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Die Ökonomik von allem
Was glauben Sie, wie reiche Menschen einen Themenpark besuchen? Auch deren Kinder wollen Disney World sehen, wie alle anderen, doch es ist schwer vorstellbar, dass die globale Elite – oder ihre Sprösslinge – stundenlang vor einem Fahrgeschäft Schlange stehen. Eine der Antworten ist, dass Disney Ihnen für 500 Dollar pro Stunde einen »
VIP
-Fremdenführer« zur Verfügung stellt, der Sie für bestimmte Attraktionen, die Sie im Voraus gebucht haben, an den Anfang der Warteschlange eskortiert. Doch vor Kurzem ist eine andere Lösung aufgetaucht, die sowohl billiger als auch flexibler ist. Für 130 Dollar pro Stunde stellt DreamTours Florida Ihnen einen inoffiziellen körperbehinderten Führer zur Seite, der sich als Mitglied Ihrer Familie ausgibt, sodass Sie mit ihm an der Warteschlange vorbeigehen können, da Behinderte sich nicht anstellen müssen. Eine Mutter aus Manhattan hat geprahlt: »Sie haben mich, meinen Mann und unsere beiden Kinder in einem motorisierten Skooter mit einem Behindertenschild durch den Park gefahren. Um die ‹It’s a Small World›-Themenfahrt zu machen, haben wir keine Minute warten müssen, die anderen Kinder über zwei Stunden. So läuft das, wenn die Elite Disney World besucht.«
[1]
Das sogenannte »queue-jumping« (»Vordrängeln«) ist eine schnell wachsende Branche. In den
USA
können Sie heute die Agentur LineStanding.com dafür bezahlen, eine Person zu engagieren (häufig sind es Obdachlose), die sich für Sie in einer Warteschlange anstellt. Die Lobbyisten großer Konzerne machen ausgiebig Gebrauch von solchen Dienstleistungen. Sie zahlen für jemanden, der sich an ihrer Stelle in der Warteschlange für Kongressanhörungen oder Sitzungen des Supreme Court anstellt, sodass der Lobbyist dann, kurz bevor die Sitzung beginnt, direkt hineingehen kann. Im November 2016 bildeten sich in ganz Indien vor den Banken lange Warteschlangen von Menschen, die möglichst schnell ihre großen Geldscheine in kleinere umtauschen wollten, bevor sie nicht mehr als gesetzliches Zahlungsmittel gültig waren; Reiche bezahlten Arme dafür, sich an ihrer Stelle anzustellen.
Früher war es gesellschaftlich verpönt oder gar illegal, mit seinem Platz in einer Warteschlange oder -liste Handel zu treiben. Ein chinesischer Teenager (den seine Freunde »Little Zhen
g« nannten) verkaufte eine seiner Nieren, um sich von dem Erlös ein iPad leisten zu können. Häftlinge in manchen
US
-Gefängnissen zahlen dafür, in einen besser ausgestatteten Zellentyp verlegt zu werden. Unternehmen schließen routinemäßig Lebensversicherungen für ihre Angestellten ab und verkaufen dann die Policen an Investoren: Es gibt einen milliardenschweren Markt für solche Wetten auf den Tod eines Menschen, die ursprünglich als »dead peasant insurance« (»Toter-Bauer-Lebensversicherung«) bekannt waren.
[2]
Viele von uns lehnen diese Art von Geschäftemacherei ab – aber was genau stört uns eigentlich daran? Die Empörung der Medien über Little Zhen
gs Verkauf einer Niere hatte wohl hauptsächlich damit zu tun, dass er mit dem Erlös ein iPad gekauft hat. (Vermutlich hätte man nichts daran auszusetzen gehabt, wenn e
r damit eine Behandlung seiner Schwester im Krankenhaus bezahlt hätte.) Ein Markt für Nieren oder andere menschlichen Organe mag geschmacklos sein, aber wenn er die Verfügbarkeit von Organen verbessert, kann er wahrscheinlich Menschenleben retten. Viele Akademiker zeigen sich entsetzt über die Idee, dass reichere Studienanfänger sich den Weg an eine Eliteuniversität mit Geld ebnen könnten. Doch eine einfache Verteilung von Studienplätzen an Eliteuniversitäten könnte dazu beitragen, sie auch für ehrgeizige, aber arme Studenten zugänglich zu machen, die eine solche Chance sehr zu schätzen wissen. Dennoch sind sich die meisten von uns darüber einig, dass mit bestimmten
Dingen kein Handel getrieben werden sollte. Doch sobald wir über etwas nachdenken, das auf dieser Liste stehen könnte, scheint es gute Gründe zu geben, warum es letztlich doch für den freien Markt zugelassen werden sollte.
In der guten alten Zeit war es anders, so sagt man. Doch die historische Entwicklung ist keineswegs nur ein einfacher Trend dahingehend, dass alles käuflich sein sollte. Der lebhafte Handel mit Kinderarbeit im viktorianischen England ist inzwischen dankenswerterweise zu einem Geschäft geworden, das in den meisten modernen Gesellschaften tabu ist. Was das Leben im 21. Jahrhundert von allen früheren Epochen unterscheidet, ist allerdings nicht, dass heute »mehr« Dinge auf Märkten gehandelt würden (Was heißt denn das? Wie
würde das zahlenmäßig erfasst werden?), sondern ein Wandel in unserem Denken: unsere wachsende Bereitschaft, ökonomisches Denken auf sämtliche Aspekte des Lebens anzuwenden. Die Argumente, mit denen heutzutage Märkte für Kunstwerke, Bildung, Nieren, Fortpflanzung, Vordrängeln und vieles andere gefordert werden, waren noch in den 1960er-Jahren gänzlich unbekannt.
Dieser Wandel ist nicht durch Zufall entstanden. Ab Ende der 1950er-Jahre begann eine Handvoll Ökonomen, ökonomische Analyseverfahren auf Lebensbereiche anzuwenden, die zuvor außerhalb der Domäne der Wirtschaftswissenschaften gelegen hatten. Die Tür zu dieser enormen Erweiterung des Anwendungsgebiets der Ökonomik wurde aufgestoßen von Spieltheoretikern wie John von Neuman
n und Oskar Morgenster
n sowie erklärten Wirtschaftsmathematikern wie Kenneth Arro
w. Im Rahmen ihrer Arbeit war der Mensch lediglich ein Einzweckroboter, der ständig rechnet, um seinen »Gewinn« (in der Spieltheorie) oder die »Befriedigung seiner Präferenzen« (bei Arro
w und in weiten Teilen der Wirtschaftsmathematik) zu maximieren. Ausgehend von diesem erstaunlich eingeschränkten Modell des menschlichen Wesens gibt es keinen Grund, sein Interesse auf die herkömmliche Domäne der Wirtschaftswissenschaften – Produktion und Konsum von Dingen – zu beschränken. Wenn der Mensch nicht mehr und nicht weniger als ein maximierender Roboter ist, kann sein maximierendes Verhalten in anderen Lebensbereichen ebenso gut untersucht werden. Dies war eine Erweiterung des ökonomischen Denkens, die völlig im Einklang stand mit von Neumann
s Traum, eine allumfassende Wissenschaft der Gesellschaft zu begründen.
Gary Becke
r, ein Ökonom der Chicagoer Schule, war der Pionier und Vordenker dieses neuen Abenteuers, die Domäne der Wirtschaftswissenschaften zu erweitern. Zuerst wurden Becker
s Anstrengungen ins Lächerliche gezogen. Als er zum ersten Mal von Kindern als »langlebigen Konsumgütern« sprach, lachte sein Publikum, das aus Ökonomen bestand, laut auf. Später verhöhnten Kritiker die Kolonisierung unseres sonstigen Lebens durch ökonomisches Denken als ökonomischen Imperialismus
, doch dieser Schuss ging nach hinten los, da diese spöttisch-abfällige Bezeichnung von Becke
r und seinem Gefolge wohlgemut als Beschreibung ihres Projekts übernommen wurde. Bis zu der Zeit, als Becke
r 1992 den
Wirtschaftsnobelpreis gewann, waren viele seiner Ideen zum Bestandteil des ökonomischen Mainstream-Denkens geworden und hatten begonnen, sich in unserem Alltag auszubreiten. Becke
r führte und diverse Regierungen folgten. Im Jahr 1987 verursachte Becker
s Vorschlag, das Recht, in ein Land einzuwandern, an den Höchstbietenden zu versteigern, einen Aufschrei. Heute ist diese Idee nicht mehr schockierend, sondern bestimmt die Einwanderungspolitik der USA
und vieler EU
-Länder: Jeder kann einwandern, wenn er im Zielland genug Vermögenswerte erwirbt. Im Jahr 2019 konnten Sie durch den Kauf von britischen Anleihen oder Aktien im Wert von mindestens zwei Millionen Pfund das Recht erwerben, in Großbritannien zu leben. Wenn Sie weitere drei Millionen Pfund anlegen, können Sie die Wartezeit auf eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung verkürzen (und sobald Sie die haben, können Sie den Kuchen behalten und ihn trotzdem essen, indem Sie diese Vermögenswerte wieder verkaufen und so die fünf Millionen Pfund zurückbekommen).
Vielen Menschen über 40, die sich noch entfernt an den »Nanny State« (»Bevormundungsstaat«) erinnern können, erscheint der freie Markt nach wie vor als eine aufregende Freiheit, eine Art Wahlmaschine: Er gibt uns, was wir wollen, und umso mehr davon, je mehr wir auszugeben bereit sind. Aber wo sollten wir die Grenze für unser ökonomisches Denken ziehen? Auf globaler Ebene geben wir mehr Geld für Antifaltenmittel aus als für Medikamente gegen Malaria. Bedeutet das, dass Antifaltenmittel wertvoller sind? Wenn wirkungsvoller Zugang zu politischen und rechtlichen Systemen nur von Menschen erreicht werden kann, die genug Geld haben, um sich gute Lobbyisten, Warteschlangensteher und Anwälte zu leisten, was impliziert das für Demokratie und Gerechtigkeit? Und angesichts der Tatsache, dass die Domäne des ökonomischen Denkens in den vergangenen Jahrzehnten so schnell und dramatisch erweitert wurde, wo wird dieses Denken uns in Zukunft hinführen?
Die neue Ökonomik von allem
In Anbetracht der Tatsache, dass Gary Becke
r dafür bekannt werden würde, das gesamte menschliche Verhalten durch die Brille des eigennützigen
homo oeconomicus
zu analysieren, ist es ironisch, dass die erste Begebenheit, die sein Interesse an Ökonomik weckte,
eher altruistisch als egoistisch gewesen zu sein scheint. In den 1940er-Jahren begann er als Teenager im New Yorker Stadtteil Brooklyn die Finanzseiten von Zeitungen zu lesen, allerdings nicht aus Interesse – er fand es »sehr langweilig«, gestand er später ein –, sondern um seinem Vater zu helfen, einem Geschäftsmann, der immer schlechter sehen konnte. Bald veränderte sich der junge Gary: »Als ich nach Princeton kam, war ich Sozialist«, erklärte er. »Zwei Jahre später oder so war ich kein Sozialist mehr.«
[3]
Dann machte Becke
r sich die Wirtschaftslehre als universelle Denkweise zu eigen, vielleicht in höherem Maße als jeder Ökonom vor ihm.
Die Entstehungsgeschichte eines grundlegenden Wandels bestimmter Denkweisen liegt oft im Dunkeln, doch hier gibt es keinen Zweifel: Becke
r war der Erste, der ökonomisches Denken auf Aspekte des Lebens erweiterte, die allem Anschein nach von der Wirtschaft selbst weit entfernt liegen. Dieses Projekt, das er bis an sein Lebensende zielstrebig vorantrieb, begann mit seiner Doktorarbeit, The Economics of Discrimination
(»Die Ökonomik der Diskriminierung«). Darin konzentrierte Becke
r sich auf die Idee, dass Heuchelei für den Heuchler finanziell kostspielig sei: Ein Arbeitgeber, der einen weißen Mitarbeiter einstellt statt eines für den Job besser qualifizierten Schwarzen, verursacht dadurch Kosten. Diskriminierung sei sogar durch diese Kosten definiert, so Becke
r, weil finanzielle Kosten für den Arbeitgeber dann – und nur dann – entstehen, wenn der beste Kandidat für den Job nicht
eingestellt wird – was ein gutes Verfahren zu sein scheint, um zu definieren, wann Diskriminierung stattfindet. Diese Definition ignoriert freilich die Motivation des Arbeitgebers. Es spiele keine Rolle, so Becke
r, ob der schwarze beste Jobkandidat nicht eingestellt wird, weil sein Arbeitgeber ein reiner Heuchler ist, oder weil andere Mitarbeiter sich weigern, mit einem Schwarzen zusammenzuarbeiten, oder weil manche Kunden nicht in ein schwarzes Gesicht sehen wollen. Was auch immer die abstoßende Erklärung sein mag, der schwarze Kandidat, der den Job hätte bekommen sollen, hat ihn nicht bekommen – und diese Tatsache allein genügt als Kennzeichen von Diskriminierung.
