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Free-Riding: Trittbrettfahrer drücken sich vor ihrem Beitrag
»Von jetzt an kümmere ich mich bloß noch um mich.«
Major Danby erwiderte versöhnlich und mit einem überlegenen Lächeln: »Aber Yossarian – nehmen Sie einmal an, daß alle so dächten.«
»Dann wäre ich schön blöde, wenn ich nicht auch so dächte.«
Joseph Helle
r,
Catch-22
[1]
Eines der größten Medienereignisse des Jahres 2013 war die in vielen Ländern der Welt mit großer Spannung erwartete Geburt eines Kindes. Nicht irgendeines Kindes, sondern die Geburt von Georg
e, des Prince of Cambridge, Dritter in der Rangfolge der britischen Thronanwärter. Das Interesse an ihm war globalen Ausmaßes: Am Tag seine
r Geburt, dem 22. Juli, verzeichnete die Website von BBC
News mehr Seitenabrufe als jemals zuvor, von 19,4 Millionen verschiedenen Besuchern. Schätzungsweise 90 TV
-Kamerateams verbrachten einen ganzen Tag vor einem Krankenhaus in London, während sie darauf warteten, dass die Geburt verkündet wird. Inmitten des Medienrummels äußerte ein BBC
-Reporter vor dem Krankenhaus seine seine Befürchtungen in Bezug auf die Herausforderungen, die auf George
s Eltern zukamen: »Ein großes Problem wird der Medienrummel rings um den Junge
n sein.«
Einen Moment mal. Ist es nicht ein bisschen seltsam – oder sogar scheinheilig –, wenn ein BBC
-Reporter sich ausgerechnet darüber Sorgen macht? Man darf wohl davon ausgehen, dass die BBC
sehr wohl weiß, welch tragende Rolle sie bei dem anhaltenden Medieninteresse an den britischen Royals spielt. Auf die Kritik, dass der Medienrummel die Familie belasten würde, hat die BBC
stets erwidert, dass sie ja das Problem keineswegs allein verursachen würde. In einem kaum vorstellbaren Paralleluniversum, in dem die BBC
die Royals völlig in Ruhe lassen würde, so die Rechtfertigung der BBC
, würde es immer noch mehr als genug andere Medienorganisationen geben, die für Rummel sorgen. Falls es also überhaupt ein Problem gebe, sei die BBC
dafür nicht verantwortlich.
Dies ist nur eine Version einer Einstellung, die uns in den vergangenen Jahrzehnten nur allzu vertraut geworden ist: Es macht doch keinen Unterschied, ob ich meinen kleinen Beitrag leiste.
Vielleicht mache ich mir Sorgen wegen der Klimaveränderung, aber es macht doch keinen Unterschied, ob ich meine CO
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-Bilanz reduziere, indem ich weniger konsumiere, fahre, fliege. Warum also die Mühe? Und obwohl ich vielleicht erschüttert bin über die neueste Hungersnot in Afrika, macht meine kleine Spende doch keinen Unterschied. Warum also die Mühe? Wie schon erwähnt: Es macht doch keinen Unterschied, ob ich wählen gehe oder nicht, warum also die Mühe? Und da es keinen Unterschied macht, wäre mein kleiner Beitrag nicht etwa vorbildlich, sondern völlig nutzlos. Die einzige vernünftige Entscheidung ist daher, dass ich mich als »Free-Rider« oder Trittbrettfahrer
darauf verlasse, dass andere für mich einspringen werden.
Dies scheint auch die Einstellung von Facebook UK
zu sein. Obwohl Facebook im Jahr 2014 in Großbritannien über 100 Millionen Pfund Umsatz machte, zahlte der Konzern dort nur 4327 Pfund Unternehmenssteuern. Bis 2018 waren seine abgeführten Steuern auf immerhin 15,8 Millionen Pfund angestiegen – aber zugleich der Umsatz auf über 1,3 Milliarden Pfund, sodass Facebook immer noch kaum mehr als ein Prozent an Unternehmenssteuern zahlte. Facebook macht sich als Trittbrettfahrer den Beitrag anderer Steuerzahler zunutze, die für den staatlich subventionierten Ausbau der britischen Internet-Infrastruktur aufkommen – der es fast zwei Dritteln der britischen Bevölkerung ermöglicht, Facebook zu nutzen. Der Konzern kann trittbrettfahren, weil wir es zulassen. Vielleicht boykottieren wir Facebook zwar wegen Fake News, nicht aber wegen Steuervermeidung, weil Trittbrettfahren inzwischen zu einem normalen Verhalten geworden ist. Wir zucken nur die Achseln und murmeln: »Na ja, würdest du nicht auch …?«
Und doch haben sich die meisten Menschen im größten Teil der menschlichen Geschichte in solchen Situationen anders verhalten. Der Begriff »Trittbrettfahren« wurde in den 1850er-Jahren im US
-Bundesstaat Wisconsin geprägt, für Tramps, die ohne Fahrkarte per Eisenbahn reisten.
Doch die heute allgemein übliche Bedeutung von »Trittbrettfahren« – Vorteile genießen, die durch Beiträge von anderen ermöglicht wurden, ohne selbst einen Beitrag zu leisten – war bis in die 1970er-Jahre hinein außerhalb der akademischen Welt unbekannt. Der Wandel des Begriffs »Free-Riding« von einem obskuren akademischen Fachausdruck zu einem Begriff der allgemeinen Umgangssprache hat erst vor Kurzem stattgefunden.
Natürlich hat es das Trittbrettfahren schon immer gegeben, seit es Kommunen gibt, die groß genug sind, um Trittbrettfahrer zu ertragen. Aber es wurde nicht so genannt. Die zunehmende Verwendung des Begriffs »Trittbrettfahren« in den vergangenen 50 Jahren reflektiert einen fundamentalen Wandel in der Beurteilung solchen Verhaltens. In dieser Zeit begann Trittbrettfahren einige der negativen Konnotationen, mit denen es immer assoziiert gewesen war, abzuwerfen: Fast über Nacht galt es plötzlich als »clever«, sich so zu verhalten. »Trittbrettfahren« war nicht mehr nur ein neues Etikett für altbekannte Verhaltensweisen, sondern auch eine neue Rechtfertigung dafür, solcherlei Verhalten für akzeptabel zu halten: eine Rechtfertigung, die hauptsächlich auf einer ökonomischen Theorie beruhte, die erst in den 1930er-Jahren ersonnen und bis in die 1960er-Jahre hinein nur in akademischen Kreisen bekannt war. Als generelles Konzept ist Trittbrettfahren ziemlich neu. Als in den 1960er-Jahren die Hippie-Gegenkultur mit ihrer Mentalität einer fatalistischen Machtlosigkeit aufkam, bildete sie einen fruchtbaren Nährboden für die Ausbreitung dieser neuen Idee. Ein Buch des Aktivisten Abbie Hoffma
n mit dem Titel
Steal This Book
(»Klau’ dieses Buch«), ein Manifest der Hippiebewegung der 1960er-Jahre, führt die Widersprüche des Trittbrettfahrens beispielhaft vor Augen. Nachdem das Buch von über 30 Verlagen abgelehnt worden war, wurde es schließlich doch gedruckt, und in den ersten sechs Monaten nach seiner Veröffentlichung wurden über 250 000 Stück davon verkauft – und unzählige Exemplare gestohlen. Ohne die ehrlichen Käufer wären freilich nur sehr wenige Bücher produziert worden, die von Trittbrettfahrern hätten geklaut werden können. Hoffma
n hielt es für unmoralisch, das »Pig Empire« (sinngemäß: »imperialistisches Regime«) – die
USA
–
nicht
zu beklauen und bekannte sich später reumütig zu seinem widersprüchlichen Erfolg: »Es ist schon ein bisschen peinlich, wenn du die Regierung stürzen willst und dann auf der Bestsellerliste landes
t.«
[2]
Wie kam es, dass Trittbrettfahren als »clever« gilt?
In Platon
s Werk
Politeia
erzählt Glaukon die Geschichte vom Schäfer Gyges, der erlebt, wie sich bei einem Erdbeben ein klaffender Spalt im Erdboden auftut. In einem Hollywood-Katastrophenthriller wäre Gyges mit seinem
SUV
mit Vollgas aus dem Erdbebengebiet davongerast, aber dies ist eine andere Art von Geschichte. Gyges steigt in den Spalt hinab und findet dort einen goldenen Ring, den er anlegt und dann sehr schnell entdeckt, dass er unsichtbar wird, wenn er den Ring dreht – diese Art von Geschichte ist es. Gyges denkt nicht lange nach, wie er seine neue Fähigkeit einsetzen könnte, um Gutes zu tun. Nein, im Gegenteil: Mithilfe des Rings gelangt er unentdeckt in den königlichen Palast, wo er die Königin verführt, den König ermordet und selbst den Thron besteigt. Glaukon rechtfertigt seine Schandtaten damit, dass jeder von uns stehlen, morden und verführen würde, wenn er denn nur einen solchen Ring hätte: Wir würden die Gesetze nur befolgen, weil wir damit rechnen müssten, bestraft zu werden, wenn wir sie übertreten.
12
Rationales Verhalten sei, die eigenen Interessen zu verfolgen, sofern das nicht bestraft wird, selbst wenn man damit der Gesellschaft schadet. Letztlich empfiehlt Glaukon also, sich als Trittbrettfahrer zu verhalten, wann immer man damit straflos davonkommen kann. Sokrate
s lehnt Glaukons Argumente ab und fordert stattdessen, dass ausnahmslos jeder das Gesetz befolgen sollte, selbst wenn keine Strafen bei Zuwiderhandlung drohten. Trittbrettfahren wird implizit, aber nachdrücklich abgelehnt.
Im 18. Jahrhundert kam der britische Ökonom und Moralphilosoph Adam Smit
h zu einem ähnlichen Schluss wie Sokrate
s. Smit
h erkannte, dass es für Menschen klug sein kann, zum gegenseitigen Nutzen zu kooperieren – selbst wenn sie durch Nichtkooperation kurzfristig besser abschneiden könnten. Der spezielle Fall von Kooperation zum gegenseitigen Nutzen, der Smit
h besonders interessierte, waren Geschäftsleute, die Absprachen treffen, um ein Kartell zu bilden oder eine andere Form von Preismanipulation zu bewerkstelligen: »Geschäftsleute des gleichen Gewerbes kommen selten, selbst zu Festen und zur Zerstreuung, zusammen, ohne daß das Gespräch in einer Verschwörung gegen die Öffentlichkeit endet oder irgendein
Plan ausgeheckt wird, wie man die Preise erhöhen kann.«
[3]
Smit
h und seine Anhänger kamen zu dem Schluss, dass in einer kapitalistischen Wirtschaft die starke Tendenz besteht, Kartelle, Monopole oder andere Formen wettbewerbsverzerrender Absprachen zu treffen.
