7   Jeder Mensch hat seinen Preis
Im Jahr 1911 veröffentlichte Frederick Winslow Taylo r, ein Aristokrat aus Philadelphia, The Principles of Scientific Management (deutsche Ausgabe: Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung, 1913). Taylo r, der später von dem Management-Guru Peter Drucke r zum »Isaac Newto n der Arbeitswissenschaft« ernannt wurde, könnte man wohl als den ersten Unternehmensberater der Welt bezeichnen. Sein Buch ebnete den Weg für das, was heute Mainstream-Managementmethoden zur Effizienzverbesserung von Arbeitsabläufen sind. Doch der später so genannte Taylorismu s hatte einen schwierigen Anfang.
Das Watertown Arsenal in Massachusetts war eine von der US Army betriebene Einrichtung, die hauptsächlich als Fabrik zur Herstellung von Artilleriegeschützlafetten diente. Taylo r sollte dort das Militär zu der Frage beraten, wie sich die Produktivität der Arbeiter steigern und das sogenannte »soldiering« beenden ließe, ein Wort, das damals so viel wie »Drückebergerei« oder »Krankfeiern« bedeutete. Also patrouillierte Taylor s Assistent mit einer Stoppuhr bewaffnet durch die Fabrikhalle, bis einer der Arbeiter sich weigerte, seine Handgriffe zeitlich erfassen zu lassen. Am 11. August 1911 wurde dieser Arbeiter wegen Insubordination gefeuert, und alle seine Kollegen legten aus Protest die Arbeit nieder. Dies war der erste Streik gegen Taylorismu s, nur wenige Monate, nachdem Taylor s Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung erschienen waren. Doch ohne die offizielle Unterstützung der Gewerkschaft konnte der Streik nur eine Woche aufrechterhalten werden, und die meisten der von Taylo r eingeführten Änderungen der Arbeitsabläufe wurden beibehalten. [1] Und Taylo r hatte das letzte Wort über die Einrichtung in Watertown, da das Arsenal heute ein Bürokomplex ist, in dem die Harvard Business Review ihren Sitz hat, eine führende Fachzeitschrift zur Managementwissenschaft, die zu großen Teilen direkt auf den Taylorismu s zurückgeht.
Doch die Nachwirkungen des Streiks erzählen eine andere Geschichte. Da diese Arbeiter Staatsbedienstete der Bundesregierung in Washington waren, hatten sie das Recht, direkt vor dem US -Kongress zu protestieren. Sie konnten den Kongress überzeugen, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Eines der Ergebnisse war, dass die US -Regierung den Einsatz von Stoppuhren zur Arbeitszeiterfassung in militärischen Einrichtungen verbot – aus heutiger Sicht eine erstaunliche politische Intervention. Damals sahen freilich sowohl Unterstützer als auch Kritiker des Taylorismu s diesen als politisches und moralisches Projekt, sodass die direkte Einmischung von Politikern niemanden überraschte. Auch Taylo r selbst sah sein »wissenschaftliches Management« nicht als moralisch neutral oder apolitisch. Er war der Meinung, dass Arbeiter Einfaltspinsel seien, deren Verhalten durch Manager mit überlegener Intelligenz kontrolliert werden müsse. Bei einer Anhörung vor dem Untersuchungsausschuss sagte er: »Ich kann aus voller Überzeugung sagen, dass die Wissenschaft vom Umgang mit Roheisen so großartig ist, dass der Mann, … der körperlich in der Lage ist, mit Roheisen zu arbeiten, und hinreichend phlegmatisch und dumm, um das zu seinem Beruf zu machen, kaum in der Lage sein wird, die Wissenschaft vom Umgang mit Roheisen zu verstehen.« [2]
Der Untersuchungsausschuss kam zu dem Ergebnis, dass Taylorismu s eine entmenschlichende Wirkung auf die Arbeiter habe. Und mit Begriffen wie »Social Engineering« und »soziale Kontrolle« – neben Aussagen wie »bisher stand die ›Persönlichkeit‹ an erster Stelle, in Zukunft wird die Organisation und das System an erste Stelle treten« [3]  – brachte Taylo r seine Sache nicht gerade voran, zumal in den 1930er-Jahren, als seine Kritiker Parallelen zur faschistischen Ideologie zogen. In seiner Filmsatire Modern Times (Moderne Zeiten) , die 1936 in die Kinos kam, hat Charlie Chapli n den als Tyrannei empfundenen Taylorismu s perfekt eingefangen.
Bis Ende der 1940er-Jahre hatte sich das Schlachtfeld für die Anwendung wissenschaftlicher Methoden zur Steuerung menschlichen Verhaltens vom Arbeitsplatz auf andere Bereiche ausgedehnt, während die neue psychologische Disziplin des Behaviorismus (Verhaltensforschung) entstand. Behavioristen machten Laborexperimente und setzten Belohnungen und Strafen ein, um Tiere auf jede nur erdenkliche Art zu dressieren. Sie glaubten, dass die gleichen Zuckerbrot-und-Peitsche-Techniken auch beim Menschen eingesetzt werden können. Behavioristen hatten viele Gemeinsamkeiten mit den Ökonomen von Thinktanks wie RAND : eine mechanistische Auffassung des menschlichen Wesens, die sie zu einem Glauben an die universelle Wirkmacht von Anreizen führte, um Verhalten zu manipulieren; den Wunsch nach einer Wissenschaft der sozialen Kontrolle; und sie entwickelten sogar einige militärische Anwendungen – B. F. Skinne r, der Vordenker der Behavioristen, entwickelte einen von Tauben gesteuerten Marschflugkörper für die US Navy.
Wie Taylo r hatte Skinne r ein Talent, schlechte Publicity auf sich zu ziehen. Die Käfige, in denen er seine Versuchstiere hielt (er dressierte Tauben, Tischtennis zu spielen, und einige seiner Studenten brachten einem Hausschwein bei, einen Staubsauger zu benutzen), wurden als »Skinne r-Boxen« bekannt. Zur gleichen Zeit erfand Skinne r eine Art hermetisch abgeschlossene, beheizte Kinderkrippe, die er mit seiner neugeborenen Tochter testete. Darüber schrieb er einen Artikel für das Ladies’ Home Journal , dem die Redakteure den Titel »Baby in a Box« verpassten, und fortan schienen die meisten Menschen zu glauben, eine Skinne r-Box könne nicht nur für Laborratten, sondern auch für menschliche Babys zum Einsatz kommen. Die Krippe mag harmlos gewesen sein, aber sie wirkte gruselig. Ungeachtet der Kontroverse um Skinne r und seine Experimente gewann der Behaviorismus immer mehr an Einfluss und wurde ab den 1960er-Jahren nicht mehr nur auf Laborratten in Labyrinthen angewendet, sondern auch auf Säuglinge und Psychiatriepatienten. Die praktische und breite Anwendbarkeit von Skinner s Methoden führte dazu, dass sie nach und nach in den politischen Mainstream eingingen.
Doch in den vergangenen 50 Jahren hat sich etwas verändert. Heutzutage werden taylorsch e Managementtechniken weitgehend als legitime, apolitische Interventionen gesehen, die sich die natürlichen menschlichen Neigungen zunutze machen: die Mainstream-Anwendung von Managementwissenschaft im Dienste der Effizienz. Auch abseits vom Arbeitsplatz ist unsere Sprache mit Gerede von »Anreizen« durchsetzt. Die Bedeutung dieses Wortes hat sich gewandelt von einem mit moralischer und politischer Bedeutung aufgeladenen Werkzeug des Social Engineering zu einem neutralen, objektiven Begriff, der heute nicht mehr bedeutet als »Motivationen«. Doch wenn Taylo r recht hatte mit seiner Begrifflichkeit von »sozialer Kontrolle«, dann muss diese Bedeutung seither verloren gegangen sein. Anreize sind ja schließlich Werkzeuge, um jemanden dazu zu bringen, etwas zu tun, was er sonst nicht tun würde. Selbst wenn sie aus noblen Gründen eingesetzt werden, sind Anreize nach wie vor Instrumente zum Ausüben von Macht.
»Ihr seid gewissermaßen wie Roboter, aber in menschlicher Form.« [4] Das sagt ein Manager in einem Warenlager von Amazon über die »Picker« (»Kommissionierer«), die Mitarbeiter von Amazon, die den ganzen Tag im Warenlager durch die Gänge gehen – oder joggen –, um die von uns bestellten Dinge zum Versand zusammenzustellen. Die Picker tragen kleine GPS -Geräte, die ihre Produktivität erfassen, ihnen im Warenlager die effizienteste Route von einem Punkt zum anderen zeigen und ihnen auf dem Display Anweisungen geben, sich zu beeilen, wenn sie Zeit mit unproduktiven Aktivitäten – etwa einem Schwatz unter Kollegen oder einem Toilettengang – verschwendet haben. Diese Form des Taylorismu s im 21. Jahrhundert ist ebenso aggressiv wie alles, was Taylo r einführen wollte, aber unsere Reaktion darauf hat sich verändert. Das moderne Äquivalent eines Verbots der Stoppuhr ist undenkbar geworden: Heute würde keine Regierung auf die Idee kommen, Amazon zu verbieten, die Produktivität der Picker zu erfassen. Wir haben uns generell daran gewöhnt, finanzielle Anreize in Situationen zu akzeptieren, in denen sie früher umstritten waren. Die Regierungen etlicher Länder in Mittel- und Südamerika haben Empfehlungen von Ökonomen umgesetzt und sogenannte »Conditional Cash Transfer«-Programme eingeführt, um Mütter aus armen Bevölkerungsschichten zu motivieren, bessere Mütter zu sein. Die Details variieren von Land zu Land, aber zum Beispiel wird Müttern Geld dafür angeboten, das Rauchen einzustellen, ihr Kind impfen zu lassen oder dafür zu sorgen, dass es regelmäßig zur Schule geht. Auch im Bildungswesen haben sich Anreizsysteme breitgemacht: Manche Universitäten nehmen Spenden an, die an die Bedingung geknüpft sind, dass bestimmte Kurse angeboten oder zumindest bestimmte Bücher auf die Leseliste gesetzt werden; Einzelhändler bezahlen Schulen dafür, in Freizeiträumen Verkaufsautomaten für Getränke oder Süßigkeiten aufstellen zu dürfen; Schulen zahlen Siebenjährigen einen bestimmten Betrag für jedes Buch, das sie lesen; und die Schulverwaltung verhängt Geldstrafen gegen Eltern, deren Kinder zu spät zum Unterricht erscheinen.
Was hat diesen unbemerkten Wandel in unserer Einstellung zu Anreizen verursacht? Vielleicht hängt er mit einer parallelen Entwicklung zusammen, die sich in der Ökonomik vollzogen hat. Der Marktliberalismus ist dominant geworden, und viele Ökonomen sind große Fans von Anreizen. Die Autoren des Bestsellers Freakonomics schwärmen: »Ökonomen lieben Anreize. … Der typische Ökonom glaubt, dass die Welt noch kein Problem erfunden hat, das er nicht lösen könnte, wenn er freie Hand hätte, das passende Schema von Anreizen zu konstruieren.« [5] Die meisten Ökonomik-Lehrbücher preisen die Vorzüge freier Märkte, definieren jedoch die Wirtschaftslehre zunehmend als Wissenschaft der Anreize, während im Alltag die Unterschiede zwischen Märkten und Anreizsystemen häufig zu verschwimmen scheinen. Doch für Friedrich August von Haye k, den großen Vorkämpfer für freie Märkte, war die Grenze zwischen den beiden klar abgesteckt und wichtig. Von Haye k hielt das Problem, Arbeiter zu motivieren, für eine »ihrem Wesen nach ingenieurtechnische« Aufgabe. [6] Er qualifizierte Ökonomen, die wegen solcher Probleme Bedenken äußerten, als »Sozialplaner« ab, deren Aktionen die natürliche Ordnung des Marktes stören würden. Aus einer hayeksche n Perspektive sind Anreizsysteme schädliche Formen von Social Engineering, die das freie Spiel der Kräfte am Markt stören, anstatt es zu fördern. Demnach ist dies keine einfache Geschichte von Ideen über Anreize, die durch eine Verlagerung des Zeitgeists in Richtung marktliberale Ökonomik oder politische Rechte in den Vordergrund traten.