Becker
s Analyse erzeugt bei den meisten von uns ein gewisses Unbehagen, selbst wenn wir nicht sofort genau sagen können, was daran falsch ist. Die Probleme fangen schon bei Becker
s Definition von Diskriminierung an – dass nämlich Diskriminierung nur dann
stattfindet, wenn dem Diskriminierenden dadurch finanzielle Kosten entstehen. Tatsächlich kann sich eine Firma aus heuchlerischen Gründen weigern, den besten Jobkandidaten einzustellen, ohne finanzielle Kosten zu verursachen – es wird sich kaum auf den Profit auswirken, sich den besten Kandidaten entgehen zu lassen, wenn er nur einer von vielen Mitarbeitern wäre. Unter solchen Umständen würde laut Becker
s Definition keine Diskriminierung stattfinden. Und ein Vermieter muss keinen finanziellen Verlust in Kauf nehmen, wenn er seine Wohnungen aus rassistischen Gründen nur an Weiße vermietet, solange diese Weißen pünktlich die Miete zahlen und die Wohnung in Ordnung halten. Auch hier ist Beckers Theorie blind für diese Form von Diskriminierung.
Aber selbst Verhalten, das Becker
s enger Definition von Diskriminierung nicht genügt, sei ein viel kleineres Problem, als man vielleicht erwarten würde, da der freie Markt es lösen werde. So argumentierte Becke
r jedenfalls: Gemäß der Lehrmeinung über Märkte, die vom Wettbewerb bestimmt sind, muss eine Firma, die höhere Produktionskosten als ihre Konkurrenten hat (sei es durch Diskriminierung oder nicht), entweder ihre Kosten senken (ihre Diskriminierung einstellen) oder aus dem Geschäft gedrängt werden. Daraus zog Becke
r den Schluss, dass Diskriminierung in wettbewerbsorientierten Märkten nicht existieren könne, sondern höchstens als episodenhaftes Phänomen auftreten kann. Obwohl Becker
s Buch The Economics of Discrimination
jahrelang ignoriert wurde, nachdem es 1957 zuerst erschienen war, ist es seither wesentlich wichtiger geworden als eine bloße Übung im akademischen Elfenbeinturm. Richard Epstei
n, ein sehr einflussreicher US
-amerikanischer Rechtsgelehrter, hat die Auffassung vertreten, dass der US
Civil Rights Act of 1964 (»US
-Bürgerrechtsgesetz von 1964«) aufgrund von Becker
s Argumenten aufgehoben werden sollte: Da Diskriminierung nicht existiere, so Epstein, seien Antidiskriminierungsgesetze eine unnötige und unerwünschte Einmischung des Staates.
Heute ist es zu einem Ding der Unmöglichkeit geworden, Becker
s Ideen zu ignorieren – und sie bleiben nach wie vor zutiefst umstritten. Mit seinen Argumenten sorgt Becke
r nicht nur für geteilte Ansichten, sondern er sprengt wie mit einer Handgranate einen riesigen Spalt in das Feld der Meinungen, sodass die Menschen gezwungen sind, auf die eine oder andere Seite zu springen. Sogar die Redaktion der
Financial Times
ist gespalten: Einer ihrer etablierten Kommentatoren hat begeistert über Becker
s Ansatz zu Diskriminierung geschrieben, während ein anderer ihn als Parodie seiner selbst empfindet.
[4]
Gründe für die letztere Meinung sind nicht schwer zu finden; man nehme zum Beispiel Beckers bekanntestes Werk, an dem er viele Jahre gearbeitet hat,
A Treatise on the Family
(»Eine Abhandlung über die Familie«).
In diesem Buch argumentiert Becke
r, dass es effizient sei, wenn zwei Menschen heiraten und sich »spezialisieren«, wie er es ausdrückt, womit er meint, dass eine Person einer bezahlten Tätigkeit nachgeht, während die andere zu Hause bleibt, die Hausarbeit erledigt und Kinder großzieht. Diese Sicht war Becker
s Versuch, Adam Smith
s Ideen über Arbeitsteilung anzuwenden: Wenn arbeitende Menschen sich auf bestimmte Aufgaben spezialisieren, werden sie insgesamt produktiver sein. Becke
r argumentierte, dass Ehen mit einem Ernährer häufiger vorkommen als andere Lebensmodelle, da diese Art von Spezialisierung die Produktivität des Haushalts und dadurch wiederum den Lebensstandard steigern würde. Aufgrund seiner Überzeugung, Frauen hätten beim Großziehen von Kindern einen »komparativen Vorteil«, kam Becke
r zu dem Schluss, dass Frauen zu Hause bleiben sollten, während der Mann einer bezahlten Arbeit nachgeht. A Treatise on the Family
erschien 1981 – also zu einer Zeit, in der die tatsächlichen Trends Becker
s Ansichten deutlich zuwiderliefen, da in den westlichen Ländern immer mehr Frauen arbeiten gingen. Das Problem ist freilich nicht nur der Gegensatz zwischen Becker
s Geschichten und den Fakten, sondern die Art, wie er sie erzählt. Hier ist eine Textpassage Becker
s über die Liebe:
Man kann sagen, M
i
liebt F
j
, wenn ihr Wohlergehen in seine Nutzenfunktion einfließt, und vielleicht auch, wenn M
i
emotionalen und physischen Kontakt mit F
j
schätzt. Es ist klar, dass M
i
von einer Heirat mit F
j
profitieren kann, weil er dadurch einen günstigeren Einfluss auf ihr Wohlergehen – und somit auf seinen eigenen Nutzen – ausüben kann, und weil die
commodities
, die den »Kontakt« mit F
j
messen, billiger produziert werden können, wenn sie verheiratet sind, als wenn M
i
eine »illegitime« Beziehung zu F
j
anstreben müsste.
[5]
Falls Sie sich fragen, was die »commodities« (»Wirtschaftsgüter«) im letzten Satz sind: Damit sind Kinder gemeint. Frauen, die außer Haus einer bezahlten Arbeit nachgehen, werden von Becke
r wiederholt als »deviant« (»von sozialen Normen abweichend«) bezeichnet. In einer Fußnote merkt er an, »dass ›deviant‹ in einem statistischen, nicht abwertenden Sinne gemeint ist« – obwohl berufstätige Frauen schon 1981 wohl kaum statistische Ausreißer waren. An anderer Stelle in seinem Buch argumentiert Becke
r, Frauen würden im Großen und Ganzen von einer Legalisierung der Polygamie (Vielehe) profitieren, und dann zitiert er wohlwollend den iranischen Ajatollah Khomein
i – der ja nicht gerade als Vorkämpfer für Frauenrechte bekannt ist –, um seine Argumente zu untermauern.
[6]
Becker
s Missachtung der Fakten beschränkte sich nicht auf seine Arbeit zur Familie. Im Zuge der Finanzkrise von 2007 bis 2010 wurde er gefragt, ob Geringverdiener und Arbeitslose, die riesige Hypothekendarlehen aufnahmen, die sie unmöglich würden zurückzahlen können, rational seien. Becker
s Antwort: Ja, sie seien vollkommen rational, da eine Insolvenz das Kapital des Gläubigers betreffen würde, nicht ihr eigenes.
[7]
Das ist wohl wahr, aber der Zahlungsunfähige wird trotzdem obdachlos – und rational zu sein erfordert sicherlich, dass man es für wichtiger hält, ein Dach über dem Kopf zu behalten, als Risiken mit anderer Leute Geld einzugehen.
Das alles wirft eine Frage auf: Wenn Becker
s eigene Arbeit zeigt, wie absurd es ist, ökonomisches Denken auf evident nichtökonomische Aspekte des Lebens anzuwenden, warum wird dann ökonomisches Denken auf immer mehr Bereiche des heutigen Lebens ausgeweitet? Etwas direkter gefragt: Wie konnte Becke
r einen solchen Einfluss auf das Leben im 21. Jahrhundert gewinnen, wenn seine Theorien so offensichtlich fehlerhaft sind?
Gary Becker
s schwer greifbare Freakonomics
Einer der Gründe für den großen Einfluss von Becker
s Arbeit ist ganz einfach, dass sie für andere Ökonomen leicht zugänglich ist. Weite Teile der bahnbrechenden ökonomischen Forschung muten heute an wie theoretische Physik oder Avantgarde-Lyrik: Sie wird nur von einer kleinen Gruppe Insider verstanden. Selbst
für Ökonomen sind manche ökonomischen Theorien außerhalb ihres Spezialgebiets ebenso unzugänglich wie Finnegans Wake
von James Joyc
e – während sich Gary Becker
s Arbeit meistenteils eher wie ein Kinderbuch von Dr. Seuss liest.
Doch ein wichtigerer Teil der Antwort ist, dass Becker
s Theorien in vielerlei Hinsicht ziemlich subtil sind – oder vielleicht wäre »schwer greifbar« eine bessere Beschreibung. Beckers Kritiker haben seinen Ansatz wiederholt als einen selbstsüchtigen homo oeconomicus
auf Beutezug dargestellt. Das ist ein grundlegendes Missverständnis. Im dritten Satz seiner Nobelvorlesung im Jahr 1992 bestritt Becke
r, dass es in seiner Arbeit irgendeine Prämisse von Selbstsucht gebe. Im Gegenteil: Er habe »versucht, die Ökonomen von eng gefassten Annahmen über Eigennutz abzubringen«. Doch wenn es beim Anwenden ökonomischen Denkens auf nichtökonomische Aspekte des Lebens nicht darum geht, selbstsüchtiges Verhalten anzunehmen, worum dann? Becker hat gesagt, sein Ansatz basiere vielmehr auf der Annahme, dass »das Individuum sein Wohlergehen gemäß seiner eigenen Auffassung
maximiert, ganz gleich, ob dieses Individuum nun egoistisch, altruistisch, loyal, boshaft oder masochistisch is
t«.
Wie von Neuman
n, Morgenster
n und Arro
w vor ihm konzentrierte sich Becke
r auf eine mathematische Darstellung des menschlichen Denkens als Maximierung, und nicht etwa darauf, was
maximiert wird. Die genaue Bedeutung von »Wohlergehen« war nicht wichtig. Für Becke
r wird demnach unser Verhalten angetrieben von dem Verlangen, etwas zu maximieren – möglichst viel zu bekommen von dem, was wir wollen –, doch unsere Ziele können unterschiedlicher Art sein und müssen nicht unbedingt etwas mit Geld oder einem materialistischen Wunsch zu tun haben.
In einer prägnanten Zusammenfassung seiner Denkweise, die 1976 unter dem Titel
The Economic Approach to Human Behavior
(deutsche Ausgabe:
Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens
) erschien, erklärte Becke
r: Wenn die beiden Annahmen, dass Menschen Maximierer sind und Märkte weitgehend frei und wettbewerbsorientiert, »strikt und ohne Einschränkung angewandt werden, machen [sie] zusammen den Kern des ökonomischen Ansatzes aus«.
[8]
Die Aussage, diese Definition des ökonomischen Ansatzes habe sich als einflussreich erwiesen, ist eine
Untertreibung: Sie ist zur bevorzugten Art zahlreicher Ökonomen geworden, die Wirtschaftswissenschaften zu definieren. Der wichtigste Grund dafür wurde von Becke
r klar genannt: »In der Tat bin ich zu der Auffassung gekommen, daß der ökonomische Ansatz so umfassend ist, daß er auf alles menschliche Verhalten anwendbar ist«.
[9]
Damit waren Ökonomen befreit vom profanen Studium der Wirtschaft; fortan konnten sie Sachverstand für alle Aspekte des menschlichen Lebens für sich in Anspruch nehmen. Dies war der Moment, in dem der ökonomische Imperialismus, aus allen Rohren feuernd, ins Rampenlicht trat. Die Bewegung, die Becke
r 1976 begründet hatte, führte dazu, dass Ökonomen ein breites Spektrum neuer Forschungsgebiete für sich entdeckten, die später ihren Niederschlag fanden in Büchern wie
Freakonomics
(2005),
The Undercover Economist
(2005, deutsche Ausgabe:
Ökonomics: Warum die Reichen reich sind und die Armen arm
) und
The Logic of Life
(2008, deutsche Ausgabe:
Die Logik des Lebens
).