Preisabsprachen mögen als abstruses technisches Problem erscheinen, doch im darauffolgenden Jahrhundert griff Karl Mar
x die Argumente von Smit
h wieder auf und entwickelte sie weiter, wobei er die moralischen Aspekte des Problems in den Mittelpunkt rückte. Mar
x argumentierte, dass der Wettbewerb, auf dem der Kapitalismus aufbaut, durch diverse Formen von wettbewerbsverzerrenden Aktivitäten untergraben werde. Tatsächlich war Mar
x davon überzeugt, dass der Kapitalismus sich selbst zerstören werde, und zwar unter anderem durch die Tendenz, den Wettbewerb auszuhöhlen. Bald darauf ließen sich immer mehr Menschen davon überzeugen, dass der Kommunismus die Antwort sei. Heute vergisst man leicht, wie damals die Welt für viele Menschen aussah. Im März 1933 verteidigten George Bernard Sha
w und 20 andere prominente britische Sozialisten in einem offenen Brief an den
Manchester Guardian
vehement Stalin
s Regime und bestritten die Belege für grassierende Hungersnöte in der Sowjetunion. (Sha
w blieb auch später noch ein Anhänger Stalin
s. Als er 1950 gefragt wurde, wen er zum »Mann der ersten Jahrhunderthälfte« ernennen würde, schlug er drei vor – Stalin, Einstei
n und »einen, den ich aus Bescheidenheit nicht nennen möcht
e«.)
[4]
Angesichts dieser Umstände bestand im Westen großes Interesse an Ideen, mit denen sich der Kapitalismus verteidigen ließ. Und vor allem an Ideen, mit denen sich die Frage beantworten ließ, die Adam Smit
h offengelassen hatte: Wie kann der Wettbewerb gewährleistet werden, wenn Unternehmen die natürliche Tendenz haben, ihn zu unterlaufen, indem sie zum gegenseitigen Nutzen zusammenarbeiten?
Von Denkern nach Adam Smit
h, etwa John Stuart Mil
l und Jeremy Bentha
m, kam die Antwort, dass viele Menschen aufgrund ihres kurzsichtigen Denkens zu irrational seien, um zum gegenseitigen Nutzen zusammenzuarbeiten. So kann zum Beispiel ein Unternehmen versucht sein, seinen Konkurrenten durch Preissenkungen Marktanteile abzunehmen und dadurch kurzfristige Profite einzustreichen, obwohl es langfristig profitabler wäre,
ein Kartell zu bilden oder Preisabsprachen zu treffen. Diese Argumentation hatte durchaus etwas für sich, schien aber doch ein zu schwaches Fundament zu sein, um darauf eine Verteidigung für den Kapitalismus aufzubauen. Es reichte nicht, die fundamentale Herausforderung, die Mar
x darstellte, nur mit dem Hinweis zu kontern, dass viele Firmen zu kurzsichtig sind, um zu erkennen, dass es in ihrem langfristigen Interesse liegt, den Wettbewerb zu unterlaufen. Eine große Idee wurde gebraucht.
Trittbrettfahren war diese Idee. Sie bildet den Kern eines überzeugenden Plädoyers, das besagt, Wettbewerb sei letzten Endes doch rational und natürlich. Nach dieser Logik ist es nicht etwa klug, wenn Firmen kooperieren, sondern dumm, da jede Firma als Trittbrettfahrer von den gemeinschaftlichen Anstrengungen anderer Firmen derselben Branche profitieren kann. Das führt dazu, dass Kartelle und andere Versuche, den Wettbewerb zu untergraben, scheitern werden. Um zu verstehen, warum das so ist, müssen wir uns ein spezifisches Beispiel einer Zusammenarbeit etwas detaillierter ansehen.
Nehmen wir an, der Inhaber eines kleinen Geschäfts hat sich bereit erklärt, weniger Ware zu verkaufen, um seinen Teil dazu beizutragen, eine Preisabsprache aufrechtzuerhalten. Er wird bald erkennen, dass er mehr Profit machen kann, wenn er diese Vereinbarung stillschweigend ignoriert und wieder mehr verkauft. Die Preisabsprache wird nicht sofort platzen, weil die darüber hinausgehenden Verkäufe eines einzigen kleinen Geschäfts sich kaum auf den Marktpreis auswirken werden.
[5]
Mit anderen Worten: Der Geschäftsinhaber wird sich ungefähr denken:
Es macht keinen Unterschied, ob ich meinen kleinen Beitrag zu der Preisabsprache leiste oder nicht
. Also kann er in seinem Geschäft so viel verkaufen, wie er will, und als Trittbrettfahrer von dem höheren Preis profitieren, der nur durch die Verkaufszurückhaltung der anderen Geschäfte im selben Markt ermöglicht wird. Der Haken an der Sache ist freilich, dass die Preisabsprache bald platzen wird, da alle Geschäftsinhaber in diesem Markt so denken – oder dass sie gar nicht erst greifen wird, da alle Beteiligten von vornherein ihr Scheitern erwarten. Die Logik dieser Argumentation besagt, dass Preisabsprachen langfristig nicht aufrechtzuerhalten sind – ungeachtet der Tatsache, dass alle Beteiligten besser abschneiden würden, wenn sie die Vereinbarung doch irgendwie aufrechterhalten
könnten.
Es hat sich gezeigt, dass diese obskure technische Argumentation über Preisabsprachen, die in den 1930er-Jahren entwickelt wurde, enorme Auswirkungen auf das moderne Leben entfaltet hat. Denn sie ist der Ursprung all jener heutzutage gängigen Argumente für Trittbrettfahren, die letzten Endes besagen, dass Kooperation nutzlos sei. Doch bevor es so weit war, brauchte die Idee vom Trittbrettfahren erst einmal jemanden, der sie aus ihrem Schattendasein in der ökonomischen Theorie herausführte und auf die gesamte Gesellschaft übertrug.
[6]
Vorhang auf für einen Bauernjungen. Mancur Olso
n kam im Januar 1932 als Kind einer norwegisch-amerikanischen Farmerfamilie im Red River Valley in North Dakota zur Welt.
[7]
Noch Jahrzehnte später, als er in der akademischen Welt eine Berühmtheit geworden war, bewahrte er sich seinen norwegischen Akzent und sein bescheidenes Auftreten eines Farmerjungen. Selbst als ih
m immer mehr Auszeichnungen und Ehrungen zuteilwurden, begann er seinen Lebenslauf nach wie vor mit seiner Sozialversicherungsnummer – als müsse er nachweisen, wer er ist. Ein typisches Statement von ihm, das er einmal in der monotonen Redeweise der Prärie geäußert hat, geht so: »Such dir eine Aufgabe, die interessant und wichtig ist – ganz egal, worum es geht –, und dann mach dich daran, sie zu lösen. Das ist mein Rat an Mancur Olso
n, und das ist mein Rat an jeden Menschen.«
[8]
Als der älteste von drei Söhnen durfte Mancu
r dabei sein, wenn die Erwachsenen sich über die Zukunftsaussichten für die Farm unterhielten. In vielen dieser Gespräche ging es darum, wie schwierig es war, kleine Farmer zu einer Zusammenarbeit zu bewegen, obwohl sie alle das gleiche Interesse daran hatten, faire Preise für ihre Erzeugnisse zu erzielen. Den Olson
s war aufgefallen, dass es drüben in Norwegen und anderen skandinavischen Ländern eine wesentlich stärkere Tradition gab, die Menschen zu motivieren, für das Gemeinwohl zusammenzuarbeiten, wodurch sowohl wirtschaftliches Wachstum als auch eine gewisse Gleichheit für die Gesellschaft insgesamt erreicht wurde. Diese Gespräche hat Mancur Olso
n nie vergessen, und als er so weit war, seine Doktorarbeit zu schreiben, trieb ihn die Frage um, warum manche Gruppen in der Lage zu sein scheinen, für ihre gemeinsamen Interessen zusammenzuarbeiten, andere dagegen nicht. Wie Kenneth Arro
w leistete Olso
n
vor Beginn seiner akademischen Laufbahn seinen Militärdienst ab – als Oberleutnant der
US
Air Force von 1961 bis 1963 – und ging dann zur
RAND
Corporation. Sein Durchbruch kam, als er die ökonomische Theorie des perfekten Wettbewerbs zwischen Unternehmen aufgriff und sie auf eine riesige Vielfalt sozialer Situationen anwendete. In seinem 1965 erschienenen Meisterwerk mit dem passenden Titel
The Logic of Collective Action
(deutsche Ausgabe:
Die Logik des kollektiven Handelns
) baute Olso
n auf der früheren Argumentation über Preisabsprachen auf: Kleine Firmen erkennen, dass es keinen Sinn hat, ihre Verkäufe einzuschränken, um sich an eine solche Vereinbarung zu halten, weil ihre Zurückhaltung keinen Unterschied bewirkt, da ihr Umsatz einen vernachlässigbaren Teil des Gesamtmarkts ausmacht. E
r blieb seinen Wurzeln treu und wählte zur Veranschaulichung einer Anwendung seiner Argumentation das Beispiel eines kleinen Farmers: »Ein Landwirt, der die Interessen der anderen Landwirte über seine eigenen stellt, würde seine Produktion nicht zugunsten einer Erhöhung der Agrarpreise einschränken, weil ihm bewusst wäre, daß sein Opfer niemandem einen nennenswerten Gewinn bringen würde. Solch ein rational handelnder Landwirt, und wäre er noch so selbstlos, würde kein so vergebliches und nutzloses Opfer bringe
n …«
[9]
Um sei
n Argument zu bekräftigen, dass es keinen Sinn habe, einen Beitrag zu leisten – ein Opfer zu bringen –, wenn das für niemanden einen Unterschied macht, schreibt Olso
n weiter: »Uneigennütziges Verhalten, das keine merkliche Wirkung hat, wird oft nicht einmal für löblich gehalten. Ein Mann, der versuchen würde, eine Flut mit einem Eimer aufzuhalten, würde wahrscheinlich auch von jenen, denen er zu helfen versucht, eher als Kauz denn als Wohltäter angesehe
n.«
[10]
Diese erstaunliche Metapher wirft ein Schlaglicht auf Olson
s zentrale Erkenntnis: Wenn es keinen Unterschied macht, ob du deinen kleinen Beitrag leistest oder nicht, hat es keinen Sinn, ein nutzloses Opfer zu bringen. Also ist nichts Unmoralisches am Trittbrettfahren – es ist einfach nur das rationale Verhalten. Trittbrettfahren mag selbstsüchtig wirken, doch in solchen Situationen hilft es niemandem, sich aufopfernd zu verhalten. Mit seine
r Argumentation, dass rationale Menschen trittbrettfahren statt zu kooperieren, sodass kollektives Handeln schwierig aufrechtzuerhalten ist, hatte Olso
n
ein größeres Ziel im Blick als den kleinen Farmer: Er hatte es auf den Marxismu
s abgesehen. Er lehnte das, was er »die marxschen Theorien des Klassenkampfs« nannte, ausdrücklich ab und argumentierte stattdessen, dass die Gelegenheit zum Trittbrettfahren Gruppen davon abhalten würde, kollektiv zu handeln, um ihre gemeinsamen Interessen zu verfolgen. Nur wenn es irgendeine Form von sozialem Druck gebe, würden Gruppen kollektiv handeln. Um das zu illustrieren, zog Olso
n den Schluss, dass Gewerkschaften Druck auf ihre Mitglieder ausüben müssten, weil sie sonst nicht überleben würden. Für Olso
n hatte die Gewerkschaftsbewegung die gleichen autoritären Untertöne wie die sowjetischen Volkswirtschaften.