Der Einfluss der modernen Ökonomik auf unsere Haltung zu Anreizen war subtiler. In den vergangenen Jahrzehnten waren Ökonomen bei dem explosionsartig zunehmenden Gerede über »Anreize« an vorderster Front dabei – eine Zeit, in der Anreize apolitisch umetikettiert wurden als bloße Motivationen. Manchen Ökonomen kommt es gerade recht, wenn wir unsere Motivationen allesamt als Anreize bezeichnen, weil das eine klammheimliche Art ist, die reichhaltige Vielschichtigkeit der menschlichen Psychologie auf die eindimensionale Motivation des homo oeconomicus zu reduzieren. Daher sollten wir stets daran denken, dass Anreize eben nicht nur Motivationen sind: Viele Motivationen lassen sich nicht als Anreize auffassen, ohne sie bis zur Unkenntlichkeit zu verzerren. Wenn ich mich um meine sterbende Mutter kümmere, tue ich das aus Liebe, aus Verantwortungs- oder Pflichtgefühl. Aber diese Motive können wir nicht als »Anreize« beschreiben, mich um sie zu kümmern. Kinder treibt ihre Neugier dazu, neue – und manchmal gefährliche – Dinge auszuprobieren. Aber wir sagen nicht, Neugier sei ihr Anreiz. Barack Obam a hat vermutlich einige schwarze Kinder dazu inspiriert, eine Laufbahn in der Politik anzustreben. In diesem Satz lässt sich »Inspiration« nicht durch »Anreize« ersetzen. [7]
Wie wir sehen werden, macht uns die Theorie der Motivation vonseiten orthodoxer Ökonomen blind. Sie macht uns unfähig, zu antizipieren, wann ein Anreizsystem nach hinten losgehen wird, unfähig zu erkennen, dass alternative Möglichkeiten, Menschen zu etwas zu bewegen, häufig besser sind – Alternativen, die auf dem offenen und ehrlichen Bestreben aufbauen, zu überzeugen und andere Standpunkte zu respektieren.
Immerhin lässt sich ihre Theorie leicht zusammenfassen: Jeder Mensch ist käuflich.
Hohes Tier trifft Yankee-Schauspielerin
Es gibt einen alten Witz über einen reichen und berühmten Mann, der auf einer Party eine attraktive Dame kennenlernt. Die vielleicht früheste Version – angeblich eine wahre Geschichte – wird über den britischen Medienmogul und Politiker Lord Beaverbrook kolportiert, der einer »Yankee actress« begegnet sein soll, ungefähr 1937. (In späteren Versionen war das hohe Tier – neben anderen – George Bernard Sha w, Groucho Mar x oder Winston Churchil l.) Ihr Gespräch verläuft ungefähr so:
Hohes Tier: »Würden Sie für 10 000 Pfund die Nacht mit mir verbringen?«
Schauspielerin: »Na ja, also …«
Hohes Tier: »Und für 100 Pfund?«
Schauspielerin: »Mein Herr, was glauben Sie denn, was für eine Person ich bin?«
Hohes Tier: »Das haben wir ja schon geklärt. Jetzt feilschen wir nur noch um den Preis.«
Die ökonomische Theorie der Motivation unterstellt nicht nur, dass man so gut wie jeden Menschen dazu bringen kann, so gut wie alles zu tun, wenn man ihm nur genug Geld dafür zahlt, sondern hat auch noch eine andere, aber nicht weniger fragwürdige Implikation. Da Geld alle anderen Motivationen ersetzen kann (wenn man denn nur genug davon zahlt), betrachten es die meisten Ökonomen als austauschbar mit allen anderen Motivationen, gewissermaßen als neutrale gemeinsame Währung, in der sämtliche Motivationen ausgedrückt werden können. Das ergibt ein eindimensionales Bild der menschlichen Motivation, nach dem Geld ganz einfach zu bereits vorhandenen Motiven hinzukommt oder sie ersetzt, falls sie nicht vorhanden sind. Aber Geld – oder, allgemeiner ausgedrückt, materielle Nutzen und Kosten – kann diese neutrale Rolle nicht spielen. In der realen Welt kommt Geld mit psychischem Gepäck. Ganz so, wie ein Geschenk beim Empfänger Dankbarkeit oder Ablehnung erzeugen kann, je nachdem, wie er die Motive des Schenkenden sieht, kann auch ein finanzieller Anreiz ein breites Spektrum an Reaktionen bei der Zielperson hervorrufen.
Anfang 1993 war die Schweizer Regierung auf der Suche nach einem geeigneten Gelände, um ein Zwischenlager für Atommüll (mit niedriger radioaktiver Strahlung) einzurichten. Ein möglicher Standort lag in der Nähe von Wolfenschiessen, einem kleinen Schweizer Dorf mit 640 Familien. In stundenlangen Versammlungen mit über 300 Anwohnern wurden sie befragt, wie sie dazu stünden, wenn ihnen für ihre Zustimmung zu dem Zwischenlager ein finanzieller Ausgleich angeboten würde. Nachdem die Ausgleichszahlung angeboten worden war, fiel die Unterstützung für den Plan, das Atommülllager in ihrer Gemeinde anzusiedeln, um über die Hälfte. 83 Prozent der Bürger, die das Geld ablehnten, begründeten ihre Haltung damit, dass sie sich nicht bestechen ließen. [8] Als mehrere Kindertagesstätten in Haifa, Israel, Geldstrafen für Eltern einführten, die ihre Kinder verspätet abholen, nahm die Unpünktlichkeit der Eltern zu. [9] Ebenso wie die Schweizer Dorfbewohner hatten die Eltern in Haifa den finanziellen Anreiz als einen Versuch empfunden, ihre Kooperation zu erkaufen, anstatt sie mit Sachargumenten zu überzeugen. Da ja damit ein »Preis« für Unpünktlichkeit festgelegt worden war, betrachteten die Eltern die Geldstrafe als eine Gebühr – eine Gebühr, die ihnen das Recht erkauft, ihre Kinder später abzuholen.
Solche empirischen Ergebnisse wurden von Ökonomen schockiert zur Kenntnis genommen, obwohl die Möglichkeit, dass finanzielle Anreize sich als kontraproduktiv erweisen können, unter Psychologen (die spätestens Anfang der 1970er-Jahre Skinner s Ideen meistenteils aufgegeben hatten) schon längst bekannt war. Durch ausdrückliches Ausloben von finanziellen Anreizen, um eine Person dazu zu bringen, etwas zu tun, kann ihre bereits vorhandene intrinsische Motivation untergraben oder ersetzt werden: In der Sprache der Psychologen heißt es, die intrinsische (innewohnende) Motivation werde »verdrängt« (Crowding-out-Effekt). [10] Häufig beruht diese intrinsische Motivation auf einem Gefühl der moralischen Verpflichtung – gegenüber Arbeitskollegen, dem Arbeitgeber, Ihrer Gemeinde oder Ihrem Land, je nach Kontext. In medizinischen Berufen und bei Lehrkräften haben sorgfältig aufgebaute, auf Umfragen basierende Studien zweifelsfrei belegt, was wir eigentlich schon immer wussten: Krankenschwestern, Ärzte und Lehrer werden stark motiviert von der immanenten Wichtigkeit ihrer beruflichen Arbeit, und diese intrinsische Motivation kann untergraben werden, wenn der Arbeitgeber plumpe finanzielle Anreize anbietet. Und das gilt nicht nur für medizinische und lehrende Berufe. In Boston, Massachusetts, fiel dem Chef der Berufsfeuerwehr eines Tages auf, dass seine Feuerwehrleute sich an Montagen und Freitagen häufiger krank meldeten. Daraufhin führte er eine strikte Obergrenze von höchstens 15 Krankheitstagen pro Jahr ein und drohte Mitarbeitern, die sich häufiger krank meldeten, Lohnabzüge an. Aber der Schuss ging nach hinten los: Am Ende jenes Jahres nahmen die Krankmeldungen über die Weihnachts- und Neujahrsfeiertage um das Zehnfache zu. [11] Ähnliche Reaktionen sind auch in Berufen mit weniger offenkundigen intrinsischen Motivationen zu beobachten. David Packar d, der Gründer von Hewlett-Packard, beschrieb die Atmosphäre bei General Electric, wo er Ende der 1930er-Jahre gearbeitet hatte, so: »Das Unternehmen machte die Sicherheitsvorkehrungen in den Fabriken zu einer großen Sache … sie überwachten das Werkzeug- und Ersatzteilinventar, um sicherzugehen, dass die Mitarbeiter nichts stahlen … Daraufhin machten viele der Mitarbeiter sich daran, diese offensichtliche Misstrauensbekundung zu bewahrheiten, indem sie Werkzeuge und Teile mitgehen ließen, wann immer sich die Gelegenheit bot.« [12]
In der gleichen Weise wie nachdrücklichere Formen der Machtausübung senden finanzielle Anreize ein Signal aus über die Überzeugungen und Motive der Menschen, die sie einsetzen. Wenn ich mich manipuliert fühle wie eine Marionette, hin und her gezogen von den Menschen, die an den Strippen ziehen, werde ich darauf reagieren, indem ich meine Kooperation, Loyalität, unbezahlten Überstunden und andere Formen von altruistischem Verhalten einstelle. Es ist die bekannte Tragödie des 21. Jahrhunderts, die uns schon in anderen Kapiteln begegnet ist: Die Menschen passen ihr Verhalten dem zynischen, misstrauischen Bild, das Ökonomen von ihnen haben, an. Die Überzeugung, dass »jeder Mensch käuflich ist«, wird zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.
Aber eigentlich können die Neuigkeiten nicht nur schlecht sein, da finanzielle Anreize in manchen Kontexten durchaus so funktionieren, wie die Ökonomen, von denen sie entwickelt wurden, das beabsichtigten. Im Jahr 2002 wurde in Irland eine kleine Abgabe (in Höhe von 15 Pence) auf Plastikeinkaufstüten eingeführt. Innerhalb von zwei Wochen ging der Verbrauch an Plastiktüten um 94 Prozent zurück. Großbritannien folgte Irlands Beispiel mit einer geringeren Abgabe, die ab 2011 stufenweise eingeführt wurde und dazu führte, dass der Verbrauch an Plastiktüten um etwa 80 Prozent zurückging. [13] Dabei ist jedoch entscheidend, dass der finanzielle Anreiz nicht isoliert eingesetzt wurde – die Regierung appellierte sowohl an unser Gefühl der sozialen Verpflichtung als auch den Wunsch, die Abgabe zu vermeiden. Im Rahmen einer großen Publicitykampagne wurde die Öffentlichkeit darüber aufgeklärt, wie weggeworfene Plastiktüten im Meer enden und der Meeresfauna schaden, während der Rest auf Mülldeponien landet und dort Jahrhunderte braucht, um zersetzt zu werden. Und bevor die Abgabe eingeführt wurde, fand eine öffentliche Debatte statt, die bewirkte, dass die meisten Einzelhändler, Verbraucherverbände und Umweltschutzgruppen die Abgabe unterstützten.
