9   Jeder Mensch verdient, was er bekommt
In den meisten reicheren Ländern der Welt nimmt die Ungleichheit zu, und das schon seit geraumer Zeit. Viele Menschen halten das für ein Problem, wenn auch keine Einigkeit darüber besteht, welche Bedeutung es hat. Jedenfalls sieht es so aus, als ob wir wenig daran ändern können – und davon abgesehen könnte die Medizin schlimmer sein als die Krankheit. Globalisierung und neue Technologien haben eine Wirtschaft entstehen lassen, in der Menschen mit hochgeschätzten Qualifikationen oder Begabungen sehr viel Geld verdienen können. Und so nimmt die Ungleichheit unaufhaltsam zu. Der Versuch, sie durch Umverteilung von Steuern zu reduzieren, ist wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt, weil die globalen Eliten mit Leichtigkeit in ein Niedrigsteuerland oder eine Steueroase ziehen können. Soweit eine höhere Besteuerung die Reichen tatsächlich trifft, wird sie das Schaffen von Wohlstand verhindern, sodass wir dann letztlich alle ärmer dastehen werden.
Fragwürdig an diesen Argumenten ist, ungeachtet ihrer Stichhaltigkeit, dass sie in einem scharfen Gegensatz zu der ökonomischen Orthodoxie stehen, die ungefähr von 1945 bis 1980 vorherrschte und besagte, dass eine zunehmende Ungleichheit keineswegs unvermeidlich sei, sondern durch diverse staatliche Maßnahmen reduziert werden könne. Hinzu kommt, dass solche Maßnahmen durchaus erfolgreich gewesen zu sein scheinen. Die heute zu beobachtende Ungleichheit ist weitgehend auf Veränderungen zurückzuführen, die sich seit 1980 vollzogen haben. Sowohl in den USA als auch in Großbritannien hat sich der Anteil des Nationaleinkommens, der an das oberste Prozent der Bevölkerung geht, von 1980 bis 2016 mehr als verdoppelt. [1] Der materielle Lebensstandard dieses obersten Prozents hat sich rapide von jenem der übrigen Bevölkerung entfernt: Inflationsbereinigt sind die Einkommen der unteren 90 Prozent in den USA und Großbritannien über die vergangenen 25 Jahre kaum gestiegen. Der gleiche Trend zeigt sich auch auf individueller Ebene. Im Jahr 1950 war Charles Wilso n, der CEO von General Motors, der bestbezahlte Manager der Welt. Er bezog Einkünfte in Höhe von 586 000 Dollar – was heute gut 5 Millionen Dollar entspräche. Dagegen zahlte GM seinem CEO 2007 ganze 15,7 Millionen Dollar, also etwa dreimal so viel (und das bei einem Verlust von 39 Milliarden Dollar in jenem Jahr). Im Durchschnitt verdiente ein CEO in den USA vor 50 Jahren etwa das 20-Fache eines typischen Arbeiters; heute ist es das 354-Fache. [2] Kurzum, obwohl die Zeit von 1945 bis 1980 noch gar nicht so weit zurückliegt – kaum ein Menschenleben –, ist sie in Bezug auf Ungleichheit ungefähr in ebenso weiter Ferne wie der Mars. Was hat sich also verändert?
Die Ankunft eines riesigen Ideenpakets – in Form eines fundamentalen Sinneswandels zugunsten freier Märkte aufseiten des ökonomischen und politischen Mainstreams – spielte dabei zweifellos eine wichtige Rolle. Margaret Thatche r hat es einmal so ausgedrückt: »Es ist unsere Aufgabe, uns der Ungleichheit zu erfreuen und zu sehen, dass Begabungen und Fähigkeiten der Raum gegeben wird, sich zu entfalten und zum Ausdruck zu kommen, zum Nutzen der gesamten Gesellschaft.« [3] Freilich ist die von Reaga n und Thatche r vollzogene Wende des ökonomischen Denkens – die bereits von etlichen brillanten Historikern gründlich seziert wurde – weit davon entfernt, die zunehmende Ungleichheit vollständig erklären zu können. [4] Um die Gründe dafür zu erkennen, müssen wir anderswo suchen – angefangen bei einem Ökonomen, der nach wie vor ernormen Einfluss auf das Denken über Ungleichheit hat.
Gründe, nicht über Ungleichheit zu sprechen
Vilfredo Paret o ist einer der einflussreichsten Ökonomen, von denen die meisten Menschen noch nie etwas gehört haben. Er ist eine rätselhafte Figur in der Geschichte der Ökonomik, ein schroffer, launischer, streitlustiger, aristokratischer Zyniker, dessen Leben und Ideen schwierig einzuordnen sind. Sein berufliches Leben begann unauffällig: Nachdem e r einen Abschluss als Ingenieur gemacht hatte, arbeitete er als Eisenbahningenieur in Florenz. Doch schon vor seinem Tod im Jahr 1923 – zehn Monate, nachdem der faschistische Führer Benito Mussolin i zum Ministerpräsidenten Italiens geworden war –, wurden seine Ideen von den Faschisten als ihre wichtigste intellektuelle Inspiration vereinnahmt. In diesen zehn Monaten überhäuften sie ihn mit Ehrungen – von denen Paret o freilich die meisten ablehnte. Auf seinem Weg vom Eisenbahningenieur zum Helden der Faschisten hatte Paret o sich als glühender Verteidiger freier Märkte und eines schlanken Staates hervorgetan, bevor er mit Sozialismus und Marxismu s liebäugelte. Er war ein radikaler Demokrat, der sich an Straßenprotesten und polemischen journalistischen Arbeiten beteiligte. Aber dann erklärte er sich öffentlich zum Anti -Demokraten. Als Ökonom hatte er sich mit abstrakter mathematischer Wirtschaftstheorie befasst, bevor er der Theorie überdrüssig wurde, weil er erkannt hatte, dass ihr Bezug zur Realität enge Grenzen hat.
Eine zynische Erklärung für einige seiner ideologischen Kehrtwenden ist womöglich in Pareto s Lebensumständen zu finden. Er hatte sich zunächst für radikalen gesellschaftlichen Wandel eingesetzt, dann aber ein Vermögen geerbt. Kurz darauf verließ ihn seine Frau und machte sich mit dem jungen Koch der Pareto s davon. Sei es als Reaktion auf das Verhalten seiner Frau oder auf seine Erbschaft, bezog er dann jedenfalls eine luxuriöse Villa am Genfer See. Er gab ihr den Namen »Villa Angora« und lebte dort allein, abgesehen von einer Haushälterin und einer Entourage von zwölf reinrassigen Angorakatzen, die ihm als Vorbilder für die Menschheit galten. [5] Es war in dieser weltfernen Umgebung, wo Paret o die beiden Ideen ausarbeitete, die heute das Denken der meisten Ökonomen über Ungleichheit dominieren. Es ist der Geist Pareto s – und nicht etwa jener der wesentlich bekannteren Figuren Mar x, Keyne s, Friedma n oder von Haye k –, der am meisten bewirkt hat, um den politischen Mainstream-Konsens über Ungleichheit in den reicheren Nationen des frühen 21. Jahrhunderts zu formen: einen Konsens über die Unvermeidbarkeit von erheblicher Ungleichheit und die Schwierigkeit, eine wirkungsvolle Politik zu ihrer Bekämpfung zu entwickeln.
Eine der fundamentalen Ideen der Mainstream-Ökonomik – vielleicht die fundamentale Idee überhaupt – ist Effizienz. Wenn Ökonomen von Effizienz sprechen, ist das meist eine Kurzform von Paret o-Effizienz . In den Ingenieurwissenschaften spricht man von einer eindeutigen Effizienzsteigerung eines Systems oder Prozesses, wenn der Output gleich bleibt, während die Inputs reduziert werden, oder der Output bei unveränderten Inputs gesteigert wird. In beiden Fällen kommt es zu einer kostenneutralen Verbesserung. Der studierte Ingenieur Paret o übertrug diese Idee auf ökonomische Systeme: Eine kostenneutrale Verbesserung findet statt, wenn mindestens eine Person etwas gewinnt und niemand etwas verliert (heute bezeichnen Ökonomen eine solche Verbesserung als Paret o-Verbesserung ). Und Pareto-Effizienz wird erreicht, wenn keine weiteren Pareto-Verbesserungen mehr möglich sind: Alle kostenneutralen Zugewinne sind bereits realisiert worden, sodass jeder weitere Zugewinn für die einen mit unvermeidlichen Verlusten für andere einhergehen muss.