Es ist nicht überraschend, dass Olson
s revolutionäre Analyse von der politischen Rechten mit Wohlwollen aufgenommen wurde. Ihr Vordenker Friedrich August von Haye
k sorgte dafür, dass Olsons Werk The Logic of Collective Action
ins Deutsche übersetzt wurde. In den 1980er-Jahren schien sich Olson
s Analyse säuberlich in die intellektuellen Grundlagen marktliberaler Weltanschauungen wie Reaganomic
s und Thatcheris
m einzufügen: Kooperation und kollektives Handeln sind generell schwierig aufrechtzuerhalten, also muss Wettbewerb der natürliche Zustand der Dinge sein.
Und doch bleibt ein Rätsel ungelöst. Ungeachtet der scheinbar unwiderlegbaren Logik von Olson
s Argumenten hat Trittbrettfahren nach wie vor einen zweifelhaften Ruf. Heutzutage scheint es so, als ob viele von uns sich in diversen Lebenslagen mit der Devise rechtfertigen: Es macht keinen Unterschied, ob ich meinen kleinen Beitrag leiste oder nicht
, um sich der Verantwortung zu entziehen – obwohl wir das nicht wirklich selbst glauben. Ein Grund für diese Skepsis könnte sein, dass echte Trittbrettfahrer – Leute, die den Sinn ihres Lebens darin sehen, als Trittbrettfahrer durchzukommen – in der Regel keine allzu bewundernswerten, beeindruckenden oder netten Menschen sind.
Trittbrettfahrer vs. kleine Leute
Steuerhinterziehung ist eine eklatante Form von Trittbrettfahren. Ende der 1980er-Jahre erklärte Leona Helmsle
y, eine der größten
US
-Steuerhinterzieherinnen jenes Jahrzehnts, ihrer Haushälterin ihre Einstellung zu Steuern: »Wir zahlen keine Steuern. Nur die kleinen Leute zahlen Steuern.«
[11]
Helmsley
s Mangel an Mitgefühl für andere Menschen war Legende, und daher sollten wir solche arroganten Prahlereien über Steuerhinterziehung nicht für ein typisches Merkmal von Steuerhinterziehern halten.
13
Aber selbst unter Menschen, die sich einen Ruf als gesetzestreue Bürger bewahren wollen, ist das aggressive Minimieren ihrer Steuerverbindlichkeit heute nichts mehr, dessen sie sich schämen müssten. Der ehemalige
US
-Finanzminister Timothy Geithne
r hat mehrfach vergessen, Steuern auf seine Einkünfte aus seiner Tätigkeit für den Internationalen Währungsfonds (
IWF
) zu zahlen. Nach einer Steuerprüfung durch den Internal Revenue Service (
IRS
,
US
-Finanzbehörde) zahlte Geithne
r nur für zwei der vier betroffenen Jahre seine offenen Steuerverbindlichkeiten und berief sich für die anderen beiden Jahre auf Verjährung, um nicht zahlen zu müssen. Dass lässt vermuten, dass Geithne
r (oder sein Buchhalter) keine moralische Verpflichtung empfand, die gesamte ursprünglich fällige Steuerschuld zu begleichen. Letzten Endes hat Geithne
r auch für diese beiden Jahre seine Steuerschuld gezahlt – aber erst später, kurz bevor e
r zum Finanzminister ernannt wurde.
[12]
Auch in der Unternehmenskultur hat ein ähnlicher Wandel stattgefunden. Als Googles
CEO
Eric Schmid
t 2012 bei einem Interview über die Steuervermeidungsstrategien des Internetkonzerns befragt wurde, antwortete e
r: »Wir sind kapitalistisch, und darauf sind wir stolz. Das ist für mich völlig klar. Wir zahlen eine Menge Steuern, und wir zahlen sie so, wie es uns das Gesetz vorschreibt. Ich bin sehr stolz auf die Struktur, die wir aufgebaut haben, und zwar gemäß der Anreize, die uns von verschiedenen Regierungen geboten wurden, um im jeweiligen Land aktiv zu werden.«
[13]
Weil Google so groß ist, bewirken die einer Besteuerung entzogenen Profite des Konzerns einen nennenswerten Unterschied für die jeweiligen Staatseinnahmen.
[14]
Aber für den Rest von uns kleinen Leuten ist es genau umgekehrt wie in Helmsley
s dubiosem Ausspruch. Für uns scheint es sinnvoll zu sein, Steuern zu vermeiden: Es macht keinen Unterschied für das, was der Staat leisten kann, ob ich mein bisschen Steuern zahle oder nicht. Mich zurückzuhalten und mich zu weigern, Steuern zu vermeiden, scheint ein sinnloses Opfer zu sein.
Falls Sie das anders sehen – vielleicht, weil Sie
zu denjenigen zählen, die ihre Steuern in voller Höhe zahlen –, lohnt es sich, einen
Moment darüber nachzudenken, ob Sie sich womöglich in anderen Lebenslagen doch wie ein Trittbrettfahrer verhalten. Ich bin ja nicht nur ein Trittbrettfahrer, wenn ich mit der U-Bahn schwarzfahre, sondern auch, wenn ich mir ohne Eintrittskarte zu einem Sportereignis oder einem Musikfestival Zutritt verschaffe. Oder mir einen Kaffee aus dem Automaten hole, ohne Geld in die dafür vorgesehene Kassenbüchse zu stecken. Oder akzeptiere, dass in meiner Gemeinde der größte Teil des Hausmülls recycelt werden soll, ohne meinen eigenen Hausmüll zu trennen. Oder den Wert eines verlorenen Gegenstands zu hoch angebe, wenn ich den Schaden meiner Versicherung melde. Solche kleinen Trittbrettfahrereien werden die meisten von uns wahrscheinlich nach wie vor für unmoralisch halten. Doch nach der bezwingenden Logik der Trittbrettfahrer-Mentalität ist dies das einzig rationale Verhalten, wenn das Risiko einer Bestrafung oder sozialer Sanktionen minimal ist. Vielleicht müssen wir unsere Moralverstellungen einfach nur unserem Verständnis von wirtschaftlichem Handeln anpassen?
Vielleicht ist das in mancherlei Hinsicht schon geschehen. Viele Menschen laden sich illegal Musik aus dem Netz herunter oder lesen redaktionelle Inhalte umsonst, weil sie darauf bauen, dass andere dafür zahlen. Vielleicht haben Sie in einem Elektronikladen einen Rasierapparat gesehen, währenddessen aber über Ihr Smartphone herausgefunden, dass er bei Amazon billiger angeboten wird, und deswegen in dem Laden nichts gekauft. Große Organisationen wie Ryanair oder der UK
National Health Service haben wiederholt qualifizierte Mitarbeiter von anderen Unternehmen abgeworben, die dort für viel Geld ausgebildet worden waren. Solches Trittbrettfahren wird generell für akzeptabel gehalten. Und Trittbrettfahren ist so normal
. Heutzutage ist es ganz alltäglich, Musik und andere Inhalte umsonst aus dem Netz zu ziehen, dass es gar nicht mehr erwähnt wird. Frühere Generationen hätten nichts weniger als Glaukons magischen Unsichtbarkeitsring gebraucht, um im Plattenladen Musik für lau abgreifen zu können.
Es liegt auf der Hand, wie Trittbrettfahrer ihr Verhalten rechtfertigen könnten. Vielleicht habe ich mich für den Sportevent ohne Eintrittskarte ins Stadion geschummelt, weil ich seit Ewigkeiten ein glühender Fan dieser Mannschaft bin und in früheren Jahren immer eine Saison-Abokarte gekauft hatte. Aber seit einiger Zeit gehört der Club einem
Milliardär, und trotzdem wurden die Eintrittspreise extrem erhöht, während ich arbeitslos und chronisch pleite bin. Ich hole mir gratis einen Kaffee aus dem Automaten, weil ich weiß, dass der empfohlene Preis, den ich eigentlich dafür zahlen soll, großzügig kalkuliert wurde, um »Vergesslichkeit« mit abzudecken. Der Automat deckt trotzdem seine Kosten, selbst wenn nicht jeder zahlt – ich nehme mir einen der Extrakaffees. Ich lade illegal Musikdateien aus dem Netz herunter, weil ich durchaus manchmal für Musik bezahle, weil es praktisch nichts kostet, Downloads anzubieten und weil die Bandmitglieder allesamt Millionäre sind. Ich blähe meinen Versicherungsschaden auf und »optimiere« meine Steuererklärung, weil etliche Leute aus meinem Bekanntenkreis das auch so machen und ich davon ausgehe, dass die meisten Menschen sich so verhalten. Oder vielleicht gebe ich meinen Versicherungsschaden zu hoch an, weil ich früher schon einmal einen Schaden korrekt eingereicht habe und die Versicherung sich trotzdem geweigert hat zu zahlen, aus irgendwelchen formalen Gründen.
Einige dieser Rechtfertigungen sind es durchaus wert, um ihrer selbst willen ernst genommen zu werden, denn sie sprechen eindringlich unseren Gerechtigkeitssinn an. Dennoch gehen sie, ebenso wie Trittbrettfahren, an der Sache vorbei. Trittbrettfahren ist vielleicht nicht gerade fair oder anständig, aber es ist auf jeden Fall ein cleveres Verhalten, weil man dadurch einen Vorteil hat. Und es ist auf jeden Fall ein rationales Verhalten, weil der eigene Beitrag kaum einen Unterschied für die kollektive Anstrengung macht, sodass es niemandem schadet, wenn man ihn nicht leistet. Doch die Tatsache, dass wir diese anderen
Gründe anführen, um Trittbrettfahren zu rechtfertigen, lässt vermuten, dass wir trotz der zwingenden Argumente für Trittbrettfahren die kleinen Egoismen, von denen unser Alltag durchsetzt ist, nur ungern zugeben. Das Rätsel wird nur noch unergründlicher.
