 1950er-​Jahren durch die politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen der 1970er-Jahre verfolgen: Watergate, die Vervierfachung der Ölpreise, grassierende Inflation, steigende Arbeitslosigkeit und ausufernde Staatsverschuldung. Im Jahr 1978, auf dem Höhepunkt dieser Krisen, wurde Arro w gebeten, sich zu einer Debatte über die Frage zu äußern, ob die amerikanische Ausprägung von Demokratie und Kapitalismus eine Zukunft habe. Die Tendenz seines Essays zeigt sich schon in der Überschrift: »A Cautious Case for Socialism« (»Ein vorsichtiges Plädoyer für Sozialismus«). [7] Falls es zu einer intellektuellen Revolution kommen sollte, die das Primat der Politik vor den Märkten umstürzen würde, war Arro w nicht der richtige Mann, sie zu führen. Dafür würde eine völlig andere Art von Mensch gebraucht werden – eher Prophet denn Mathematiker.
Politik, Kopfläuse und Wurzelkanäle
James McGill Buchana n wurde 1919 in Murfreesboro, Tennessee, geboren, wo er auf der Farm der Familie aufwuchs. Jeden Morgen, bevor e r zur Schule ging, molk er die Kühe. Seine Herkunft aus einer armen Südstaatenfamilie prägte sehr deutlich sein späteres Weltbild. Vor dem Hintergrund der Geschichten, die ihm seine Großeltern über die Besetzung der im Sezessionskrieg unterlegenen Südstaaten erzählt hatten, bewahrte Buchana n sich zeit seines Lebens ein tiefes Misstrauen gegenüber der Staatsregierung: E r hat sich immer beschrieben als »Gegner des Staates, der Regierung, des Establishments. … Die Räuberbarone waren sehr real für mich.« [8] Und »für mich war die Regierung immer etwas, vor dem man sich schützen musste und von dem man keine Hilfe erwarten konnte.« [9]  Buchana n war die Art von Mensch, die mit festen Überzeugungen aufwachsen und dann im Laufe ihres Lebens immer wieder feststellen, dass sie von Anfang an recht hatten.
Innerhalb von sechs Wochen nach seiner Ankunft an der University of Chicago war Buchana n zu einem »eifrigen Verfechter« freier Märkte geworden, unter dem Einfluss von Lehrern wie dem jungen Milton Friedma n. Von dieser Haltung wich er nie wieder ab. Doch seine Ideologie war weniger ein orthodoxer Marktliberalismus als vielmehr etwas, das er sich selbst zurechtgelegt hatte. Im Grunde seines Herzens war Buchana n ein Moralist, mit der Inbrunst eines Predigers aus dem Bible Belt – ein weltlicher, asketischer Puritaner. Er glaubte nicht daran, dass Eltern ihr Vermögen an ihre Kinder vererben sollten (obwohl er selbst keine hatte), und er war nie Mitglied einer politischen Partei.
Buchana n fand sein Misstrauen gegenüber dem, was er das »East Coast Establishment« nannte, zuerst in der US Navy bestätigt; dann, als er sich für akademische Positionen bewarb, fühlte er sich mehrfach zugunsten von schlechter qualifizierten Bewerbern übergangen, die einen Abschluss von einer Ivy-League-Hochschule vorweisen konnten. Er klagte darüber, »offen diskriminiert« worden zu sein [10]  – obwohl man wohl kaum noch von Diskriminierung sprechen konnte, nachdem ihm 1986 der Wirtschaftsnobelpreis zugesprochen worden war. Buchanan s Laufbahn fand hauptsächlich an Universitäten in Virginia statt, nicht an Elite-Hochschulen der Ivy League. Dieser geografische Abstand zu den akademischen Eliten der USA wurde durch einen politischen Abstand noch verstärkt: Buchana n und seine Kollegen hielten den Glauben des Mainstreams an »neutrale« Bürokraten, die dem Gemeinwohl dienen, für einen Irrweg, der in den Kommunismus führte. Sie bezeichneten ihren eigenen Ansatz als Public Choice Theory  – ein bizarrer Name angesichts ihrer Überzeugung, dass die Bevölkerung keine kohärenten kollektiven Entscheidungen treffen könne und es so etwas wie öffentliches Interesse, Gemeinwohl, öffentlichen Dienst oder Staatsbedienstete überhaupt nicht gebe.
Im Gegensatz zu Arrow s Arbeit lässt sich die Public Choice Theory (PCT , im deutschsprachigen Raum auch als Neue Politische Ökonomie bekannt) in wenigen Worten zusammenfassen. In einem Brief an von Haye k schrieb Buchana n, die PCT sei »Politik ohne die Romantik«. Für Buchanan war jede Person auf der politischen Bühne – alle Politiker, Bürokraten und Wähler – ausschließlich durch engstirnige, eigennützige Ziele motivier t. Die PCT dient fast nur dem Zweck, die Implikationen dieser einen simplen These aufzuzeigen.
Heutzutage herrscht ein breiter Konsens, dass der US -Regierungsapparat über die Maßen aufgebläht, inkompetent, ineffizient und offen für Einflüsse von Lobbygruppen sei, und dass seine Einmischung in den Alltag der Bürger keine Grenzen kenne. Oder, um es anders auszudrücken: Etliche Umfragen haben gezeigt, dass viele US -Bürger die Washingtoner Politik mit Kopfläusen und einer schmerzhaften Wurzelbehandlung beim Zahnarzt vergleichen. Die PCT hat eine Menge dazu beigetragen, diese weitverbreitete öffentliche Meinung zu prägen: Sie ist selbst zum Konsens über Regierung und Politik geworden. Vor dem Hintergrund der Arbeit Arrow s Mitte der 1950er-Jahre wurde die PCT über die folgenden 20 Jahre zu einer umfassenden Analyse sämtlicher Aspekte der Politik ausgebaut. Doch diese intellektuelle Revolution hatte kaum direkte Auswirkungen auf die reale politische Welt jenseits der akademischen Landschaft: Sie war wie eine Zeitbombe, die nur darauf wartete zu explodieren.