Diese neue Art der Wirtschaftswissenschaften ist rätselhaft. Sie behauptet, zu allem etwas zu sagen, greift jedoch auf kaum eine Grundannahme zurück. Das muss ein Trick sein. Tatsächlich stellt man bei näherem Hinsehen fest, dass Becker
s Arbeit mehr als gegeben voraussetzt als lediglich die Prämisse, dass der Mensch irgendetwas maximiert. Mit dieser Annahme lässt sich das Verhalten von fast jedem Menschen beschreiben. Doch in Becker
s Theorien über die Familie scheint es um Menschen zu gehen, die sehr eigenartig denken. Hinter der schwer greifbaren Ökonomik des Gary Becke
r muss mehr stecken. Wir müssen tiefer graben, um die versteckten Annahmen ans Tageslicht zu befördern.
Becker
s Ansatz kann verwendet werden, um alles zu erklären, nachdem es passiert ist, da fast jedes menschliche Verhalten als Maximierung von irgendetwas beschrieben werden kann. Doch um Vorhersagen zu treffen, müssen Becker
s Theorien mit spezifischen Annahmen unterfüttert werden. Und genau das ist es, was Becke
r in der Praxis getan hat. In seiner Abhandlung über die Familie verlässt er sich auf mehrere folgenschwere Annahmen. Sein Kernargument über Spezialisierung beruht auf der Annahme, dass die unbezahlte Arbeit im Haushalt – Kochen, Putzen, Kinderbetreuung und so weiter – ein
stärker
spezialisierter Job ist als die bezahlte Arbeit, die außer Haus angeboten werden könnte. Doch die gegenteilige Annahme scheint plausibler zu sein. Becke
r nimmt an, dass ein Mitglied der Familie das altruistische »Familienoberhaupt« sei,
das entscheidet, wer was tun solle, um das Wohlergehen der gesamten Familie zu maximieren. Auch andere Annahmen werden ad hoc in die Analyse eingeführt. Zum Thema Scheidung behauptet Becke
r: »Von der durchschnittlichen geschiedenen Person kann angenommen werden, dass sie streitsüchtiger und auf andere Arten weniger angenehm ist als die durchschnittliche Person, die verheiratet bleibt.«
[10]
Abgesehen von diesen fragwürdigen Annahmen ist Becker
s zentrale Idee, der Mensch würde ständig irgendetwas maximieren, nicht das, was sie zu sein scheint. Sie beschwört das Bild eines Menschen herauf, der ständig damit beschäftigt ist, bewusst etwas zu berechnen, obwohl Becke
r und sein Gefolge das häufig bestreiten. Dazu wird folgende Anekdote kolportiert: Einem renommierten Ökonomen wird ein prestigeträchtiger Job angeboten, allerdings an einer weit abgelegenen Universität. Ein Freund (der kein Ökonom war) sagt ihm: »Na ja, zumindest kannst du dein ökonomisches Fachwissen nutzen, um die Entscheidung zu treffen – du kannst alle infrage kommenden Konsequenzen quantifizieren und sie dann nach Wahrscheinlichkeiten gewichten.« Der Ökonom erwidert: »Ach komm, dies ist eine ernste Angelegenheit.«
Diese Geschichte würde Becke
r keineswegs in Verlegenheit bringen. Er wurde einmal gefragt, ob er seine eigenen Theorien angewendet habe, um zu entscheiden, ob er Ökonom werden solle oder nicht. Er fasste seine Antwort folgendermaßen zusammen:
Ic
h glaube, dass meine Entscheidung, Ökonom zu werden, durchaus »rational« war, wenn auch vielleicht etwas unausgegoren. Die meisten Menschen stellen nicht im Wortsinn eine sorgsam abgewogene Kalkulation an. Wie viele Menschen setzen sich hin, bevor sie heiraten und sagen: Okay, diese Gründe sprechen dafür, sie zu heiraten, und diese dagegen, und wägen dann ab, ob die Vorteile die Nachteile überwiegen? Kaum jemand macht das. Wenn Ihre Freundin wüsste, dass Sie das machen, würde sie Sie wahrscheinlich nicht heiraten wollen.
[11]
Also scheint Becke
r letzten Endes doch menschlich gewesen zu sein. Aber wie vereinbart er seine zentrale Annahme, dass der Mensch ein Maximierer sei, mit der Erkenntnis, dass er nicht buchstäblich die Kosten und Nutzen jeder einzelnen Entscheidung kalkuliert?
Becke
r
geht stattdessen davon aus, dass Menschen sich so verhalten, als ob
sie solche Berechnungen anstellen: Sie würden sich so ähnlich verhalten, wie die Theorie es erwarten lässt, selbst wenn sie nicht exakt so denken, wie die Theorie es beschreibt. Becker
s Ansatz stammte direkt von dem »bei Weitem großartigsten lebenden Lehrer, den ich jemals hatte« – Milton Friedma
n.
Die moderne Ökonomik ist kreuz und quer von Friedman
s Einfluss durchdrungen. Er war eines der Gründungsmitglieder der Mont Pèlerin Society und entwickelte sich innerhalb dieser Gesellschaft zu einer Kraft, die dem Einfluss von Hayek
s vergleichbar ist. Unter all den klugen Köpfen der Chicagoer Schule war Friedma
n dominant – und so war es unvermeidlich, dass er während der Dinnerparty bei Aaron Directo
r das Wort führte, als Ronald Coas
e verhört wurde. Wichtiger war jedoch, dass Friedma
n den Monetarismus zu neuem Leben erweckte, um die keynesianisch
e Orthodoxie infrage zu stellen, die seit Ende der 1930er-Jahre die Makroökonomik unangefochten dominiert hatte. Tatsächlich halten viele Historiker Friedman
s Antrittsrede als Präsident der American Economic Association am 29. Dezember 1967 in der Sheraton Hall, Washington, D. C., für den Schlüsselmoment, in dem der Monetarismus wieder intellektuell respektabel wurde. Etwa ein Jahrzehnt später, Anfang der 1980er-Jahre, motivierte diese Respektabilität die Regierungen unter Reaga
n und Thatche
r, eine monetaristische – statt eine keynesianisch
e – Wirtschaftspolitik zu verfolgen. Natürlich ließen beide Regierungen sich von Friedma
n beraten – zumal der neue Status des Monetarismus in den Wirtschaftswissenschaften durch die Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an Friedma
n im Jahr 1976 noch untermauert worden war.
Trotz der großen Wirkung von Friedman
s Arbeit auf den Monetarismus und damit zusammenhängende makroökonomische Themen scheint sein nachhaltigster Einfluss auf die moderne Wirtschaftslehre auf sein 1953 erschienenes Essay »The Methodology of Positive Economics« (»Die Methodik der Positiven Ökonomik«) zurückzugehen. Darin geht es um die Frage, wie die Ökonomik zu einer Wissenschaft werden kann. Friedma
n argumentiert, dass zwar viele ökonomische Theorien offensichtlich nicht der Realität entsprechen, sie das jedoch keineswegs daran hindert, wissenschaftlich zu sein. Für Friedman – und dann Becke
r –
spielt es keine Rolle, ob die Beschreibung von menschlichem Verhalten in einer ökonomischen Theorie offenkundig unrealistisch ist: Die Theorie qualifiziert sich dennoch als solide Wissenschaft, wenn sie zutreffende Vorhersagen liefern kann. »Man nehme das Problem, die Stöße vorherzusagen, die ein Billardmeister machen wird«, so Friedma
n.
[12]
Nehmen wir an, dass der Billardspieler komplexe Mathematik nutzt, um zu berechnen, in welche Richtung er die Kugel stößt und mit welcher Energie, und dass er alle Berechnungen richtig macht und die Kugel perfekt trifft. Aufgrund dieser Annahmen werden wir in der Regel gute Vorhersagen darüber treffen können, welche Stöße der Spieler machen wird, obwohl diese Annahmen offenkundig nicht zutreffen. Mit anderen Worten: Der Billardspieler agiert,
als ob
er anspruchsvolle Mathematik nutzen würde. Entsprechend, so Friedma
n, agieren Konsumenten und Unternehmen so, als ob sie ihre Zufriedenheit beziehungsweise Profite maximieren würden. Selbst wenn sie das nicht bewusst tun, wird unsere Annahme von maximierendem Verhalten gute Vorhersagen liefern.
Viele Ökonomen waren begeistert von Friedman
s Logik, weil sie sie von der Mühsal befreite, realistische Annahmen finden zu müssen, um ihre Theorien zu untermauern: Es sei unwichtig, wie realistisch eine Annahme sei, so Friedma
n, solange sie zutreffende Vorhersagen liefere. Becke
r und sein Gefolge machten sich Friedman
s Argumentation zu eigen und hielten es daher für unnötig, die Karikatur des homo oeconomicus
, von der ihre Theorien bevölkert waren, zu rechtfertigen: Er hatte kaum etwas mit echten Menschen zu tun, aber das spielte keine Rolle.
Freilich wird Friedman
s Argumentation von Wissenschaftsphilosophen trotz ihres großen Einflusses unter Ökonomen nicht ernst genommen. Während der Fußballweltmeisterschaft 2010 traf ein gewisser Paul aus Deutschland richtige Vorhersagen über die Ergebnisse aller sechs Spiele der deutschen Mannschaft. Allerdings war Paul ein Oktopus (schade nur, dass er nicht Milton hieß). Pauls Erfolg erinnert uns daran, dass es durchaus möglich ist, entgegen aller Wahrscheinlichkeit und zu wiederholten Malen korrekte Vorhersagen zu treffen, obwohl sie jeglicher Grundlage entbehren.
Ein weiteres Problem mit Friedman
s Logik ist seine fehlerhafte Analogie zwischen Konsumenten und Unternehmen einerseits und
einem Billardspieler andererseits. Wir haben Vertrauen in unsere Vorhersagen über die Aktionen eines meisterhaften Billardspielers, weil dessen Ziele normalerweise klar sind (die Kugel einzulochen); weil unsere Vorhersagen auf der Mathematik basieren, die – zumindest theoretisch – den Spieler in die Lage versetzt, sein Ziel zu erreichen; und weil wir wissen, dass der Meister so gut ist, dass ihm dieser theoretisch optimale Stoß wahrscheinlich auch in der Praxis gelingen wird. Doch in einer realen Volkswirtschaft laufen die Entscheidungsprozesse anders ab. Die Ziele der wirtschaftlichen Akteure (Konsumenten, Arbeitnehmer, Manager und so weiter) kennen wir nicht; es gibt keine zuverlässige Theorie, die sie (oder uns) führen könnte, selbst wenn ihre Ziele klar wären; und soweit es tatsächlich theoretische Anhaltspunkte gibt, sind sie für die Akteure schwierig umzusetzen, aufgrund von praktischen Problemen wie Informationsmangel, der Komplexität der Entscheidungen, Ungewissheit über zukünftige Entwicklungen und so weiter. Also fehlt uns das Wissen, auf dessen Grundlage wir Vorhersagen treffen könnten – und das ändert sich auch dann nicht, wenn uns, wie dem Oktopus Paul, durch glücklichen Zufall eine Serie von zutreffenden Vorhersagen gelingt. Um etwa das Konsumentenverhalten auch nur ansatzweise zu verstehen, brauchen wir realistische Annahmen darüber, wie Konsumenten über ihre Ziele denken, wie sie die Entscheidungen wahrnehmen, vor denen sie stehen, welche Informationen ihnen zur Verfügung stehen und so weiter.
Wir haben gesehen, dass Becker
s Theorien über Diskriminierung und die Familie sich auf umstrittene Annahmen und Definitionen stützen, die nicht auf den ersten Blick offensichtlich sind. Mit solchen verdeckten Annahmen und der schwer greifbaren Als-ob
-Idee von Maximierung ist es Becke
r und seinem Freakonomics-Gefolge gelungen, berechtigter Kritik aus dem Weg zu gehen. Aber das allein genügt nicht, um den weitverbreiteten Einfluss ihres ökonomischen Imperialismus zu erklären.