Vielleicht ist die Erklärung ja ganz einfach. Vielleicht lehnen wir die Argumente für Trittbrettfahren ja doch ab. Was wäre, wenn die kleinen Leute rebellieren? Was wäre, wenn ausnahmslos jeder versuchen würde, Steuern zu vermeiden, wann immer es möglich ist? Was wäre, wenn jeder beschließen würde, sich als Trittbrettfahrer zu verhalten, wann immer es möglich ist? Die Folgen für die Gesellschaft wären katastrophal.
Es gibt zwei Probleme mit dieser einfachen Antwort. Erstens liefert sie keine positiven Gründe, sich zu engagieren. Wie es schon Yossarian in Catch-22
erkannt hat: Wenn alle anderen trittbrettfahren oder sich auf andere Weise selbstsüchtig verhalten, Sie selbst dagegen nicht, dann gewinnt niemand etwas und Sie selbst verlieren. Die Gesellschaft kann nicht auf dem Rücken eines einzigen Steuerzahlers überleben. Kollektive Anstrengungen erfordern mehr als einen einzigen Beitrag – wenn also alle anderen trittbrettfahren, bewirken Sie nichts, wenn Sie Ihren kleinen Beitrag leisten. Zweitens kann der Trittbrettfahrer einfach erwidern: »Aber es verhalten sich eben nicht
alle wie Trittbrettfahrer. Also kann ich auf die Beiträge von anderen bauen.« Es stimmt, dass nicht jeder trittbrettfahren kann. Als Trittbrettfahrer brauche ich andere, die ihren eigenen Beitrag leisten, und sollte sie dazu ermutigen. Also bin ich vielleicht inkonsequent, oder zumindest scheinheilig, wenn ich anderen Leuten vom Trittbrettfahren abrate, mich aber selbst so verhalte. Doch ein bisschen Scheinheiligkeit scheint immer noch besser zu sein als ein unnötiger Beitrag zu einer gemeinsamen Anstrengung, die ohnehin stattfinden wird. Und falls sie doch nicht stattfinden sollte, ist es ebenso sinnlos, Ihren Beitrag zu leisten, wie der Versuch, eine Sturmflut mit einem Eimer aufzuhalten.
Im Kielwasser von Mancur Olson
s Arbeit machte sich in den 1970er-Jahren die Trittbrettfahrer-Mentalität in der gesamten Gesellschaft breit. Wenn Olso
n und sein Gefolge recht hatten, dann waren alle früheren Generationen mit ihren Überzeugungen, wann und warum man zusammenarbeiten sollte, einem riesigen Irrtum aufgesessen. Sie hatten Kooperation und den Sinn eines individuellen Beitrags zu einer kollektiven Anstrengung völlig anders verstanden. Wie haben zum Beispiel frühere Generationen die Menschen motiviert, ihre Steuern zu zahlen? Natürlich auch mit der Androhung von Strafe, falls man beim Schummeln erwischt wurde. Aber ebenso wichtig war die allgemeine Überzeugung, dass es im Interesse jedes Einzelnen ist, seine Steuern zu zahlen. Unter zahlreichen Ökonomen und Philosophen jeglicher Provenienz herrschte Einigkeit in einem Punkt: Wenn Kooperation allen Beteiligten Vorteile bringt, ist das allein Grund genug für jeden Einzelnen, freiwillig einen Beitrag zur gemeinsamen Anstrengung zu leisten.
[15]
In den 1930er-Jahren bezeichnete ein italienischer Ökonom die Menschen, die nicht
freiwillig ihre Steuern zahlen, als »eine pathologische Gruppe, gegen die die Gesellschaft sich verteidigen muss«.
[16]
Das heißt, dass Trittbrettfahren damals als ein Verhalten betrachtet wurde, dass
gegen
die eigenen Interessen wirkt – also irrational oder gar pathologisch ist.
Wenn wir nach einem Fehler in der Argumentation für Trittbrettfahren suchen, scheint diese ältere Perspektive, die dafür spricht, den eigenen kleinen Beitrag zu leisten, längst überfällig für eine Wiederauferstehung zu sein.
Sich zu engagieren ist allemal besser als unentbehrlich zu sein
Was haben Sie nächste Woche beruflich zu tun? In meiner typischen Arbeitswoche habe ich immer eine ganze Menge Dinge, die ich erledigen muss
. Außerdem gibt es immer eine lange Liste von Dingen, die zwar auch erledigt werden müssen, aber nicht so dringend sind. Ich habe aber nie genug Zeit, um sie alle abzuhaken. (Kommt Ihnen das bekannt vor?) Ich könnte mich entscheiden, eine To-do-Liste zu machen und sie dann nach Priorität sortieren. Wenn ich dabei über die Reihenfolge der einzelnen Punkte nachdenke, kommen diverse Aspekte ins Spiel, etwa die relative Erwünschtheit oder Wichtigkeit verschiedener Dinge; wie erfreulich oder lästig es ist, etwas selbst zu erledigen; ob ein Kollege etwas übernehmen könnte, was ich nicht selbst machen möchte; und vielleicht auch manchmal das Bedürfnis, selbst derjenige zu sein, der einen bestimmten Punkt umsetzt. Sobald ich die einzelnen Punkte nach Priorität aufgelistet hätte, könnte ich die Liste einfach von oben nach unten abarbeiten, bis ich keine Zeit mehr habe.
Ist das die Art, wie Sie Entscheidungen treffen? Nein? Ich auch nicht. Aber man könnte dieses Vorgehen als hyperrationale Art betrachten, Entscheidungen zu treffen, in gewissem Sinne als ein Ideal. Und doch ist sie völlig unvereinbar mit der Haltung, die hinter Trittbrettfahren steckt, und zwar wegen einer der eben erwähnten Überlegungen – nämlich, ob ein Kollege etwas erledigen könnte, wenn ich es nicht mache. Nach der Logik des Trittbrettfahrers wäre es irrational, Zeit für etwas zu verschwenden, was ohnehin geschehen wird, ganz gleich, ob ich es selbst erledige oder nicht. Und dann sollte
dieser Punkt gar nicht erst auf meiner To-do-Liste stehen. Es war dieses hintergründige Prinzip, das in Mancur Olson
s Argumentation verborgen war, wodurch sich seine Analyse von allen vorangegangenen unterschied. Für sich genommen mag es wie ein sehr vernünftiges Prinzip wirken. Doch seine Implikationen sind zutiefst unplausibel und stehen in einem totalen Widerspruch zu dem, was wir normalerweise denken.
Die erste Frage: Wenn es dumm von mir ist, Zeit für etwas aufzuwenden, obwohl ich weiß, dass jemand anders es erledigen wird, wenn ich es nicht tue, dann sollte ich
nur
solche Dinge erledigen, bei denen meine Mitwirkung unerlässlich ist – Dinge, die nicht passieren würden, wenn ich sie nicht erledige. Aber niemand würde sein Berufsleben – oder sein Leben überhaupt – an diesem Grundsatz ausrichten. Nehmen wir an, ich gehe mit meinem Hund am Strand spazieren und sehe eine Person im Meer, die in Not zu sein scheint. Ich bin ein guter Schwimmer, aber es ist noch eine andere Person in der Nähe, die aufgrund ihrer Statur und ihrer Kleidung auch wie ein guter Schwimmer aussieht und gerade aus dem Wasser gekommen ist. Ich gehe davon aus, dass dieser gute Schwimmer auf jeden Fall den Ertrinkenden retten wird, wenn ich es nicht tue. Und nur ich kann dafür sorgen, dass mein Hund nicht wegläuft. Sollte ich bei meinem Hund bleiben oder dem guten Schwimmer helfen, die Person zu retten, die gerade zu ertrinken scheint? Für einen Trittbrettfahrer ist die Antwort klar: Der Ertrinkende wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf jeden Fall gerettet werden. Ich sollte meinen Hund an der Leine halten, weil das niemand sonst tun wird, wenn ich es nicht tue. Es wäre irrational, dem offenbar Ertrinkenden eine höhere Priorität einzuräumen.
[17]
Tatsächlich denkt kaum jemand so. Wir sind vielmehr davon überzeugt, dass es gute Gründe gibt, einen Menschen in Not zu retten, selbst wenn er ohnehin gerettet würde. Die Entscheidung, sich nicht
als Trittbrettfahrer zu verhalten, ist genauso. Es kann vollkommen rational sein, einen Beitrag zu einer kollektiven Aktivität zu leisten, selbst wenn diese Aktivität auch dann stattfinden wird, wenn ich nichts dazu beitrage. Im Büro könnte ich der Arbeit an einem großen Teamprojekt für einen wichtigen Kunden höhere Priorität einräumen, als Kundenrechnungen zu schreiben, selbst wenn ich der Einzige bin, der befugt ist,
Rechnungen auszustellen. Das Projekt ist mir einfach wichtiger, obwohl die Arbeit daran auch ohne mich weitergehen würde. In einer solchen Situation denke ich nicht, es macht keinen Unterschied, ob ich mich engagiere oder nicht
. Ich glaube vielmehr, dass ich in der Tat
einen Unterschied bewirkt habe: Ich habe einen Beitrag dazu geleistet, dass etwas umgesetzt wird. Ich habe meinen kleinen Beitrag zur Arbeit des Teams geleistet.
Das Argument fürs Trittbrettfahren beruht darauf, dass mein Beitrag zu dem einen oder anderen Gemeinschaftsprojekt nur dann einen Unterschied machen kann, wenn die Arbeit liegen bleibt, falls ich keinen
Beitrag leiste. Doch die Geschichte über den Ertrinkenden zeigt, dass wir nicht so denken, zumindest nicht immer. Ich glaube, dass ich einen Unterschied ausmachen kann, selbst wenn sonst andere dafür sorgen würden, dass die Aktivität auch ohne mich stattfindet. Ich bewirke einen Unterschied, weil mein
Beitrag hilft, etwas umzusetzen: Es ist auch meine
Anstrengung, die dazu beiträgt, dass es geschieht, nicht nur die Aktivitäten von anderen. Wenn ich einen Beitrag leiste, bin ich (zusammen mit anderen) für die kollektive Aktivität verantwortlich.