Der Zünder waren die politischen und wirtschaftlichen Krisen der 1970er-Jahre. Alsbald waren Buchana n und seine Anhänger zur Stelle mit einer Erklärung dafür, wie diverse Regierungen im Westen sich in diese desolate Lage manövriert hätten: Sie nannten es »political overload« (»politische Überbelastung«). Laut PCT führt der Eigennutz von Politikern dazu, dass sie sich ausschließlich darauf konzentrieren, gewählt und wiedergewählt zu werden. Also werden sie stets versuchen, eine Politik zu betreiben, die ihnen die meisten Wählerstimmen einbringen wird. Aber das ist doch sicherlich gut für die Demokratie? Nein, da eine Politik, die Mehrheiten bei Wahlen produziert, nicht unbedingt den Interessen aller Bürger dienen wird, da viele Bürger sich nicht die Mühe machen, wählen zu gehen. Und es kommt ein noch größeres Problem hinzu: Egoistische Wähler sind unkluge Wähler.
Im Gegenteil, so argumentieren die PCT -Verfechter, egoistische Wähler seien »rational ignorant«. Jede einzelne Wählerstimme wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen Unterschied für das Wahlergebnis ausmachen, und der PCT zufolge lohnten sich daher die Zeit und der Aufwand nicht, sich über die Kandidaten und/oder ihre Wahlprogramme ausführlich zu informieren. Daher werden sich die Wähler entscheiden, mehr oder weniger uninformiert zu bleiben, und solche Politikfelder ganz ignorieren, die für sich genommen kaum Auswirkungen auf sie selbst haben. Diese absichtliche Ignoranz verbindet sich auf gefährliche Weise mit Eigennutz. Wenn ein Politiker ein großes neues Projekt für Ihre Gemeinde verspricht – vielleicht eine neue Schule oder ein Krankenhaus –, aber die Kosten dieses Projekts aus dem allgemeinen Steuertopf gedeckt werden, dann könnte dieses Versprechen laut der PCT Ihre Stimme gewinnen, weil Ihr Anteil an den zusätzlich erforderlichen Steuern wahrscheinlich verschwindend gering sein wird. Die psychologische Überzeugungsmacht des Kandidatenversprechens ist klar: Der Nutzen des Projekts ist lokal, wird sich bald einstellen, ist konkret und offensichtlich, während die Kosten für den Steuerzahler allgemein sind, später anfallen werden, vage und ungewiss sind. Wenn ein Wahltermin herannaht, machen alle Politiker und ihre Parteien solche Versprechungen, wobei jedes Versprechen ein Angebot ist, um die Stimmen einer anderen Interessengruppe oder Klientel zu gewinnen. Der Bieterkrieg um Wählerstimmen kennt keine Grenzen, was letzten Endes zu einer politischen Überbelastung führt – eine explosionsartig ansteigende Staatsverschuldung durch permanente Haushaltsdefizite.
In den 1970er-Jahren war diese Geschichte neu, doch heute halten wir sie für selbstverständlich – einer der Gründe, warum die Bezeichnung »Politiker« zu einem Schimpfwort geworden ist. Und doch ist sie als Erklärung für politische und wirtschaftliche Krisen – im 21. Jahrhundert ebenso wie in den 1970er-Jahren – unvollständig, voller Widersprüche und ignoriert die Fakten.
It’s the voters, stupid
Die Anhänger der Public Choice Theory zählten zu den ersten Ökonomen, die ausdrücklich rationales Verhalten mit Eigennutz gleichsetzten. Ein einflussreiches frühes Manifest der Public Choice Theory ist Anthony Down s’ Buch An Economic Theory of Democracy (deutsche Ausgabe: Ökonomische Theorie der Demokratie ; 1968), das 1957 veröffentlicht wurde. Downs postulierte schlicht und einfach: »Wenn wir von rationalem Verhalten sprechen, meinen wir stets rationales Verhalten, das in erster Linie eigennützigen Zwecken dient.« [11] In einem scharfen Gegensatz zu Down s war Arro w nie davon ausgegangen, dass Menschen eigennützig sind. Er nahm lediglich an, sie würden sich beim Verfolgen ihrer Ziele rational – das heißt, konsistent – verhalten, ganz gleich, ob diese Ziele nun selbstsüchtig oder selbstlos, erhaben oder niederträchtig seien. Insofern ist es bemerkenswert, dass Arro w Down s Doktorvater war – und An Economic Theory of Democracy dessen Dissertation, die ohne Änderungen als Buch veröffentlicht wurde. Vielleicht können Down s’ geteilte Loyalitäten seine Kehrtwende nur fünf Jahre später erklären, als er gemischte Motive hinter politischem Verhalten einräumte, die nicht unbedingt eigennützig sind. Doch es ist die Originalversion der Economic Theory of Democracy , die ohne Down s’ spätere Rücknahmen auf viele Generationen von Studenten losgelassen und zu einem der meistzitierten Bücher zur US -amerikanischen Politik wurde.
Wenn wir uns mit den Details der These von der »politischen Überbelastung« beschäftigen, stellen wir fest, dass sie einer genaueren Überprüfung nicht standhält. Es liegt etwas Paradoxes im Kern dieser These, und auch der Public Choice Theory ganz generell: Obwohl die Wähler »rational« sind, so sind sie doch leicht zu übertölpeln. Durch die These von der Überbelastung werden die Wähler als Trottel dargestellt, die durch Versprechungen staatlich finanzierter Wohltaten verführt werden können und denen die kumulativen Auswirkungen solcher Ausgaben auf die Staatsverschuldung und die künftige Höhe der Steuern völlig gleichgültig sind. Doch wenig später traten dann fundierte Forschungsergebnisse zutage, die zeigten, dass Wähler ihre Stimme keineswegs ausschließlich aufgrund von Wahlversprechen abgeben. Vielmehr beurteilen sie Politiker auch nach ihrer Kompetenz beim Managen der Wirtschaft, obwohl solche Fähigkeiten unklar definiert und schwer einzuschätzen sind. [12] Für Buchana n stellte sich das Problem eher als eines der moralischen Verkommenheit der Wähler dar als eines ihrer Dummheit. Er machte die keynesianisch e Disziplinlosigkeit der Fiskalpolitik (»tax and spend«), die ab den 1960er-Jahren um sich griff, für die zunehmende moralische Laxheit jener Zeit verantwortlich und bezichtigte den Keynesianismu s, zu »immer liberaleren Einstellungen zu sexuellen Aktivitäten« und »einer abnehmenden Vitalität des puritanischen Arbeitsethos« beigetragen zu haben, neben anderen Sünden. [13] Was auch immer die genauen Unzulänglichkeiten von Wählern aus Sicht der PCT sein mögen – sie ist die einzige Theorie, die solche Unzulänglichkeiten betont, und sie unterscheidet sich in dieser Hinsicht von so gut wie allen anderen ökonomischen Traditionen, auch solchen, die den Staat verschlanken wollen.