Seit den 1930er-Jahren hat die Idee der Paret o-Effizienz für Ökonomen eine grundlegende Veränderung herbeigeführt. Sie hat heikle, politisch aufgeladene Debatten über die Verteilung der Früchte des Kapitalismus, über Gewinner und Verlierer in wissenschaftlich klingende Diskurse über Effizienz verwandelt. Eine Paret o-Verbesserung, bei der mindestens eine Person gewinnt und niemand verliert, könne als eindeutige Verbesserung betrachtet werden, also ebenso objektiv und unbestreitbar wie technische Verbesserungen eines Fertigungsprozesses. Und über Paret o-Verbesserungen hinaus könne nichts Objektives (und daher »Wissenschaftliches«) gesagt werden. Bei allen anderen Veränderungen gebe es sowohl Gewinner als auch Verlierer, und die Entscheidung, ob die Veränderung letztlich eine Verbesserung sei, beruhe auf »unwissenschaftlichen« Werturteilen – auf moralischen Argumenten, mit denen die Gewinne und Verluste gegeneinander abgewogen werden. Im Selbstbild der »Ökonomik als Wissenschaft«, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt hat, wurden Werturteile in der Ökonomik für deplatziert gehalten. Die Ideen Pareto s hatten Ökonomen eine praktische Ausrede geliefert, um auf die Interessen der Menschen, die durch politische oder wirtschaftliche Veränderungen zu Gewinnern oder Verlierern wurden, so gut wie keine Rücksicht nehmen zu müssen. Also wurden die Auswirkungen solcher Veränderungen auf gesellschaftliche Ungleichheit weitgehend ignoriert. Ökonomen identifizierten einfach Paret o-Verbesserungen und ließen es dabei bewenden – »die Ökonomik hat dazu nicht mehr zu sagen«. Diese Perspektive wurde über etliche Generationen ökonomischer Lehrbücher bis in die Gegenwart weitergereicht. In der heutigen Debatte steckt der Geist von Paret o hinter der Idee, dass die positive oder negative Bewertung von mehr Ungleichheit lediglich »Ansichtssache« sei und dass ernsthafte, unparteiische Analysen, wie sie von Beratern in Politik und Wirtschaft angestellt werden, sich auf Fragen der Effizienz konzentrieren müssten, nicht auf Gleichheit, Gerechtigkeit oder Ungleichheit.
Die groteske, von Paret o inspirierte Abneigung orthodoxer Ökonomen, über Ungleichheit zu reden, lässt nicht nur andere Perspektiven zu Ungleichheit – von Smit h bis Keyne s – außer Acht, sondern auch Pareto s eigene Arbeit. Ökonomische Lehrbücher beziehen sich auf jeder zweiten Seite auf Paret o-Effizienz – aber Paretos andere imposante Idee zur Ungleichheit erwähnen sie nicht.
Und diese Idee war imposant. Nachdem e r sämtliche Daten über Einkommen und Wohlstand, derer er habhaft werden konnte (geografisch bis hinüber nach Peru und zeitlich bis zurück zu Steuerakten der Schweizer Stadt Basel aus dem Jahr 1454), sorgfältig studiert hatte, kam Paret o zu dem Schluss, dass in allen Ländern zu allen Zeiten die Verteilung von Einkommen und Wohlstand dem gleichen Muster von ausgeprägter Ungleichheit folgt. Paret o hatte mit der Feststellung begonnen, dass in Italien 80 Prozent des Grund und Bodens 20 Prozent der Bevölkerung gehören: Seine Forschungsarbeit ist der Ursprung der heute bekannten »80 zu 20«-Faustregel. Paret o entdeckte ein fundamentales und allgemein vorherrschendes Muster: Wenn wir alle Mitglieder einer Gesellschaft nach ihrem Einkommen (oder Wohlstand) aufsteigend sortieren, vom ärmsten bis zum reichsten, steigt das Einkommen (oder der Wohlstand) nicht gleichmäßig oder linear an. Vielmehr steigt es zuerst fast gar nicht, dann relativ flach über die Mehrheit der Bevölkerung, bis es plötzlich steil nach oben schießt, wenn wir das oberste Prozent erreichen. Wie wir gesehen haben, neigt der Mensch zum Normalverteilungsdenken – in diesem Kontext zu der Vorstellung, das Muster der Ungleichheit ergebe sich aus dem Unterschied zwischen sehr reichen (oder sehr armen) Menschen und der großen Mehrheit in der Mitte. Doch diese Vorstellung lässt eine wichtige Tatsache über das Muster der Ungleichheit außer Acht: Es hört nicht am oberen Ende auf. In der mathematischen Sprache des vorigen Kapitels (die zu Pareto s Zeit noch nicht bekannt war) hatte Pareto entdeckt, dass Einkommen und Wohlstand einer skalenunabhängigen Verteilung folgen: Das Muster der Ungleichheit bleibt immer gleich, unabhängig von der betrachteten Größenordnung. Gegen Ende der 2010er-Jahre vereinnahmte das oberste Prozent der US -Bevölkerung etwa 20 Prozent des Nationaleinkommens. Die von Paret o entdeckte Skalenunabhängigkeit impliziert, dass auch innerhalb dieses obersten Prozents das gleiche Muster von Ungleichheit gilt. Und Paret o hatte recht: Heute vereinnahmt das oberste Prozent innerhalb des obersten Prozents (die oberen 0,01 Prozent) ebenfalls etwa 20 Prozent des Gesamteinkommens des oberen Prozents der Bevölkerung. Mit anderen Worten: Die Millionäre sind nicht alle gleich. Es herrscht ein hohes Maß an Ungleichheit unter Millionären – und das gleiche Maß an Ungleichheit unter Milliardären. Es ist ungefähr so, als würde man Matrjoschkas auspacken, geschachtelte russische Puppen, eine nach der anderen. [6] Zwar verdient vielleicht jeder CEO eines der Top-500-US -Unternehmen ein Vermögen, aber in einigen der vergangenen paar Jahre hatten die 25 Spitzenverdiener unter den US -Hedgefondsmanagern insgesamt ein höheres Einkommen als diese 500 CEO s zusammen. [7]
Zwar hatte Paret o hinsichtlich der Fakten über Ungleichheit durchaus recht, doch seine Erklärung dafür ist bestenfalls umstritten. Er argumentierte, das über Raum und Zeit hinweg stabile Muster von Ungleichheit würde die angeborenen Unterschiede der Fähigkeiten und Begabungen unterschiedlicher Menschen reflektieren; große Einkommens- und Wohlstandsunterschiede seien die unvermeidliche und natürliche Folge großer Unterschiede ihrer Fähigkeiten und Talente. Paret o vertrat beharrlich die Auffassung, demokratische Gesellschaften würden Stagnation und Verfall riskieren, wenn sie versuchen würden, diese Ungleichheiten zu verringern oder die natürliche Tendenz überlegener Menschen, an die Spitze der Gesellschaft aufzusteigen, einzuschränken. Er glaubte, wir sollten »den sozialen Körper mit dem menschlichen Körper vergleichen, der auf der Stelle zugrunde geht, wenn man ihn daran hindert, sich von Giftstoffen zu befreien.« [8] Dies war genau die Art von Aussage, die Mussolin i mit seinen Herrenrasse-Fantasien so attraktiv fand. Obwohl diese paretosch e Weltanschauung nichts mit der Mainstream-Auffassung im 21. Jahrhundert zu tun haben mag, bestehen auch heute noch Elemente davon in der Vorstellung fort, dass es außerordentlich talentierte Menschen auf der Welt gebe, die verdienten, den allergrößten Teil des von ihnen geschaffenen Wohlstands für sich zu behalten. Der Versuch, diese Tendenz zur Konzentration von Wohlstand in den Händen einiger weniger überlegener Wohlstandsschaffender zu dämpfen, so die Argumentation, werde wahrscheinlich vergebens sein, und solche Versuche würden normalerweise der Gesellschaft insgesamt schaden. Ein weiterer Grund, warum es sich immer weniger lohnt, das Thema Ungleichheit zur Sprache zu bringen.