Obama
s Wahlsieg im Jahr 2008 war ein überzeugendes Beispiel für diese Einstellung. Mit seinem berühmten Slogan »You are the change you’ve been waiting for« (»Du bist der Wandel, auf den du gewartet hast«) sprach Obama geschickt das Bedürfnis vieler Wähler an, »ein Teil« der kollektiven Anstrengung zu sein, ihm zum Sieg zu verhelfen – zu helfen, dieses Ziel umzusetzen, selbst wenn es wahrscheinlich auch sonst so gekommen wäre. Damals zeigten die Umfragen zum Wählerverhalten, dass viele der Menschen, die zuerst »weiß ich nicht« angekreuzt hatten, zu Obama-Unterstützern wurden, sobald sich abzeichnete, dass er wahrscheinlich gewinnen würde. Dieser »Mitläufereffekt« wurde auch bei vielen anderen Wahlen beobachtet. Doch er widerspricht dem Denken des Trittbrettfahrers: Wenn ein Kandidat sehr wahrscheinlich gewinnen wird, sodass die eigene Stimme keinen Unterschied für das Wahlergebnis ausmachen wird, warum sollte man sich dann noch die Mühe machen?
Verhalten zu identifizieren, das nicht von der Trittbrettfahrer-Mentalität bestimmt ist, etwa den Mitläufereffekt oder Teamarbeit im Büro, ist das eine – aber vielleicht sind das nur Einzelfälle? Gibt es auch heute noch eine systematische Ablehnung von
Trittbrettfahren, selbst wenn viel auf dem Spiel steht?
Ja, und zwar wegen unserer Einstellung zur Verantwortlichkeit. Es ist ja nicht nur, dass Ertrinkende von respektablen Spaziergängern aus dem Meer gerettet werden; viel beunruhigender für überzeugte Trittbrettfahrer ist, wie wir mit solchen Rettern umgehen. Wir ehren sie und loben sie – vermutlich habe ich Ihnen aus der Seele gesprochen, als ich solche Menschen »respektabel« nannte. Wir sagen
nicht
, dass der Retter kein Lob verdient, weil er nicht für die Rettung verantwortlich war und sein beherztes Eingreifen keinen Unterschied ausmachte, weil irgendjemand anders eingesprungen wäre und den Ertrinkenden gerettet hätte, wenn der Retter sich nicht so heldenmütig gezeigt hätte. Unsere Haltung zu Verantwortlichkeit ist in Bezug auf gravierende Straftaten besonders gut entwickelt: Die Bedeutung von strafrechtlicher Verantwortung ist seit Jahrtausenden öffentlich diskutiert und rechtlich gewürdigt worden, was zu einem einmütigen Konsens geführt hat.
[18]
Unterschiedliche Rechtssysteme gleichen sich insofern, dass von zwei Gangstern, die einen Feind in einer dunklen Sackgasse in die Enge treiben und beide ihre Pistole mit der Absicht auf das Opfer richten, es zu töten, wobei aber nur einer abdrückt, nur derjenige für den Mord verantwortlich ist, der geschossen hat. Wir sagen nicht: »Wenn der eine Gangster nicht geschossen hätte, dann hätte mit Sicherheit der andere abgedrückt. Deswegen hat der erste Gangster keinen Unterschied gemacht; der Mord wäre ohnehin geschehen.« Aber das ist genau die Einstellung zu Verantwortlichkeit, die hinter dem Argument fürs Trittbrettfahren steckt.
Sobald wir diese perverse Einstellung zu Verantwortlichkeit aufgedeckt haben – eine Haltung, die deutlich einschränkt, wie der Beitrag eines Einzelnen einen Unterschied ausmachen kann –, beginnen die Argumente fürs Trittbrettfahren, ebenso pervers auszusehen. In den meisten Lebenslagen schränken wir unsere Anstrengungen, zu Aktivitäten beizutragen, bei denen unser Beitrag für den Erfolg dieser Aktivität absolut entscheidend ist, nicht ein. Doch das Argument fürs Trittbrettfahren besagt, wir würden uns irrational verhalten, wenn wir uns nicht darum bemühen, auf diese Weise unentbehrlich zu sein. Also ist das Argument fürs Trittbrettfahren zumindest wackelig: Häufig ist es nicht irrational, zu einer gemeinsamen Aktivität beizutragen, selbst wenn diese Aktivität
ohnehin stattfinden wird. In der Trittbrettfahrer-Mentalität steckt eine Haltung über das, was es bedeutet, »etwas zu erledigen« oder »dafür zu sorgen, dass etwas passiert« – eine verdeckte Annahme über die Bedeutung von Ursache und Wirkung.
[19]
Was können wir aus alledem schließen?
Einerseits steht die Trittbrettfahrer-Mentalität nicht nur im Widerspruch zu unserem gesunden Menschenverstand, unseren Vorstellungen über Verantwortlichkeit und so weiter, sondern sie ist auch unvereinbar mit den Argumenten von Denkern früherer Generationen, die vor Olso
n kamen, darunter Sokrate
s, Adam Smit
h, David Hum
e, John Stuart Mil
l und Karl Mar
x. Für sie galt: Wenn du von einer kollektiven Aktivität profitierst, ist das allein Grund genug, etwas dazu beizutragen (vorausgesetzt, dein Vorteil aus der kollektiven Aktivität ist größer als die Kosten deines Beitrags). Und es ist bemerkenswert, dass ihre Argumente für einen eigenen Beitrag ausschließlich auf dem Eigeninteresse des Einzelnen beruhen, anstatt von ihm zu erwarten, für das Gemeinwohl Opfer zu bringen.
Andererseits ist die Logik der Trittbrettfahrer-Mentalität nicht wegzudiskutieren. Falls Sie Steuern vermeiden, nicht wählen gehen oder keinen Beitrag dazu leisten, die CO
2
-Emissionen zu reduzieren, sind sie wahrscheinlich noch nicht völlig davon überzeugt worden, das Trittbrettfahren aufzugeben. Warum genau
sollten sie zu einer kollektiven Aktivität etwas beitragen, wenn diese Aktivität auf jeden Fall stattfinden wird?
Einer der Gründe wurde bereits erwähnt: Vielleicht möchten Sie einen Beitrag leisten, weil Sie dabei sein wollen – Sie wollen ein Teil »des Wandels« sein, Sie wollen dazugehören, anstatt nur passiv am Rande zu stehen. Viele Ökonomen spotten über diese Möglichkeit, tun sie ab als den Wunsch nach einem »warmen Gefühl«. Wie so oft machen die Formulierungen, die von Ökonomen verwendet werden, um tugendhaftes Verhalten zu beschreiben, dieses Verhalten auf subtile Art lächerlich. »Warmes Gefühl« unterstellt eine narzisstische Selbstgefälligkeit, eine Ichbezogenheit statt Altruismus, und insinuiert, dass es Ihnen bei einem altruistischen oder politischen Akt letztlich nur um Sie selbst geht. Doch der Wille, etwas dafür zu tun, dass ein gemeinsames Ziel erreicht wird – einen aktiven Beitrag zu leisten –, ergibt nur dann Sinn, wenn Sie sich mit diesem Ziel
um seiner selbst willen identifizieren und es verwirklicht sehen wollen. Der Wunsch nach Erreichen dieses Zieles ist der Grund für Ihren Beitrag; sollte sich dann ein »wohliges Gefühl« einstellen, ist das nur eine Nebenwirkung Ihres Einsatzes. Natürlich kann das Gefühl der Zufriedenheit, das sich einstellen kann, wenn man sich für ein gemeinsames Ziel einsetzt, von den Nachteilen eines möglichen Beitrags überwogen werden. Viele Blutspender empfinden diese Zufriedenheit, das Gefühl, einen Beitrag zu leisten, wenn sie Blut spenden – doch dieses Gefühl ist nicht stark genug, um sie zu motivieren, jedes Mal Blut zu spenden, wenn sie darum gebeten werden, weil es ja auch Zeit und Mühe kostet. Und es gibt erst recht keinen Menschen, der ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit empfindet, wenn er seine Steuern gezahlt hat.
Davon abgesehen gibt es aber auch zwei allgemeinere Gründe, die dafür sprechen, selbst einen Beitrag zu leisten. Der erste ist Ungewissheit. Der Einfachheit halber haben wir bis jetzt angenommen, das gemeinsame Projekt oder die kollektive Aktivität würden auf jeden Fall
stattfinden, ganz unabhängig davon, ob Sie etwas dazu beitragen oder nicht. Doch tatsächlich besteht immer eine gewisse Ungewissheit. Ich kann nie absolut sicher sein, dass andere für mich einspringen werden, wenn ich meinen Beitrag nicht leiste. Selbst wenn ich die besten Absichten habe, gibt es kaum einen hundertprozentig zuverlässigen Kollegen, der auf jeden Fall meinen Part übernehmen würde, falls ich meinen Beitrag nicht leiste. Vielleicht wird die Wahl tatsächlich durch eine einzige Wählerstimme entschieden. Und vielleicht ist die andere Person am Strand – der gute Schwimmer, der gerade an Land gegangen ist – in Wirklichkeit für die Notlage des Ertrinkenden verantwortlich und ich bin zufällig an den Tatort eines Mordversuchs durch Ertrinkenlassen geraten. Zweitens wird es in vielen Situationen, in denen ich versucht bin, mich als Trittbrettfahrer zu verhalten, tatsächlich
einen Unterschied machen, wenn ich das tue: Das Endergebnis wird nicht genau das gleiche sein. Falls ich Steuern hinterziehe, wird der Staat ganz real weniger Steuern einnehmen. Die Differenz mag klein sein, aber sie ist nicht gleich null. Trittbrettfahren macht immer dann einen Unterschied, wenn der Erfolg einer kollektiven Anstrengung oder eines gemeinsamen Projekts sich aus der Summe der individuellen Beiträge ergibt: Je mehr Personen einen Beitrag leisten, desto erfolgreicher wird das Projekt sein.
Wenn ich mir nicht die Mühe mache, meinen Hausmüll zu recyceln oder Blut zu spenden, sondern mich dafür auf andere verlasse, bewirke ich einen kleinen Unterschied für den Erfolg dieser gesellschaftlich wertvollen Aktivitäten. Dennoch herrscht die weitverbreitete Überzeugung, dass mein winziger Beitrag zu einem großen Projekt vernachlässigbar sei und daher ignoriert werden könne.
Diese Punkte mögen wie Kleinigkeiten aussehen, doch ihre Implikationen sind enorm.
Die Klimaveränderung und ich
Ich mache mir Sorgen wegen der Klimaveränderung. Große Sorgen. Aber was kann ich tun? Es ist absurd zu glauben, dass ich dadurch, welch ein Auto ich fahre, wie oft ich fliege, oder ob ich Solarpanele auf dem Dach meines Hauses montiere, irgendeinen Unterschied für das Gesamtbild machen könnte. So ist zum Beispiel Großbritannien insgesamt für nur etwa zwei Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Das Klima wird sich auf jeden Fall verändern, ganz gleich, was wir tun. Und die Größe des Problems ist kaum vorstellbar: Weltweit wurden 2017 insgesamt 170 Tonnen Kohle verbrannt –
pro Sekunde
.