Etwa zur gleichen Zeit wie die Public Choice Theory trat eine neue Variante der Makroökonomik auf den Plan, die es sich auf die Fahnen geschrieben hatte, den Staat zu verschlanken – der Monetarismus. Die Monetaristen unter der Führung von Milton Friedma n lehnten den Keynesianismu s ebenso vehement ab wie Buchana n, aber aus anderen Gründen: Sie glaubten, dass es aussichtslos sei, die Wirtschaft durch staatliche Ausgaben ankurbeln zu wollen. Jede Erhöhung der Staatsausgaben müsse durch höhere Steuern in der Zukunft bezahlt werden. Jeder Bürger wisse das und werde darauf reagieren, indem er seine eigenen Ausgaben zurückfährt – er schnallt den Gürtel enger, um für zukünftige Steuererhöhungen gewappnet zu sein –, und somit werde der stimulierende Effekt der höheren Staatsausgaben sofort durch reduzierte Ausgaben der Privathaushalte zunichtegemacht. Nach dieser Theorie sind dem Wähler zukünftige Steuererhöhungen keineswegs gleichgültig, sondern er fixiert sich darauf. Das heißt, dass sowohl Monetaristen als auch PCT -Verfechter für eine Reduzierung der Staatsausgaben plädierten, aber aufgrund völlig gegensätzlicher Annahmen.
Selbst innerhalb der Public Choice Theory wird die Annahme von der Dummheit der Wähler auf voreingenommene und widersprüchliche Weise eingesetzt. Wenn die Wähler sich zuverlässig durch versprochene Wohltaten aus der Staatskasse übertölpeln ließen, wäre es sinnlos, sie aufzufordern, eine Regierung zu unterstützen, die sich zu Ausgabenkürzungen und fiskalischer Disziplin verpflichtet hat. Aber genau das ist es, was viele PCT -Anhänger taten: Buchana n war direkt oder indirekt an all den US -amerikanischen »Tax Revolts«, den Steuerverweigerungskampagnen der 1970er-Jahre beteiligt. Und in der Regierung von Ronald Reaga n, der 1980 zum Präsidenten gewählt wurde, waren viele von Buchanan s Studenten zu finden, einer von ihnen auch im Team der Wirtschaftsberater Reagan s. Wenn eigennützige Politiker sich im Wahlkampf genötigt sehen, sich mit immer größeren Versprechungen gegenseitig den Rang abzulaufen, besteht wenig Hoffnung, dass eine Regierung gewählt werden könnte, die sich verpflichtet hat, diesen Zyklus zu durchbrechen. Also war allein die Tatsache, dass Ronald Reaga n gewählt worden war und ein Jahr zuvor Margaret Thatche r in Großbritannien, die sich beide öffentlich auf Ausgabenkürzungen festgelegt hatten, ein überzeugender Beleg dafür, dass Wähler und Politiker nicht immer so dumm und eigennützig sind, wie es die PCT annimmt. Es ist schwierig, an diesen Widersprüchen vorbeizukommen. Unter den Ökonomen, die den Staat verschlanken wollten, nahmen selbst enge Kollegen unterschiedliche Positionen ein. Milton Friedma n war der Meinung, der Wähler könne überzeugt werden, politische Programme und Politiker zu unterstützen, die sich auf eine Verschlankung der Regierung festgelegt hatten, während sein Chicagoer Freund und Kollege George Stigle r in dieser Hinsicht erhebliche Zweifel hatte. Stigler schlängelte sich um die nihilistischen Implikationen seiner eigenen Sicht herum: »Milto n will die Welt verändern; ich will sie nur verstehen.« [14]
Darüber hinaus gibt es noch andere Widersprüche. Erstens: Wenn wir annehmen sollen, dass sämtliche Politiker, Bürokraten und Wähler eigennützig sind, weil alle Menschen so seien, dann sind auch Akademiker eigennützig, einschließlich der PCT -Anhänger. Aus Sicht der PCT dürften wir also den PCT -Verfechtern nicht trauen, ihrer Rolle als objektive Wissenschaftler und neutrale Beobachter gerecht zu werden; vielmehr wäre zu erwarten, dass sie nur das schreiben und sagen, was ihrer Karriere förderlich ist. Obwohl klar ist, dass Arro w und Buchana n ausschließlich durch ihre akademischen Werte und Interessen motiviert waren, ist es nicht schwierig, Hinweise auf Ökonomen mit eigennützigeren Motiven zu finden (so zum Beispiel manche Finanzökonomen in den Jahren vor der globalen Finanzkrise, die in dem Dokumentarfilm Inside Job gezeigt werden, der 2010 in die Kinos kam). [15] Generell reichen die Belege für eigennütziges Verhalten in der Regierung über Politiker und Bürokraten hinaus und schließen auch externe Berater und Analysten mit ein, die zum Beispiel empfehlen, öffentliche Dienste in den Privatsektor zu verlagern, da man Staatsdienern nicht trauen könne. Die Lektion daraus ist, dass wir die Public Choice Theory, wenn wir sie denn ernst nehmen wollen, umfassend und unvoreingenommen anwenden sollten, also auf alle, die am politischen Prozess beteiligt sind – Akademiker, wissenschaftliche Berater, Lobbyisten und Unternehmensberater aus dem Privatsektor.