Wird ein finanzieller Anreiz isoliert eingesetzt, wird sich wahrscheinlich kein solcher Erfolg einstellen. Wenn die Menschen, die am Ruder sitzen, sich nicht die Mühe machen, uns durch sachliche Informationen oder eine öffentliche Debatte zu überzeugen, senden sie damit zwei mögliche Signale aus. Entweder glauben sie, wir sind ganz einfach geldgierig: Unsere Kooperation ist käuflich und es ist uns egal, ob wir dafür etwas Gutes oder Schlechtes tun sollen. Oder sie glauben, wir sind dumm, weil wir nicht in der Lage seien, die guten Gründe für das, was wir tun sollen, zu begreifen. Beide Signale sagen uns, dass wir von den Leuten, die Macht über uns haben, nicht respektiert werden.
Aber es ist aufschlussreich, sich mit diesen Zusammenhängen zu beschäftigen. Schlecht konzipierte Anreize können kontraproduktiv sein – doch wenn sie sorgsam eingesetzt werden, begleitet von kluger Kommunikation mit der Zielgruppe, können sie gut funktionieren. Dies ist die Botschaft von Freakonomics und zahlreichen Verhaltensökonomen: Anreize können Signale aussenden über die Überzeugungen und Motive derjenigen, die sie anbieten. Und Ökonomen sind vertraut und zufrieden mit der Idee, dass Aktionen Signale aussenden.
Leider liegen die Dinge jedoch etwas komplizierter. Es gibt auch noch andere Gründe, warum Anreize mitunter nicht so funktionieren, wie es beabsichtigt war. Allein der Umstand, dass Geld eine Rolle spielt, kann ein Problem sein; wenn das Geld weggelassen wird, bleibt das Problem bestehen; und selbst wenn die Anreize wie gewollt funktionieren, können sie immer noch eine schlechte Idee sein. Mit alledem sind Ökonomen weit weniger zufrieden.
Der jüdische Schneider und der Blutspender
Es gibt eine alte Fabel von einem jüdischen Schneider, der gerade in einer kleinen Stadt seinen Laden eröffnet hat. Einige bigotte Bürger waren entschlossen, ihn aus der Stadt zu treiben. Sie schickten ihm eine Gruppe von jungen Halbstarken, die zu seinem Laden kamen, ihn verhöhnten und bedrohten. Der Schneider bedankte sich und gab ihnen etwas Geld. Sie lachten ihn aus und zogen von dannen. Am nächsten Tag kamen die Rowdys wieder und machten sich über ihn lustig, doch dieses Mal sagte der Schneider, er könne ihnen nicht mehr so viel Geld geben. Die Hooligans grummelten, nahmen aber das Geld und gingen. Am dritten Tag entschuldigte sich der Schneider und sagte, dieses Mal könne er jedem von ihnen nur einen Cent geben. Die Rabauken erwiderten, für einen mickrigen Cent würden sie nicht ihre Zeit verschwenden; sie zogen ab und kamen nicht mehr wieder.
Wenn finanzielle Anreize bereits vorhandene Motive für ein bestimmtes Verhalten verdrängen, kann die Verdrängung oder Ersetzung dieser vorherigen Motivation permanent sein. Das kann dazu führen, dass selbst wenn die finanziellen Anreize dann zurückgezogen werden, das ursprüngliche Verhalten sich nicht wieder einstellt. Als die Kindertagesstätten in Haifa nach 16 Wochen die Geldstrafe für verspätetes Abholen wieder abschafften, blieb die Anzahl der Eltern, die sich regelmäßig verspäteten, auf einem höheren Niveau als in der Zeit, bevor die Geldstrafen eingeführt wurden. [14] Das Gefühl der Eltern, moralisch verpflichtet zu sein, ihre Kinder pünktlich abzuholen, war untergraben worden.
Einer der Gründe, warum die durch Anreize erfolgte Prägung selbst nach deren Wegfall anhalten kann, liegt auf der Hand. Die Betroffenen erinnern sich an die Botschaft, die den Anreizen zugrunde lag, dass sie unzuverlässig, inkompetent oder Ähnliches seien. Aber selbst wenn der ausdrückliche Anreiz nicht von solchen negativen Signalen begleitet wird, kann der Verdrängungseffekt auch dann noch anhalten, wenn der Anreiz weggefallen ist. Wie ist das zu erklären?
Wenn wir noch einmal auf Geschenke zurückkommen, zeichnet sich ein Hinweis ab. Es ist richtig, dass unsere Reaktion auf ein Geschenk von den Motiven des Schenkenden abhängt – aber noch offensichtlicher hängt sie von der Art des Geschenks ab. Die orthodoxe Wirtschaftstheorie besagt, das beliebteste Geschenk sei Geld, weil man damit genau das kaufen kann, was man haben will. 16 Dennoch sind Geldgeschenke nicht üblich, weil wir alle wissen, dass dieses Argument an der Sache vorbeigeht. Die besten Geschenke würdigen etwas an der Beziehung zwischen Schenkendem und Empfangendem. Bei solchen Geschenken geht es um mehr, als die Bedürfnisse des Empfängers zu erfüllen. Denn immerhin ist es ja so, dass wir, wenn wir doch einmal Geld geschenkt bekommen, es in der Regel für nichts Aufregenderes ausgeben als den nächsten Einkauf im Supermarkt oder einen neuen Staubsauger.
In Anbetracht des bemerkenswerten Unterschieds zwischen Geld- und anderen Geschenken ist es wahrscheinlich, dass der Mensch finanzielle Geschenke als ihrem Wesen nach verschieden von äquivalenten andersartigen Geschenken empfindet, selbst wenn die Absichten derjenigen, die solche Anreize anbieten, vollkommen gutartig sind. Es ist schwierig, diese Hypothese zu testen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Wahrnehmungen durch diverse erlernte Überzeugungen beeinflusst werden können. Doch in einem kürzlich durchgeführten Experiment, bei dem kleinen Kindern Münzen gezeigt und ihre Funktion in einfachen Begriffen erklärt wurden, hat sich herausgestellt, dass die Kinder daraufhin bei ihren gewöhnlichen Alltagsaktivitäten weniger hilfsbereit gegenüber anderen wurden. [15] Der Mensch reagiert auf Hinweisreize, die nahelegen, welches Verhalten angemessen ist in der Situation, in der er sich gerade befindet. Zuckerbrot und Peitsche in Form von finanziellen Anreizen werden wahrscheinlich das Verhalten hervorrufen, das der Betreffende sonst bei seinen finanziellen Transaktionen an den Tag legt – er denkt wie ein Verbraucher. Obwohl wir uns manchmal wie »moralische Konsumenten« verhalten, sind unsere Beziehungen zu Verkäufern anonymer und kurzlebiger als unsere Beziehungen außerhalb des Marktes, etwa in unseren Gemeinden, Familien und am Arbeitsplatz. Ökonomen haben lange die Vorteile unserer einmaligen, anonymisierten, transaktionsorientierten Beziehungen auf Märkten gefeiert. Wenn wir das Geschäft abschließen, brauchen wir nicht weiter als bis zur eigenen Nasenspitze zu sehen und können ausschließlich den eigenen Interessen folgen; und wenn das Geschäft abgeschlossen ist, sind wir quitt, ohne offene Verpflichtungen oder Verantwortlichkeiten gegenüber der anderen Partei. Das hat zur Folge, dass wir die Moral bereitwilliger hinter uns lassen, wenn wir als Konsument denken, im Vergleich dazu, wie wir in der Gemeinde, der Familie oder am Arbeitsplatz denken. Psychologen bezeichnen dieses Phänomen als »moral disengagement« (»Loslösung von moralischen Überzeugungen«) oder »Ausschalten des Ethos«. Kurzfristige, anonyme Beziehungen lösen nicht die starken Empfindungen von Sympathie und Gegenseitigkeit aus, die unser moralisches Verhalten motivieren. Das heißt, dass schon die bloße Gegenwart von Geld unsere moralische Wahrnehmung – wie wir die Situation sehen – verändert und das Risiko erhöht, dass wir uns von unseren moralischen Überzeugungen lösen.
Es gibt noch einen weiteren Grund, warum Anreize unsere intrinsische Motivation verdrängen können – und wieder können die schädlichen Wirkungen dieses Verdrängungsprozesses weiter anhalten, nachdem die Anreize selbst entfernt wurden.
Wie schon einige andere in diesem Buch erwähnten folgenschweren Momente war 1968 ein Schlüsseljahr. Damals war Großbritannien sehr stolz auf seinen National Health Service, das staatliche Gesundheitssystem, und hatte sich voll und ganz der keynesianische n Philosophie verschrieben, der Staat müsse die Wirtschaft durch Interventionen steuern. Vor diesem Hintergrund war das Ergebnis einer Studie des Institute of Economic Affairs zutiefst schockierend: Das staatlich betriebene Blutspendewesen könne den wachsenden Bedarf der Krankenhäuser an Spenderblut nicht mehr decken. Stattdessen solle man die Menschen dafür bezahlen, Blut zu spenden, weil so das Angebot erhöht werden könne. Dieser Vorschlag wurde sofort abgelehnt. Stattdessen war die wichtigste Wirkung der Studie, eine Kritik in Buchlänge zu provozieren, nämlich The Gift Relationship (»Die Schenkbeziehung«) eines Soziologen namens Richard Titmus s. Er hatte die Statistiken über Blutspenden in Großbritannien mit den entsprechenden Zahlen aus den Vereinigten Staaten verglichen, wo es in einigen Bundesstaaten unterschiedliche Formen finanzieller Anreize für potenzielle Blutspender gab. Titmus s fand heraus, dass es nicht nur zu einem geringeren Spendenaufkommen führt, wenn Bürger dafür bezahlt wurden, Blut zu spenden, sondern auch, dass unentgeltlich gespendetes Blut von besserer Qualität ist. Wenn Menschen dafür bezahlt werden, Blut zu spenden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie Aspekte ihrer medizinischen Vorgeschichte verheimlichen, die ihr Blut unbrauchbar machen.
The Gift Relationship wurde von den Wirtschaftsnobelpreisträgern Kenneth Arro w und Robert Solo w ausführlich rezensiert. Beide zeigten sich erstaunt über Titmus s’ Erkenntnisse und konnten keinen Grund erkennen, warum durch Anbieten finanzieller Anreize das Aufkommen an Spenderblut sinken sollte. Auch spätere Ökonomen haben ähnlich reagiert: Obwohl spätere Studien Titmus s’ Erkenntnis stützen, dass es zu einem geringeren Angebot führt, wenn man Blutspender bezahlt, stellen manche Ökonomen die Daten aus dem einfachen Grund infrage, dass sie unvereinbar mit den Schulweisheiten der Wirtschaftstheorie seien. [16] Gleichwohl haben Länder, die damit experimentiert haben, Menschen finanzielle Anreize fürs Blutspenden anzubieten, festgestellt, dass das Blutspendeaufkommen nicht zu dem Niveau vor dem Experiment zurückkehrt, wenn die Anreize wieder eingestellt werden. Auch danach bleibt das Aufkommen geringer, was darauf hindeutet, dass die intrinsische Motivation zu spenden zumindest teilweise permanent verdrängt wurde.