In der modernen Variante dieser Auffassung ist die Schlussfolgerung im Wesentlichen die gleiche: Zunehmende Ungleichheit sei naturgegeben und unvermeidbar. Doch sie wird gerechtfertigt mit einem ökonomischen Argument, das sich auf Globalisierung und neue Technologien bezieht. »Globalisierung« bedeutet, dass die meisten Güter und Dienstleistungen einen potenziell globalen Markt haben. Einen so großen Markt zu bedienen, ist wesentlich profitabler. Wenn also die eigenen Fertigkeiten unentbehrlich für die globale Lieferkette sind, dann werden potenziell auch wesentlich höhere Einkommen gezahlt. Und im Bereich der neuen Technologien ist der Einkommensaufschlag, den entsprechend qualifizierte Arbeitskräfte verlangen können, noch größer geworden. Das bedeutet unter anderem, dass die Einkommen von Universitätsabsolventen schneller steigen werden als die Durchschnittseinkommen.
Doch so vertraut diese Erklärung auch klingen mag, sie passt nicht zu den Fakten. Vielmehr beobachten wir das von Paret o erkannte Muster – zunehmende Ungleichheit innerhalb der Gruppe. Eine kleine Anzahl von Hochschulabsolventen ist in den Genuss enormer Einkommenszuwächse gekommen, doch die Einkommen der meisten Absolventen sind nicht schneller gestiegen als die Durchschnittseinkommen, obwohl unter ihnen die höchstqualifizierten Arbeitskräfte der Wirtschaft zu finden sind. [9] Die zunehmende Ungleichheit ist keine Geschichte von steigenden Einkommen hoch qualifizierter Arbeitskräfte durch Globalisierung und neue Technologien, sondern von ganz erstaunlichen Einkommenszuwächsen einer kleinen Gruppe unter ihnen.
Jedes Argument, dass zunehmende Ungleichheit in unserer globalisierten Wirtschaft weitgehend unvermeidbar sei, muss sich einem weiteren kritischen Einwand stellen. Seit 1980 ist es in manchen Ländern zu einer großen Zunahme der Ungleichheit gekommen (namentlich in den USA und Großbritannien); in anderen war eine wesentlich geringere Zunahme zu verzeichnen (in Kanada, Japan und Italien); und in Frankreich, Belgien und Ungarn ist die Ungleichheit unverändert geblieben oder hat sogar abgenommen. [10] Das bedeutet, dass zunehmende Ungleichheit nicht unvermeidbar sein kann. Und das Ausmaß der Ungleichheit innerhalb eines Landes kann nicht ausschließlich aufgrund langfristiger, global wirkender wirtschaftlicher Kräfte festgestellt werden, denn: Obwohl die meisten reicheren Länder sehr ähnlichen Kräften ausgesetzt waren, war in diesen Ländern die Tendenz zur Ungleichheit unterschiedlich stark ausgeprägt. In Anbetracht ihrer ähnlichen wirtschaftlichen Entwicklung wird die Erklärung für beobachtete Unterschiede wahrscheinlich auf nichtökonomischen Gründen beruhen. Das bringt uns zu der vertrauten politischen Erklärung für zunehmende Ungleichheit zurück – der große Umschwung des vorherrschenden ökonomischen und politischen Denkens, der dadurch ausgelöst wurde, dass Ronald Reaga n und Margaret Thatche r an die Regierung gewählt wurden. Es ist nicht zu bestreiten, dass diese Erklärung gut zu den Fakten passt. Unter allen Industrieländern war die größte Zunahme von Ungleichheit, die seit 1945 stattgefunden hat, ab 1980 in den USA und Großbritannien zu verzeichnen.
Die Wirkmacht einer großen politischen Transformation klingt überzeugend, doch sie kann nicht die ganze Erklärung sein. Sie ist zu hierarchisch angelegt, da sie sich ausschließlich darum dreht, was Politiker und andere Eliten mit uns machen. Die Vorstellung, dass zunehmende Ungleichheit unvermeidbar sei, beginnt wie ein bequemer Mythos auszusehen, der uns der Notwendigkeit enthebt, über eine andere Möglichkeit nachzudenken: dass wir durch unsere Wahl- und Alltagsentscheidungen zu steigender Ungleichheit beigetragen oder sie zumindest stillschweigend in Kauf genommen haben. Das setzt zugegebenermaßen voraus, dass wir um diese Entwicklung wissen. In den USA und Großbritannien durchgeführte Umfragen haben wiederholt bestätigt, dass wir sowohl das heutige Ausmaß an Ungleichheit als auch den Grad ihrer Zunahme in jüngerer Vergangenheit unterschätzen. [11] Aber mangelndes Wissen kann keine vollständige Erklärung sein, da auch eine Veränderung der Einstellungen durch Umfragen aufgedeckt wurde: Zunehmende Ungleichheit ist gesellschaftlich akzeptabler geworden, oder zumindest weniger inakzeptabel – vor allem, wenn Sie sich nicht an ihrem falschen Ende befinden. [12]
Es ist unwahrscheinlich, dass die Ungleichheit in Zukunft deutlich abnehmen wird, wenn wir solche Einstellungen nicht wieder deutlich ändern und uns gegen sie wenden. Unter anderem werden wir akzeptieren müssen, dass die Einkommen, die manche Menschen auf dem Arbeitsmarkt erzielen, nicht unbedingt das sind, was sie tatsächlich verdienen, und dass die von ihnen gezahlten Steuern nicht aus dem stammen, was ihnen mit Fug und Recht gehört. All das ist leicht zu akzeptieren, wenn es sich auf Hedgefondsmanager bezieht, nicht mehr ganz so leicht zu akzeptieren, wenn es sich auf Unternehmer bezieht – und sehr viel schwieriger zu akzeptieren, wenn es sich auf Sie oder mich bezieht.
Auf Sie und mich werden wir noch zu sprechen kommen, aber erst einmal wollen wir mit Bill Gate s anfangen.
Es ist hart an der Spitze
Der Economist hat es einmal so gesagt: »Menschliche Gesellschaften haben schon immer Eliten gehabt. … Die größte Veränderung im vergangenen Jahrhundert ist, dass die Eliten immer leistungsorientierter und globaler geworden sind. Heute sind die reichsten Menschen der entwickelten Länder nicht mehr Aristokraten, sondern Unternehmer wie Bill Gate s.« [13] Bill Gates wird nicht nur häufig als »reichste Person der Welt« bezeichnet, sondern scheint auch ein netter Kerl zu sein. Er hat sich als Philanthrop hervorgetan und scheint das Paradebeispiel eines Menschen zu sein, der sein beträchtliches Talent eingesetzt und sehr hart gearbeitet hat, um sehr erfolgreich zu werden. Doch auf den zweiten Blick ist sein Aufstieg eine weniger heroische Geschichte. [14] Dank seiner wohlhabenden Familie konnte e r die Lakeside School besuchen, eine Privatschule in Seattle, die etwas hatte, was Ende der 1960er-Jahre kaum eine Schule auf der ganzen Welt ihr Eigen nennen konnte – einen Computer. Bil l war von Anfang an fasziniert. Nach einigen anderen Glücksfällen brach Bill sein Studium an der Harvard University ab und gründete Microsoft (zusammen mit Paul Alle n, einem anderen Computerfreak von der Lakeside School). Gegen Ende der 1970er-Jahre hieß das führende Betriebssystem im neu entstehenden Bereich der Desktop-Computer CP/M (Control Program for Microcomputers). Microsofts Geschäft bestand hauptsächlich darin, Anwendungssoftware zu entwickeln und zu verkaufen, die unter CP/M lief.