Zweitens: Der PCT zufolge werden viele Bürger sich nicht die Mühe machen, wählen zu gehen, weil die Kosten des Wählens zwar klein sind, aber von dem erwarteten Nutzen, der noch kleiner ist, nicht gerechtfertigt werden, da die Wahrscheinlichkeit, dass eine einzige Wählerstimme das Ergebnis kippt, verschwindend gering ist. Aber trotzdem gehen natürlich unzählige Menschen wählen. Down s war so konsterniert über die Tatsache, dass immer wieder eine beträchtliche Wahlbeteiligung zu verzeichnen ist, dass er sie als ein »Paradox« bezeichnet e. Auch heute noch sind PCT -Anhänger nach wie vor in Sorge, dass dieses »Paradox der Wahlbeteiligung« darauf hindeuten könnte, dass die Wähler sich letzten Endes doch nicht rational-berechnend verhalten.
Einen Moment mal: Ist es wirklich so einfach, die Public Choice Theory mit ihren eigenen Argumenten zu entkräften – durch Kritisieren der PCT aus Sicht der PCT ? Es scheint viel zu einfach zu sein, zu sehr ein auf sich selbst bezogenes akademisches Spiel, da ja eindeutig ein wahrer Kern in der PCT -Sicht des politischen Betriebs zu stecken scheint: Manche Politiker, Wähler und Bürokraten scheinen in der Tat weitgehend von eigennützigen Interessen getrieben zu sein. Und das ist durchaus keine neue Erkenntnis. Schon vor über 500 Jahren hat der italienische Diplomat Niccoló Machiavell i detailliert die raffinierten Strategien beschrieben, die von selbstsüchtigen und zynischen Politikern und Bürokraten eingesetzt werden. Die PCT entstand als Reaktion auf ein naives und allzu simples Weltbild, das nach dem Zweiten Weltkrieg weitverbreitet war: Dass nämlich wohlmeinende Politiker und Bürokraten, sobald eine wünschenswerte Veränderung der Politik von Ökonomen oder anderen »Experten« empfohlen wird, stets ihr Bestes tun werden, um sie herbeizuführen. Buchana n und seine Kollegen sahen sich selbst – zu Recht – als Außenseiter, die diese Illusion zerstören wollten. Doch spätestens in den 1980er-Jahren waren auch sie zu Insidern geworden.
Seit Margaret Thatche r in Großbritannien und Ronald Reaga n in den USA ins Amt kamen, eroberte die Public Choice Theory den Mainstream der Politik. Zumindest oberflächlich schien sie sich bestens mit der monetaristischen Makroökonomik, der pessimistischen Sicht von Demokratie gemäß Arrow s Unmöglichkeitstheorem und von Hayek s Ideen über Freiheit zu einem überzeugenden Plädoyer für mehr Markt und weniger Staat zu verbinden. Und einige wichtige Fakten schienen sich zugunsten der Theorie zu verändern. Ungeachtet gelegentlicher Ausreißer nach oben schien sich die Wahlbeteiligung in den meisten entwickelten Demokratien in einem unaufhaltsamen Abwärtstrend zu befinden. Die Staatsausgaben stiegen immer weiter, selbst unter Regierungen, die versprochen hatten, sie zu senken. Worauf waren diese Trends zurückzuführen? Wenn nicht auf die PCT -Geschichte von eigennützigen und kurzsichtigen Politikern, Bürokraten und Wählern, worauf denn sonst?
Tatsächlich gibt es eine überzeugende alternative Erklärung für das Steigen der Staatsausgaben, die den Ökonomen schon seit den 1960er-Jahren vertraut ist, aber bis heute im politischen Diskurs keinerlei Berücksichtigung gefunden hat.
Smartphones und Streichquartette
Manche Dinge werden billiger, andere teurer.
Klingt banal. Das gilt aber auch in einem tieferen Sinne: Im Laufe der Zeit werden manche Dinge billiger und andere teurer im Verhältnis zu den Durchschnittseinkommen . Industriell hergestellte Massenprodukte werden immer billiger. Der Anteil seines Einkommens, den ein durchschnittlicher Arbeitnehmer ausgeben muss, um einen Fernseher oder eine Waschmaschine zu kaufen, ist heute geringer als vor 10 Jahren und viel niedriger als vor 30 Jahren (und das dafür gekaufte Produkt ist wesentlich besser). Aber für arbeitsintensive Dienstleistungen gilt das Gegenteil: Die Kosten von Kindertagesstätten und Seniorenheimen, Studiengebühren, Luxusrestaurants und Theaterkarten sind gemessen am Durchschnittseinkommen alle teurer geworden. Als Ende der 1990er-Jahre die ersten Smartphones auf den Markt kamen, kosteten sie etwa das 30-Fache einer Eintrittskarte für ein Klassikkonzert. Gegen Ende der 2010er-Jahre kostete ein Smartphone etwa das Doppelte wie die Eintrittskarte für ein klassisches Konzert. [16] Der Grund für dieses Divergieren ist, dass zwar in der Industrie die Produktivität (der Output pro geleisteter Arbeitsstunde) seit Jahrzehnten gestiegen ist – durch Skaleneffekte, Innovation und Automatisierung –, bei arbeitsintensiven Dienstleistungen jedoch kaum zugenommen hat. Durch die Produktivitätszuwächse in Industrie und Gesamtwirtschaft können die Löhne steigen, ohne die Verbraucherpreise in die Höhe zu treiben. Doch die Löhne in den arbeitsintensiven Dienstleistungsbranchen werden nicht einfach stagnieren, weil die Produktivitätszuwächse in diesen Branchen schwach sind. Wenn die gezahlten Einkommen in diesen Dienstleistungsbranchen hinter den Rest der Wirtschaft zurückfallen, wird es den Arbeitgebern immer schwerer fallen, Mitarbeiter zu finden und zu halten. Stattdessen müssen die Löhne für arbeitsintensive Dienstleistungen ungefähr im gleichen Maße steigen wie die Durchschnittslöhne in der gesamten Wirtschaft. Da diese Lohnsteigerungen kaum durch Produktivitätssteigerungen kompensiert werden – da ja diese besser bezahlten Arbeitnehmer nicht mehr produzieren –, sind die Firmen gezwungen, ihre Preise zu erhöhen. Das führt dazu, dass im Laufe der Zeit die Preise für arbeitsintensive Dienstleistungen im Verhältnis zu den Preisen für alle anderen Güter und Dienstleistungen unaufhaltsam steigen. Anders ausgedrückt: Im Laufe der Zeit wird der Anteil des Volkseinkommens, der für arbeitsintensive Dienstleistungen aufgewendet wird, stetig steigen.