Ein Grund für die Verwunderung von Arro w und Solo w war das Signal, das durch den finanziellen Anreiz an potenzielle Blutspender ausgesendet wurde: Sicherlich war es doch ein Zeichen gesellschaftlicher Anerkennung, eine Belohnung für gutes Verhalten – warum sollte das Spender abschrecken? Ganz einfach, sagte Titmus s: Weil sie dann keine Spender mehr sind, sondern Verkäufer. Selbst eine kleine Zahlung für eine Blutspende lässt die Sache eher wie ein Geschäft aussehen denn als Geschenk: Es fällt schwerer, sich als jemanden zu sehen, der etwas aus altruistischen Gründen tut, wenn man dafür bezahlt wird. Ein uneigennütziger Akt stärkt meine Selbstachtung unter anderem deswegen, weil damit ein Opfer verbunden ist – und das ist nicht mehr der Fall, wenn ich dafür bezahlt werde.
Altruismus ist das eine; doch es ist etwas ganz anderes, ein einsamer Altruist zu sein. Es kann Ihre Selbstachtung stärken, selbstlos zu handeln, doch wenn diese Großzügigkeit von anderen ausgenutzt wird, stellt sich in vielen Fällen die entgegengesetzte Wirkung ein. Darüber hinaus herrscht Einigkeit unter Psychologen, dass wir unser Sozialverhalten auf einer weniger bewussten Ebene hauptsächlich dadurch erlernen, dass wir andere nachahmen (falls Sie davon nicht überzeugt sind, beobachten Sie einfach mal ein paar kleine Kinder). Wir werden altruistischer, wenn wir solches Verhalten bei anderen beobachten. Doch ein Problem mit Anreizen ist, dass sie es erschweren, die Motive von anderen zu erkennen. Wenn ich sehe, dass eine Person Geld dafür bekommt, dass sie Blut gespendet hat, frage ich mich: Hat sie altruistisch gehandelt oder war sie nur hinter dem Geld her? Demnach wird es schwieriger, uneigennütziges Verhalten bei anderen zu sehen, wenn Anreize vorhanden sind, und dadurch wird es weniger wahrscheinlich, dass ich selbst mich altruistisch verhalte. Und das Problem lässt sich auch nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass einfach die Anreize wieder weggenommen werden: Ich bräuchte klare Beweise für selbstloses Verhalten bei anderen statt nur das Fehlen von Anreizen, um dieses Verhalten nachzuahmen und dadurch zu »lernen«, mich wieder altruistisch zu verhalten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es potenzielle Blutspender abschrecken kann, ihnen Geld anzubieten, weil man es ihnen dadurch erschwert, sich selbst als hilfsbereit zu sehen und selbstloses Verhalten bei anderen zu beobachten. Also lernen wir, stattdessen egoistischer zu sein – ein Egoismus, der lange anhalten kann. Ähnliche Wirkungen stellen sich ein, wenn Blutspender nicht direkt durch Altruismus motiviert sind, sondern durch eine Haltung, die eher durch Bürgerpflicht oder Gemeinschaftssinn geprägt ist: Finanzielle Anreize erschweren es, das eigene Handeln als Erfüllen einer Bürgerpflicht zu betrachten und von Gemeinsinn zeugendes Verhalten bei anderen zu sehen. Also werden wir egoistischer.
Altruistisches oder selbstloses Handeln stärkt unsere Selbstachtung. Allgemeiner gesagt ist es die Freiheit, selbst handeln und sich autonom entscheiden zu können, die entscheidend für die Selbstachtung ist. Das bringt uns zu einem weiteren Grund, warum es kontraproduktiv sein kann, Anreize anzubieten: Sie können unserer Autonomie in die Quere kommen. Selbst wenn die Motive der Personen, die die Strippen ziehen, vollkommen gutartig sind, versuchen sie doch, unser Verhalten zu kontrollieren und zu manipulieren. Die negative Wirkung von Anreizen auf die Autonomie ist gründlich untersucht worden, über eine breite Palette qualifizierter Berufe, vom Arzt bis hin zum Programmierer. Es gibt überzeugende Belege dafür, dass erfahrene Chirurgen, Anwälte, Akademiker und Wissenschaftler Anreizsysteme entschieden ablehnen, die ihrer Freiheit, gemäß ihrer professionellen Einschätzung zu agieren, ins Gehege kommen oder die mit dem Verhaltenskodex kollidieren, der in ihrer Profession erwartet wird. Zwar haben Ökonomen mittlerweile akzeptiert, dass Anreize bei bestimmten Berufen mit besonderer Vorsicht eingesetzt werden sollten, doch sie sind sich nicht darüber einig, ob das Problem auch in anderen Berufen auftritt. Viele Ökonomen gehen nach wie vor davon aus, dass Anreize in der Regel nicht mit dem Gefühl von Autonomie eines Arbeitnehmers in Konflikt geraten, da ein normaler Bürger nicht arbeiten geht, um seiner Autonomie Ausdruck zu verleihen – sondern, weil er dafür bezahlt wird.
Die Gemeinsamkeit zwischen einem Niemand und einem Jemand
Luke arbeitete als Hausmeister und Reinigungskraft in einer großen US -Universitätsklinik. Einer der Patienten dort war ein junger Mann, der in einem Langzeitkoma lag. Luke machte dessen Zimmer sauber, während der Vater des Patienten, der dort schon seit Monaten Krankenwache hielt, draußen war, um eine Zigarette zu rauchen. Als er zurück ins Zimmer kam, schrie er Luke wütend an, er solle doch bitte schön das Zimmer sauber machen. Luke reinigte es noch einmal, ohne sich mit einem Wort zu beklagen. Bei einem Interview, das kurz darauf bei einer Umfrage eines Meinungsforschungsinstituts durchgeführt wurde, erklärte Luke den Vorfall: »Ich wusste, wie es um seinen Sohn steht … Er wachte nicht mehr aus dem Koma auf … Sein Sohn hatte schon ungefähr sechs Monate dort gelegen. Der Vater war wohl ein bisschen frustriert, also habe ich das Zimmer einfach nochmal sauber gemacht. Ich war nicht böse auf ihn, ich konnte ja ganz gut verstehen, wie er sich fühlt.« [17]
Dann erklärte Luke, dass er seine Aufgabe, die Zimmer sauber zu halten, einfach als Teil seines Jobs betrachtete; außerdem wollte er dafür sorgen, dass Patienten und ihre Angehörigen sich wohlfühlten, munterte sie auf und hörte ihnen zu, wenn sie mit jemandem reden wollten. All das stand natürlich nicht in Lukes Arbeitsvertrag, in dem nur seine Aufgaben als Hausmeister und Reinigungskraft erwähnt waren. Man kann sich leicht vorstellen, welche Wirkung es gehabt hätte, wenn Luke finanzielle Anreize dafür angeboten worden wären, sich nur auf seine Reinigungsaufgaben zu konzentrieren. Zu sagen, dass dadurch Lukes intrinsische Motivation »verdrängt« werden könnte, wird dem Problem nicht einmal ansatzweise gerecht. Lukes Bedürfnis, Patienten und ihren Angehörigen zu helfen, war nicht nur ein x-beliebiges weiteres Motiv, das womöglich mit finanziellen Anreizen in Konkurrenz treten konnte, sondern aus seiner Sicht die Quintessenz seines Berufslebens.
Lukes Geschichte lässt vermuten, dass Autonomie und Identität nicht nur in qualifizierten Berufen eine Rolle spielen, sondern auch in Jobs, die häufig für subaltern oder banal gehalten werden. Die meisten von uns wollen sich nicht als ein Mensch sehen, der nur für Geld arbeitet. Wie Marlon Brand o in On the Waterfront (Die Faust im Nacken) versuchen auch wir, jemand zu sein. Wir konstruieren eine Identität, für uns selbst und vor den Augen anderer. Das gilt natürlich auch abseits vom Arbeitsplatz. Wir wollen die Freiheit haben, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen, statt uns von Anreizen drängen zu lassen – selbst wenn das sanft, höflich und für eine gute Sache geschieht.
Luke wollte für die Patienten und Angehörigen im Krankenhaus ein Jemand sein, kein Niemand. Seine Philosophie wäre Isaiah Berli n, einem Jemand unter den Philosophen, vertraut vorgekommen. Bevor wir jedoch sehen können, was der Hausmeister und der Philosoph gemein haben, müssen wir uns dem Elefanten im Porzellanladen stellen. Denn Ökonomen haben eine einfache Lösung für das Problem, dass Anreize kontraproduktiv sind, sei es nun wegen des Signals, das durch Anbieten von Anreizen ausgesendet wird, wegen des »moral disengagement«, das Anreize fördern kann, oder weil sie die Autonomie der betreffenden Person infrage stellen. Ihre Lösung: einfach mehr Geld anbieten.
In seiner Tragikomödie Der Besuch der alten Dame erzählt der grandiose Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmat t die Geschichte von Claire Zachanassian. Die junge Claire wird schwanger von ihrem Geliebten Alfred, der in derselben Kleinstadt lebt wie sie. Als Alfred die Vaterschaft bestreitet, verklagt ihn Claire, doch Alfred gewinnt den Prozess, indem er zwei Zeugen besticht, damit sie lügen. Viele Jahre später kehrt Claire als alte Dame in das Städtchen zurück, das mittlerweile verarmt ist. Claire ist dagegen als Witwe eines Ölmagnaten sagenhaft reich geworden. Sie macht der Stadt ein Angebot: eine halbe Milliarde Schweizer Franken für die Stadtkasse und eine weitere halbe Milliarde, die unter den Einwohnern verteilt werden soll. Doch die Sache hat einen Haken: Die Einwohner müssen Alfred töten. Der Bürgermeister weist das Ansinnen empört zurück, die Bürger sind schockiert. Claire sagt, sie werde warten. Nach und nach kaufen die Einwohner jede Menge Luxusgüter auf Pump und verschulden sich bis zur Halskrause. Letzten Endes entschließen sie sich, Alfred umzubringen. Claire ist zufrieden, weil sie jetzt »Gerechtigkeit gekauft« habe – sie gibt dem Bürgermeister einen Scheck und verlässt den Ort mit Alfreds Leichnam.
Vielleicht hat Dürrenmat t ja recht, und finanzielle Anreize können tatsächlich so wirken, wie die orthodoxe Ökonomik es vorhersagt – wenn sie denn nur hoch genug sind. Wenn Sie ihnen nur genug Geld anbieten, werden die Menschen alles tun, was Sie von ihnen verlangen, da die Verlockung des Geldes lästige moralische Skrupel in den Hintergrund drängt. Am Ende hat ja jeder Mensch seinen Preis. Dennoch ist für jeden, den angesichts der zunehmenden Verbreitung von Anreizen ein ungutes Gefühl überkommt, die Chuzpe der Ökonomen atemberaubend: Ihre Lösung für das Problem kontraproduktiver Anreize sind ganz einfach höhere Anreize – größer, besser, länger, weiter.
Aber funktioniert das? Der Besuch der alten Dame war Schweizer Fiktio n, aber wir brauchen Schweizer Fakten. Blicken wir auf die aufrechten Bürgern der im Kanton Nidwalden gelegenen Ortschaft Wolfenschiessen, die gesagt hatten, sie würden sich nicht bestechen lassen, einem Atommülllager in der Nähe ihres Dorfes zuzustimmen. Zu der Zeit, als sie dazu befragt wurden, zog man auch drei andere Standorte in Betracht, doch ein Jahr später hatte die Regierung sich für Wolfenschiessen entschieden, dessen Einwohnern daraufhin von dem Projektentwickler beträchtliche Ausgleichszahlungen angeboten wurden: 40 Jahre lang drei Millionen Dollar pro Jahr. Im Juli 1994 beschlossen die Wolfenschiessener auf einer Gemeindeversammlung, das Angebot anzunehmen und dem Bau des Atommülllagers zuzustimmen.