[20]
Das ungeheure Ausmaß des Problems der Klimaveränderung und die vernachlässigbare Wirkung des Verhaltens einzelner Menschen sind zwei Themen, die immer wieder in Fokusgruppen zu allgemeinen Einstellungen auftauchen und von Großkonzernen und Regierungen ins Feld geführt werden.
[21]
Zusammengenommen sind sie wahrscheinlich das größte Hindernis, das radikalen Maßnahmen gegen die Klimaveränderung im Wege steht. Doch wir sollten auf der Hut sein: Wie immer, wenn die Verlockungen des Trittbrettfahrens winken, ist es sehr verführerisch, sich mit der Annahme zu entschuldigen, dass der Beitrag des Einzelnen keinen Unterschied mache.
[22]
Aus den psychologischen Erkenntnissen zur kognitiven Dissonanz wissen wir, dass wir oft auf eine unbequeme Wahrheit reagieren, indem wir in Selbsttäuschung verfallen. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass wir egoistisch sind: Es kann ja durchaus sein, dass ich, wenn ich jetzt eine unbequeme Anstrengung mache oder ein spürbares Opfer bringe, dadurch später viel mehr gewinne. Doch es ist schwierig, ein solches Maß an
Selbstkontrolle zu erreichen. Psychologen haben gezeigt, dass es »salienter« ist – intensiver, lebhafter vor dem geistigen Auge –, sich eine Erfahrung in der Gegenwart vorzustellen, als sich die gleiche Erfahrung in der Zukunft auszumalen. Also macht ein Opfer in der Gegenwart mehr Eindruck auf uns als ein Nutzen in ferner Zukunft. Wenn ich mir einrede, dass mein Beitrag keinen Unterschied macht, kann ich das intensiv empfundene Opfer in der Gegenwart vermeiden.
Es gibt noch andere psychologische Einflüsse, die uns dazu führen, den Unterschied zu unterschätzen, den unsere »vernachlässigbaren« Beiträge ausmachen. Wenn der Kontext eines Beitrags lokal, klein, persönlich oder vorübergehend ist, unterschätzen wir die Wirkung, den er auf eine Entwicklung haben kann, die global, groß, allgemein oder permanent ist, weil die beiden Kontexte kognitiv verschieden sind.
[23]
Das ist der Grund, warum 1883 Thomas Huxle
y, der zu Recht als einer der größten Biologen seiner Zeit gilt, dennoch schreiben konnte: »Wahrscheinlich sind all die großen Fischgründe der Meere unerschöpflich; damit will ich sagen, dass nichts, was wir tun, sich ernsthaft auf die Fischbestände auswirkt.«
[24]
E
r konnte sich einen permanenten Rückgang der Fischbestände einfach nicht vorstellen, in Anbetracht des von ihm beobachteten Umfangs der Fischerei und der vorübergehenden Verluste, die er bewirkte – vorübergehend, weil die Fischbestände sich durch natürliche Vermehrung ständig regenerieren.
Neben solchen unbewussten kognitiven Irrtümern gibt es auch Fehler in unserer bewussten Logik zu der Frage, ob man einen Beitrag zu kollektiven Aktivitäten und Projekten leisten sollte. Nehmen wir an, mein eigener Beitrag ist im Verhältnis zum Umfang eines bestimmten Projekts wirklich vernachlässigbar. Dieser Umstand allein ist nicht genug, um Nichtstun zu rechtfertigen. Mit gemischten Metaphern könnte man sagen: Um meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, muss ich den Kelch weiterreichen können. Denn immerhin macht mein Beitrag ja tatsächlich einen Unterschied aus, sei er auch noch so gering. Um zu rechtfertigen, selbst keinen Beitrag zu leisten, muss ich davon überzeugt sein, dass jemand anders dazu imstande ist, selbst wenn ich keinen nützlichen Unterschied bewirken kann. Im Fall der Klimaveränderung können Konzerne und Regierungen einen Unterschied in einer Größenordnung bewirken, wie ich selbst es
nicht kann.
Dieses Argument ist in Ordnung, so weit es denn reicht – aber es reicht eben nicht sehr weit, und sicherlich nicht weit genug, um Ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Zunächst einmal trägt normalerweise jeder Einzelne eine gewisse Verantwortung für die großen Auswirkungen, die Konzerne und Regierungen herbeiführen. Wenn eine Regierung fossile Energieträger unterstützt und Konzerne solche Brennstoffe bereitstellen, liegt das zum großen Teil daran, dass wir billige Energie wollen, und zwar in großen Mengen. Und allein der Umstand, dass Regierungen und andere mächtige Akteure der Gesellschaft handeln sollten, bedeutet noch lange nicht, dass ich die Hände in den Schoß legen kann.
Um es noch einmal zu wiederholen: Kleine Beiträge sind zwar klein, aber nicht gleich null. Wenn ich für Hilfsmaßnahmen bei einer Hungersnot spende und mein Beitrag die Nahrungsmittel bezahlen kann, die einem einzigen Kind das Leben retten, ist diese Spende zweifellos ein lohnender Beitrag. Und er lohnt sich auch dann noch, wenn trotzdem zahlreiche Menschen verhungern, deren Leben durch mehr Spenden von mir oder anderen hätten gerettet werden können.
[25]
Hier gibt es sowohl eine psychologische Dimension als auch eine moralische. Wenn wir uns zu sehr auf die Enormität der Gesamtaufgabe fixieren, verlieren wir aus den Augen, dass auch die Erledigung eines Teils dieser Aufgabe einen Wert hat, selbst wenn es nur ein kleiner Teil ist. Um diesen »Ankereffekt« zu überwinden, müssen wir die Aufgabe aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Es lohnt sich, selbst ein einziges Leben zu retten; und es lohnt sich genauso, in meinem Haushalt, meiner Stadt, meinem Land die
CO
2
-Emissionen zu reduzieren. Die Gesamtaufgabe ist nichts anderes als die Summe solcher kleineren Beiträge und ohne sie nicht zu schaffen.
Ein anderes Problem mit unserer Fixierung auf die Enormität der Gesamtaufgabe besteht darin, dass wir die bereits von anderen gemachten Beiträge übersehen – Beiträge, welche die noch verbleibende Aufgabe verkleinern, wodurch mein individueller Beitrag signifikanter wird. Meine Einschätzung, dass mein Beitrag vernachlässigbar sei, basiert in vielen Fällen auf der Annahme, dass niemand sonst einen Beitrag leistet. Auch Regierungen und Großkonzerne nehmen das häufig an, sei es aufgrund von Selbsttäuschung oder weil sie gezielt eine Rechtfertigung suchen, nichts tun zu müssen. In Großbritannien entfallen
auf den Flugverkehr etwa sechs Prozent der Gesamtemissionen des Landes – eine Zahl, die immer wieder von Lobbyisten der Luftfahrtbranche ins Feld geführt wird, um ihren Standpunkt zu untermauern, dass der Beitrag der Branche relativ gering sei und deswegen keine staatlichen Interventionen rechtfertige. Allerdings ist durch die Anstrengungen in anderen Bereichen der Wirtschaft, grüne Technologien einzusetzen und den Konsum zu reduzieren, zu erwarten, dass der Anteil des Flugverkehrs bis 2050 auf etwa 21 Prozent steigen wird. Der Anteil der Emissionen durch den Flugverkehr ist nur deswegen vernachlässigbar, weil diese Anstrengungen ignoriert werden. Und das ist noch nicht alles: Der Schätzwert von 21 Prozent basiert auf »business as usual«. Er beruht auf der Annahme, dass die Emissionsreduzierungen in anderen Bereichen der Wirtschaft einfach weiterhin dem jetzigen Trend folgen werden. Wenn wir stattdessen annehmen, dass diese anderen Emissionen sich eher so entwickeln werden wie sie sollten
(gemäß dem offiziellen CO
2
-Budget Großbritanniens), dann würde der Emissionsanteil des Flugverkehrs bis 2050 auf einen Anteil von 50 bis 100 Prozent steigen.
Und schließlich ist am wichtigsten, dass wir bis jetzt nur die direkten Auswirkungen individueller Beiträge in Betracht gezogen haben, obwohl normalerweise auch indirekte Effekte entstehen. Wir haben gesehen, wie Buchana
n und andere Anhänger der Public Choice Theory gerätselt haben, warum rationale Menschen sich die Mühe machen, wählen zu gehen, obwohl doch die einzelne Wählerstimme in vielen Wahlsystemen sich nicht direkt darauf auswirkt, welcher Kandidat die Wahl gewinnt – es sei denn, die Wahl wird durch eine einzige Stimme entschieden, was extrem unwahrscheinlich ist. Doch dieses sogenannte »Wahlparadox« ist in Wahrheit überhaupt kein Paradox. Ich gehe wählen, weil meine Stimme die indirekte Wirkung hat, das Mandat des von mir bevorzugten Kandidaten zu stärken. Je mehr Stimmen für ihn abgegeben werden, desto größer ist die Unterstützung für seine Politik, auf die er sich nach der Wahl berufen kann; in einer Demokratie sollte das die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass diese Politik dann auch tatsächlich praktisch umgesetzt wird. Ganz ähnlich ist es, wenn ich Solarpanele auf dem Dach meines Hauses montiere – die indirekte Wirkung kann wichtiger sein als die damit direkt erreichte Reduzierung der CO
2
-Emissionen: Mein Beispiel könnte Freunde und Nachbarn dazu anregen, ebenfalls Solarpanele zu installieren. Und das könnte dazu beitragen, die Nachfrage am Markt für Solarpanele zu steigern, sodass eher das Produktionsvolumen erreicht wird, bei dem Skaleneffekte einsetzen und die Panele billiger werden. Es zeigt die Bereitschaft von Bürgern, im Voraus hohe Kosten zu tragen, um erneuerbare Energie zu produzieren, was wiederum die Ansichten von Politikern über die Unterstützung für erneuerbare Energien in der Bevölkerung verändern könnte. Zu solchen indirekten Wirkungen kommt es in vielerlei Kontexten. Mein individueller Beitrag kann in vielen Fällen andere beeinflussen, die Marktnachfrage ankurbeln oder die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Unterstützung aufseiten von Politikern verändern – und solche indirekten Effekte können ausschlaggebend sein für interkulturelle, wirtschaftliche oder politische »tipping points«, die wiederum größere Veränderungen auslösen. Ein solcher Kipppunkt kann sowohl politische und gesellschaftliche als auch wirtschaftliche Wirkungen nach sich ziehen. Sobald nur genügend Menschen ihren kleinen Beitrag leisten – etwa durch gewissenhaftes Trennen von Hausmüll oder Installieren von Solarpanelen –, wird dieses Verhalten »normal«, anstatt nur als eine etwas verschrobene Idee des grünen Vorkämpfers in der Nachbarschaft wahrgenommen zu werden.