Etwa zu dieser Zeit wollte der Computerkonzern IBM  – dessen Präsenz in der Branche ebenso gigantisch war wie seine Mainframe-Computer – einen Desktop-Computer auf den Markt bringen und brauchte dafür ein Betriebssystem. Auf diesem Gebiet war CP/M nicht nur der Marktführer, sondern sein Entwickler Gary Kildal l war seinen Konkurrenten weit voraus, da er bereits ein multitaskingfähiges System entwickelt hatte. (Falls sich das wie eine längst vergangene Ära anhört – ja, das war es: Kildall s Firma hieß ursprünglich Intergalactic Digital Research.) Dann wandte sich IBM allerdings – aus Gründen, die nach wie vor unklar sind – an Gate s und nicht an Kildal l, um die CP/M -Lizenz zu erwerben. Gates sagte den Leuten von IBM , die Lizenz gehöre nicht ihm und verwies sie an Kildal l. Doch aus irgendwelchen Gründen war es dann doch Gates, der letzten Endes den entscheidenden Deal mit IBM abschloss und dem Konzern eine eilig eingekaufte und angepasste Version von CP/M verkaufte. Die genauen Gründe für Gate s’ Erfolg sind nach wie vor unklar. Kildall s Image als jugendlicher Rebell passte nicht gut zu IBM s Corporate Identity; dagegen machte IBM s CEO klar, dass er einen Deal mit Microsoft befürwortete, da er Bill Gate s’ Mutter gut kannte. Aber auch dann brauchten IBM und Microsoft noch etliche Jahre, um ein multitaskingfähiges Betriebssystem auf die Beine zu stellen.
Wir mögen Heldengeschichten, und auch Geschichten von Selfmade-Millionären. Wir neigen dazu, Fortschritte im menschlichen Wissen als Ergebnis beharrlicher Entschlossenheit von Genies zu sehen, die sich gegen alle Widerstände durchsetzen. Doch die Menschheitsgeschichte strotzt von »Genies«, die einfach nur viel Glück hatten. Zwar wird Alexander Graham Bel l für den Erfinder des Telefons gehalten, doch anscheinend hatte Antonio Meucc i die Technologie schon Jahre vor ihm erfolgreich entwickelt. Meucci reichte 1871 einen Patentantrag ein, fünf Jahre vor Bell. Bel l steht nur deswegen als Erfinder des Telefons in den Geschichtsbüchern, weil Meucc i 1874 seinen Antrag verfallen ließ, da er sich die Patentverlängerungsgebühr in Höhe von 10 Dollar nicht leisten konnte. [15]
Bill Gate s hatte nicht nur Glück, sondern sein Erfolg beruhte zum großen Teil auf der Arbeit von anderen, angefangen bei Charles Babbag e. Und ganz ähnlich war es, als die Firma Apple gefeiert und geehrt wurde, weil sie 1984 ihrem Macintosh-Computer eine Computermaus als Eingabegerät beilegte – obwohl es Douglas Engelbar t und Bill Englis h waren, die schon Anfang der 1960er-Jahre mit Forschungsmitteln der US Air Force die Computermaus entwickelt hatten. 21 Wann immer in der Volksmythologie eine einzige Person sehr eng mit einem neuen Produkt, einer Erfindung oder einem Durchbruch in Verbindung gebracht wird, handelt es sich um genau das – einen Mythos. Der Versuch, die Beiträge einer einzelnen Person herauszuarbeiten, ist hoffnungslos. Meistens sind von intellektueller Bescheidenheit geprägte Bekenntnisse zutreffender als Heldenmythen – ein Punkt, den ein Genie, dessen Arbeit die Welt verändert hat, sehr gut verstanden hat. Isaac Newto n schrieb einmal an seinen Konkurrenten Robert Hook e: »Sie haben auf mannigfaltige Art vieles beigetragen. … Wenn ich weiter sehen konnte, dann nur, weil ich auf den Schultern von Riesen stan d.«
Diese Erkenntnis gilt auch, wenn sie von der individuellen Perspektive auf die gesamte Wirtschaft übertragen wird. Der Versuch, die Ursachen von wirtschaftlichem Wachstum zu ergründen, führt zu der Erkenntnis, dass es zum größten Teil weder auf Produktivitätssteigerungen noch auf Investitionen zurückzuführen ist. Aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven kamen die Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Solo w und Herbert Simo n zu dem gleichen Schluss: Das meiste Wachstum entsteht letztlich aus den wirtschaftlichen Folgen von Erweiterungen des menschlichen Wissens. George Akerlo f, ein weiterer Wirtschaftsnobelpreisträger, hat betont, dass »unsere Grenzprodukte nicht allein unsere eigenen sind … [sie] sind fast vollständig auf den kumulativen Prozess des Lernens zurückzuführen, der uns aus der ärmlichen Existenz in der Steinzeit bis in den Wohlstand des 21. Jahrhunderts geführt hat.« [16]
Würde es solche tief verwurzelten Heldenmythen nicht geben, wäre das vielleicht zu offensichtlich, um es ausdrücklich zu betonen. Doch die traditionelle ökonomische Theorie zur Höhe von Löhnen und Gehältern geht davon aus, das »Grenzprodukt« einer Person – ihr individueller Beitrag zum Output der Wirtschaft – könne säuberlich isoliert und ermittelt werden. Dann behauptet die Theorie, der Verdienst einer jeden Person sei ein direktes Ergebnis ihres Grenzprodukts: Ihr Einkommen reflektiere ihren individuellen Beitrag. Anders ausgedrückt: Jeder Mensch bekommt, was er verdient und jeder Mensch verdient, was er bekommt. Der politische Kontext, der diese Grenzproduktivitätstheorie ursprünglich inspirierte, war das Entstehen einer riesigen verarmten Unterschicht nach der industriellen Revolution und die Behauptung von Mar x und Engel s, die Arbeiterklasse werde ausgebeutet. [17] Die Grenzproduktivitätstheorie erfüllte das dringende Bedürfnis, die armseligen Löhne der Arbeiter gegenüber den wesentlich höheren Einkommen ihrer Vorgesetzten zu legitimieren. Das Erstaunliche ist, dass ungefähr 150 Jahre später diverse ökonomische Lehrbücher diese Theorie nach wie vor rechtfertigen.
Einer der Gründe dafür besteht darin, dass diese Theorie so schwer zu widerlegen ist. Selbst wenn man annehmen wollte, dass der Beitrag einer einzelnen Person irgendwie unabhängig sein könnte von unserem gemeinschaftlich aus der Vergangenheit ererbten Wissen, arbeitet heute kaum noch jemand in Splendid Isolation, sodass es schwierig ist, den allein auf die Arbeit dieser Person zurückgehenden Mehrwert zu ermitteln. Der CEO eines großen Konzerns wird vielleicht für sich reklamieren, für eine große Steigerung der Profite verantwortlich zu sein, aber welcher Anteil dieser Steigerung geht allein auf seine Anstrengungen zurück? Auch umgekehrt gilt das: Es ist schwer nachzuweisen, dass der Verdienst für einen bestimmten Output am besten anderen zugeschrieben werden müsse. Die Theorie wird unmöglich zu widerlegen, wenn sie in eine Tautologie abgleitet. Das ist am einfachsten in den seltenen Fällen zu erkennen, wenn der individuelle Beitrag einer Person tatsächlich auf der Hand liegt (etwa bei Spitzensportlern und Solokünstlern). In vielen Fällen ist die einzige Art, den Wert eines solchen individuellen Beitrags zu ermitteln, sich anzusehen, wie viel Geld Konsumenten oder Klienten dafür auszugeben bereit sind. Dann läuft das Grenzproduktivitätsargument auf die Aussage hinaus: Dein Verdienst ist gerechtfertigt, weil er reflektiert, wie viel andere dir zu zahlen bereit sind. Mit anderen Worten: Dein Verdienst ist gerechtfertigt, weil er reflektiert, wie viel man dir zahlt.