William Baumo l war der erste Ökonom, dem dieses Phänomen aufgefallen war, das bald als Baumolsch e Kostenkrankheit bekannt wurde. [17] (Zufälligerweise hat Baumol zur selben Zeit wie Kenneth Arro w am City College in New York studiert; allerdings machte Baumo l seinen Abschluss in Ökonomik und Kunstwissenschaften, im Gegensatz zu Arro w, der einen Abschluss in Mathematik erwarb.) Die Baumolsch e Kostenkrankheit betrifft vor allem Dienstleistungen, bei denen die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden ein Bestandteil der angebotenen Leistung ist. Bei solchen Leistungen kann die Produktivität nicht durch Reduzieren der geleisteten Arbeitsstunden erhöht werden, weil es sich dann um eine andere Leistung handeln würde. So wies Baumo l zum Beispiel darauf hin, dass die Produktivität der Musiker beim »Produzieren« eines Streichquartetts von Mozar t im Rahmen eines Konzerts sich seit Mozarts Lebzeiten nicht verändert hat: Auch heute noch werden dafür vier Musiker gebraucht, die ebenso lange spielen wie damals. Entsprechend ist eine einstündige Gesundheitsberatung durch einen Arzt genau das: Die erbrachte Leistung wäre nicht die gleiche, wenn der Arzt nur 30 Minuten zur Verfügung stünde und die anderen 30 Minuten damit verbringen würde, einen Online-Diagnosefragebogen auszufüllen.
Die Implikationen der Baumolschen Kostenkrankheit sind erschreckend. Der Anteil des US -BIP s, der für das Gesundheitswesen aufgewendet wird, steigt um etwa 1,4 Prozent pro Jahr. Kürzlich hat Baumo l prognostiziert, dass dieser Trend sich im Großen und Ganzen fortsetzen wird, was bedeutet, dass die Kosten des US -Gesundheitswesens von ihrem jetzigen Niveau – etwa 18 Prozent des BIP  – bis zum Jahr 2100 auf etwa 60 Prozent des BIP steigen werden. [18] Statistiken aus anderen Ländern zeigen ebenfalls die Baumolsch e Kostenkrankheit, wenn auch weniger ausgeprägt als in den USA : In Großbritannien lässt der Trend erwarten, dass die Kosten im Gesundheitswesen von heute 10 Prozent des BIP auf 50 Prozent im Jahr 2100 steigen werden.
Das ist kaum zu glauben? Baumol s Prognosen sollten ernster genommen werden als die Vorhersagen vieler anderer Ökonomen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Baumo l die Kostenkrankheit ursprünglich in den 1960er-Jahren beschrieben und damals einige empirische »Extrapolationen« angestellt hat, die sich zum großen Teil als richtig erwiesen haben. 11 Generell bestätigen die historischen Daten das Phänomen der Baumolsche n Kostenkrankheit. Von 1978 bis 2012 stiegen die Durchschnittspreise und -löhne in den USA durchschnittlich um 110 beziehungsweise 150 Prozent. In der gleichen Zeit stiegen die Kosten des Gesundheitswesens um 250 Prozent und die Kosten eines Universitätsstudiums um 440 Prozent. In vielen Ländern wird ein beträchtlicher Teil der Leistungen im Gesundheitswesen durch staatliche Träger erbracht; doch die US -Daten zeigen, dass die Kostenkrankheit auch in einem Gesundheitssystem auftreten kann, das von privaten Trägern dominiert wird. Die Kostenkrankheit – sowohl die Daten als auch Baumol s Erklärung – deutet darauf hin, dass das Wachstum der Staatsausgaben durch steigende Gesundheitskosten keineswegs auf die Faulheit oder Ineffizienz von öffentlichen Bediensteten zurückzuführen ist: Es liegt vielmehr im Wesen der erbrachten Leistungen.
Man muss kein politisches Genie sein, um zu durchschauen, warum Mainstream-Politiker jeglicher Couleur zur Baumolsche n Kostenkrankheit nichts sagen. Sie scheint in eine beängstigende Zukunft zu zeigen, in der wichtige Dienstleistungen wie medizinische Versorgung und Bildung völlig unerschwinglich werden. Es gibt kein Heilmittel. Die Unerschwinglichkeit bleibt, ganz gleich, ob diese Dienstleistungen nun von staatlichen oder privaten Trägern erbracht werden.
Doch zum Glück ist die Kostenkrankheit wesentlich weniger unerfreulich, als sie klingt. Während Gesundheitswesen, Bildungswesen und andere arbeitsintensive Dienstleistungen relativ gesehen immer teurer werden, werden sie zugleich immer erschwinglicher.
Etwas kann relativ gesehen aus dem einfachen Grund teurer werden, dass andere Dinge billiger geworden sind – und kann dann immer noch erschwinglicher sein als vorher. So verhält es sich auch mit arbeitsintensiven Dienstleistungen. Die wichtigste Kennzahl der Gesellschaft für Erschwinglichkeit ist der Personaleinsatz – die Zahl der Arbeitsstunden, die erbracht werden muss, um etwas zu produzieren. Dies sind die realen Kosten, die durch den Einsatz von Menschen in der Produktion entstehen. Da die Produktivität fast in der gesamten Wirtschaft steigt, geht der Personaleinsatz bei gleichbleibendem Output in beinahe allen Branchen zurück: Gemessen am Personaleinsatz werden industriell gefertigte Produkte billiger. Anders ausgedrückt: Durch die Produktivitätszuwächse der Gesamtwirtschaft können die Durchschnittslöhne schneller steigen als die Preise, sodass insgesamt die meisten Güter und Dienstleistungen erschwinglicher werden, da unsere Kaufkraft steigt. Wenn Baumo l mit seiner Prognose richtig lag und die US -Gesundheitskosten bis 2100 auf 60 Prozent des BIP steigen werden, wird immer noch genug übrig bleiben, das für alles andere ausgegeben werden kann – da, gemessen am BIP , viele Dinge billiger sein werden.