Ist es also wirklich so einfach? Lässt sich das Bedürfnis nach einem tieferen und realistischeren Verständnis menschlicher Motive einfach mit einem dicken Bündel Geldscheine beiseitewischen? Einen Moment mal. Ein offensichtlicher Haken an der Sache ist, dass hohe finanzielle Anreize eine ziemlich kostspielige Methode sind, um Menschen zu etwas zu bewegen. Wolfenschiessen war ein Dorf mit nur 640 Familien, was bedeutet, dass drei Millionen Dollar pro Jahr auf 4687 Dollar pro Familie hinausliefen – das ist mehr als ein Monatsgehalt selbst für die wohlhabenden Bürger von Wolfenschiessen –, und auf etwa 120 Prozent der gesamten jährlichen Steuereinnahmen des Dorfes.
Der eigentlich stichhaltige Einwand ist jedoch fundamentaler. Nehmen wir an, dass wir, wenn die Anreize nur hoch genug sind, sicher sein können, dass sie wie gewünscht funktionieren werden. Bedeutet das aber auch, dass sie okay sind? Und falls ja, wie sind wir von Taylor s Vision von Anreizen als Instrument sozialer Kontrolle zu der Haltung gekommen, sie seien »okay«? Die meisten Ökonomen und andere Befürworter von Anreizen werden die erste Frage mit Ja beantworten. Sie argumentieren, Anreize seien aus moralischer Sicht einwandfrei, da sie ja zu einem freiwilligen Tausch führen würden. Keiner der Beteiligten werde gezwungen, irgendetwas gegen seinen Willen zu tun. Das bringt uns jedoch zu einem Widerspruch im Kern der Argumentation für Anreize: Einerseits ziehen ihre Befürworter Anreize anderen Formen von sozialer Kontrolle – etwa Regulierung oder Zwang – vor, weil sie die Entscheidungsfreiheit der Betroffenen bewahren würden. Aber andererseits sind Anreize nur dann erfolgreich, wenn es gelingt, das Verhalten dieser Menschen zu kontrollieren – sie also dazu zu bewegen, auf vorhersehbare Weise auf die Anreize zu reagieren. Das heißt, dass die Befürworter von Anreizen im Grunde genommen behaupten, das Verhalten von Menschen könne kontrolliert werden, während sie sich zugleich frei entscheiden könnten.
Wie bei den meisten vermeintlichen Paradoxen liegen die Dinge aber auch hier anders, als man zunächst denken könnte. Wenn eine Person vorhersehbar dazu gebracht werden kann, bereitwillig etwas zu tun, was sie sonst nicht tun würde, sagen wir, sie werde kontrolliert oder manipuliert. Wir bezeichnen sie nicht als »frei«, obwohl sie sich anders hätte entscheiden können. Echte Freiheit erfordert mehr als die oberflächliche Möglichkeit, sich entscheiden zu können.
Hier kommt der große Philosoph Isaiah Berli n ins Spiel, mit seiner klassischen modernen Analyse von Freiheit, die stark von seinen persönlichen Erfahrungen beeinflusst wurde. Im Jahr 1920 verließ der elfjährige Berli n mit seiner Familie das bolschewistische Russland, um Unterdrückung und Antisemitismus zu entgehen. Später wies er darauf hin, wie totalitäre Regime Freiheit mit einer vorgetäuschten Entscheidungsfreiheit gleichsetzen. Ich kann nicht frei handeln, so argumentierte er, »wenn ich in einem totalitären Staat unter der Androhung von Folter einen Freund verrate. … Aber natürlich habe ich trotzdem eine Entscheidung getroffen. … Also reicht die bloße Existenz von Alternativen nicht aus, um mein Verhalten wirklich frei zu machen.« [18] Dies bildete den Hintergrund für Berlin s Definition von Freiheit:
Die »positive« Bedeutung des Wortes »Freiheit« leitet sich ab aus dem Wunsch des Individuums, sein eigener Herr zu sein. Ich möchte, dass mein Leben und meine Entscheidungen von mir selbst bestimmt werden, nicht von externen Faktoren jedweder Art. … Ich will ein Jemand sein, ein Handelnder, der selbst entscheidet, kein Niemand, über den entschieden wird. Ich will selbstbestimmt sein und kein Spielball der Naturgewalten oder anderer Menschen, als wäre ich ein Ding, Tier oder Sklave, der nicht in der Lage ist, eine menschliche Rolle zu spielen. … Vor allem will ich in meinem eigenen Bewusstsein ein denkendes, wollendes und aktives Wesen sein, das für seine Entscheidungen selbst verantwortlich ist und sie unter Bezug auf seine eigenen Ideen und Ziele erklären kan n. [19]
Und falls Ihnen das zu hochtrabend klingt, denken Sie einfach an Luke. Er hatte seine eigenen Vorstellungen und Ziele in Bezug auf seinen Job, wollte sie selbstbestimmt verfolgen und für seine eigenen Entscheidungen verantwortlich sein, sie aufgrund seiner eigenen Maßstäbe treffen.
Das Bild des Menschen, das aus der konventionellen ökonomischen Theorie der Motivation entsteht, missachtet unsere Ideale von Freiheit und Autonomie. Da ich auf vorhersehbare Weise durch Anreize manipuliert werden kann, lässt sich nicht behaupten, meine Entscheidungen würden nur »von mir selbst bestimmt, nicht von externen Faktoren«. Und ich bin auch nicht »selbstbestimmt«. Demnach können Anreizsysteme durchaus so funktionieren, wie ihre Erfinder es beabsichtigen, ohne Verdrängen der intrinsischen Motivation – und können trotzdem moralisch falsch sein, da sie mit unseren Idealen von Freiheit und Autonomie kollidieren.
Und Anreize können auch in anderer Hinsicht moralisch falsch sein.
Wenn einem Richter ein finanzieller Anreiz angeboten wird, um einen Schuldigen davonkommen zu lassen, und er diesen Anreiz annimmt, ist das Bestechung und offensichtlich verwerflich. Dass sowohl der Bestechende als auch der Richter dadurch Vorteile erlangen können, ist dabei irrelevant. In dem Spielfilm Indecent Proposal (Ein unmoralisches Angebot) , der 1993 in die Kinos kam, fühlt sich ein Milliardär zu einer glücklich verheirateten Frau hingezogen. Er bietet dem Ehepaar eine Million Dollar dafür an, dass sie eine Nacht mit ihm verbringt. Der Milliardär ist nicht aggressiv und das Angebot nicht ausbeuterisch, sodass die Entscheidung des Paares, es anzunehmen, ein freiwilliges Geschäft ist. Wir brauchen ein älteres, stärkeres Wort als »Verdrängen«, um zu beschreiben, was hier vor sich geht: Anreize können uns korrumpieren . Sie können sowohl die Person, die den Anreiz anbietet, als auch den Empfänger korrumpieren. Shakespear e hat erkannt, wie gefährlich Korruption sein kann – und wie weit manche Menschen gehen, um ihr zu widerstehen. In Shakespeares Komödie Measure for Measure (Maß für Maß) bietet ein Richter namens Angelo an, das Leben von Isabellas Bruder zu verschonen, wenn sie bereit ist, mit ihm zu schlafen. Isabella, die Novizin in einem Kloster ist, lehnt das Angebot ab – sie sagt, es sei besser, ihr Bruder sterbe einmal, als dass ihre Seele auf alle Ewigkeit verdammt wär e.
Aber kann es wirklich angehen, dass etwas so Gravierendes wie Korruption aus den eher banaleren, alltäglicheren Anreizsystemen entstehen kann, die Ökonomen sich ausdenken? Ja, durchaus, und zwar nicht zuletzt, weil auch Lügen eine Art von Korruption ist. Wir haben gesehen, dass Menschen, die Geld dafür bekommen, Blut zu spenden, häufiger über ihre Krankengeschichte lügen werden. Und wenn der Verdienst von Lehrern mit den Prüfungsergebnissen ihrer Schüler verknüpft ist, werden mehr Lehrer über die Leistungen ihrer Schüler lügen. [20]
Natürlich wirken finanzielle Anreize nicht immer korrumpierend. Aber manchmal untergraben sie das Gegenteil von Korrumpierung – die Entwicklung eines guten Charakters. Dies ist keineswegs nur eine Sorge von nicht ausgelasteten Philosophen: Eines der wichtigsten Ziele einer Schulbildung besteht darin, bei jungen Menschen einen guten Charakter zu entwickeln. Wir wollen nicht nur, dass Schüler das Richtige tun, sondern auch aus den richtigen Gründen. Wir wollen Kinder zu Selbstdisziplin erziehen, zu der Fähigkeit, Versuchungen zu widerstehen. Dennoch haben einige Schulen in Dallas an sieben Jahre alte Grundschüler für jedes gelesene Buch eine Belohnung von zwei Dollar gezahlt. Finanzielle Anreize, um zu lesen, bringen die Gefahr mit sich, dass die Selbstdisziplin der Schüler untergraben wird. Die Kinder werden dazu angeleitet, ihr Verhalten ausschließlich an sofortigen Vor- und Nachteilen zu orientieren – von der Frage, ob die Mühe, ein Buch zu lesen, von der finanziellen Belohnung wettgemacht wird. Sie werden zu der Auffassung verleitet, dass es »Arbeit« sei, ein Buch zu lesen, statt etwas Erfreuliches, eine Aktivität, die sich um ihrer selbst willen lohnt. Anstatt lesen zu lernen, wird das Geld zum Ziel, sodass die Kinder unweigerlich lernen, sich auf das Maximieren finanzieller Belohnungen zu konzentrieren. Und dann versuchen sie, das System auszutricksen, indem sie sich kürzere und einfachere Bücher zum Lesen aussuchen. Sobald diese Mentalität sich festgesetzt hat, ist zu erwarten, dass viele Kinder ihre Bemühungen einstellen, sobald der finanzielle Anreiz wegfällt. Und auch ältere Kinder werden durch finanzielle Anreize nicht ermutigt, aus eigener Verantwortung Bücher zu lesen. Stellen Sie sich nur einmal das höhnische Grinsen eines Teenagers vor: »Wie kannst du von mir erwarten, ein Buch zu lesen, wenn du mich nicht dafür bezahlst?« [21]
Dies ist ein weiteres Beispiel, das zeigt, warum Autonomie wichtig ist. Es ist der Unterschied, etwas um seiner selbst willen oder aus eigenem Antrieb zu tun, oder es lediglich aufgrund eines externen Anreizes zu tun. Kinder, die sich autonom entscheiden, ein Buch zu lesen, weil sie lesen lernen wollen, werden nicht bei den einfacheren Büchern bleiben, die sie schon lesen können. Das wird schnell langweilig – und Schummeln wird sinnlos, wenn das Kind sich nur selbst beschummelt.