Das mag wie harmlose Wortklauberei wirken, aber das ist es nicht. Wenn der durch die Arbeit einer Person geschaffene Wert nur daran bemessen werden kann, welchen Betrag Konsumenten dafür zu zahlen bereit sind, dann sollten wir den immanenten, nicht durch Marktmechanismen ermittelten Wert von Gütern und Dienstleistungen ignorieren. Und können rechtfertigen, warum Top-Bankern mehr gezahlt wird als Top-Neurochirurgen und warum Hundeausführern der oberen 0,1 Prozent mehr gezahlt wird als Grundschullehrern.
Es liegt auf der Hand, dass hinter der Beliebtheit des bekannten Sprichworts »Du bekommst, was du verdienst, und du verdienst, was du bekommst« noch etwas anderes stecken muss als die Grenzproduktivitätstheorie. Und Heldenmythen – selbst wenn wir sie glauben – können nur die Bezahlung von einigen wenigen außergewöhnlichen Menschen rechtfertigen, nicht von uns anderen. Also müssen wir tiefer graben.
Weil Sie es wert sind
Letzten Endes füttert jedes Argument für Ungleichheit direkt Ihr Ego: Sie sind außergewöhnlich und einzigartig. Also sind Sie etwas Besonderes, also sind wir alle etwas Besonderes, also ist Ungleichheit eine naturgegebene Tatsache. Oder zumindest manifestiert sich Ihre Einzigartigkeit in Ihrer Begabung und harten Arbeit, die rechtfertigen, dass Sie den angestrebten Job bekommen haben oder mehr verdienen als andere, offenkundig ähnlich qualifizierte Kollegen. Somit können wir endlich einen maßgeblichen Grund dafür erahnen, warum wir in den vergangenen Jahren so wenig getan haben, um Ungleichheit zu reduzieren: Wir spielen herunter, welch eine wichtige Rolle Glück dabei spielt, Erfolg zu erreichen. Erfolg erfordert in der Regel ein hohes Maß an ständigem Einsatz über einen langen Zeitraum, der besonders schwer durchzuhalten ist, wenn wir zu oft daran denken, dass Pech dazwischenkommen und unsere Anstrengungen vereiteln könnte. Also bevorzugen wir Narrative, welche die Rolle des Glückes herunterspielen. Eltern bringen ihren Kindern bei, dass so gut wie jedes Ziel zu erreichen sei, wenn man sich nur genug Mühe gibt. Das ist eine Lüge, doch es gibt eine gute Entschuldigung dafür: Wenn man sich nicht genug Mühe gibt, werden viele Ziele definitiv unerreichbar bleiben. Unternehmer, die erfolgreich aus dem Nichts ein Geschäft aufgebaut haben, erinnern sich gern und mit einem gewissen Staunen daran, mit welch einem naiven Optimismus sie angefangen haben. Wenn sie mit einer realistischeren Einschätzung der enormen Risiken und Hindernisse angefangen hätten, dann hätten sie ihr Geschäft wahrscheinlich gar nicht erst gegründet. Generell kann Erfolg in vielen dem Wettbewerb ausgesetzten Situationen ein gewisses Maß an Selbsttäuschung notwendig machen; man überschätzt den Unterschied, den die eigenen Anstrengungen ausmachen können, und unterschätzt die Rolle von Glück. [18]
Wenn ich das meinem Erfolg zugrunde liegende Glück außer Acht lasse, stützt das mein Selbstwertgefühl und macht es mir viel leichter zu glauben, ich würde die Früchte meines Erfolgs verdienen. Diese Kräfte sind selbst unter aussichtslosen Umständen am Werk. Viele Lottogewinner berichten gern über die raffinierten Methoden, mit denen sie ihre Gewinnzahlen ausgesucht haben. Umfragen unter Aktienanlegern haben gezeigt, dass viele von ihnen die meisten ihrer erfolgreichen Investitionen auf ihr gutes Urteilsvermögen zurückführen und die meisten ihrer Misserfolge auf Pech. Und natürlich betrachten Spitzenverdiener ihr Einkommen als das verdiente Ergebnis von Talent und harter Arbeit.
Doch der Umstand, dass Weisheiten wie »Du verdienst, was du bekommst« und ähnliche Überzeugungen sich so hartnäckig halten, lässt vermuten, dass hinter solchen Überzeugungen noch etwas anderes stecken könnte als das verschämte Bemühen, das eigene hohe Einkommen oder Vermögen moralisch zu rechtfertigen. Vielleicht sind Spitzenverdiener wirklich davon überzeugt, dass sie ihr hohes Einkommen verdienen, weil sie sehr genau wissen, wie hart sie gearbeitet haben und welche Hindernisse sie überwinden mussten, um erfolgreich zu sein.
Leider foppt uns unser Gedächtnis, indem es die Geschichte von unserem Weg zum Erfolg, die wir konstruieren, systematisch verfälscht. Die Hauptschuld daran trägt wahrscheinlich die Verfügbarkeitsheuristik (eine weitere wichtige Entdeckung von Kahnema n und Tversk y). Wenn englische Muttersprachler gefragt werden, ob englische Wörter, die mit dem Buchstaben »K« anfangen, häufiger vorkommen als Wörter, deren dritter Buchstabe ein »K« ist, entscheiden sich die meisten Befragten für die erste Option. Tatsächlich kommen englische Wörter mit einem »K« als drittem Buchstaben häufiger vor, aber Wörter, die mit »K« anfangen, sind im Gedächtnis wesentlich leichter verfügbar , weil es einfacher ist, an Beispiele zu denken. Verfügbarkeit ist eine gedankliche Abkürzung, die unsere Einschätzungen verfälscht, weil sie leicht verfügbaren Beispielen zu großes Gewicht verleiht. Jeder Spitzenverdiener kann sich leicht an etliche Beispiele seiner außergewöhnlich harten Arbeit erinnern (dass er die ganze Nacht, das ganze Wochenende durchgearbeitet hat und so weiter), aber es ist schwieriger, lebhafte Beispiele von ebenso harter Arbeit durch Menschen, die wir kaum einmal gut kennen (Niedrigverdiener), aus dem Gedächtnis abzurufen. Dementsprechend ist es auch einfacher, sich an frühere Hindernisse und Herausforderungen, die ich bewältigen musste, zu erinnern als an Umstände, die mir geholfen haben. Letztere Bedeutung ist schwierig mit einem einzigen Wort (»Rückenwind«?) oder Bild zu erfassen. Dagegen ist »Gegenwind« leicht vorstellbar, unmöglich zu ignorieren und daher leicht zu erinnern (stellen Sie sich vor, Sie würden sich bei Gegenwind mit dem Fahrrad vorankämpfen). Rückenwind ist leicht zu vergessen, selbst beim Fahrradfahren. [19]
Aber eines bleibt rätselhaft: Wenn die Erklärung für »Du verdienst, was du bekommst« und ähnliche Überzeugungen psychologischer Art und daher universell sind, warum unterscheidet sich dann die Unterstützung für solche Überzeugungen von Land zu Land so deutlich? Mehr noch: Warum ist die Unterstützung für solche Überzeugungen in Ländern stärker, wo es starke Belege zu geben scheint, die dagegensprechen?