Dies ist eine relativ komplizierte Geschichte, was einer der Gründe dafür ist, dass sie nur selten erzählt wird. Es ist klar, dass im Laufe der Zeit durchaus Raum für Verbesserungen der Produktivität bei arbeitsintensiven Dienstleistungen vorhanden ist . Selbst die Darbietung eines Streichquartetts von Mozar t erfordert heute weniger Arbeit als seinerzeit im 18. Jahrhundert. Wenn heute vier Wiener Musiker nach Frankfurt reisen, um dort ein Mozart-Quartett aufzuführen, brauchen sie für die Reise nur noch ein paar Stunden. Als Mozar t 1790 diese Reise unternahm, brauchte er einem seiner Briefe zufolge sechs Tage – die Reise war sehr unbequem und er war angenehm überrascht, dass sie nicht länger dauert e. [19] Heute können manche Computerprogramme bessere Diagnosen stellen als Ärzte, und eine Vorlesung an einer Universität kann aufgezeichnet und Millionen von Online-Studenten zugänglich gemacht werden. Doch es gibt Grenzen für Produktivitätssteigerungen in Dienstleistungsbranchen wie Gesundheitswesen und Bildung. Wenn die zu erbringende Leistung individuell ist, zugeschnitten auf die persönlichen Bedürfnisse des Leistungsempfängers – Physiotherapie, Beurteilen einer Doktorarbeit –, dann ist sie eigentlich einzigartig, und es besteht kaum Potenzial für Skaleneffekte. Und die Qualität von maßgeschneiderten Dienstleistungen wird häufig über eine niedrige Produktivität definiert . Wenn eine Schule ihre Klassen vergrößert, wird das in der Regel als ein Sinken der Qualität des Unterrichts betrachtet, nicht als eine Produktivitätssteigerung der Lehrer.
Es kommt noch eine weitere Komplikation hinzu. Man könnte meinen, dass wir auf steigende Kosten arbeitsintensiver Dienstleistungen ähnlich reagieren würden wie auf viele andere Preissteigerungen – indem wir nämlich weniger davon kaufen. Doch in den reicheren Gesellschaften steigt die Nachfrage nach Leistungen in Schlüsselbranchen wie Gesundheits- und Bildungswesen, statt zu sinken, da immer mehr Menschen studieren und wegen lästiger, aber harmloser Gesundheitsprobleme zum Arzt gehen.
Und schließlich mögen zwar die Kosten des Gesundheits- und des Bildungswesens auf die Baumolsch e Kostenkrankheit zurückgehen, doch es kann auch gut sein, dass diese Kosten noch höher wären, wenn sie von staatlichen statt von privaten Trägern erbracht würden. Wir haben gesehen, dass die Belege für diese Möglichkeit nicht ermutigend sind, da wichtige Beispiele privater Trägerschaft – etwa das US -Gesundheitswesen – zeigen, dass die Kosten mindestens ebenso schnell steigen wie bei öffentlicher Trägerschaft. Dessen ungeachtet hat sich die Vorstellung von staatlicher Unwirtschaftlichkeit und privater Effizienz so tief im öffentlichen Bewusstsein festgesetzt, dass es sich lohnt, ihren größten politischen Triumph – Privatisierung – kurz zu betrachten.
Diese Vorstellung wurde am gründlichsten auf den Prüfstand gestellt, als 1979 in Großbritannien nach der Wahl Margaret Thatcher s zur Premierministerin ein massives Privatisierungsprogramm gestartet wurde. Die umfassendste Langzeitstudie dieser britischen Privatisierungen zeigt, dass die Ergebnisse deutlich hinter dem politischen Hype zurückblieben. [20] Da diese privatisierten Firmen meistenteils Monopole oder Oligopole waren und kaum Konkurrenz hatten, machten sie beträchtliche Profite. Und die Managementgehälter stiegen erheblich (ohne dass schlechte Manager gegen bessere ausgetauscht worden wären: die Fluktuation in den Chefetagen war minimal). Die Befürworter von Privatisierungen hatten behauptet, das Streben nach Profit werde die privatisierten Unternehmen motivieren, Kosten zu senken. Doch tatsächlich machten steigende Personalkosten und Dividenden eventuelle Kosteneinsparungen zunichte: Insgesamt hatten Privatisierungen für die langfristige Entwicklung der Produktivität und der Preise der angebotenen Leistungen kaum einen Unterschied gemacht.
Was sagt uns also die Baumolsch e Kostenkrankheit insgesamt? Sie liefert eine überzeugendere Erklärung als die Public Choice Theory für einen großen Teil der Steigerungen der Staatsausgaben in vielen Ländern in den vergangenen Jahren. Die Kostenkrankheit geht an den Kern dessen, wodurch sich Dienste wie Gesundheits- und Bildungswesen von anderen unterscheiden: Bei solchen Leistungen ist die Produktivität notwendigerweise niedrig (weil wir Wert legen auf kleine Schulklassen und genug Zeit beim Arzt). Und es gibt keine Theorie oder empirische Belege, die darauf hindeuten, dass Güter und Dienstleistungen durch den Privatsektor günstiger oder effizienter erbracht würden. Zwar ist es richtig, dass die Preise der Leistungen im Gesundheits- und Bildungswesen im Verhältnis zu anderen Gütern und Dienstleistungen auch weiterhin steigen werden, aber nicht so schnell wie unsere Kaufkraft. Dennoch kommen gravierende politische Probleme auf uns zu. Wenn solche Dienstleistungen durch staatliche Träger erbracht werden sollen, müssen die Steuern im Laufe der Zeit unweigerlich steigen, wenn auch nur das jetzige Serviceniveau gehalten werden soll. Privatisierungen werden dabei vermutlich nur erreichen, dass den ärmsten Bevölkerungsschichten der Zugang zu diesen Diensten verwehrt wird.