Die seltsame Welt von Nudg e
Eine in den vergangenen Jahren breit diskutierte Entwicklung der Ökonomik war das Entstehen der Verhaltensökonomik. Im Wesentlichen beschäftigt sie sich mit der Frage, wie der Mensch sich tatsächlich verhält – im Gegensatz zu Fantasien wie dem Homo oeconomicus , von denen die orthodoxe Ökonomik dominiert wird. Die Verhaltensökonomik greift auf Konzepte und Verfahren der Psychologie zurück, und es waren die beiden Psychologen Daniel Kahnema n und Amos Tversk y, die vielleicht mehr als jeder andere getan haben, um eingefahrene Lehrmeinungen der Ökonomik zu der Thematik, wie wir denken und entscheiden, infrage zu stellen. Ein wichtiges Konzept der Verhaltensökonomik nahm seinen Anfang mit Kahnema n und Tversky s Problem von der asiatischen Krankheit:
Nehmen wir an, Ihnen würde gesagt, es sei zu erwarten, dass eine seltene asiatische Krankheit 600 Todesopfer in Ihrem Land fordern wird. Um die Krankheit zu bekämpfen, wurden zwei alternative gesundheitspolitische Maßnahmen vorgeschlagen. Wenn Maßnahme A umgesetzt wird, werden 200 Menschenleben gerettet. Wenn Maßnahme B durchgeführt wird, besteht eine Wahrscheinlichkeit von eins zu drei, dass 600 Menschen gerettet werden und eine Wahrscheinlichkeit von zwei zu drei, dass niemand gerettet wird. Würden Sie Maßnahme A oder B bevorzugen?
Nehmen wir jetzt stattdessen an, zur Bekämpfung der gleichen Krankheit müsse eine Entscheidung zwischen folgenden Alternativen getroffen werden: Wenn Maßnahme C ergriffen wird, werden 400 Menschen sterben. Wenn Maßnahme D ergriffen wird, besteht eine Wahrscheinlichkeit von eins zu drei, dass niemand sterben wird und eine Wahrscheinlichkeit von zwei zu drei, dass 600 Menschen sterben werden. Würden Sie Maßnahme C oder D bevorzugen? [22]
Kahnema n und Tversk y stellten fest, dass bei der ersten Frage eine große Mehrheit der Teilnehmer Maßnahme A bevorzugten, während sich bei der zweiten Frage eine große Mehrheit für D aussprach – obwohl die beiden Fragen letztlich auf das Gleiche hinauslaufen. Maßnahme A hat das gleiche Ergebnis wie Maßnahme C, und B hat das gleiche Ergebnis wie D. Die genaue Formulierung – das »Framing«, die Darstellung – der Alternativen wirkt sich auf die Entscheidung der Befragten aus; es hat sich gezeigt, dass solche Framing-Effekte bei sehr unterschiedlichen Entscheidungskontexten zu beobachten sind. Für Psychologen war das keine Überraschung: Natürlich werden unsere Entscheidungsprozesse davon beeinflusst, wie die Alternativen dargestellt werden. Doch für orthodoxe Ökonomen war es eine schockierende Neuigkeit. Mit ihren sorgfältigen, akribisch aufgebauten Experimenten zwangen Kahnema n und Tversk y solche Ökonomen, die reale Existenz von Framing-Effekten zu akzeptieren. Und sie erzielten einen ebenso durchschlagenden Einfluss darauf, wie die meisten Ökonomen über Anreize denken.
Erstens erreichten Kahnema n und Tversk y, dass Ökonomen wesentlich aufgeschlossener für die Möglichkeit sind, dass Anreize kontraproduktiv wirken können. Vor ihnen waren die Belege für Verdrängungseffekte und die Möglichkeit, dass Anreize nach hinten losgehen können, ein riesiges Ärgernis für Ökonomen. Welches ökonomische Konzept hätte fundamentaler sein können als die offensichtliche Annahme, dass Menschen in vorhersehbarer Weise auf Geld reagieren? Als jedoch genug belastbare Belege für das Phänomen Verdrängung zusammengekommen waren, um noch länger ignoriert werden zu können, blieb als einziger Ausweg, solches Verhalten als »irrational« zu bezeichnen: Ein schwacher, aber zutreffender Einwand, wenn man als »rational« definieren will, was der homo oeconomicus tun würde. Kahnema n und Tversky s entscheidende Leistung war, eine Erklärung zu entwickeln für das, was Ökonomen bis dahin als »irrational« bezeichnet hatten – letztlich eine komplette Theorie der Irrationalität. Dadurch wurde das Phänomen Verdrängung vor dem Schicksal gerettet, eine ärgerliche Anomalie zu sein: Heute ist sie lediglich eine weitere von diversen Arten »irrationalen« menschlichen Verhaltens.
Zweitens sahen manche Ökonomen in den von Kahnema n und Tversk y entdeckten Framing-Effekten eine Erklärung dafür, dass Anreize in manchen Fällen kontraproduktiv sind und in anderen nicht. Anreize, die identisch sind, soweit es die ökonomische Theorie betrifft – ein gleicher Geldbetrag beispielsweise –, können unterschiedliche Ergebnisse produzieren, je nachdem, wie sie beschrieben oder dargestellt werden.
Drittens schien die Tatsache, dass die Existenz von kontraproduktiven Anreizen akzeptiert worden war, es notwendig zu machen, eine andere Grundlage für politische Entscheidungen zu finden. Aber als die neu entstandene Verhaltensökonomik begann, auch in politischen Kreisen bekannter zu werden, passierte etwas Seltsames. Die zentrale Lektion der Verhaltensökonomik besteht darin, dass Menschen schlechte Entscheidungen treffen – doch die politische Innovation, die sie provozierte, beruft sich auf genau solche schlechten Entscheidungen, um erwünschte Ergebnisse herbeizuführen. Willkommen in der seltsamen Welt von Nudg e .
Es begann mit dem gleichnamigen Buch, das der Ökonom Richard Thale r und der Anwalt Cass Sunstei n 2008 gemeinsam veröffentlichten. Sie hatten beide mit Kahnema n und Tversk y zusammengearbeitet, die gezeigt hatten, dass echte Menschen sich anders verhalten als der homo oeconomicus . Anstatt alle relevanten Aspekte gegeneinander abzuwägen und sorgfältig die »optimale« Entscheidung zu kalkulieren, lässt sich der Mensch von Faustregeln, Intuition, spontanen Impulsen und Trägheit leiten. Die zentrale Idee hinter Nudg e ist, dass wir diese Kräfte, anstatt sie zu bekämpfen, nutzen sollten, um die Menschen zu den Entscheidungen, die sie treffen wollen, hinzuführen – sie zu den Entscheidungen zu »schubsen«, wie homo oeconomicus sie treffen würde, oder zumindest etwas Ähnlichem. Auf den ersten Blick sah Nudg e wie eine flüchtige Modeerscheinung aus, lediglich wie die neueste Idee der Politberater, die sich im Umfeld der US -Bundesregierung herumtreiben. Aber sie verschwand nicht. Sunstei n arbeitete für das Weiße Haus unter Obam a, Thaler s »Nudge Unit« hat die Camero n-Regierung in Großbritannien beraten, und in etwa 130 Ländern werden heute herablassende Nudg e-Strategien eingesetzt. [23] Thale r gewann 2017 den Wirtschaftsnobelpreis.
Nudg e-Enthusiasten verweisen fast immer auf ein und dieselbe politische Maßnahme, um den Nudg e-Ansatz zu illustrieren, seine große Erfolgsstory – die automatische Beitrittserklärung zu betrieblichen Altersvorsorgeprogrammen. Eine Betriebsrente hat im Vergleich zu anderen Formen der Altersvorsorge zwei große Vorteile: Steuervergünstigungen und Arbeitgeberbeiträge. Trotzdem unterlassen es viele Arbeitnehmer, der betrieblichen Altersvorsorge ihres Arbeitgebers beizutreten, obwohl sie in der einen oder anderen Form Rücklagen für ihre alten Tage bilden müssen. Dieser Umstand wurde lange auf schlichte Trägheit zurückgeführt – es ist einfacher, nichts zu tun, als sich Gedanken darüber zu machen, was genau man tun sollte, wie viel man einzahlen will und so weiter –, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil solche Entscheidungen unerfreuliches Grübeln über finanzielle Ungewissheit und den eigenen Lebensabend auslösen. Um dieses Problem zu lösen, schlugen Sunstei n und Thale r eine kleine Änderung vor, einen sanften »Stups«. Warum sollte man es nicht für neu eingestellte Arbeitnehmer beim Ausfüllen des Personalfragebogens zur Standardantwort – zum Unterlassungswert – machen, dem Rentenplan des Arbeitgebers beizutreten und einen angemessenen Monatsbeitrag zu leisten? Diejenigen, die das nicht wollen, können sich ja immer noch aktiv dagegen entscheiden.
Es hat sich gezeigt, dass solche kleinen Änderungen bei fast allen Entscheidungen, die wir treffen, möglich sind. In einer Schul- oder Firmenkantine können gesunde Speisen auffällig und attraktiv präsentiert werden, während die weniger gesunden Optionen buchstäblich unterm Tresen bleiben. Im Amsterdamer Flughafen Schiphol ist in jedem der Pissoirs in den Herrentoiletten eine Fliege abgebildet. Mahnungen des Finanzamts über ausstehende Steuerzahlungen sind wirkungsvoller, wenn darin darauf hingewiesen wird, dass die meisten Leute aus der Nachbarschaft ihre Steuern bereits vollständig gezahlt haben. In Großbritannien standen Ökonomen vor dem Rätsel, dass staatliche Subventionen für die wärmedämmende Isolierung von Dachböden kaum Wirkung zeigten. Dann machte das »Nudg e-Team« der Regierung den Vorschlag, stattdessen Entrümpelungsdienste für Dachböden zu subventionieren. Insgesamt kam das teurer für die Haushalte, aber die Nachfrage nach Dachboden-Isolierungsmaßnahmen nahm deutlich zu.
Und so ist es kein Wunder, dass Nudg e sich bei Politikern jeglicher Couleur als sehr beliebt erwiesen hat: Erwünschte gesellschaftliche Entwicklungen können in die Wege geleitet werden, ohne dass plumpe finanzielle Anreize oder Zwang durch Gesetze und Vorschriften eingesetzt werden müssten. Stattdessen macht Nudg e sich die natürlichen Neigungen des Menschen zunutze und respektiert seine Entscheidungsfreiheit.
So sieht es jedenfalls auf den ersten Blick aus. Das Problem mit Nudg e – und der Verhaltensökonomik überhaupt – ist, dass dabei immer noch auf zu viele Konzepte der orthodoxen Ökonomik zurückgegriffen wird. Die von Kahneman s und Tversky s Arbeit inspirierte Verhaltensökonomik wird häufig als Forschung über heuristics and biases (»Heuristiken und Voreingenommenheiten«) bezeichnet. Das letztere Wort deckt auf, welche Annahme großen Teilen der Verhaltensökonomik zugrunde liegt: nämlich, dass die Entscheidungsprozesse des Menschen voreingenommen seien – oder, um es mit einem anderen Wort zu sagen: fehlerhaft. Zwar hatten Kahnema n und Tversk y eine Revolution ausgelöst, als sie unwiderlegbar zeigten, dass der Mensch sich eben nicht wie der homo oeconomicus verhält, doch den ebenso zentralen Stützpfeiler der orthodoxen Ökonomik, dass er sich so verhalten sollte , stellten sie nicht infrage – wodurch sie den homo oeconomicus als Ideal dessen, was es bedeutet, rational zu sein, unangetastet ließen. Und auch die Nudg e-Enthusiasten lassen dieses Ideal unangetastet. Das bedeutet, dass im Kern ihres Ansatzes die Annahme steht, dass die ideale, die vollkommen rationale Entscheidung das ist, was der homo oeconomicus tun würde. Der homo oeconomicus hat nur ein einziges Ziel – nämlich, sein eigenes Wohlbefinden oder Wohlergehen zu steigern. Wie genau sein Wohlergehen maximiert wird, interessiert den homo oeconomicus nicht – der Zweck heiligt die Mittel –, sodass die Autonomie, der Ursprung Ihres Wohlbefindens, ignoriert wird. Sunstei n besteht darauf, dass »die Menschen von Autonomie reden, doch was sie tatsächlich tun, ist, ein rasches, intuitives Urteil über ihr Wohlbefinden zu fällen.« [24] Und wenn ihr einziges Ziel die Maximierung ihres Wohlbefindens ist, gibt es eine offensichtliche Rolle für die, auf die sich das wir bezieht, das so häufig in den schriftlichen Äußerungen von Nudg e-Experten und Verhaltensökonomen auftaucht. Wir, die Nudg e-Experten, müssen uns nicht mit lästigen Abwägungen zwischen ethischen Werten aufhalten oder uns fragen, was »sie« wirklich wollen. Wir, die Nudge r, wissen bereits, was sie wollen sollten, und deswegen können wir uns anmaßen, sie in diese Richtung zu stupsen.