Vielleicht sind ihre Annahmen ja doch im weitesten Sinne realistisch. Becke
r räumt ein, dass die Menschen keine aufwendigen Berechnungen anstellen, um zu entscheiden, wen sie heiraten wollen, aber vielleicht tun sie das ja in anderen Lebenslagen – oder stellen zumindest eine ungefähre Abwägung der Kosten und Nutzen an. Becke
r spricht von einer »Erhöhung des ›Schatten‹-Preises für Kinder, die die Nachfrage nach Kindern senkt.«
[13]
Hinter dem
Jargon steckt eine einfache Idee: Wenn es ein größeres finanzielles Opfer bedeutet, Kinder zu haben – etwa eine höhere Miete, weil eine größere Wohnung notwendig wird –, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen Kinder bekommen wollen. Ja, generell ist diese Annahme richtig (sie wird von wissenschaftlichen Belegen aus diversen Epochen und Regionen gestützt), aber wir brauchen keine beckersch
e Ökonomik, um zu einer so offensichtlichen Erkenntnis zu kommen. Oder überhaupt irgendeine Ökonomik. Es ist wohl kaum eine neue Idee, die Vor- und Nachteile verschiedener Alternativen bewusst und gezielt gegeneinander abzuwägen, bevor man eine Entscheidung trifft, selbst bei »nichtökonomischen« Entscheidungen. Die Romane von Jane Auste
n sind voller Figuren, die sorgfältig abwägen, welche Vor- und Nachteile es mit sich bringt, zu heiraten oder die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen (selbst wenn es nicht das eigene ist). Ein anderer Wirtschaftsnobelpreisträger hat es in aller Kürze so ausgedrückt: Becker
s Theorien scheinen zwischen »offensichtlichen und falschen Annahmen zu pendeln«.
[14]
Doch der Einfluss der beckersche
n Ökonomik ging weit hinaus über bestimmte Theorien, die er zu Diskriminierung, Familie und anderen Themen entwickelt hatte. Spätestens gegen Ende der 1960er-Jahre hatte ein selbstbewusster Individualismus begonnen, in der ganzen Gesellschaft um sich zu greifen. Becker
s breiter Ansatz, den er 1976 so klar zusammengefasst hatte, passte perfekt zu diesem neuen Zeitgeist. Diesen neuen beckersche
n Individualismus wollen wir uns im Folgenden etwas näher ansehen.
Über Geschmack lässt sich nicht streiten
Legen Sie sich bitte auf die Couch. Falls Ihre ökonomischen Denkprozesse denen eines Billardmeisters gleichen, wie Becke
r es impliziert hat, ist seine Botschaft sehr ermutigend: Dann sind Sie nämlich schlauer, als Sie denken – Sie sind sich nur des unbewussten Kalküls, das Ihr Verhalten motiviert, nicht bewusst. Das ist beckersch
e Ökonomik als populärwissenschaftliche Psychotherapie. Ein Universitätsdozent hat es einmal so erklärt: »Ich versuche, es meinen Studenten als Werkzeug zu vermitteln, das sagt: ›Eine Menge Dinge, die du gemacht hast, sind wirklich clever, ohne dass du überhaupt weißt, warum du dich so verhalten hast. Lass mich dir erklären, was aus
meiner Sicht deine Motive sind, und dann sage mir, ob das für dich Sinn ergibt, wenn wir es explizit formulieren.‹«
[15]
Zweitens hat Becke
r ein intellektuelles Gerüst geliefert, mit dem sich moralische Regeln, soziale Normen und staatliche Interventionen, die sich gegen den Individualismus zu richten scheinen, angreifen lassen. In Bezug auf staatliche Einmischungen kommen Becke
r und die ökonomischen Imperialisten aus seinem Gefolge typischerweise zu dem Schluss, dass staatliche Vorschriften nicht gebraucht werden und dass bereits stattfindende Interventionen des Staates eingestellt werden sollten. Ganz unabhängig von den jeweiligen Umständen sind ihre Argumente für einen kleinen Staat im Wesentlichen immer die gleichen: Es gibt kein Problem, das die Regierung lösen müsste. Dieses Argument ist schlicht, aber überzeugend. Da alle Menschen rational handeln, werden sie ohnehin die besten Entscheidungen treffen, sodass es kein Betätigungsfeld für eine Regierung gibt, um die Lage der Dinge zu verbessern. Dieses Argument verbindet eine Illusion von der Rationalität des Menschen mit der subtilen Fehlannahme, dass Verbesserungen nur möglich seien, wenn autonom handelnde Individuen die Freiheit hätten, bessere Entscheidungen zu treffen. Um Fortschritt zu erzielen, ist es jedoch tatsächlich in vielen Fällen notwendig, dass zahlreiche gesellschaftliche Gruppierungen auf koordinierte Weise ihre Meinung ändern – und eine Methode, um diese Koordinierung zu erreichen, sind staatliche Interventionen. So argumentiert Becke
r zum Beispiel, der vorzeitige Tod von Rauchern oder Fettleibigen sei kein gesellschaftliches Problem: Es reflektiere lediglich die Präferenz mancher Menschen, einen Teil ihrer Lebenszeit für sofortige Genüsse zu opfern. Dann erweitert Becke
r dieses Argument: »Entsprechend … sind daher die
meisten
(wenn nicht alle!) Todesfälle bis zu einem gewissen Grade ›Selbstmorde‹, in dem Sinne, daß man sie hätte hinausschieben können, wenn man mehr Ressourcen in die Lebensverlängerung investiert hätte. Dies … stellt auch die übliche Unterscheidung zwischen Selbstmorden und ›natürlichen‹ Todesfällen infrage.«
[16]
So werden mit einem Federstrich die Gründe für große Teile der staatlichen Gesundheitspolitik verworfen. Sogar Begriffe wie »vorzeitiger Tod« seien irreführend, so Becke
r, da es so etwas wie einen normalen oder natürlichen Todeszeitpunkt nicht gebe. Und
ungesundes Verhalten sei lediglich eine individuelle Präferenz.
Das bringt uns zu De Gustibus Non Est Disputandum
– »Über Geschmack lässt sich nicht streiten« –, den Titel einer sehr einflussreichen Arbeit, die Becke
r 1977 gemeinsam mit seinem Chicagoer Kollegen George Stigle
r (der 1982 den Wirtschaftsnobelpreis gewinnen würde) veröffentlicht hatte. Sehr einflussreich? Eigentlich scheint es keine große Neuigkeit zu sein. Die meisten von uns sehen wenig Sinn darin, sich über Geschmacksfragen wie Äpfel oder Birnen, Schokoladen- oder Erdbeereis, Mozar
t oder Beatles zu streiten. Doch Becker
s im Jahr davor aufgestellte Behauptung, der ökonomische Ansatz sei auf das gesamte menschliche Verhalten anzuwenden, impliziert, dass Menschen geschmackliche Vorlieben oder Präferenzen für ausnahmslos alles haben können. Kurzum, in der akademischen Literatur kam es zu immer mehr Gerede über menschliche »Präferenzen« für Diskriminierung, Immigration, Nationalismus, Suizid und so weiter. Und wenn man sich auch über solche Fragen nicht mehr streiten darf, wird die öffentliche Debatte zu moralischen und politischen Problemen weitgehend erstickt.
Auch hier nötigt uns Becke
r mit seiner Fähigkeit, Kritiker auf dem falschen Fuß zu erwischen, Bewunderung ab. Der Ökonom Alan Blinde
r (der später zum Vizechef der
US
-Notenbank Federal Reserve aufrückte) war so aufgebracht über Becker
s Argumente, dass er 1974 eine Glosse über die beckersch
e Ökonomik veröffentlichte, unter dem Titel »The Economics of Brushing Teeth« (»Die Ökonomik des Zähneputzens«). Satire funktioniert freilich nur, wenn das Opfer sie versteht, aber Becker verstand sie nicht: Er fand Blinder
s Artikel übers Zähneputzen interessant und empfahl ihn der führenden Fachzeitschrift der Chicagoer Ökonomenschule zur Veröffentlichung.
[17]
Becker
s Kritiker erheben den offensichtlichen Einwand, dass Becke
r mit seinem Ansatz unsere moralischen Werte, gesellschaftlichen Normen und religiösen Überzeugungen ignoriert. Aber das tut er nicht. Was er allerdings tut, ist, sie auf reine Geschmacksfragen zu reduzieren: Unsere geschätzten Wertvorstellungen werden als Präferenzen aufgefasst, die nicht mehr und nicht weniger bedeuten als eine geschmackliche Vorliebe für Schokoladen- oder Erdbeereis.
Diese Unterscheidung zwischen Werten und Geschmacksfragen ist mehr als nur ein Spiel
mit Worten. Auseinandersetzungen über Diskriminierung oder vorzeitigen Tod durch Rauchen sind Auseinandersetzungen über Wertvorstellungen, weil es etwas gibt, worüber man sich streiten und Gründe nennen kann, die dafür oder dagegen sprechen. Diese Möglichkeit einer auf sachlichen Gründen aufbauenden Debatte reicht über die traditionelle Sphäre der Moral hinaus, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil ich sie mit mir selbst führen kann, nicht nur mit anderen. Das heißt, dass die Domäne rein geschmacklicher Vorlieben eingeschränkter ist, als sie zunächst erscheint. Ich kann vielleicht Appetit auf noch ein Stück Kuchen, noch ein Glas Wein oder noch eine Zigarette haben, aber zugleich auch das Ideal, den persönlichen Vorsatz, auf diese Dinge zu verzichten. Darum sagen echte Menschen manchmal: »Wenn ich noch eins haben will, gib es mir nicht.« Becker
s homo oeconomicus
würde das nie sagen. Und doch ist es eine ganz besondere menschliche Eigenschaft – die Fähigkeit, uns von unseren bekannten Vorlieben und Gewohnheiten frei zu machen und uns zu fragen, ob dieses Verhalten wirklich das ist, was wir wollen. Trotz ihrer Fixierung auf »Rationalität« ignorieren die ökonomischen Imperialisten diese Möglichkeit, innezuhalten und es sich anders zu überlegen – ein definierendes Element dessen, was es bedeutet, rational zu sein.
Wenn die ökonomischen Imperialisten unsere Wertvorstellungen aus der Ökonomik verbannt
hätten, wäre das nicht gut angekommen – Ökonomen hätten als amoralische Wissenschaftler gegolten, die sich dem Materialismus verschrieben haben und so weiter. Stattdessen haben die Imperialisten, indem sie Wertvorstellungen auf Geschmacksfragen reduzierten, die moralische Debatte unter einer Decke aus Nutzenkalkül und Abwägungen erstickt – alles landet auf dem Grabbeltisch, alles ist käuflich. Und dabei haben sie, indirekt und weitgehend unbemerkt, eine der wichtigsten Routen zum Verändern menschlichen Verhaltens zum Besseren versperrt: Da sich über Geschmack nicht streiten lässt, gibt es weniger Möglichkeiten, Verhalten durch formale oder formlose Bildung zu beeinflussen.
Die ökonomischen Imperialisten wollen auch den Umfang der Möglichkeiten, Verhalten durch Gesetze zu beeinflussen, nicht wahrhaben. Becke
r versteht nicht, was an Straftaten verwerflich sein soll – ganz im Ernst. In seiner Nobelvorlesung erklärte er es so: »Es war mir ein Rätsel, warum Diebstahl gesellschaftlich
schädlich sein soll, da Diebe doch anscheinend nur Ressourcen umverteilen, normalerweise von wohlhabenderen zu ärmeren Individuen. Ich löste dieses Rätsel, indem ich darauf hinwies, dass Straftäter Geld für Waffen ausgeben und wertvolle Zeit dafür aufwenden, ihre Straftaten zu planen und auszuführen, und dass dieser Aufwand aus gesellschaftlicher Sicht unproduktiv sei …«
[18]
Nicht ganz. Selbst wenn Waffen nichts kosten würden und Straftäter nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wüssten, wäre Diebstahl immer noch »gesellschaftlich schädlich« – durch den Ärger, die Angst und das Empfinden der Opfer, ihnen sei Unrecht widerfahren, sowie die Gewalt und Zerstörung, die oft mit Diebstahl einhergehen. Und so ist es kein Wunder, dass Becke
r vor dem Hintergrund seiner amoralischen Auffassung von Straftaten völlig übersieht, welch eine wichtige Rolle öffentlich verkündete Gesetze dafür spielen, unmoralisches Verhalten zu stigmatisieren. Für Becke
r (und seinen schon aus Kapitel 3 bekannten Freund von der Chicagoer Schule, den Richter und Anwalt Richard Posne
r, für den »Gerechtigkeit« gleichbedeutend mit »Wohlstandsmaximierung« ist) schreckt das Gesetz nur deswegen von Straftaten ab, weil es deren Kosten erhöht. Potenzielle Straftäter würden die Kosten einer Straftat in Form der Strafe berechnen, die auf sie zukommen könnte, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden. Becke
r und die Chicagoer Anwälte kamen aufgrund solcher Überlegungen zu dem Schluss, dass eine billige Maßnahme zur Abschreckung von Straftaten darin bestehen könnte, das Budget für Polizeikräfte zu senken, aber die Kosten von Straftaten hochzuhalten, indem man sehr lange Haftstrafen einführt. In den Regionen der USA
, die in den 1970er- und 1980er-Jahren diesem Rezept folgten, war das Ergebnis eine Verbrechenswelle, die gut dokumentiert ist.