Die Politik, die wir verdienen?
Die Baumolsch e Kostenkrankheit impliziert, dass Steuern steigen müssen, um die vorhandenen öffentlichen Dienste wie Gesundheits- und Bildungswesen aufrechterhalten zu können. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, die Akzeptanz der Bevölkerung demokratischer Länder im 21. Jahrhundert für solche Steuererhöhungen pessimistisch zu sehen. Und dieser Pessimismus geht zumindest zum Teil auf den Einfluss der Public Choice Theory zurück, die behauptet, Politiker würden niemals Steuererhöhungen vorschlagen und Wähler würden sie nie akzeptieren. Natürlich hat es Pessimismus über potenzielle politische Entwicklungen schon immer gegeben, seit es Politik gibt, aber selbst Machiavell i glaubte, dass die meisten Politiker nicht nur verwerfliche, sondern auch ehrenwerte Motive haben. Im Vergleich dazu hat die PCT lediglich eine grobe, eindimensionale Karikatur von selbstsüchtigen Politikern, Bürokraten und Wählern zu bieten. Vor diesem Hintergrund ist die mittlerweile in Mode gekommene Ablehnung so gut wie jeder Rolle für den Staat beispiellos in modernen Zeiten. [21] Selbst Friedrich August von Haye k akzeptierte in Der Weg zur Knechtschaft eine größere Rolle des Staates, einschließlich eines gewissen Maßes an Sozialversicherung oder »Wohlfahrtsstaat«.
Noch in den 1960er-Jahren zeigten Umfragen regelmäßig, dass der einfache Bürger eine Sicht von Politik akzeptierte, nach der die meisten Politiker und Bürokraten in erster Linie versuchten, dem Gemeinwohl zu dienen, und dass die Wähler »die Mächtigen zur Rechenschaft zogen«. Es ist kein Zufall, dass die Public Choice Theory etwa zur selben Zeit – nämlich gegen Ende der 1970er-Jahre – aus der akademischen Welt ins öffentliche Bewusstsein drang, als der moderne Zynismus in Bezug auf Politik um sich griff. Das soll nicht heißen, dass wir uns die PCT bewusst zu eigen gemacht hätten: Die Namen von Buchana n, Down s und ihrer Gefolgsleute sind nach wie vor kaum bekannt. Vielmehr war der Einfluss der PCT -Lehrsätze subtiler: Viele davon ähneln sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Nehmen wir etwa die Behauptung, Bürokraten und andere Angestellte im Staatsdienst – in vielen Ländern zählen auch die meisten Ärzte und Lehrer dazu – hätten ausschließlich eigennützige Motive. Für das Gegenteil sprechen eindeutige Belege, dass viele dieser Staatsdiener sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen und danach streben, die professionellen Standards ihrer Arbeit zu erfüllen, etwa den von Ärzten abgelegten Eid des Hippokrates. Eine Politik, die von der Public Choice Theory inspiriert ist, wird solche beruflichen Ehrbegriffe und Standards untergraben: Wenn man von den Menschen immer nur das Schlechteste erwartet, werden sie diese Erwartungen erfüllen. Und das wird wiederum dazu führen, dass die Qualität und Effizienz öffentlicher Dienste sinken, statt besser zu werden.
Eine weitere sich selbst erfüllende Prophezeiung betrifft die Wahlbeteiligung. Durch die These, dass es sinnlos sei, wählen zu gehen, legte Down s in seiner Economic Theory of Democracy die Saat für einen Rückgang der Wahlbeteiligung. Down s hatte Arrow s Konzept übernommen, dass ein Wähler nichts anderes sei als ein Bündel vorgefasster Präferenzen, und es um die Annahme erweitert, dass diese Präferenzen ausschließlich eigennützigen Motiven folgen. Für Down s glich der Wähler einem selbstsüchtigen Konsumenten und der Wettbewerb der Parteien um Wählerstimmen entsprach dem Kampf um Marktanteile zwischen konkurrierenden Unternehmen. Diese Art von Wettbewerb wird nicht dadurch gewonnen, dass man versucht, Wähler im Rahmen einer öffentlichen Debatte durch Sachargumente zu überzeugen, sondern vielmehr durch moderne Marketingtechniken. Und die Annahme, der Wähler sei in einem engen Sinne eigennützig, impliziert, dass seine Interessen eindimensional sind – in Form von wirtschaftlichem Nutzen –, was wiederum bedeutet, dass auch das Gelände, auf dem Wahlen gewonnen oder verloren werden, ebenso eindimensional ist. Und daraus folgt, mit welcher Strategie Wahlen gewonnen werden: über ein Wahlprogramm, das die Wähler der politischen Mitte anspricht. Dies ist Duncan Black s Medianwählertheorem (das freilich für Black kein realistisches Modell des Wählerverhaltens war, sondern eine rein theoretische Übun g).
Ab den 1960er-Jahren setzte sich diese Sicht der Dinge nach und nach durch und gewann wachsenden Einfluss auf die Volksparteien, die sich daher immer mehr auf Marketing verließen statt auf Sachargumente. Als die Parteien immer weiter ins Zentrum rückten, um dem Medianwähler zu gefallen, wurden ihre Programme immer ähnlicher. Die vorhersehbare Folge waren sinkende Wahlbeteiligungen: Wenn alle Parteien, die eine realistische Chance auf Regierungsbeteiligung haben, sich immer ähnlicher werden, macht es immer weniger Sinn, wählen zu gehen. Und wenn Sachargumente durch Marketing ersetzt werden, wird die Sprache immer weniger mitreißend und leidenschaftlich, und das Interesse der Wähler schwindet.