Selbst wenn die Argumente für Trittbrettfahren indirekte Wirkungen berücksichtigen, setzen sie voraus, dass wir deren Ausmaß kennen und wissen, wann der Kipppunkt erreicht wird, sodass die Wahrscheinlichkeit, dass diese Schwelle gerade durch Ihren Beitrag überschritten wird, berechnet werden kann. Doch in Wirklichkeit sind normalerweise all diese Randbedingungen unbekannt. Häufig manifestieren sich Kipppunkte völlig unerwartet, sodass ihre Existenz erst nachträglich erkennbar wird.
Das Ergebnis all dieser Möglichkeiten ist, dass die Gesamtwirkung Ihres Beitrags zu einer kollektiven Anstrengung in vielen Fällen signifikant sein kann, da Sie die Einstellungen und das Verhalten von anderen beeinflussen kann. Dass wir das anders sehen, geht zum großen Teil auf den Einfluss von Ökonomen zurück – nicht nur auf ihre Darstellung von Trittbrettfahren als »cleverem« Verhalten, sondern auch auf ihre Weltanschauung, die vom »Physikneid« geprägt ist: Jeder Mensch sei wie ein Atom, das vernachlässigbare
Wirkung hat auf das System, von dem es umgeben ist. Doch zum Teil liegt die Verantwortung auch bei uns selbst, da der Glaube, dass jeder von uns einen vernachlässigbaren Einfluss auf die Außenwelt hat, nur die Kehrseite unserer hochgeschätzten Überzeugung ist, dass andere
keinen Einfluss auf uns
haben. Die meisten von uns pflegen – sei es bewusst oder unbewusst – eine wie auch immer geartete Illusion von Souveränität: Wir bilden uns ein, völlig autonom zu sein, obwohl die dagegensprechenden Belege überwältigend sind. Der Mensch ist ein zutiefst soziales Wesen und seine Überzeugungen und sein Verhalten werden stark davon beeinflusst, dass er andere Menschen beobachtet und von ihnen lernt.
Die dunkle Seite dieser Illusion von Souveränität ist der Glaube, dass ich andere nicht beeinflussen könne, da auch sie souveräne Entscheider seien. Diese Vorstellung in Verbindung mit der Überzeugung, dass individuelle Beiträge vernachlässigbar sind, bildet das Fundament des Individualismus, der impliziert, ich könne sämtliche gesamtgesellschaftlichen Folgen meines Handelns vergessen und mich ausschließlich auf meine eigenen Interessen konzentrieren. Ich könne ungestraft nach Belieben handeln, da mein Verhalten keinen Unterschied für die Gesellschaft ausmache. Wenn jedoch mein Verhalten tatsächlich keinen Unterschied bewirken würde, dann hätte ich auch nicht die Macht, gesellschaftliche Veränderungen zu beeinflussen. Der Glaube, dass Ihr Beitrag vernachlässigbar sei, legitimiert nicht nur Trittbrettfahren, sondern befördert darüber hinaus eine fatalistische Sicht der Welt, nach der jeglicher individuelle Einsatz, um gesellschaftliche oder politische Veränderungen herbeizuführen, sinnlos sei. Mächtige Menschen, die uns andere davon abhalten wollen, den Status quo infrage zu stellen, haben gute Gründe, die Überzeugung zu fördern, dass Sie keinen Unterschied bewirken können.
Sandhaufen, harmlose Folterknechte und zögerliche Politiker
Machen Sie einmal folgendes Experiment. Nehmen Sie ein leeres Blatt Papier und häufen Sie eine kleine Prise Sand darauf, vielleicht so viel, wie sie mit zwei Fingerspitzen aufnehmen können. Dann
häufen Sie noch einmal ungefähr die gleiche Menge Sand obendrauf. Haben Sie schon einen Haufen? Noch nicht. Häufen Sie immer mehr Sand auf, eine Prise nach der anderen. Haben Sie jetzt einen Haufen? Wahrscheinlich immer noch nicht, da eine Prise Sand nicht genug ist, um aus einem Nichthaufen einen Haufen zu machen. Wenn Sie nicht sowieso schon einen Haufen haben, macht eine weitere Prise keinen Unterschied. Leider ist diese Feststellung immer richtig: Eine weitere Prise ist nie genug, um einen Unterschied auszumachen, also können Sie auf diese Art nie einen Haufen zusammenbekommen. Aber wenn Sie ein paar Stunden so weitermachen und immer mehr Sand dazutun, werden Sie doch sicherlich einen Haufen haben? Diverse Philosophen haben sich über dieses Paradoxon den Kopf zerbrochen, seit die Denker der griechischen Antike es zuerst beschrieben haben; sie nennen es die Sorites-Paradoxie, nach dem altgriechischen Wort für »Haufen«. Für die Paradoxie des Haufens gibt es keine einfache Lösung.
[26]
Das Problem liegt im Wesen der Bedeutung des Wortes »Haufen«. Es scheint keine klare Schwelle zwischen einem Nichthaufen und einem Haufen zu geben, die mit einer Prise Sand überschritten werden könnte. Vielmehr scheint es eine vage umrissene Menge von Sandhaufen zu geben, die mehr oder weniger groß genug sind, um als Haufen durchzugehen.
Solcherlei Vagheiten kommen sehr häufig vor. Wenn einem Mann nach und nach die Haare ausgehen, macht das einzelne verlorene Haar keinen Unterschied aus, der groß genug wäre, um ihn zu einem Glatzkopf zu machen – aber wie kommt er dann zu seiner Glatze? Damit sind die Argumente für Trittbrettfahren und falsche Ideen über Vernachlässigbarkeit widerlegt: Der individuelle Beitrag scheint keinen Unterschied zu machen, doch zusammengenommen führen sie eine signifikante Veränderung herbei. Dieses Argument gegen Trittbrettfahren ist so wichtig, dass es sich lohnt, noch ein Gedankenexperiment durchzuspielen, bei dem es darum geht, wie kleine Aktionen von verschiedenen Menschen insgesamt einen großen Unterschied bewirken können – das
Rätsel der harmlosen Folterknechte
.
[27]
In schlechten alten Zeiten gab es einmal 1000 Folterknechte, von denen jeder ein anderes Opfer hatte. Jeder Folterknecht drückt 1000-mal auf den Knopf eines Folterapparats. Sein Opfer kann den zusätzlichen Schmerz durch einen einzelnen Knopfdruck nicht wahrnehmen,
aber die kumulierte Wirkung von 1000 Knopfdrücken erzeugt bei ihm entsetzliche Schmerzen. Jedes Opfer leidet auf die gleiche Weise, durch separate, aber baugleiche Foltergeräte.
Aber dann kommen den Folterern moralische Skrupel. Sie ändern ihre Arbeitsweise: Jeder der Folterknechte drückt den Knopf eines Folterapparats nur ein einziges Mal, dafür aber bei jeder der 1000 Maschinen. Die Opfer erleiden den gleichen grauenhaften Schmerz, aber keiner der Folterer verschlimmert den Schmerz eines einzelnen Opfers merklich, sodass er ruhig schlafen kann – zufrieden mit sich, weil er ein harmloser Folterer ist.
Solche Gedankenexperimente sind interessante Rätsel, aber kaum geeignet, um uns bei Entscheidungen im realen Leben zu helfen. Doch das Rätsel der harmlosen Folterknechte
könnte eine Ausnahme sein. Man kann sagen, dass es zu einer ziemlich seltenen Entwicklung geführt hat: einem Fortschritt der Moralphilosophie. Die meisten Philosophen sind heute davon überzeugt, dass eine Serie von vernachlässigbaren Schädigungen sich zu einem beträchtlichen Schaden kumulieren kann, selbst wenn jede einzelne Schädigung überhaupt nicht erkennbar ist
. Das Gleiche gilt für nützliche Handlungen. Diese erstaunliche Schlussfolgerung geht uns alle an, weil – wie wir an den Beispielen Klimaveränderung und Fischbestände gesehen haben – viele Konstellationen in der wirklichen Welt ähnlich strukturiert sind. Stellen Sie sich ein großes Gebiet vor, das sie als »unberührt« wahrnehmen – vielleicht ein Naturschutzgebiet. Nach und nach wird das Reservat entwickelt, hier und da wird ein umweltverträgliches Ökohaus gebaut und werden ein paar kleine Zugangsstraßen gelegt. Ganz allmählich kommen immer mehr Häuser und Straßen dazu. Irgendwann ist es dann so weit, dass die meisten Besucher das Naturschutzgebiet für »ruiniert« halten – aber wann genau ist das passiert? Wie viel Entwicklung ist möglich, ohne das Reservat zu ruinieren?
Das Rätsel der harmlosen Folterknechte und die Sorites-Paradoxie zeigen uns, dass dies schwierige Fragen sind. Das Naturschutzgebiet ist am Ende wirklich ruiniert, das ist mitnichten eine optische Täuschung. Das Problem liegt in der Vagheit von Konzepten wie »ruiniert«, die es Entwicklern ermöglicht, sich auf den Standpunkt zu stellen, dass kleine Entwicklungsmaßnahmen keinen Unterschied bewirken. Und in anderen Zusammenhängen können
Trittbrettfahrer auf Vagheit verweisen, um ihre Behauptung zu rechtfertigen, dass individuelle Beiträge keinen Unterschied ausmachen.
Doch jeder grob vereinfachende Versuch, vage Konzepte zu präzisieren, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Problem ist ja nicht nur, dass niemand die Macht hat, sich in unseren Gebrauch von Umgangssprache einzumischen, sondern dass die Vagheit ein Teil des Konzepts ist. Ein »Haufen« ist
nun einmal ein vages Ding – es wäre absurd, stattdessen anzunehmen, dass es eine klare Schwelle gibt, eine präzise Anzahl von Sandkörnern, durch die sich ein Nichthaufen von einem Haufen unterscheidet. Doch genau dieses absurde Einführen von klar definierten Grenzwerten ist das, was die Trittbrettfahrer-Mentalität von uns fordert.
Um die Gründe dafür zu erkennen, wollen wir noch einmal zu dem offensichtlichen Einwand gegen Trittbrettfahren zurückkehren: Was wäre, wenn alle sich so verhielten? Nach der Analyse von Mancur Olso
n müssen drei Fälle in Betracht gezogen werden. Die ersten beiden sind ganz einfach: (1) Wenn jeder trittbrettfährt, wird das gemeinsame Projekt nicht stattfinden, also macht es keinen Unterschied aus, wenn ich keinen Beitrag leiste. (2) Wenn außer mir niemand trittbrettfährt,
wird
das gemeinsame Projekt stattfinden, also macht es wieder keinen Unterschied aus, wenn ich keinen Beitrag leiste. In beiden Fällen ziehe ich den Schluss, dass ich trittbrettfahren sollte.