Obwohl wir im 21. Jahrhundert begonnen haben, zu Fragen der Verbrechensbekämpfung eher auf Kriminologen zu hören als auf Ökonomen, hält der ökonomische Imperialismus andere Bereiche der Sozialpolitik nach wie vor fest im Griff: Nur allzu oft nehmen wir unüberlegt an, dass die beste Reaktion auf unmoralisches oder antisoziales Verhalten sei, dessen Kosten zu erhöhen.
Doch Becker
s größter Einfluss auf uns manifestiert sich anderswo. Wenn moralische Wertvorstellungen erst einmal auf reine Geschmacksfragen reduziert worden sind, kann Becke
r
zu dem Schluss kommen, dass es keinen Unterschied gebe zwischen »wichtigen und unwichtigen Entscheidungen, bei denen es um Leben und Tod geht im Gegensatz zur Wahl einer Kaffeesorte«, und zwischen Entscheidungen wie »der Wahl eines Partners oder der Entscheidung über die gewünschte Kinderzahl auf der einen Seite und der Entscheidung über den Kauf von Anstrichfarbe auf der anderen Seite«.
[19]
Und natürlich haben wir Märkte für Kaffee und Farbe. Warum sollten wir also nicht mehr Märkte für Entscheidungen haben, bei denen es um Leben und Tod geht? Etwa einen Markt für Babys, wie Posne
r ihn 1978 vorschlug. Aus Sicht von Becke
r, Posne
r und ihrem Gefolge wurde eindeutig die Grundannahme umgekehrt: Warum nicht?
Auf die Idee mit dem Markt für Babys werden wir noch zurückkommen, doch zunächst wollen wir uns mit einer anderen Art von ökonomischem Imperialismus beschäftigen, die von jemandem ausgeht, der völlig unabhängig von Becke
r operiert. Und der auch hin und wieder Becker
s Denkweise außerordentlich kritisch sieht.
Der Wirtschaftsnobeltrostpreis
Es ist leicht, Thomas Schellin
g in eine Schublade zu stecken. Sein Lebenslauf liest sich wie der eines Mannes, der sich als resoluter Falke für den Kalten Krieg eingesetzt hat. Von 1948 bis 1953 arbeitete er zunächst für den Marshallplan und dann für das Weiße Haus; danach hatte er Einsätze bei der RAND
Corporation und diversen Beratungsaufträgen in Washington, bei denen sein Expertenwissen über militärische Strategien zum Tragen kam. Obwohl es John von Neuman
n war, der den infamen Atomkriegsjargon »Mutually Assured Destruction« erfunden hatte (hauptsächlich, weil ihm das Akronym »MAD
« für »gegenseitig garantierte Vernichtung« gefiel), war es Schellin
g, der sich zu einem MAD
-Experten entwickelte. Schellin
g pflegte enge Kontakte zu einigen der einflussreichsten Figuren im Kalten Krieg. In seinem Hauptberuf als Wirtschaftsprofessor an der Harvard University hielt er gemeinsam mit Henry Kissinge
r eine Vorlesungsreihe über Außenpolitik ab, einem der maßgeblichen Köpfe hinter der US
-Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Und Schellin
g wurde nachgesagt, größeren Einfluss auf das Denken des US
-Verteidigungsministers Robert McNamar
a zu haben als jeder andere Mensch. Im Jahr 2005 erhielt Schellin
g den Wirtschaftsnobelpreis, weil er »unser Wissen über Konflikt und Kooperation durch spieltheoretische Analysen erweitert hat«.
Aber diese Art von Schubladendenken ist zu simplifizierend. Schellin
g sah sich selbst nicht als Spieltheoretiker. Seine ratlose Reaktion auf die Ankündigung der Nobelpreisverleihung an ihn war: »Ich muss Spieltheorie gemacht haben, ohne es zu wissen.«
[20]
Diese Reaktion war unter anderem motiviert durch Schelling
s Sicht der Mathematik. Im Gegensatz zu den meisten Spieltheoretikern und
RAND
-Analysten ging Schellin
g nicht davon aus, dass Mathematik für jede Aufgabe das beste Werkzeug sei – er meinte, die Mathematik »werde zu oft eingesetzt, um anzugeben«.
[21]
Schelling
s Arbeit enthielt ein Minimum an Mathematik, und die Spieltheorie spielte nur eine Nebenrolle; er setzte sie kreativ und flexibel ein, um Erkenntnisse über militärische Strategien zu gewinnen.
Zudem könnte man sagen, dass Schellin
g ebenso sehr Taube wie Falke war – eine Taube allerdings, die sich der Realpolitik verschrieben hatte. Außer ihm wurde kein anderer Wirtschaftsnobelpreisträger auch als Kandidat für den Friedensnobelpreis in Betracht gezogen. Schelling
s Wirtschaftsnobelpreis kam spät und unerwartet – er war 84 – und viele Kommentatoren hielten ihn für einen Trostpreis, weil er nicht den Friedensnobelpreis gewonnen hatte.
15
Sogar Schelling
s Nobelvorlesung liest sich so, als könnte er den Friedensnobelpreis im Sinn gehabt haben, als er sie schrieb. Sie beginnt mit diesen Worten: »Das spektakulärste Ereignis der vergangenen 50 Jahre ist eines, das nicht stattfand. Wir haben das Glück, dass 60 Jahre lang keine Atomwaffen im Zorn explodiert sind« – und dann nimmt Schellin
g, durchaus zu Recht, einen Teil der Anerkennung für diesen Erfolg für sich in Anspruch.
Schellin
g verdient zweifellos Respekt für seine besessene Sorge um die Möglichkeit eines versehentlichen Atomkriegs. Im Jahr 1959 verfasste er einen Artikel, in dem er mögliche Szenarien für einen ungewollten Atomkrieg skizzierte. Dieser Artikel inspirierte Stanley Kubric
k zu dem satirischen Film
Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben
– wobei er sich zum Plot des Films von Schellin
g beraten ließ (s. a. Kap. 2). Im Jahr 1961 wurde Schellin
g zum
Vorsitzenden eines Komitees am Weißen Haus berufen, das sich mit dem Thema »War by Accident, Miscalculation, and Surprise« (»Krieg aus Versehen, durch Fehleinschätzung oder Überrumpelung«) beschäftigen sollte. Er stellte bald fest, dass es keinen direkten Kanal gab, um schnell und zuverlässig mit dem Kreml zu kommunizieren: »Ich konnte durchwählen an den Anschluss meiner Mutter in 5000 Kilometer Entfernung, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren, aber Kenned
y hatte keine Möglichkeit, Chruschtscho
w zu erreichen.«
[22]
Um dieses Problem aus der Welt zu schaffen, überzeugte Schellin
g Präsident Kenned
y, eine direkte Verbindung in den Kreml installieren zu lassen, die später als die »Hotline« bekannt wurde. Mit dieser einen simplen Aktion hat Schellin
g vielleicht mehr für den Weltfrieden getan als alle anderen Denker in diesem Buch zusammengenommen – obwohl es in der Rückschau beunruhigend ist, dass diese Hotline erst voll funktionsfähig wurde, nachdem es in der Kubakrise beinahe zu einem atomaren Erstschlag gekommen war. Es dauerte bis 1963, um sowjetische Diplomaten davon zu überzeugen, dass die Hotline ihre eigene Idee gewesen sei und spezielle Fernschreiber mit kyrillischem Zeichensatz im Weißen Haus zu installieren.
Was Schelling
s Ökonomik angeht, zeichnet sich seine Arbeit zum großen Teil durch einen Realismus aus, der Gary Becker
s Welt fehlt. Wie Becke
r hat auch Schellin
g sich eingehend mit Diskriminierung beschäftigt, doch er war stärker daran interessiert, wie Diskriminierung sich verbreitet. Eines Abends spielte er ein Spiel, bei dem man nach einfachen Regeln Spielsteine auf ein Schachbrett mit schwarzen und weißen Feldern setzt. Aufgrund der Muster, die dabei entstanden, erkannte Schellin
g, dass Wohngegenden sich entlang ethnischer Grenzen völlig entmischen können, wenn die Anwohner ausschließlich danach streben, nicht in einer Gegend zu leben, wo alle Nachbarn von einer anderen Ethnie sind als sie selbst. Eine scheinbar »gemäßigte« Präferenz kann eine extreme soziale Spaltung nach sich ziehen.
Dann beschäftigte Schellin
g sich erneut mit dem Thema Krieg, aber dieses Mal mit einem Krieg, den man gegen sich selbst führt. Wie wir gesehen haben, hatten Gary Becke
r und sein Gefolge eine ziemlich naive Sicht unserer Süchte nach Alkohol, Nikotin und bestimmten Lebensmitteln: Becke
r hatte sie »rationale Süchte« genannt und argumentiert, solche Süchte würden ein sorgsam
erwogenes Ausbalancieren von Genuss versus Gesundheitsrisiken reflektieren. Schellin
g ließ sich davon nicht beeindrucken: »Sie haben keine Ahnung, wovon sie reden.« In seinem 1980 erschienenen Essay »The Intimate Contest for Self-Command« (»Das persönliche Ringen um Selbstkontrolle«) versuchte Schellin
g, den Raucher zu verstehen, der »angewidert von sich selbst seine restlichen Zigaretten in der Toilette hinunterspült und schwört, dass er nie wieder riskieren wird, seine Kinder durch Lungenkrebs zu Waisen zu machen, den es dann aber drei Stunden später wieder vor die Tür treibt, um einen noch geöffneten Kiosk zu finden, wo er Zigaretten kaufen kann.«
[23]
(Man merkt, dass Schellin
g 15 Jahre lang versucht hat, das Rauchen aufzugeben.) Schellin
g umriss etliche Strategien zur »Selbstkontrolle«, die Süchtige einsetzen können, um ihren privaten Krieg zu gewinnen – Strategien, die damals revolutionär waren, aber heute zum Werkzeugkasten von Verhaltensökonomen und Psychologen in aller Welt gehören.
In Anbetracht von Schelling
s nuanciertem Verständnis unserer Motivationen, das denkbar weit entfernt ist vom homo oeconomicus
, kann man es erstaunlich finden, dass er auch zum großen Teil verantwortlich war für eine andere Form des ökonomischen Imperialismus, eine andere Art, moralische Erwägungen durch Präferenzen zu ersetzen, die in Märkten zum Ausdruck kommen. Aber Not macht erfinderisch.
Wie viel sind Sie wert?
Kurz nachdem die UDSSR
1949 ihre erste Atombombe gezündet hatte, beauftragte die US
Air Force die RAND
Corporation, eine Erstschlagstrategie gegen die Sowjets zu entwickeln. Bei ihrer Suche nach dem – beinahe buchstäblich – »biggest bang for the buck« (sinngemäß: das beste Preis-Leistungs-Verhältnis) spielten die RAND
-Analysten über 400 000 Szenarien durch, mit unterschiedlichen Kombinationen von Bomben und Bombern. Sie kamen zu dem Schluss, dass die US
Air Force versuchen sollte, die sowjetische Luftabwehr mit einer riesigen Zahl von Flugzeugen zu überwältigen, darunter auch billige und anfällige Propellermaschinen ohne Atombomben, die als Lockvögel eingesetzt werden sollten, um die Zahl der Angriffe auf Flugzeuge, die tatsächlich Bomben trugen, zu reduzieren. Das RAND
-Team war
stolz auf diese Arbeit, doch die Generäle der Air Force schäumten vor Wut.