Die Unterstützung für »Du verdienst, was du bekommst« scheint am stärksten zu sein in dem Land, wo es wohl die meisten dem entgegenstehenden Belege gibt: in den Vereinigten Staaten. [20] Verhaltensstudien haben durchweg gezeigt, dass in Europa im Vergleich zu den USA ein etwa doppelt so hoher Anteil der Bevölkerung glaubt, Glück sei der wichtigste Faktor für ein hohes Einkommen und die Armen seien in der Armutsfalle gefangen. Entsprechend glaubt in den USA ein etwa doppelt so hoher Anteil der Bevölkerung, die Armen seien faul und undiszipliniert und auf lange Sicht würde harte Arbeit zu einer höheren Lebensqualität führen. Doch tatsächlich arbeiten Arme (die unteren 20 Prozent) in den USA und Europa etwa die gleiche Zahl an Stunden pro Jahr. Und noch wichtiger ist, dass wirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten und Intragenerationenmobilität in den USA eingeschränkter sind als in Europa. In den USA kommt es häufiger vor, dass das Einkommen einer Person ihren wirtschaftlichen Hintergrund (das Einkommen ihrer Eltern) reflektiert: Die Korrelation zwischen den Einkommen von Eltern und Kindern ist in den USA höher als im europäischen Durchschnitt. In den USA liegt diese Korrelation bei etwa 0,5 – das ist etwa genauso hoch wie die Korrelation zwischen der jeweiligen Körpergröße von Eltern und ihren Kindern. [21]  Kinder, die in den USA in eine arme Familie hineingeboren wurden, werden mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit arm sein wie die Kinder von hoch gewachsenen Eltern groß sein werden. Und einschlägige Umfragen haben wiederholt gezeigt, dass viele Menschen in den USA das nicht wissen: Die subjektive Wahrnehmung von sozialer Mobilität ist durchweg übertrieben optimistisch.
In den europäischen Ländern werden im Durchschnitt die staatlichen Steuereinnahmen in höherem Maße umverteilt; die Sozialleistungen für Arme sind höher als in den USA , und daher ist die Ungleichheit nach Steuern und Sozialleistungen geringer. Viele Menschen halten diese Errungenschaften für eine Folge der oben beschriebenen unterschiedlichen Einstellungen in den USA und Europa. Doch die Kausalität könnte auch umgekehrt sein: Überzeugungen von »Du verdienst, was du bekommst« werden durch Ungleichheit gestärkt. Es ist kein Spaß, in den USA arm zu sein, angesichts der dürftigen Sozialleistungen und dem hohen Maß an Ungleichheit nach Steuern. Das heißt, dass US -Amerikaner ein stärkeres Bedürfnis haben als Europäer, daran zu glauben, dass »Du verdienst, was du bekommst« und dass »Du bekommst, was du verdienst«. Diese Überzeugungen spielen eine wichtige Rolle, wenn Menschen sich selbst und ihre Kinder motivieren wollen, möglichst hart zu arbeiten, um Armut zu vermeiden. Und diese Überzeugungen können helfen, die Schuldgefühle zu verringern, die sich einstellen, wenn man an einem obdachlosen Menschen, der auf der Straße bettelt, achtlos vorbeigeht.
Das ist nicht nur in den USA ein Problem. Großbritannien ist eine Ausnahme unter den europäischen Ländern, mit relativ hoher Ungleichheit und geringer wirtschaftlicher und sozialer Mobilität. Seine jüngere Geschichte bestätigt die oben beschriebene Kausalität: Als Margaret Thatche r 1979 zur Premierministerin gewählt worden war, nahm die Ungleichheit erheblich zu. Nachdem die Ungleichheit zugenommen hatte, änderten sich die Einstellungen der Briten. Immer mehr Menschen kamen zu der Überzeugung, dass großzügige Sozialleistungen die Menschen faul machen würden und hohe Gehälter unentbehrlich seien, um talentierte Menschen zu motivieren. Doch tatsächlich nahm die Intragenerationenmobilität ab: Heute besteht in Großbritannien eine hohe Korrelation zwischen dem Einkommen einer Person und demjenigen ihrer Eltern. Dieses Muster ist in zahlreichen Ländern der Welt zu beobachten: In Ländern mit hoher Ungleichheit ist die Intragenerationenmobilität niedrig und umgekehrt. Ökonomen haben die grafische Darstellung dieser Beziehung die »Great Gatsby Curve« genannt. [22]
Wenn der amerikanische Traum und andere Narrative zuträfen, dass jeder Bürger die Chance hat, reich zu werden, wäre die umgekehrte Beziehung zu erwarten: Hohe Ungleichheit (ist gerecht wegen) hoher Intragenerationenmobilität. Stattdessen sehen wir ein ganz anderes Narrativ, eher eine Art Bewältigungsstrategie: Die Menschen arrangieren sich mit hoher Ungleichheit, indem sie sich einreden, sie sei letzten Endes doch gerecht. Wir machen uns solche Narrative zu eigen, um Ungleichheit zu rechtfertigen, weil die Gesellschaft sehr ungleich ist, nicht umgekehrt. Das heißt, dass Ungleichheit sich auf unerwartete Weise selbst bewahrt: Anstatt sie zu bekämpfen und gegen sie zu rebellieren, arrangieren wir uns einfach mit ihr – weniger Kommunistisches Manifest als Selbsthilferatgeber. Und Ungleichheit perpetuiert sich auch auf andere Weise selbst.
Sie bekommen, was Sie herausschlagen können
Wir haben gesehen, dass das Zunehmen von Ungleichheit zum großen Teil auf Veränderungen an der obersten Spitze der Gesellschaft zurückzuführen ist. Der Einkommensanteil des obersten Prozents ist erheblich gestiegen, sowohl im Vergleich zu den unteren 99 Prozent als auch im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung. Warum ist das so? Wir haben schon einige denkbare Antworten ausgeschlossen: Es liegt nicht an weltweit wirkenden ökonomischen Kräften oder neuen Technologien, und die Erklärungen der Grenzproduktivitätstheorie sind entweder falsch oder tautologisch. Die wahre Antwort ist ebenso einfach wie erstaunlich. Einfach, weil letztlich das oberste Prozent schlichtweg beschlossen hat, sich selbst viel mehr zu zahlen. Und erstaunlich, weil wir diese Leute – zumindest am Anfang – dazu eingeladen haben, das zu tun.
Eine so absurde Einladung widerspricht dem gesunden Menschenverstand, und so ist es kein Wunder, dass auch sie ihren Ursprung in ökonomischen Theorien hatte. Nach der orthodoxen Ökonomik ist eine Vorbedingung für erfolgreichen Kapitalismus, dass Unternehmen danach streben, ihre Profite zu maximieren. Doch profitmaximierende Unternehmen sind in der Realität unwahrscheinlich, da ihre Profite traditionell an Aktionäre ausgeschüttet werden, während der CEO und die Topmanager, die das Sagen haben, eher daran interessiert sein dürften, ihr eigenes Gehalt oder Prestige zu steigern. Von Ökonomen wurde das »Optimal Contracting«, die »optimale Vertragsgestaltung«, als Mittel der Wahl empfohlen, um ein Unternehmen eher dem profitmaximierenden »Ideal« der Lehrbücher anzunähern: Topmanager sollten ein relativ niedriges Grundgehalt beziehen und die Möglichkeit haben, sich zusätzlich einen beträchtlichen Bonus zu verdienen, der aufgrund hoher Profite (oder eines anderen Kriteriums, das den Interessen der Aktionäre dient, etwa ein steigender Aktienkurs) ausgezahlt wird. Die Argumentation der Ökonomen: Obwohl CEO s und andere Manager mit solchen »leistungsbezogenen« Verträgen ein wesentlich höheres Einkommen erzielen könnten, würde auch die Wirtschaft insgesamt von solchen »Pay-for-Performance« oder leistungsorientierten Vergütungsmodellen profitieren, weil durch sie die Unternehmen effizienter betrieben würden. Zwei der prominentesten Verfechter solcher Vergütungsmodelle, Michael Jense n und Kevin Murph y, schrieben in einem Artikel, der 1990 in der Harvard Business Review erschien: »Ist das jetzige CEO -Vergütungsniveau hoch genug, um die besten und intelligentesten Menschen zu motivieren, eine Karriere als Konzernmanager einzuschlagen? Die Antwort: wahrscheinlich nicht.« [23]
Dieser Artikel von Jense n und Murph y hat sich als enorm einflussreich erwiesen: Zusammen mit anderen führenden Ökonomen hatten sie ein Feigenblatt für die Gier von Unternehmensführern geliefert. In den 15 Jahren ab 1990 war zu verzeichnen, dass das durchschnittliche »Leistungspaket« von CEO s in den 500 größten US -Konzernen sich (inflationsbereinigt) mehr als verdreifachte. Bis 2004 hatten Jense n und Murph y sich eines Besseren besonnen und kommentierten ihre frühere Empfehlung, CEO s sollten höher bezahlt werden, mit diesen Worten: »Heute würden Jense n und Murph y diese Antwort nicht mehr geben.« [24]
Natürlich ist man hinterher immer klüger, aber dennoch sind die Fehler in der Argumentation für enorme Einkommenssteigerungen für CEO s völlig offensichtlich. Erstens beruht diese Forderung auf der Annahme, dass jegliche Profitsteigerung ausschließlich auf die Aktivitäten von CEO s und anderen Topmanagern zurückgehe; zweitens geht sie davon aus, dass auf lange Sicht jeder Mitarbeiter der Firma von steigenden Gewinnen profitieren werde. Tatsächlich können wir diese schönfärberischen Annahmen ignorieren, weil etwas Handfesteres mit solchen Pay-for-Performance-Verträgen nicht stimmt: Sie waren – und sind es immer noch – zugunsten von CEO s und anderen Topmanagern manipuliert.