[28]
Aber was ist mit dem dazwischenliegenden Fall (3): Einige Leute verhalten sich als Trittbrettfahrer und andere leisten einen Beitrag? Dann sollte ich laut Olso
n nur dann trittbrettfahren, wenn die anderen genug zu dem Projekt beitragen, dass es auch ohne meinen Beitrag stattfinden kann.
[29]
Das Problem ist hier nicht nur die offensichtliche Frage – wie viel ist »genug«? –, sondern vor allem die Annahme, dass es eine Antwort auf diese Frage gibt. Olso
n geht in seiner Analyse davon aus, dass es einen Grenzwert oder Kipppunkt gibt
, jenseits dessen so viele Menschen zu dem Projekt beitragen, dass es stattfinden kann. Aber das wirkliche Leben ist nicht so. Das gemeinsame Projekt oder Ziel kann über immanent vage Konzepte definiert sein, etwa das Ziel, die Unberührtheit eines Naturschutzgebiets zu bewahren. Und selbst wenn das Ziel grundsätzlich genau definiert werden kann, kann es in der Praxis unmöglich sein zu erkennen, wo die Schwelle oder
der Kipppunkt liegt. Eine der großen Schwierigkeiten bei Verhandlungen über globale Vereinbarungen zu wirkungsvollen Maßnahmen gegen die Klimaveränderung ist die Uneinigkeit darüber, wie viel Klimaveränderung toleriert werden kann, und schon im Vorfeld, wie das Ausmaß der Veränderung definiert und gemessen werden soll. Vor diesem Hintergrund ist Trittbrettfahren besonders verlockend, weil es keinen Kipppunkt gibt, der eine drastische Veränderung des Klimas auslösen würde und über den man beunruhigt sein müsste. Oder vielmehr, falls ein solcher Kipppunkt existiert, ist es ungewiss oder umstritten, wo er liegt. Und diese Art von Ungewissheit kann sogar unter solchen Umständen entstehen – etwa bei einer Wahl –, bei denen der Kipppunkt völlig klar zu sein scheint.
In Großbritannien begann mit dem Great Reform Act of 1832 der politische Prozess, das Wahlrecht auf alle Bürger auszuweiten. Obwohl seine Wirkungen bescheiden waren – selbst nach Verabschiedung dieses Gesetzes durfte nur ein Sechstel der erwachsenen Männer (und keine Frau) an Wahlen teilnehmen –, wurde das Gesetz erst verabschiedet, nachdem das Land durch massive politische Unruhen praktisch unregierbar geworden war. Überall in England kam es zu Aufständen, und in Bristol herrschte drei Tage lang der Mob. Durch die Unruhen kam es zu einem Ansturm auf die Banken: Bei der Bank of England wurden 1,5 Millionen Pfund (das entspricht heute etwa 160 Millionen Pfund) abgehoben. In dieser aufgeheizten Atmosphäre wurde diese außerordentlich wichtige Abstimmung im Parlament mit einer Mehrheit von nur einer einzigen Stimme gewonnen. Diese entscheidende Stimme wurde von John Calcraf
t abgegeben, der sich leidenschaftlich gegen eine Reform des Wahlrechts ausgesprochen, dann jedoch in letzter Minute seine Meinung geändert hatte. Angesichts der hochkochenden Gefühle auf beiden Seiten kam das nicht gut an: »Sechs Monate später nahm e
r sich das Leben, da er zu Recht annahm, von beiden Seiten gleichermaßen gehasst zu werden.«
[30]
Wie wir gesehen haben, impliziert die Trittbrettfahrer-Mentalität, dass es sich nur lohnt, wählen zu gehen, wenn Ihre Stimme wahlentscheidend ist – wenn also das Wahlergebnis von einer einzigen Stimme abhängt. Bei Wahlen gibt
es einen präzisen Grenzwert, sodass die Trittbrettfahrer-Mentalität im Prinzip Sinn
ergibt. Wenn Ihre Stimme nicht dazu führt, dass dieser Grenzwert überschritten wird – wenn Sie sicher sind, dass eine Seite mit einer komfortablen Mehrheit gewinnen wird –, dann scheint es keinen Sinn zu haben, wählen zu gehen. Zumindest im Hinblick auf ihre direkte Wirkung wird ihre Stimme dann tatsächlich nicht den geringsten Unterschied für das Wahlergebnis ausmachen.
Doch in der Praxis ist die Trittbrettfahrer-Mentalität hier mit dem gleichen Problem konfrontiert wie beim Beispiel der Klimaveränderung: die Schwierigkeit, den Grenzwert zu ermitteln. Selbst in dem extrem seltenen Fall, dass Ihre Stimme tatsächlich die entscheidende ist, wird Ihre Entscheidung von Menschen wie John Calcraf
t infrage gestellt, die im letzten Moment ihre Meinung ändern. Zwar könnte es wie ein großartiger Powertrip erscheinen, die entscheidende Stimme abzugeben, doch Calcraft
s klägliches Ende ermahnt uns, dass die meisten Menschen nicht in eine solche Lage geraten wollen. Nehmen wir an, Obam
a wäre mit nur einer Stimme Mehrheit zum Präsidenten gewählt worden: Würden Sie dann wollen, dass die Republikaner erfahren, dass Sie diejenige Person sind, die ihn gewählt hat? Dass knappste Ergebnis bei
US
-Wahlen in jüngerer Vergangenheit kam im Jahr 2000 in Florida zustande; auch dabei war ein klarer Grenzwert für das Wahlergebnis nur schwer auszumachen, da zahlreiche »hanging chads« (Stanzreste, die in durch Wahlmaschinen unsauber gestanzten Löchern in Stimmkarten festhängen) das Wahlergebnis vernebelten. Auch in Großbritannien ist das Verfahren zur Neuauszählung von Wahlen nicht klarer: Es wird so lange neu ausgezählt, bis eine der Seiten aus Verzweiflung oder Erschöpfung aufgibt. Bei den Parlamentswahlen von 1997 gewann Mark Oate
n den Sitz des Abgeordneten von Winchester mit einer Mehrheit von nur zwei Stimmen, nachdem mehrere Male neu ausgezählt worden war. Nach einer Klage des Gegenkandidaten wurde das Wahlergebnis durch ein Gericht für ungültig erklärt, sodass die Wahl wiederholt werden musste. Oate
n gewann auch dieses Mal, allerdings mit einer Mehrheit von 20 000 Stimmen.
14
Die Erfahrungen aus Wahlen mit sehr knappem Ergebnis bestätigen also, dass selbst theoretisch klar definierte Grenzwerte in der Praxis schwer zu ermitteln sein können – ein Grund mehr, warum es unklug ist, sich aufgrund von Trittbrettfahrer-Argumenten zu entscheiden, ob man wählen will oder nicht.
[31]
Aber selbst in Fällen, wo ein klarer Grenzwert ermittelt werden kann, bringt die Trittbrettfahrer-Mentalität ein weiteres Problem mit sich. Sie impliziert, dass ich nur einen Beitrag leisten sollte, wenn wir gerade noch unterhalb des Grenzwerts sind – also nur dann, wenn mein Beitrag die Gesamtheit aller Beiträge über die Schwelle heben kann. Leider würde das, wenn alle so denken, zu einem riesigen »Game of Chicken« (Feiglingsspiel) führen: Jeder versucht bis zum allerletzten Moment, nichts beizutragen, in der Hoffnung, keinen Beitrag leisten zu müssen. Wenn aber nur eine Person sich verrechnet, scheitert das gemeinsame Projekt und alle verlieren. In den meisten Kontexten ist das eine unverantwortlich riskante Art zu leben. Und es führt zu einer hochgradig instabilen Gesellschaft.
Der Aufstieg der Trittbrettfahrer-Mentalität ist keine geradlinige Geschichte über eine verrückte Idee, die Chaos anrichtet. Oder über eine vernünftige Idee, die so lange verzerrt und deformiert wurde, dass sie inzwischen mehr Schaden anrichtet als Gutes bewirkt. Vielmehr hat es eine kleine, aber profunde Veränderung unserer Einstellung zu der Frage gegeben, wie wir, als Einzelne, »einen Unterschied machen« können oder nicht – eine Veränderung, die so subtil ist, dass tiefschürfende intellektuelle Ausgrabungsarbeiten notwendig wurden, um sie aufzudecken, obwohl ihre Auswirkungen inzwischen überall zu sehen sind.
Noch vor wenigen Jahrzehnten waren es die Trittbrettfahrer, nicht die Engagierten, die als »irrational« gegolten hätten. Laut Sokrate
s und Adam Smit
h (und anderen Denkern) weicht die Trittbrettfahrer-Mentalität in vielerlei Hinsicht von einer klugen Lebenseinstellung ab: Kleine Beiträge sind wichtig, auch die indirekten Wirkungen unserer Beiträge sind wichtig, und die Menschen verdienen Anerkennung (oder Missbilligung), wenn sie sich dafür engagieren, dass etwas geschieht, selbst wenn es auch ohne sie geschehen würde. Die Trittbrettfahrer-Mentalität beruht darauf, eine Schwelle von »genügend« Beiträgen durch andere zu bestimmen, was selbst im Grundsatz unmöglich sein kann und in der Praxis fast immer riskant ist. Und schließlich sollten wir auch für die Möglichkeit offen sein, dass Menschen sich selbstlos verhalten statt selbstsüchtig. Im Laufe seines Berufslebens hat Mancur Olso
n immer wieder kostenlos seine Zeit zur Verfügung gestellt und zu akademischen Gemeinschaftsprojekten
beigetragen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, anstatt sich als Trittbrettfahrer zu verhalten. All diese Überlegungen deuten auf einen hoffnungslos komplexen Ansatz zur Entscheidungsfindung hin, doch es gibt eine einfache Faustregel, nach der sogar selbstsüchtige Menschen leben können, eine Regel, die meistens die richtige Antwort liefert: Leisten Sie einen Beitrag, wenn Ihrer Einschätzung nach Ihr langfristiger Nutzen aus der gemeinschaftlichen Anstrengung mindestens ebenso groß ist wie die Kosten Ihres Beitrags. Durch Trittbrettfahrer-Mentalität wurde eine bestimmte Art von unnötigem Strategiedenken ins moderne Leben hineingetragen. Wir alle werden besser fahren, je schneller wir die antike Weisheit wieder für uns entdecken, dass Kooperation in der Regel besser ist als Trittbrettfahren.