Die Motivation der Wähler wurde noch weiter untergraben durch Kritik am politischen Prozess von einer unerwarteten Seite – nämlich von politischen Insidern selbst. Die kritische Sicht der Politik aus dem Lager der Public Choice Theory ist anscheinend von genau den Politikern und Bürokraten, die sie als so zynisch, selbstsüchtig und kurzsichtig darstellt, übernommen worden. Die Bürokraten der Vereinten Nationen, der Weltbank und der Europäischen Kommission sprechen seit Jahrzehnten davon, dass die politischen Entscheidungsprozesse »entpolitisiert« werden sollten. Ein einflussreicher britischer Minister in der Regierung von Tony Blair hat es so erklärt: »Was unseren Ansatz bestimmt, ist der ausgeprägte Wunsch, die Macht dort anzusiedeln, wo sie sein sollte: immer weniger bei den Politikern, sondern bei denen, die in vielerlei Hinsicht am besten geeignet sind, sie anzuwenden. … Diese Entpolitisierung wichtiger Entscheidungsprozesse ist ein zentrales Element, um die Macht näher zum Volk zu bringen.« [22] Derselbe Insider sprach sich dafür aus, dass die Zinssätze durch die Bank of England und die Mindestlöhne durch eine unabhängige Kommission festgelegt werden sollten. Wenn schon Politiker selbst zu der Überzeugung gelangt sind, dass bestimmte Entscheidungen ihnen nicht anvertraut werden sollten (weil sie zum Beispiel versucht sein könnten, die Zinssätze aus wahltaktischen Gründen zu manipulieren) und dass ein großer Teil der politischen Macht an nicht demokratisch gewählte Technokraten übertragen werden sollte, dann ist es kein Wunder, dass auch die Wähler solche Ansichten übernommen haben. Aus traditioneller Sicht könnten Politiker es als Verletzung ihrer demokratischen Pflichten ansehen, ihre Macht an nicht demokratisch gewählte Funktionäre abzugeben, als eine Nichterfüllung des vom Wähler erteilten Mandats. Dass viele Politiker und Organisationen wie die Weltbank sogar stolz sind auf diese ihnen übertragene Macht, zeigt, dass sie eine eher pessimistische Sicht von demokratischen Entscheidungsprozessen pflegen. Ironischerweise deutet der Umstand, dass solche Entpolitisierungsbestrebungen durch den ehrlichen Wunsch von politischen Insidern getrieben zu sein scheinen, die Arbeit von Regierungen besser zu machen, darauf hin, dass diese Politiker letztlich doch nicht gar so selbstsüchtig sind. Sie müssten nur an sich selbst glauben.
Wir bekommen die Politik, die wir verdienen. Wenn jeder von uns davon ausgeht, dass Politiker, Bürokraten und Wähler allesamt selbstsüchtig sind, und jeder von uns entsprechend handelt, können wir von der Politik nicht allzu viel erwarten. Unsere Annahmen über das menschliche Wesen stehen keineswegs – wie es uns die Public Choice Theory weismachen will – über und jenseits der Politik, sondern sie machen unsere Politik. Bedeutet das also, um es mit einem bekannten Song zu sagen: »All you need is Love«, wenn wir bessere Politik haben wollen?
Wir können nicht so tun, als ob wir Politikern und der Politik mehr Vertrauen entgegenbringen, als wir es tatsächlich tun. Doch wir sollten uns bewusst machen, dass jede Entscheidung, ihnen nicht zu vertrauen, einen Preis hat. Wie in dem bekannten Sprichwort »Steter Tropfen höhlt den Stein« lösen solche scheinbar harmlosen Unterstellungen ganz allmählich das demokratische Bindemittel auf, das unsere Gesellschaft zusammenhält. Wer hätte gedacht, dass die Gleichsetzung des Wettbewerbs zwischen politischen Parteien mit der Konkurrenz zwischen Unternehmen um Marktanteile dazu führen würde, dass die Wähler glauben, die Volksparteien seien »alle gleich«? Und dass die Wähler in einem alarmierenden Ausmaß der demokratischen Entscheidungsprozesse überdrüssig geworden sind?
Wenn es uns nicht gefällt, wie die Politik heute arbeitet, muss jeder Versuch, das zu ändern, damit beginnen, dass wir all diese Annahmen anhand von Tatsachen überprüfen, eine nach der anderen. Es ist nicht einfach, Vertrauen wiederherzustellen, aber wir haben durchaus die Möglichkeit, uns dazu durchzuringen.
Wir können die Ursachen der heute grassierenden Politikverdrossenheit nicht auf ein bestimmtes Ereignis zurückführen. Doch wenn wir nach einem entscheidenden Urknall in der Geschichte der Ideen suchen, der uns auf den jetzigen Pfad gebracht hat, dann ist Arrow s Buch Social Choice and Individual Values ein überzeugender Kandidat. Sein Unmöglichkeitstheorem ist eine bemerkenswerte intellektuelle Leistung, doch selbst wenn die gesellschaftlichen Ziele nicht über Arrow s fragwürdiges Ideal eines Wahlsystems aus den individuellen Präferenzen der Wähler abgeleitet werden können, folgt daraus keineswegs, dass Demokratie unmöglich sei oder dass Ideen wie Gemeinwohl oder öffentliches Interesse reine Mythen seien. Vielmehr mahnt Arrow s Unmöglichkeitstheorem, dass Wahlsysteme moralische Kompromisse eingehen müssen. Und auch der Lösungsansatz zahlreicher Verfechter der Public Choice Theory – nämlich, politische Entscheidungen an den Markt zu übertragen – kann die Notwendigkeit solcher Kompromisse nicht aufheben; er ignoriert sie nur.
Arro w, der sich von einem unpolitischen Mathematiker zu einem vorsichtigen Sozialisten gewandelt und kaum Material für Biographen hinterlassen hat, bleibt bis heute eine rätselhafte Figur in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften. Durch seinen Angriff auf den politischen Betrieb wurde er ungewollt zum Revolutionär, und das auch nur durch eine zufällige Verkettung seiner Lebensumstände. Vielleicht hätte sich die moderne Politik ganz anders entwickelt, wenn Arro w nicht zufällig die mathematischen Kenntnisse erworben hätte, die er für sein Unmöglichkeitstheorem brauchte, wenn vorher Bertrand Russel l nicht wegen »moralischer Unschicklichkeit« angeklagt worden wäre.