Der wichtigste Grund dafür ist nicht schwer zu erkennen. Pay-for-Performance-Verträge werden vom Verwaltungsrat des betreffenden Unternehmens festgelegt. Und, was Jense n und Murph y erst verspätet auffiel: »Es ist hauptsächlich der CEO , der die Kandidaten für den Verwaltungsrat auswählt … Die Verwaltungsratsmitglieder dienen den Interessen des CEO . In der Regel legt der CEO die Tagesordnung für Verwaltungsratssitzungen fest. So gut wie alle Informationen über das Unternehmen, die den Verwaltungsratsmitgliedern zugehen, stammen vom CEO oder laufen über seinen Schreibtisch.« [25] Aus der Perspektive des vielleicht erfolgreichsten Investors der Welt, Warren Buffet t, hat das zur Folge, dass »die Karten gegen die Aktionäre gezinkt sind, wenn es um die Vergütung des CEO geht.« Die praktischen Auswirkungen von Pay-for-Performance-Verträgen haben inzwischen auch ihre Urheber erkannt, jene Wirtschaftstheoretiker, die sich die »optimale Vertragsgestaltung« ausgedacht haben. Kürzlich hat Bengt Holmströ m für seine Arbeit über Optimal Contracting den Wirtschaftsnobelpreis gewonnen – ergriff jedoch in seiner Dankesrede die Gelegenheit, eine ähnliche Kehrtwende zu vollziehen wie vor ihm schon Jense n und Murph y. Holmströ m zog den Schluss, es sei »eine so fehlgeleitete Idee, den Markt ins Unternehmen hineinzutragen – ein Punkt, den ich [früher] nicht verstanden hatte und den die Befürworter von marktähnlichen Anreizen in Unternehmen auch heute noch zu übersehen scheine n.« [26]
Besser spät als nie, obwohl die kreativeren Selbstbereicherungsmanöver des obersten Prozents sich inzwischen eine andere Spielwiese gesucht haben. Die meisten dieser Manöver zielen darauf ab, die allen wirtschaftlichen Aktivitäten zugrunde liegenden Regeln zu ihren Gunsten zu manipulieren. Ökonomen nennen es Rent-Seeking : Darunter versteht man jede Aktion, die hauptsächlich zu dem Zweck unternommen wird, Einkommen, Wohlstand oder Ressourcen zum eigenen Nutzen umzuverteilen – im Gegensatz zu den meisten wirtschaftlichen Aktivitäten, die auf die eine oder andere Art Wohlstand oder einen Mehrwert für die Wirtschaft oder Gesellschaft schaffen. Das einzige Ziel von Rent-Seekers ist, ein größeres Stück vom Kuchen zu ergattern; sie leisten keinen Beitrag dazu, den Kuchen für alle zu vergrößern. Das verräterische Merkmal von Rent-Seekers in Aktion ist das plötzliche Auftauchen einer obskuren oder kaum beachteten Regel, die keine nachvollziehbare Rechtfertigung hat, aber zufälligerweise für die Rent-Seekers ein Vermögen wert ist. So haben zum Beispiel in vielen Ländern staatlich verwaltete und finanzierte Krankenversicherungen sich die befremdliche Regel auferlegt, nicht mit Pharmakonzernen über niedrigere Preise zu verhandeln. In den USA hat diese kaum bekannte gesetzliche Regelung den Pharmakonzernen über 50 Milliarden Dollar pro Jahr an zusätzlichen Einnahmen in die Kassen gespült. [27] Doch die vermutlich beliebteste Spielwiese von Rent-Seekers ist die Finanzbranche. Arthur Levit t, ehemaliger Chef der Securities and Exchange Commission (und somit oberster Börsenaufseher), hat beschrieben, wie Wall-Street-Lobbyisten »alles daransetzen, selbst kleinere Regulierungen sofort zunichtezumachen. Kleinanleger ohne organisierte Lobbygruppe, die in Washington ihre Interessen vertritt, wissen gar nicht, wie ihnen geschieh t.« [28] Was das generell bedeutet, liegt auf der Hand und ist inzwischen durch einschlägige Studien hinreichend belegt: Je reicher die Reichen werden, desto mehr Einfluss üben sie auf politische Prozesse aus, von Wahlkampfspenden über Lobbyarbeit bis hin zur Einflussnahme auf einzelne Vorschriften und Regulierungen. Die Folge sind Politiker und Gesetze, die ihnen helfen, aber ineffizient sind und zur Verschwendung von Steuergeldern führen. [29] Kritiker vom linken Flügel des politischen Spektrums haben das als »Sozialismus für Reiche« bezeichnet. Selbst Warren Buffet t scheint es so zu sehen: »Seit 20 Jahren ist ein Klassenkampf im Gang, und meine Klasse hat ihn gewonnen.«
Wir haben bereits gesehen, dass zunehmende Ungleichheit sich selbst erhalten kann, weil Einstellungen entstehen, um sich mit dieser Entwicklung zu arrangieren und sie zu rechtfertigen. Und jetzt sehen wir, dass zugleich eine andere Dynamik am Werk ist: Ein Anfangsimpuls, der von Ökonomen ausgeht (etwa das Befürworten von Pay-for-Performance-Verträgen) und auf den ein Teufelskreis folgt, bei dem Ungleichheit immer mehr Ungleichheit schafft. Je reicher die Eliten werden, desto mehr Anreize und Möglichkeiten haben sie, sich immer weiter zu bereichern. Der Erfolg setzt dabei den Zyklus immer wieder von Neuem in Gang.
Doch die größte Zunahme von Ungleichheit ist darauf zurückzuführen, dass sich dieser Prozess auch in einem anderen Bereich abgespielt hat: Steuern. Spitzenverdiener profitieren am stärksten von Einkommenssteuersenkungen, und sie haben mehr Geld zur Verfügung, um über Lobbyisten Politiker zu beeinflussen, solche Steuersenkungen herbeizuführen. Sobald die Steuern dann gesenkt worden sind, haben Spitzenverdiener einen weiteren Anreiz, um noch höhere Einkommen anzustreben, da sie nach Steuern einen größeren Teil davon selbst behalten können. Und so weiter.