Die Generäle, von denen viele ehemalige Piloten waren, lehnten den Vorschlag rundweg ab und sagten dem
RAND
-Team sehr deutlich, dass es seine Analyse komplett überdenken müsse. Beim Berechnen der Kosten verschiedener Strategien hatten die
RAND
-Experten die menschlichen Verluste schlichtweg ignoriert: die Soldaten der Air Force, die ums Leben kommen würden. Daher war es beinahe unvermeidlich, dass sie eine Strategie mit billigen Flugzeugen, aber hohen menschlichen Verlusten vorschlugen. Diese Verluste hatten sie weggelassen, weil sie sich intern nicht darüber einigen konnten, wie ein Menschenleben zu bewerten sei. Ein hochrangiger
RAND
-Analyst hat eingestanden, dass »Faktoren, die wir noch nicht quantitativ berücksichtigen können, in der Regel aus ernsthaften Betrachtungen ausgeklammert werden.«
[24]
Die
RAND
-Ökonomen konnten sich nicht einmal darüber einig werden, ob dies eine ökonomische Frage sei, die von Ökonomen entschieden werden sollte. Einerseits scheint es außerhalb der Domäne der Ökonomik zu liegen, den Wert eines Pilotenlebens in Dollar und Cent zu bemessen;
RAND
konnte nicht mehr tun, als dem Pentagon verschiedene Strategien zu präsentieren, die auf unterschiedlich »effizienten« Kombinationen aus finanziellen Kosten und verlorenen Menschenleben beruhten – es musste dem Pentagon oder dem Präsidenten überlassen bleiben, die letzte Abwägung zu treffen. Andererseits reflektierte die finanzielle Investition in einen Piloten (seine Ausbildung und so weiter) zwar nicht seinen ganzen Wert in Dollar und Cent, konnte aber womöglich zumindest als Ausgangspunkt für eine solche Kalkulation dienen.
Es sollte über ein Jahrzehnt dauern, bis eine mögliche Lösung für dieses Problem sich abzeichnete – und zwar in dem kreativen Kopf von Thomas Schellin
g. Den Anstoß für seine Arbeit über den Wert eines Menschenlebens lieferten Forschungen, die ein Doktorand von ihm in Angriff genommen hatte, Jack Carlso
n, ein ehemaliger Kampfpilot. Sie begannen damit, dass sie militärische Entscheidungsprozesse untersuchten, obwohl bald klar wurde, dass ihre Ideen ein breiteres Anwendungsgebiet hatten. Es war sicherlich nicht richtig, das Leben eines Piloten aufgrund der finanziellen Investitionen zu bemessen, welche die Air Force in ihn gemacht hatte. In ähnlicher Weise beschlich die meisten Ökonomen ein gewisses Unbehagen, wenn der Wert eines Zivilistenlebens
anhand seines Einkommens bemessen wird (wie es zum Beispiel Gerichte tun, um die Schadenssumme nach Industrieunfällen zu berechnen). Schellin
g argumentierte, das grundlegendste Problem mit diesem Ansatz sei der Umstand, dass dabei der Wert eines Menschenlebens anhand seines Wertes
für andere Menschen
bemessen werde, nicht für ihn selbst. Allerdings räumte Schellin
g ein, dass der Wert eines Menschenlebens (für diesen Menschen) eine zu »ehrfurchtgebietende« Frage sei, um von einem Ökonomen erwogen zu werden. Also änderte er die Frage: »Wenn es um Leben und Tod geht, sind wir alle Konsumenten. Fast alle wollen wir unser Leben verlängern und sind wahrscheinlich bereit, etwas dafür zu zahlen. Wir sollten daran denken, dass die Menschen, deren Leben gerettet werden könnten, zu dem Wert dieses Unterfangens etwas zu sagen haben …«.
[25]
Schellin
g verlagerte die Frage vom Bewerten eines Menschenlebens zum Bewerten dessen, einen Menschen am Leben zu erhalten – den Wert eines reduzierten Todesrisikos. Dabei ging es nicht um das Leben von bestimmten, namentlich benannten Menschen, sondern um »statistische Leben«. Wenn eine gesetzliche Vorschrift zur Qualität von Trinkwasser das Risiko, innerhalb eines Jahres zu sterben, auch nur um ein Millionstel reduziert, dabei aber die gesamte Bevölkerung eines großen Landes betroffen ist (zum Beispiel 100 Millionen Menschen), dann wird diese Vorschrift statistisch gesehen – im Durchschnitt – jedes Jahr 100 Menschen das Leben retten. Es werden 100 »statistische Leben« gerettet. Schellin
g hatte eine Begabung für Rhetorik (zumindest im Vergleich zu heutigen Ökonomen) und gab seinem bahnbrechenden, 1968 veröffentlichten Essay den Titel »The Life You Save May be Your Own« (»Das Leben, das du rettest, könnte dein eigenes sein«). Aber das war mehr als nur ein Spiel mit Worten. Schellin
g sah eine Methode, um aus dem Verhalten eines Menschen zu schließen, wie viel ihm ein reduziertes Todesrisiko wert sein könnte.
Hier tat sich eine neue Front auf, an der Ökonomen ihre imperialistischen Ambitionen vorantreiben konnten, weit über die Entscheidungsprozesse in der US
Air Force hinaus. Regierungen und Unternehmen sind häufig mit Entscheidungen zwischen Alternativen konfrontiert, die zu einem Verlust von Menschenleben führen können (oder Leben, die nicht gerettet werden), etwa Entscheidungen zur Gesundheitsvorsorge, zum
Umweltschutz oder zur Sicherheit von Produkten. Wenn es einen plausiblen Betrag für den Wert eines Menschenlebens gibt, können Entscheider einfach diese Zahl in ihre Berechnungen aufnehmen, neben anderen Kosten und Nutzen verschiedener Alternativen – alles natürlich in Form von Geldbeträgen. Zwar widerstrebt diese Vorgehensweise vielen Menschen zutiefst, doch viele Ökonomen halten diese Abneigung für nichts mehr als irrationale Empfindlichkeiten, eine instinktive »Igitt«-Reaktion. Entscheidungen müssen getroffen werden; die Ressourcen sind endlich. Es gibt eine Grenze, welchen Betrag jeder von uns auszugeben bereit ist, um die Fahrsicherheit seines Autos zu verbessern, oder für einen Sturzhelm oder andere Schutzvorrichtungen beim Ausüben gefährlicher Sportarten. Entsprechend gibt es auch eine Grenze für die Summe, die eine Regierung dafür ausgeben sollte, um Trinkwasser sicherer zu machen, oder ein Unternehmen, um die Risiken gefährlicher Nebenwirkungen von Medikamenten zu minimieren. Das alles ist nicht zu bestreiten. Und Schelling
s Ansatz war eine große Verbesserung im Vergleich zu der Methode, das Leben eines Menschen anhand seines Einkommens zu bewerten.
Heute bildet dieser Ansatz den Kern der politischen Entscheidungsfindung in zahlreichen Ländern, mit einem Standardwert für ein statistisches Leben, der in vielen Bereichen der staatlichen Verwaltung verwendet wird. In den USA
beträgt der Wert eines statistischen Lebens etwa zehn Millionen Dollar (auf dem Preisniveau von 2019), und die Behörden sind gesetzlich verpflichtet, über politische Maßnahmen zu entscheiden, indem sie deren Kosten und Nutzen in Geldbeträgen bemessen, einschließlich des Wertes von Menschenleben.
Doch es gibt stichhaltigere Einwände gegen den Wert eines statistischen Lebens als naive Empfindlichkeiten. Stellen wir einmal folgendes Gedankenexperiment an. Nehmen wir an, es gibt zwei Jobs, die in jeder Hinsicht identisch sind, abgesehen davon, dass einer davon gefährliche Arbeiten notwendig macht (etwa den Umgang mit schädlichen Chemikalien oder den Kriegseinsatz in einer Armee), die pro Jahr ein Todesrisiko von 1 zu 10 000 mit sich bringen. Laut der Denkschule der marktliberalen Ökonomik muss ein zwischen diesen beiden Jobs beobachteter Lohnunterschied ausschließlich auf das zusätzliche Risiko zurückzuführen sein. Für den riskanteren Job wird ein höherer Lohn
gezahlt, weil der Arbeitgeber mehr Geld anbieten muss, um die Arbeitnehmer zu motivieren, das höhere Risiko einzugehen. Nehmen wir an, das »Lohngefälle« zwischen den beiden Jobs liegt bei etwa 1000 Dollar pro Monat. Daraus folgt, dass der Arbeitnehmer für 1000 Dollar ein Todesrisiko von 1 zu 10 000 einzugehen bereit ist. Wenn es 10 000 Arbeitnehmer gibt, von denen jeder dieses Risiko eingeht, wird der Arbeitgeber ihnen insgesamt 10 Millionen Dollar (1000 × 10 000 Dollar) an zusätzlichem Lohn zahlen. Und im Durchschnitt wird jedes Jahr einer der Arbeitnehmer sterben. Die Arbeitnehmer tolerieren gemeinschaftlich den Verlust eines statistischen Lebens für einen um insgesamt 10 Millionen Dollar höheren Lohn.
Unglaublicherweise ist das nicht nur ein Gedankenexperiment, sondern es ist Schelling
s Methode. Nach genau dieser Logik berechnen echte Regierungen in aller Welt den finanziellen Wert eines statistischen Lebens, aufgrund von Schätzungen über »Lohngefälle«. Freilich gibt es fundamentale Probleme mit Schelling
s Methode. Wenn sich ein echter Mensch zwischen verschiedenen, mehr oder weniger riskanten Jobs entscheidet, weiß er wenig oder gar nichts über die Wahrscheinlichkeiten und Höhe der Risiken, denen er sich aussetzt – und selbst wenn er sich damit auskennt, ist der angebotene Lohn wohl kaum der einzige Faktor, der den Ausschlag gibt, für welchen Job er sich entscheidet. Davon abgesehen ist keineswegs klar, dass ein Mensch, der einen riskanten Job annimmt, dadurch wirklich seine freie Entscheidung zum Ausdruck bringt. Vielmehr kann es durchaus angehen, dass er so arm ist, dass er den bestbezahlten Job annehmen muss, den er bekommen kann, ganz unabhängig von den damit einhergehenden Risiken.
Selbst wenn wir solche Probleme außer Acht lassen und annehmen, dass irgendwie zuverlässige Zahlen ermittelt werden könnten, ist Schelling
s Ansatz irreführend. Wenn Nichtökonomen kritisieren, das Gerede über »statistische Leben« sei irreführend, verwerfen Ökonomen abermals diese Kritik als bloße Empfindlichkeit. Doch diese Terminologie ist
irreführend. Sie wurde von Schellin
g als sprachlicher Kunstgriff eingeführt, um Regierungsentscheidungen über den Verlust von Menschenleben mit privaten Entscheidungen über Todesrisiken zu verknüpfen. Schellin
g hatte den Verdacht, dass es nicht einfach sein würde, Ökonomen davon zu überzeugen,
Geldwerte für Ersteres aus Verhalten abzuleiten, das bestenfalls Letzteres reflektiert. Und er hatte recht mit diesem Verdacht: Die ersten Reaktionen auf »The Life You Save May be Your Own« waren zutiefst feindselig. Heute wird Schelling
s einstmals kontroverser logischer Bruch nicht mehr infrage gestellt und das Gerede von »statistischen Leben« vernebelt die Tatsache, dass echte Leben verloren gehen. Wenn eine Regierung entscheidet, die oben erwähnte Vorschrift zur Trinkwasserqualität in der Schublade verschwinden zu lassen, weil sie zu hohe Kosten verursachen würde, mag diese Entscheidung durchaus gerechtfertigt sein, aber trotzdem wird sie dazu führen, dass im Durchschnitt 100 Menschenleben pro Jahr verloren gehen. (Und die Gesetze der Wahrscheinlichkeit sagen uns, dass es extrem
wahrscheinlich ist, dass die tatsächliche Zahl sehr nahe bei 100 liegen wird.) Wir können nur nicht vorhersagen, wer genau sterben wird. Anstatt von »statistischen Leben« zu reden, wäre es ehrlicher, die Entscheidung so zu präsentieren: »Dadurch wird im Durchschnitt jedes Jahr der Tod von 100 Menschen verursacht, aber wir können nicht sagen, wer sterben wird.« Dann wären wir gezwungen, uns einer schwierigen Frage zu stellen – nämlich, ob es zu rechtfertigen ist, weniger Geld auszugeben, anstatt Menschen das Leben zu retten, die wir nicht kennen. Zurzeit geben wir wesentlich mehr dafür aus, Menschen das Leben zu retten, die wir kennen – etwa das eines Kindes, das in einen Brunnen gefallen ist, oder die Leben von Bergleuten, die unter Tage in einem Schacht eingeschlossen sind.