Hier taucht das praktische Problem auf, dass Verhaltensökonomik auch auf akademische Eliten anzuwenden ist. Experten können Nudgin g vermasseln, weil sie für die gleichen kognitiven Fehler anfällig sind wie der Rest von uns. Natürlich können sich Experten auch beim Einsatz anderer politischer Werkzeuge, darunter auch finanzielle Anreize, als inkompetent erweisen. Doch bei finanziellen Anreizen wissen wir zumindest, dass wir »angereizt« werden, und können auf der Hut sein. Dagegen wissen wir es häufig nicht, wenn wir »gestupst« werden. Hinzu kommt noch, dass in manchen Fällen Tarnen und Täuschen eine entscheidende Voraussetzung sind, damit Nudgin g überhaupt funktionieren kann. Häufig beruhen Nudge s auf der verdeckten Manipulation unseres Verhaltens oder einer gewissen Geheimhaltung – so zum Beispiel, wenn die ungesunden Speisen im Angebot einer Kantine außer Sichtweite platziert werden. Dieses Beispiel mag verdeckte Manipulationen relativ harmlos erscheinen lassen, doch generell bietet Nudgin g sich an, um von unaufrichtigen Aufsichtsbeamten sowie Politikern mit noch finstereren Motiven ausgenutzt zu werden. Zumindest lässt die Aura der »Harmlosigkeit«, die manche Nudge s umgibt, und die Tücke anderer Nudges vermuten, dass Nudgin g in geringerem Maß demokratischen Kontrollen unterworfen ist als traditionelle Regulierungen und daher leichter von Interessengruppen vereinnahmt werden kann.
Schließlich gibt es noch einen grundsätzlichen Einwand gegen scheinbar harmlose Nudge s wie die »automatische Beitrittserklärung« zu Rentenplänen (wo der Beitritt die Standardantwort ist): Andere Alternativen könnten dem Nudg e überlegen sein. Gewisse in den USA erhobene Daten deuten darauf hin, dass solche automatischen Beitrittserklärungen die Gesamtsumme der Altersvorsorgeersparnisse reduziert haben könnten. [25] Der Standard-Rentenversicherungsbeitrag wurde in den USA in vielen Fällen auf einen sehr niedrigen Betrag festgelegt (ungefähr drei Prozent des Bruttoeinkommens), und viele Beschäftigte, die andernfalls womöglich höhere Beiträge zahlen würden, bleiben aus Trägheit bei diesem Standardbeitrag. Groteskerweise gehen viele Nudge r davon aus, dass die Menschen, sobald der Nudg e ihre Aufmerksamkeit auf die Rente gelenkt hat, ihren Beitrag auf den »optimalen« Wert ändern werden, dass sie also nicht beim Standardbeitrag bleiben werden. Unter Verhaltensökonomen, die genau wissen, dass die Macht der Trägheit uns dazu verleiten wird, beim Standardwert zu bleiben, ist das eine erstaunliche Annahme. Aber wie dem auch sei – warum sollte man den Bürgern nicht einfach vorschreiben, ausreichende Rücklagen für ihre alten Tage zu bilden, entweder durch private Vorsorgepläne oder durch eine steuerfinanzierte staatliche Altersversorgung?
Auch hier ist das Problem der Standardwert: das standardmäßige Kleben der Nudge r an der orthodoxen Ökonomik. Sie gehen davon aus, dass der Bürger, sobald ihm ein geeigneter Nudge verpasst wurde, wieder zum Standardverhalten des homo oeconomicus zurückkehren werde. Die Nudge r beginnen ihre Argumentation damit, dass sie im Grunde genommen die Menschheit in zwei Gruppen aufteilen. Wieder sind es wir und sie – hier die tumben Sklaven ihrer spontanen Impulse, Trägheiten und Faustregeln, und dort die Schlauköpfe (raten Sie mal, zu welcher Gruppe die Nudger s sich zählen). Dann fallen die Nudge r wieder auf die orthodoxe Ökonomik zurück, die besagt, dass jede Form von staatlichen Vorschriften oder Zwängen dem homo oeconomicus schaden müsse, da Vorschriften eine Verhaltensänderung erzwängen – und das vorherige Verhalten des homo oeconomicus bereits optimal gewesen sei. Nudge s würden dagegen keinen solchen Schaden bewirken, da sie dem homo oeconomicus die Freiheit ließen, sein eigenes Ding zu machen. Letztlich sprechen sich Sunstei n und Thaler dafür aus, »Schritte zu ergreifen, die den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft helfen und dabei gleichzeitig dem Rest der Gesellschaft die geringsten Lasten aufbürden.« [26] Es fällt schwer, hier nicht über eine gewisse Herablassung zu stolpern. Wie müsste also ein respektvolleres Nudgin g aussehen? Oder, um die Frage etwas weiter zu fassen: Wie ist es generell mit dem respektvollen Einsatz von Anreizen?
Jenseits von Zuckerbrot und Peitsche
In etlichen Städten Indiens, etwa in Bangalore und Rajahmundry, ist ab und zu auf der Straße eine seltsame Darbietung zu sehen. Eine Trommlergruppe kommt zusammen, meist vor einem Bürogebäude, und führt ein tempogeladenes Trommelkonzert auf, das häufig über eine Stunde dauert. Solche Spektakel ziehen große Menschenmengen an, die die Musiker begeistert anfeuern. Aber die Trommler erwarten kein Geld von ihrem Publikum; vielmehr wollen sie erreichen, dass die Firma in dem Bürogebäude zahlt – und zwar ihre unbezahlten Steuern. Dies ist die indische Art, säumige Steuerzahler zu motivieren, ihre Rückstände zu zahlen, indem sie für jeden sichtbar in der Gemeinde angeprangert und blamiert werden. Es ist eine erfolgreiche Methode, um Steuerrückstände einzutreiben, wo andere Methoden versagt haben. [27]
Anreize, die von einer moralischen Botschaft begleitet werden, können gut funktionieren. Natürlich erfordern unterschiedliche Kontexte und Kulturen unterschiedliche Ansätze zum Design von Anreizen, aber dennoch gibt es einige gemeinsame Zutaten. Vor allem darf ein Anreizdesigner den vorigen Satz nicht außer Acht lassen: Kontext und Kultur spielen eine wichtige Rolle. Leider ist es für viele Ökonomen ein Glaubensartikel, den Kontext zu ignorieren, und die Verhaltensökonomik leidet unter diesem Erbe. Ein Grund dafür ist der Physikneid: der Drang von Ökonomen, Wissenschaften wie die Physik nachzuahmen. Naturwissenschaftler machen kontrollierte Experimente, also haben auch Verhaltensökonomen eine Vorliebe für kontrollierte Experimente. Da die Umstände im realen Leben kaum jemals für kontrollierte Experimente geeignet sind, werden die meisten verhaltensökonomischen Forschungen im Labor durchgeführt. [28] Studenten spielen Spiele oder antworten auf hypothetische Fragen über konstruierte Situationen – zum Beispiel, wie sie auf einen finanziellen Anreiz reagieren würden. Aber natürlich ist das Verhalten in einem Laborumfeld bestenfalls ein unvollständiges Abbild des Verhaltens in der realen Welt.
Nur wenn Kontext und Kultur voll und ganz beachtet werden, kann nicht nur verstanden werden, warum Anreize nach hinten losgehen können, sondern auch, warum sie wider Erwarten funktionieren können. Angesichts der vielfältigen Belege für »crowding-out« (»Verdrängung«) – wenn finanzielle Anreize bereits vorhandene intrinsische Motivationen untergraben –, kommt »crowding-in« als Überraschung: Manchmal können Anreize Menschen in die Lage versetzen oder sie ermutigen, nach ihren intrinsischen Motivationen zu handeln. Ja, finanzielle Anreize für Kinder, um Bücher zu lesen, haben einige potenzielle Nachteile; doch in manchen Schulen ist der Hauptgrund, warum kaum ein Kind liest, der Gruppendruck von Mitschülern: Lesen ist einfach nicht »cool«. Fürs Lesen bezahlt zu werden, kann Kindern, die gerne lesen wollen, eine Entschuldigung für ihre Klassenkameraden liefern: »Ich lese nur, weil ich dafür Geld kriege.« Aus einem Programm, nach dem Schwangere dafür bezahlt werden, das Rauchen einzustellen, gibt es Belege, die ebenfalls in diese Richtung deuten. [29] In vertraulichen Gesprächen erzählten diese Frauen den Meinungsforschern, ein wichtiger Grund für sie, nicht aufzuhören, sei der Gruppendruck in ihrem sozialen Umfeld weiterzurauchen. Der finanzielle Anreiz lieferte ihnen einen Grund aufzuhören, da in dieser Gruppe (die hauptsächlich aus Frauen mit geringem Einkommen bestand) die Aussage »Ich mach’s nur fürs Geld« ein Statussymbol war.
Die moralische und soziale Bedeutung unserer Handlungen ist nie weit unter der Oberfläche. Im Gegensatz zu den schwangeren Frauen ist es bei Blutspendern eher unwahrscheinlich, dass sie in ihrem Bekanntenkreis herumerzählen, sie seien durch Geld motiviert, selbst wenn es so ist. Verhaltensökonomen und Anreizdesigner müssen in der Lage sein, die Schwangeren von den Blutspendern zu unterscheiden – also dürfen moralische Komplexität und Mehrdeutigkeiten nicht ignoriert werden. Das bedeutet, darüber hinauszugehen, unterschiedliche Beschreibungen diverser Situationen als bloße »Framing-Effekte« zu bezeichnen und die Maximierung von Wohlergehen als das zu definieren, was die Menschen wollen und was am besten für die Gesellschaft ist.
Wir können eine andere Perspektive über die moralischen Aspekte von Anreizen gewinnen, wenn wir sie Belohnungen und Strafen gegenüberstellen. Es gibt einen großen Unterschied. Wir sagen nicht, Spitzensportler würden »Anreizen folgen«, um olympische Medaillen zu gewinnen, da diese Medaillen Belohnungen für herausragende Leistungen sind, keine Anreize. Der Unterschied bleibt auch dann bestehen, wenn die Belohnungen und Strafen finanzieller Art sind. Die Macht von Belohnungen und Strafen – auch finanziellen – ist darauf zurückzuführen, dass sie als verdient angesehen werden. So ist zum Beispiel die Aussicht auf eine vor Gericht verhängte Geldstrafe wirkungsvoller als eine Gebühr oder ein anderer finanzieller Anreiz in gleicher Höhe. Die Geldstrafe verkörpert eine moralische Botschaft, eine öffentliche Verurteilung. Es liegt auf der Hand, dass in manchen Kontexten Belohnungen und Strafen sowohl gerechter als auch wirkungsvoller sein können als die üblichen wirtschaftlichen Anreize. Doch Belohnungen und Strafen erlangen ihre Legitimität nur durch einen fortgesetzten Dialog zwischen Austeilenden und Empfängern sowie der Gesellschaft insgesamt.
Die Inhalte eines solchen Dialogs mögen offensichtlich sein, wenn es um Belohnungen und Strafen geht, doch er muss auch stattfinden, wenn ein wie auch immer gearteter Nudg e oder Anreiz Erfolg haben soll. Wie könnte der Dialog dann aussehen? Im Fall von Nudge s sollte dazugehören, dass die Standardwerte und Faustregeln aufgezeigt werden, auf die wir unbewusst zurückgreifen, wenn wir Entscheidungen treffen. Das kann uns helfen, sie zu überwinden, falls wir das wollen. So wurde zum Beispiel in einer US -Firmenkantine, statt die ungesunden Speisen unterm Tresen zu verstecken, den Mitarbeitern die Gelegenheit gegeben, schon morgens, wenn sie zur Arbeit erschienen, ihr Mittagessen zu wählen und zu bezahlen. Und da ihnen nicht unbedingt klar war, warum man so verfuhr, sagte man ihnen, dass Menschen, die schon frühmorgens entscheiden, welches Mittagessen sie verspeisen wollen, mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit etwas Gesundes wählen werden als solche, die diese Entscheidung erst zur Mittagszeit treffen. Und sie mussten im Voraus bezahlen, um Rückfällen vorzubeugen. Dies ist auch ein Nudg e, aber ein offener und transparenter, der den Leuten helfen will, ihre Willenskraft »festzuzurren«, und das zu einer Tageszeit, wenn sie noch vorhanden ist.
Vielleicht kann der ursprüngliche, verstohlenere Nudg e mehr Menschen dazu bringen, gesünder zu essen, aber andere Aspekte spielen auch eine Rolle – es geht nicht nur darum, was »funktioniert«. Wenn es tatsächlich so wäre und sämtliche Argumente der Nudge r über unsere fehlerträchtigen Entscheidungsprozesse zuträfen, sollten wir sie zu ihrem logischen Ende bringen: Warum sollte man mit Nudge s herumpfuschen, wenn stattdessen diskretere und wirkungsvollere Manipulationstechniken wie Schleichwerbung eingesetzt werden können? Ebenso wichtig ist, dass unsere Entscheidungsprozesse vielleicht gar nicht immer so fehlerträchtig sind, wie es scheint. Respektvolles Nudgin g akzeptiert die Unzulänglichkeiten des homo oeconomicus als eines Ideals von Rationalität. Ja, unser mentales Betriebssystem funktioniert oftmals anders als jenes des homo oeconomicus , aber das ist nicht immer ein Programmfehler – manchmal ist es ein Upgrade.
Letztlich sollten wir in einer Demokratie den Dialog schätzen als Möglichkeit für die Bürger, auf die Nudge s oder Anreize abzielen, mit den Strippenziehern zu kommunizieren. Die Menschen auf der Empfängerseite könnten Anreize als unnötiges und ungerechtfertigtes Ausüben von Macht empfinden. Arbeitnehmer, die ständig überwacht werden, wie etwa die Picker im Amazon-Warenlager, haben in dieser Hinsicht gute Gründe, sich zu beschweren. (Im Gegensatz zu den Arbeitern in Taylor s Zeit können sie nur davon träumen, dass der Kongress ihnen hilft.) Weniger offensichtlich ist, dass manche Bürger durchaus zu Recht die von den Strippenziehern verfolgten Ziele oder Zwecke ablehnen könnten. In vielen Gesundheitssystemen sind Ärzte mit einer Palette von finanziellen Anreizen konfrontiert, die von der Regierung (in staatlichen Systemen) oder von Versicherungskonzernen (in privaten Systemen) eingeführt wurden. Ärzte könnten solchen Anreizen ablehnend gegenüberstehen – nicht etwa, weil ihnen nichts daran läge, das Wohlbefinden ihrer Patienten zu maximieren, sondern weil sie der Meinung sind, dass solche Anreize die Behandlung auf eine Art und Weise beeinflussen können, die der Gesundheit der Patienten abträglich ist. Und noch etwas: Da Regierungen und Versicherer darauf bestehen, dass die gesamte Verantwortung für die Behandlung eines Patienten ausschließlich bei dessen Ärzten liegt, sieht es so aus, als ob solche Anreizsysteme von Regierungen und Versicherern dafür genutzt werden, Macht auszuüben, ohne dafür die Verantwortung zu übernehmen.
Als Benjamin Frankli n gegen Ende des 18. Jahrhunderts von einer Reise nach Frankreich mit einer diamantenbesetzten Schnupftabakdose zurückkam, einem Geschenk von Louis XVI ., war der US -Kongress beunruhigt. Man befürchtete, das Geschenk könne Franklin s Haltung gegenüber Frankreich verändern – möglicherweise sogar, ohne dass er es merkte. [30] Befürchtungen über die ungewollten Wirkungen von Anreizen sind nichts Neues. Die neue Entwicklung ist vielmehr das Einfließen von Ideen aus der Ökonomik: Erst in den vergangenen paar Jahrzehnten haben Ökonomen ausdrücklich Interesse an Anreizen gezeigt. [31] Und der Einfluss der Ökonomik ist außerordentlich bedeutend gewesen. Inzwischen sind wir so weit, dass wir ihn zusammenfassen können.
Es ist verlockend, mit der Annahme zu beginnen, dass finanzielle Anreize aufgrund des wachsenden Einflusses der Ökonomik flächendeckend eingesetzt werden. Aber wie können wir ihre Häufigkeit messen? Und was würde sie bedeuten? Es ist richtig, dass wir das Gefühl haben, Anreize würden flächendeckend eingesetzt, und zwar unter anderem, weil Ökonomen, wie wir gesehen haben, immer mehr Gerede über Anreize in unseren Alltag eingebracht haben – selbst in Situationen, in denen solches Gerede furchtbar unpassend wirkt. Doch die eigentliche Wirkung der Ökonomik bestand darin zu beeinflussen, welche Art von Anreizen wir einsetzen und wie wir sie rechtfertigen. Erstens haben Ökonomen die Standardannahme ihrer Disziplin mit eingebracht: dass der Mensch als selbstsüchtig gelten kann und kaum etwas verloren geht, wenn man seine altruistischen und moralischen Motive ignoriert. Das führt direkt zu der Annahme, dass jeder Mensch seinen Preis hat. Wenn die Datenbasis reduziert wird – etwa dadurch, dass Laborexperimente statt Interviews in alltäglichen Kontexten durchgeführt werden –, wird es schwieriger, ein reichhaltigeres, nuancierteres Bild der menschlichen Motivation zu entwickeln. Zweitens beurteilen Ökonomen Anreize ausschließlich anhand eines einzigen Kriteriums, eines einzigen Erfolgsmaßstabs: an dem eng definierten Wohlergehen oder Wohlbefinden des Individuums. Damit wollen sie vermeiden, eine Büchse der Pandora voller moralischer Fragen zu öffnen, nach Werten wie Gerechtigkeit, Verantwortlichkeit, Autonomie und Respekt, neben anderen. Ihr Wunsch, diese Büchse geschlossen zu halten, mag verständlich sein, ist aber ein Ding der Unmöglichkeit: Solche Werte spielen eine zentrale Rolle, um festzustellen, ob Anreize funktionieren und ob sie gutartige oder bösartige Nebenwirkungen mit sich bringen. Drittens sehen Ökonomen alle Anreize in Begriffen eines Tauschgeschäfts oder einer Transaktion: Ich tue, was du von mir willst, im Austausch gegen den Anreiz. Da der Tausch freiwillig ist, wird er nicht stattfinden, wenn eine der Seiten dadurch Nachteile hätte. Und daher können Anreizsysteme Ökonomen zufolge niemandes Wohlergehen schaden. Manche Ökonomen führen diese Schlussfolgerung noch einen Schritt weiter: Anreize können nicht unmoralisch sein. Mit diesem Argument versuchen sie allermindestens, jede weitere moralische Beurteilung von Anreizen schon im Keim zu ersticken.
Zusammengenommen haben die Ideen von Ökonomen unsere Fähigkeit, uns ein klares Bild von Anreizen zu machen, erheblich eingeschränkt. Aber wie wir gesehen haben, kann das rückgängig gemacht werden. Wenn wir das einschränkende ökonomische Denken beiseitelassen, können wir hoffen, Anreize und Nudge s zu entwickeln, die sowohl wirkungsvoll als auch respektvoll sind.
Daniel Kahnema n erinnert sich deutlich an eine Begebenheit, die er im Alter von etwa sieben Jahren erlebt hat, während er in Paris lebte. Damals war Paris von den Nazis besetzt, und ab 18 Uhr herrschte Ausgangssperre. Als der kleine Danny eines Abends nach Beginn der Ausgangssperre eilig nach Hause lief, fuhr ihm ein entsetzlicher Schrecken in die Glieder, als ein SS -Soldat auf ihn zukam. Und das vor allem, weil Davi d seinen gelben Davidstern unter dem Pullover trug, während die Nazi-Vorschriften von ihm verlangten, den Davidstern stets gut sichtbar zu tragen. Der SS -Soldat nahm den kleinen Daniel auf und hielt ihn auf seinem Arm. Dann setzte er ihn wieder ab, zeigte ihm aus seiner Brieftasche ein Foto eines kleinen Jungen und gab Danie l ein bisschen Geld. Auf dem Nachhauseweg dachte Daniel sich im Stillen, dass die Menschen doch sehr kompliziert und unberechenbar seien. [32]
Der Mensch ist in der Tat sehr komplex und unberechenbar, und das Verständnis der Ökonomen über Anreize hat kaum begonnen, sich mit dieser Komplexität auseinanderzusetzen, sowohl im Hinblick auf die zu erwartenden Reaktionen von Menschen auf einen neuen Anreiz oder Nudg e als auch auf die zahlreichen moralischen und politischen Fragen, die bei dem Versuch auftauchen, Menschen zu etwas zu bewegen. Wir scheinen das starke Bedürfnis zu haben, unsere Autonomie als integralen Bestandteil unserer Identität zu bewahren, und deswegen wehren wir uns gegen Anreize, die diesem Bedürfnis in die Quere kommen. Doch zugleich sehnen wir uns wie ein Kind nach einer paternalistischen Autorität, die uns umsorgt und Entscheidungen für uns trifft. Vielleicht kann diese Quadratur des Kreises manchmal gelingen, indem wir an unserer Autonomie festhalten, wenn sie uns am wertvollsten ist, während wir bei anderen Gelegenheiten ganz bewusst die Entscheidungsgewalt abgeben. Als Barack Obam a Präsident war, sagte er einmal: »Ich will versuchen, weniger Entscheidungen zu treffen. Ich will mich nicht entscheiden müssen für das, was ich esse oder anziehe. Weil ich zu viele andere Entscheidungen zu treffen habe.« [33]
Aber häufig ist es nicht möglich, diesem Widerspruch aus dem Weg zu gehen. Wir wollen Autonomie, und wir wollen eine weise, gütige Autoritätsfigur, die dafür sorgt, dass wir das tun, was am Besten ist. Und das Beste, was wir tun können, ist, uns diesem Widerspruch zu stellen, offen und ehrlich. Und wie immer wir uns auch entscheiden mögen, bleibt uns als kleiner Trost der Gedanke, dass wir auf jeden Fall Respekt verdienen. Es besteht kein Bedarf an Anreizen, die selbst das missachten.