Das bringt uns zu einem fundamentalen Fehler, der zutage tritt, wenn diese Art von ökonomischem Imperialismus in die Tat umgesetzt wird: Es gibt keinen bestimmten Wert eines Menschenlebens, der für alle Entscheidungen geeignet wäre. In unterschiedlichen Situationen, bei denen es um Todesrisiken geht, treffen wir unterschiedliche Entscheidungen – und zwar aus guten Gründen, etwa dem Alter der potenziellen Opfer, ob das Risiko freiwillig eingegangen oder von anderen aufgenötigt wurde, ob das Todesrisiko bei 1 zu 100 oder bei 1 zu 100 000 liegt, ob das Risiko unumkehrbar ist und so weiter. Unsere Gesetze, unsere Moral und unsere sozialen Normen berücksichtigen solche Unterschiede, doch das Beharren von Ökonomen auf einem bestimmten Geldwert für ein menschliches Leben impliziert, dass wir sie ignorieren sollten. Die Imperialisten sagen, wir müssten
einen einzelnen Geldwert für ein Menschenleben verwenden, um konsistent zu sein. Aber das Leben ist nicht konsistent. Es ist kein Leben als homo oeconomicus
. Und die Ökonomik der realen Welt ist keine Wissenschaft.
Auch Schellin
g selbst war inkonsistent. Er hat seine Meinung geändert. In »The Life You Save May be Your Own« hat er großes Vertrauen gezeigt in unsere Fähigkeit, uns rational und konsistent zwischen riskanten Jobs zu entscheiden. Doch im Laufe der zwölf Jahre, bis »The Intimate Contest for Self-Command« erschien, hatte Schellin
g eine durchdachte Analyse der Motive entwickelt, die hinter unserem irrationalen und inkonsistenten Verhalten stecken – und, wie wir gleich sehen werden, ein ebenso durchdachtes Verständnis der Probleme, die es mit sich bringt, das Anwendungsgebiet von Märkten zu erweitern.
Babys und Nieren
Also wollen wir noch einmal zu der These zurückkehren, dass Babys, Nieren und die meisten anderen Dinge auf Märkten gehandelt werden sollten – eine Argumentation, die mit der Arbeit von Becke
r und seinen Kollegen von der Chicagoer Schule, darunter auch Stigle
r und Posne
r, ihren Anfang nahm, aber heute in aller Welt Befürworter findet. Der Kern ihres Arguments für neue Märkte ist leicht in Worte zu fassen: Wenn du etwas haben willst, warum solltest du es nicht bekommen können? Mit anderen Worten: Diese ökonomischen Imperialisten sehen Märkte als Gebilde an, die eine wichtige Art von Demokratie bieten. Über Geschmack lässt sich nicht streiten: Märkte ignorieren die Art von elitärem Gehabe, das besagt, es sei stilvoller, in die Oper zu gehen als zu einem Wrestling-Match. Und Märkte treffen keine Werturteile über die Dinge, mit denen Sie Handel treiben dürfen oder nicht.
Doch die Demokratie der Märkte ist anders als die klassische Demokratie. Auf den Märkten heißt es: Eine Stimme pro Dollar, nicht eine Stimme pro Person. Die Reichen haben mehr zu sagen, weil sie mehr Kaufkraft haben. Das muss in den meisten Märkten für gewöhnliche Güter und Dienstleistungen nicht unbedingt ein Problem sein (und vielleicht sind wir bereit, für die Vorteile, die Märkte uns bringen, einige ihrer Probleme in Kauf zu nehmen). Aber was passiert, wenn die Demokratie der Märkte die klassische
Demokratie aktiv untergräbt?
Das Prinzip, dass wir alle gleichberechtigte Bürger sind, bildet den Kern der Demokratie. Marktaktivitäten (wie Lobbying und Warteschlangen, neben anderen), die Reiche in die Lage versetzen, sich die erwünschten politischen Maßnahmen zu kaufen, untergraben eindeutig den Grundsatz der Gleichberechtigung aller Bürger. Darüber hinaus untergraben Märkte gewisse Aspekte der Gleichberechtigung abseits der Wahlurne – gleiche Rechte und Pflichten für alle Bürger, einschließlich der Pflicht, in Strafverfahren als Schöffe zu dienen, wenn man dazu aufgefordert wird, oder Militärdienst oder kommunale Dienste zu leisten. Ökonomische Imperialisten haben sich an vorderster Front dafür starkgemacht, Märkte für Bürgerpflichten einzuführen: Wenn jemand zum Militärdienst einberufen wird oder bei einem Gerichtsverfahren als Schöffe dienen soll, könnten Bürger, die sich das leisten können, andere dafür bezahlen, an ihrer Stelle zu dienen. Und was die Bürgerrechte angeht, hat Becke
r 1987 vorgeschlagen, das Recht auf Staatsbürgerschaft (das Einwanderungsrecht) an die Höchstbietenden zu versteigern. Im Jahr 2009 führte die wachsende Zahl von Flüchtlingen zu einem Update: Becke
r argumentierte, das Asylrecht für Flüchtlinge solle nur durch Zahlen einer hohen Gebühr erworben werden können, weil so »zeitraubende Anhörungen zu der Frage, ob sie durch Abschiebung in ihr Heimatland wirklich in physische Gefahr geraten würden, vermieden werden könnten«.
[26]
Der Grundsatz gleicher Rechte für alle Bürger liefert uns nicht nur einen Grund, das Anwendungsgebiet von Märkten einzuschränken, sondern es ermöglicht
Märkte überhaupt erst: Damit Märkte ordentlich funktionieren können und beiden Parteien eines Handelsgeschäfts nützen, müssen diese Parteien unter mehr oder weniger gleichen Bedingungen Handel treiben. Wenn eine Partei extrem arm, verletzlich oder machtlos ist, wird sie wahrscheinlich bei Geschäften an einem Markt übervorteilt werden, und dann kann ein Verbot solcher Geschäfte gerechtfertigt sein. Kinderarbeit ist in den meisten Ländern verboten (wenn auch das Alter eines »Kindes« sehr unterschiedlich definiert wird), da Kinder in der Regel auf einem Arbeitsmarkt keine Verhandlungsmacht haben: Ihre Arbeit wird ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung verkauft, oder es fehlt ihnen die nötige Reife, um zu verstehen, was die betreffende Arbeit mit sich bringt.
Eine Frau könnte einen Vertrag abschließen, ihr ungeborenes Kind an adoptionswillige Eltern zu verkaufen, weil sie extrem arm ist oder nicht weiß, wie es ihr gehen wird, wenn sie das Kind übergeben hat. Ein extrem armer Vater könnte sich auf einen Kredit zu Wucherzinsen einlassen, um lebenswichtige Medikamente für sein todkrankes Kind zu kaufen, obwohl er weiß, dass keinerlei Hoffnung besteht, den Kredit jemals zurückzahlen zu können. All diese Fälle sollten Anlass genug sein, zumindest nachzudenken, bevor man sich die Annahme zu eigen macht, dass Märkte stets beiden Parteien eines Handelsgeschäfts nützen, weil dort nur Geschäfte stattfinden, die aus freien Stücken eingegangen werden. Tatsächlich ist die Entscheidungsfreiheit in manchen Kontexten minimal, sodass wir nicht davon ausgehen können, dass Marktentscheidungen für alle beteiligten Parteien vorteilhaft sind.
Aber wie verletzlich, verzweifelt und machtlos müssen Menschen sein, damit es gerechtfertigt ist, Märkte zu verbieten, oder – was beinahe auf das Gleiche hinausläuft – bereits geschlossene Verträge zu annullieren? Ein Grund, warum die Argumente der ökonomischen Imperialisten für die Erweiterung des Anwendungsgebiets von Märkten so außerordentlich einflussreich waren, ist der Umstand, dass es auf solche Fragen keine einfachen und zufriedenstellenden Antworten gibt. Da Märkte eben nicht
alle gleich sind – der Markt für Wandfarbe ist völlig anders als der Markt für reproduktionsmedizinische Leistungen –, ist es kein Wunder, dass auch die Gründe, warum in einem bestimmten Bereich kein Markt zugelassen werden sollte, sich je nach Kontext unterscheiden. Und der Kontext verändert sich je nach Zeit und Ort. Das ist der Grund, warum ein Markt, der in früheren Epochen völlig akzeptabel war – etwa ein Sklavenmarkt –, in einer anderen Ära nur Abscheu hervorruft. Doch um zu rechtfertigen, das Anwendungsgebiet eines bestimmten Marktes in einem bestimmten zeitlichen und örtlichen Kontext einzuschränken, brauchen wir keine zeitlosen, universellen Gründe – das ist zu viel verlangt. Als Gesellschaft können wir entscheiden, uns die Demokratie der Märkte in den meisten Situationen zu eigen zu machen. Um es mit Becke
r zu sagen: Die Menschen sollten generell die Freiheit haben zu kaufen, was sie wollen, und so ihr Wohlergehen, wie sie es selbst definieren, zu maximieren. Doch als Gesellschaft können wir zugleich beschließen, diesen Prozess der Maximierung des eigenen Wohlergehens gewissen
Einschränkungen zu unterwerfen, und wir können entscheiden, dass bestimmte Dinge nicht auf Märkten gehandelt werden sollten. Keine der beiden Philosophien ist universell oder kann es überhaupt sein.
Allerdings ist es wesentlich einfacher, abstrakt über solche Einschränkungen nachzudenken als sie in der Praxis durchzusetzen. Falls ich eine Niere brauche und bereit bin, dafür 20 000 Pfund zu bezahlen, und Sie bereit sind, eine Ihrer Nieren für 20 000 Pfund zu verkaufen, dann haben wir nicht nur beide einen Vorteil davon, wenn dieses Geschäft zustande kommt, sondern mein verzweifelter Wunsch nach einer Niere wird erfüllt. Vielleicht wird dadurch mein Tod verhindert. Dies scheint ein Fall von ökonomischem Imperialismus im Dienste einer guten Sache zu sein – und dennoch ist es in allen Ländern (außer dem Iran) gesetzlich verboten, eine seiner Nieren zu verkaufen. Überhaupt ist der Verkauf von Körperteilen von den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der Weltgesundheitsorganisation ausdrücklich untersagt worden. In den meisten Ländern herrscht eine gravierende Knappheit an Spendernieren für Transplantationen. Das Plädoyer für einen entsprechenden Markt stützt sich auf die Behauptung, dass es das Angebot an Spendernieren erhöhen würde, wenn sie verkauft werden dürften. Doch das kann nicht so einfach angenommen werden. (Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, erhöht es nicht immer das Angebot, wenn man Menschen für etwas bezahlt, was sie vorher unentgeltlich abgegeben haben.)
Ökonomische Imperialisten wischen diesen Einwand beiseite. Für sie ist die Lösung ganz offensichtlich: Wie bei allen anderen Dingen wird das Angebot steigen, wenn der Preis nur hoch genug ist. Wir müssen nur berechnen, wie hoch er sein muss, um Menschen dazu zu bewegen, Nieren zu spenden. Und hier meldet sich natürlich Gary Becke
r zu Wort: »Der Reservierungspreis eines Organs hat drei weitere wichtige zusätzliche Komponenten – eine finanzielle Entschädigung für das Risiko, bei der Organentnahme zu sterben … für die Zeit, die während der Heilung verloren geht … für das Risiko einer reduzierten Lebensqualität«.
[27]
Um mit einem Preis für eine Niere aufwarten zu können (etwa 19 800 Dollar auf dem Preisniveau von 2019), muss Becke
r fantastische Annahmen machen, darunter einige, die uns schon begegnet sind. Um den Betrag zu schätzen, den man Ihnen zahlen muss, um Sie für das Risiko zu entschädigen,
dass Sie bei der Nierenentnahme sterben könnten, greift Becke
r auf bereits vorhandene Statistiken zurück, die unter Ökonomen im Umlauf sind und zeigen, einen um wie viel höheren Lohn man einem Menschen zahlen muss, damit er einen riskanteren Job annimmt. Aber selbst wenn wir die zweifelhaften Grundlagen für Becker
s Zahlen beiseitelassen, verändert diese Denkweise die Debatte um den Kauf und Verkauf von menschlichen Nieren von Grund auf. Wir lassen uns damit auf eine Auseinandersetzung um die Höhe des Preises ein, bei der die ökonomischen Imperialisten im Vorteil sind, weil sie die Techniken beherrschen, mit denen solche Zahlen generiert werden (wobei sich ihnen auch eine hervorragende Gelegenheit bietet, für das Privileg, in den Genuss ihres Expertenwissens zu kommen, hohe Beratungshonorare in Rechnung zu stellen). Fast unbemerkt verlagert sich auch die breitere politische Debatte: Wie können wir uns genügend Nieren
leisten
? Und selbst wenn der Preis hoch ist, so ist er vielleicht doch billiger als der Versuch, die Menschen durch Bildung und Aufklärung zu motivieren, der Entnahme von Spenderorganen nach ihrem Tod zuzustimmen. Hier bleiben die moralischen Probleme auf der Strecke: Bildung wird reduziert auf eine ineffiziente Methode, um ein höheres Angebot an Nieren herbeizuführen.
[28]
In seinem Roman
Never Let Me Go
beschreibt Kazuo Ishigur
o eine Welt, in der menschliche Klone ausschließlich zu dem Zweck herangezogen werden, Ersatzorgane für andere zu liefern. Märkte für Spenderorgane haben etwas gemein mit dieser Dystopie: Ihre wichtigste Wirkung wird sein, dass Körperteile von Armen an Reiche umverteilt werden. Natürlich werden ökonomische Imperialisten argumentieren, die Armen müssten davon einen Vorteil haben, da sie sich ja »freiwillig entscheiden«, ihre Organe zu verkaufen. Um darauf mit den Worten einer Wissenschaftlerin zu antworten, die den weltweiten Handel mit menschlichen Organen untersucht hat: »Vielleicht sollten wir nach besseren Möglichkeiten suchen, um Armen zu helfen, als sie in Ersatzteile zu zerlegen.«
[29]
In Fällen wie diesem wird klar, dass Märkte schwierige moralische Fragen aufwerfen. Doch die Argumente der ökonomischen Imperialisten und ihrer Freakonomics-Gefolgschaft sind nicht hilfreich. Und zwar erstens, weil sie versuchen, moralische Probleme auszuklammern, und so tun, als könnten solche Fragen von Ökonomik getrennt betrachtet werden. Die
Autoren von
Freakonomics
drücken es so aus: »Moral, so könnte man argumentieren, repräsentiert die Art und Weise, wie die Welt unserer Ansicht nach funktionieren sollte – während die Ökonomie uns zeigt, wie sie
tatsächlich
funktioniert.«
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Und zweitens, weil viele Märkte sogar gemessen an dem engen, von ökonomischen Imperialisten angelegten Benchmark scheitern – der Maximierung des eigenen Wohlergehens. Das Wohlergehen der Akteure wird angeblich maximiert, weil Märkte die betreffenden Güter denjenigen Käufern zuteilen, die ihnen den höchsten Wert beimessen – den Höchstbietenden. Doch wie viel ein Käufer zu zahlen bereit ist, ist kein zuverlässiges Kriterium für das, was ihm wirklich wertvoll ist. Die Menschen versuchen zwar, im eigenen Interesse zu handeln, doch Verhaltensökonomik und Psychologie haben gezeigt, wie oft sie dabei Fehler machen. Das ist der Grund, warum wir weltweit gesehen mehr Geld für Antifaltenmittel auszugeben bereit sind als für Medikamente gegen Malaria. Trotzdem sind Mittel gegen Malaria wichtiger. Der letzte Satz ist unumstritten, weil sich zwar über
Geschmack
nicht streiten lässt, wir uns aber sicherlich über gewisse
Notwendigkeiten
einigen können. Letzten Endes ist die Achillesferse von Märkten etwas, das Sie schon immer wussten: Preis ist ein schlechter Maßstab für Wert.
Eine titanische Frage
Die Annahme, dass Preis ein guter Maßstab für Wert sei, hat unser Denken so durchdrungen, dass wir vergessen haben, wie sehr das einen revolutionären Bruch mit unseren Anschauungen vor kaum einer Generation darstellt. Zum Beispiel in der höheren Bildung – auch hier war es Gary Becker
s Denken, das einen entscheidenden Bruch mit der Vergangenheit auslöste. Becke
r entwickelte das mittlerweile vertraute Konzept von Humankapital
: Heute halten wir es für normal, wenn davon gesprochen wird, in sich selbst zu investieren, sich zu vermarkten, sich als finanziellen Anlagewert zu definieren, dessen Wert sich an der Rendite bemisst, die er in Zukunft einbringen kann. Vor diesem Hintergrund argumentierte Becke
r, dass Studienplätze – wie jede andere Ware, von der Karotte bis zur Niere – an den Meistbietenden vergeben werden sollten. Angehende Studenten wüssten selbst am besten, wie viel
Humankapital sie aus einem Studienplatz würden ziehen können, so Beckers Logik, und daher würde man durch Versteigern von Studienplätzen dafür sorgen, dass der Gewinn an Humankapital in der Gesellschaft insgesamt maximiert werde.
Wie beim Handel mit menschlichen Organen können wir diesen Markt aus Gründen der Fairness ablehnen: Viele von uns halten es für ebenso wenig wünschenswert, dass die Reichen die Armen beim Zugang zur Universität überbieten können wie beim Zugang zu einer Spenderniere. Aber nehmen wir an, wir machen uns keine Sorgen um Gerechtigkeit (oder leben in einer Gesellschaft wie Norwegen, wo die gesellschaftliche Ungleichheit relativ gering ist). Dennoch könnten wir bei dem Gedanken, dass Studienplätze an den Meistbietenden verkauft werden sollen, Unbehagen empfinden. Ist dieses Unbehagen gerechtfertigt? Ja, das ist es, weil der Verkauf von Studienplätzen an dem Sinn einer Universitätsbildung vorbeigeht. Wir können unterschiedlicher Meinung sein über den genauen Sinn eines Studiums, aber im Großen und Ganzen sind wir uns darüber einig, dass Studienplätze an diejenigen mit den geeignetsten Begabungen, Interessen und Vorkenntnissen vergeben werden sollten. Das ermahnt uns, dass höhere Bildung ihre eigenen inneren Werte hat, die sich nicht an marktbasierten Kriterien bemessen lassen. Keiner dieser Werte – Begabungen, Interessen und Vorkenntnisse – kann daran festgemacht werden, wie viel ein Student zu zahlen bereit ist, um einen Studienplatz zu ergattern. Manche Studenten, die für ihr Studium viel Geld ausgeben, meinen vielleicht, sie würden sich damit gute Noten oder einen Abschluss kaufen. Doch es ist klar, dass sie sich irren: Es sind immanente Werte (die Leistungen des Studenten) und nicht der gezahlte Preis, welche die vergebenen Noten bestimmen. Wenn wir Marktbewertungen verwenden, um Studenten auszuwählen oder zu beurteilen, handelt es sich nicht mehr um Bildung.
Somit ist klar, dass die Probleme mit immer weiter ausufernden Anwendungsgebieten für Märkte darüber hinausgehen, dass Arme übervorteilt werden könnten. Aber wenn Sie nicht arm sind, scheint das Argument für die Einschränkung von Märkten sich auf Ihren Altruismus zu verlassen – Sie müssen einen Teil Ihrer Entscheidungsfreiheit aufgeben, damit Arme in geringerem Maße ausgeschlossen werden. Doch das Interessante am Schützen von verletzlichen, verzweifelten und machtlosen Menschen ist, dass es auch uns anderen
helfen kann. Als 1912 die Titanic unterging …
… gab es genug Rettungsboote für die Passagiere der ersten Klasse; von den Menschen im Zwischendeck wurde erwartet, mit dem Schiff unterzugehen. Denen, die ihr Leben mit einer Reise über das Meer riskieren wollen und sich die Fahrt mit einem sicheren Schiff nicht leisten können, sollte man vielleicht nicht die Möglichkeit verwehren, sich einem billigeren Schiff ohne Rettungsboote anzuvertrauen; doch wenn einige Menschen sich den Preis einer Passage mit Rettungsbooten nicht leisten können, andere dagegen schon, dann sollten sie nicht mit demselben Schiff reisen.
[31]
Ganz gleich, ob Sie dem nun zustimmen oder nicht – auf jeden Fall gibt es hier mehrere Überraschungen. Erstens stammen diese Worte nicht von einem Philosophen, der über moralische Fragen grübelt, sondern von dem Pragmatiker Thomas Schellin
g. Er beginnt mit der Feststellung, dass wir für sämtliche Passagiere Zugang zu Rettungsbooten fordern, auch wenn manche von ihnen lieber nicht dafür zahlen möchten. Doch generell würden wir das keineswegs fordern: In anderen Kontexten halten wir es durchaus für statthaft, zwischen unterschiedlichen Sicherheitsniveaus zu wählen, je nachdem, wie viel man dafür zahlen möchte. So kaufen sich manche Leute sicherere und teurere Autos, andere dagegen nicht. Interessanterweise deutet Schellin
g damit an, dass wir es den Armen erlauben sollten, sich für weniger Sicherheit zu entscheiden, solange wir anderen ihnen dabei nicht zusehen müssen.
Damit scheint er eine hartherzige Gleichgültigkeit gegenüber Mitmenschen zu rechtfertigen. Doch Schellin
g scheint die gegenteilige Reaktion im Sinn zu haben: Wir können das nicht mit ansehen, eben weil wir mitfühlend sind. Stellen Sie sich vor, Sie wären auf einem sinkenden Schiff, auf dem es für Passagiere mit den billigsten Tickets keinen Platz in den Rettungsbooten gibt, weil die Gesellschaft zugelassen hat, dass solche Schiffe gebaut werden. Stellen Sie sich nicht nur die Kämpfe vor, sondern auch das verzweifelte Betteln, wenn Menschen ohne Platz im Rettungsboot darum flehen, sich hineinquetschen zu dürfen. Um zu verhindern, dass die Rettungsboote sinken, würden die Reichen die Armen über Bord stoßen müssen. So sieht eine Gesellschaft mit extremer Ungleichheit der bürgerlichen Rechte aus. Wenn in einer Marktgesellschaft zwei Parteien bei extrem ungleichen Bedingungen miteinander
interagieren, sind die Folgen entsetzlich für die Armen, aber auch schmerzhaft für die Reichen. Um extreme Ungleichheiten zu verhindern, führt der Pragmatiker Schellin
g ein Argument ins Feld, das auf nicht mehr als dem Eigeninteresse der gesellschaftlich Bessergestellten aufbaut. Natürlich können wir das noch weiter denken. Letztlich beruhen die Argumente dafür, Märkte auf Parteien zu beschränken, die unter einigermaßen gleichen Voraussetzungen Handel treiben können, auf dem Respekt für unsere gemeinsame Menschlichkeit. Es ist nur möglich, respektvoll Handel zu treiben, wenn die Verletzlichen, Verzweifelten und Machtlosen ebenfalls in den Blick genommen werden. Wenn wir jedoch extreme Ungleichheiten nicht eliminieren können oder wollen, wäre es wohl am besten, bestimmte Märkte ganz zu verbieten, anstatt Handel zwischen extrem ungleichen Parteien zuzulassen.
[32]
Die Vorstellung, alles menschliche Verhalten könne durch die schmalspurige Karikatur des rationalen wirtschaftlichen Denkens der ökonomischen Imperialisten erklärt und gerechtfertigt werden, haben wir heute weit hinter uns gelassen. Wie schon von Neuman
n vor ihm ist auch Becke
r mit seinem Versuch, eine allumfassende Wissenschaft der Gesellschaft zu begründen, gescheitert. Doch in Anbetracht seines anhaltenden Einflusses müssen wir einigen alten Wahrheiten wieder Geltung verschaffen. Die Entscheidung, welche Dinge auf Märkten ge- und verkauft werden dürfen, wirft sowohl moralische als auch wirtschaftliche Fragen auf, und wir können die beiden Bereiche nicht sauber trennen. Märkte können das Wesen dessen, was gehandelt wird, verändern – auf Märkten für Sex ist das offensichtlich, auf Märkten für höhere Bildung dagegen weniger. Und natürlich ist ein Preis ein schlechter Maßstab für Wert.
Derweil gehen die Schäden, die vom ökonomischen Imperialismus angerichtet werden, immer weiter. Im Jahr 2016 war die wichtigste Nachricht aus der Geschäftswelt die Enthüllung, dass Volkswagen seit vielen Jahren die Abgastests für Dieselfahrzeuge durch betrügerische Manipulationen umgangen hat. Von einem Unternehmen mit einem so makellosen Ruf wie VW
hätte man das am wenigsten erwartet. Doch eigentlich ist es nicht überraschend, dass Unternehmen schummeln, wenn eine Legitimation für schlechtes Verhalten so leicht zu finden ist: Dazu muss man nur Becker
s Unfähigkeit, zu verstehen, dass Straftaten moralisch falsch sind, mit Friedman
s
hartnäckig vertretener Auffassung, die einzige Pflicht von Unternehmen bestehe darin, Profit zu machen, verknüpfen. Wie viele andere Manager, Politiker und Menschen in Machtpositionen gibt es noch, denen von ökonomischen Imperialisten Ausreden eingeflüstert werden?