Hier sind die Belege dafür. Im Laufe der vergangenen 50 Jahre waren die entwickelten Länder mit der geringsten Steigerung des Anteils der Einkommen vor Steuern, der das oberste Prozent betraf, dieselben Länder, in denen die geringsten Senkungen des Spitzensteuersatzes stattgefunden haben. Und umgekehrt waren die Länder, in denen das oberste Prozent vor Steuern am meisten hinzugewonnen hat, dieselben Länder, in denen sie in den Genuss der größten Steuersenkungen kamen. [30] Die Länder dieser letzteren Gruppe bringen keine Überraschungen: Zwar wurde seit 1979 in fast allen entwickelten Ländern der Spitzensteuersatz gesenkt, aber Großbritannien und die USA waren die ersten und gingen dabei am weitesten. [31] Im Jahr 1979 senkte Thatche r den britischen Spitzensteuersatz von 83 auf 60 Prozent, und 1988 noch weiter auf 40 Prozent. Im Jahr 1981 senkte Reaga n den US -Spitzensteuersatz von 70 auf 28 Prozent. Obwohl die Spitzensteuersätze heute etwas höher liegen (in den USA bei 35 Prozent, in Großbritannien bei 45 Prozent), lohnt es sich, diese Zahlen hier zu nennen, weil sie deutlich niedriger waren als in der Nachkriegszeit, in der die Spitzensteuersätze in den USA im Durchschnitt bei 75 Prozent lagen und in Großbritannien noch höher waren. Dass man die Dinge damals anders sah, zeigt sich am Beispiel von Präsident Dwight D. ​Eisenhowe r, seines Zeichens ein Kriegsheld und der Oberste Befehlshaber der alliierten Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg (also wohl kaum ein Kommunist). Während der Regierungszeit Eisenhower s stieg der Einkommenssteuer-Spitzensatz in den USA auf 91 Prozent. Eisenhowe r schien wirklich davon überzeugt zu sein, dass die Reichen hoch besteuert werden sollten: In einem privaten Brief an seinen Bruder schrieb er, dass er den »New Deal« billige, mit dem sein Vorvorgänger Franklin D. Roosevel t großzügige Sozial- und Arbeitslosenhilfen eingeführt hatte, die zum Teil aus dem Einkommenssteueraufkommen finanziert wurden. Eisenhowe r bezeichnete die Gegner des New Deal als ein paar »texanische Millionäre, und hin und wieder ein Politiker oder Geschäftsmann aus einer anderen Gegend. Es sind nur ganz wenige, und sie sind dumm.« [32]
Einige Elemente der Reaga n/Thatche r-Revolution der Wirtschaftspolitik, etwa Milton Friedman s monetaristische Makroökonomik, sind seither wieder aufgegeben worden. Doch die entscheidende politische Idee, die aus der Mikro ökonomik erwuchs, hat mittlerweile so breite Akzeptanz gefunden, dass sie den Status einer Selbstverständlichkeit erlangt hat: Dass nämlich Steuern demotivierend auf die wirtschaftlichen Aktivitäten der Bürger wirken, und vor allem, dass Lohn- und Einkommenssteuern von Arbeit abschrecken. Diese neue Doktrin hat anscheinend die öffentliche Debatte über Besteuerung von der »trostlosen Wissenschaft« der turbulenten 1970er-Jahre – einem endlosen Streit darüber, wer wie viel zu bekommen hat – in das Versprechen einer glänzenden und florierenden Zukunft für alle verwandelt. Das kleine Detail für alle war entscheidend: Keine Gewinner und Verlierer mehr. Nur noch Gewinner. Und die Grundideen waren so einfach, dass sie auf die Rückseite einer Serviette passen.
Steuern gelten neuerdings als Diebstahl
Eines Abends im Dezember 1974 traf sich eine Gruppe ehrgeiziger junger Konservativer im Two Continents Restaurant in Washington, D. C. zum Dinner. Neben Jude Wannisk i, einem Redakteur des Wall Street Journal , waren Arthur Laffe r , ein Ökonom der Chicago University, Donald Rumsfel d (damals Stabschef unter Präsident Gerald For d) und Dick Chene y, seinerzeit Rumsfeld s Stellvertreter und ehemaliger Kommilitone von Laffe r an der Yale University, erschienen. [33] Als sie über Präsident Ford s kurz zuvor in Kraft getretene Steuererhöhungen sprachen, wies Laffe r darauf hin, dass ebenso wie ein Einkommenssteuersatz von null Prozent ein Steuersatz von 100 Prozent dem Staat keine Einnahmen brächte, weil sich dann niemand mehr die Mühe machen würde, arbeiten zu gehen. Logischerweise musste es also zwischen diesen beiden Extremen einen Steuersatz geben, der das Steueraufkommen maximiert. Obwohl Laffe r sich nicht mehr daran erinnern kann, nahm er anscheinend eine Serviette zur Hand und zeichnete darauf eine Kurve, um die Beziehung zwischen Steuersätzen und Steueraufkommen darzustellen. 22 So erblickte die »Laffe r-Kurve« das Licht der Welt, und mit ihr die »Trickle-down-Theorie«. Die wichtigste Schlussfolgerung daraus, die Rumsfel d und Chene y durchaus beeindruckte, war, dass ebenso wie Steuersenkungen auf einen Satz von unter 100 Prozent höhere Steuereinnahmen bewirken werden, Einkommenssteuersenkungen ganz allgemein zu höheren Steuereinnahmen führen müssten. Mit anderen Worten: Steuersenkungen sollten nur Gewinner und keine Verlierer produzieren.
Aber sollten bedeutet etwas anderes als werden . Für die logische Möglichkeit, dass Steuersenkungen das Steueraufkommen erhöhen könnten, wurden nie empirische Belege produziert, und selbst den Ökonomen, die etwa sechs Jahre später für die neu angetretene Reaga n-Regierung tätig waren, fiel es schwer, Belege für diese Idee zu finden. Dennoch war sie für Reaga n, den ewigen Optimisten, anscheinend unwiderstehlich; er setzte sich letzten Endes über seine Experten hinweg, weil er davon überzeugt war, dass der »Unternehmergeist, den die neuen Steuersenkungen entfesseln werden, sicherlich mehr Einnahmen generieren würde, als seine Experten sich vorstellen konnten.« [34] (Falls dieses potente Gebräu aus populistischem Optimismus und Geringschätzung von Wirtschaftsexperten Ihnen 40 Jahre später bekannt vorkommen sollte: Laffe r war einer der Wahlkampfberater von Donald Trum p.) [35]
Damit Einkommenssteuersenkungen zu höheren Steuereinnahmen führen können, müssen die Menschen durch die Aussicht auf höhere Nettoeinkommen motiviert werden, mehr zu arbeiten. Das daraus resultierende höhere BIP und Nationaleinkommen mag genügen, um höhere Steuereinnahmen zu generieren, selbst wenn der Steuersatz selbst gesunken ist. Obwohl die Auswirkungen von Reagan s großen Steuersenkungen nach wie vor umstritten sind (vor allem, weil man sich nicht darüber einigen kann, wie die US -Wirtschaft sich ohne diese Steuersenkungen entwickelt hätte), räumen selbst Anhänger der Trickle-down-Theorie ein, dass die Steuersenkungen sich kaum auf das BIP ausgewirkt haben – und mit Sicherheit nicht genug, um die geringeren Einnahmen aufgrund der Steuersenkungen zu kompensieren. Aber die Laffe r-Kurve hat Ökonomen stets daran erinnert, dass irgendwo zwischen 0 und 100 Prozent ein »steueraufkommensmaximierender Spitzensteuersatz« existieren muss. Diese magische Zahl zu finden, ist jedoch eine ganz andere Sache: Die Suche geht bis heute weiter. Es lohnt, sich etwas näher mit dieser Suche zu beschäftigen, und zwar nicht zuletzt, weil regelmäßig auf sie verwiesen wird, um Initiativen auszubremsen, die Einkommensschere durch höhere Besteuerung der Reichen zu verringern. So hat zum Beispiel 2013 der britische Chancellor of the Exchequer George Osborn e den Einkommenssteuer-Spitzensatz von 50 auf 45 Prozent gesenkt, mit dem Argument im Stile Laffer s, dass die Senkung nur zu unwesentlich niedrigeren Steuereinnahmen führen würde, wenn überhaupt. Osborne s Argument beruhte auf der ökonomischen Analyse, dass der aufkommensmaximierende Spitzensteuersatz für Großbritannien bei etwa 40 Prozent liege.
Doch die hinter dieser Zahl steckenden Annahmen sind wackelig, was auch von den meisten Ökonomen, die daran beteiligt sind, solche Zahlen zu produzieren, eingeräumt wird. [36] Fangen wir mit der zugrunde liegenden Idee an: Wenn durch niedrigere Steuersätze Ihr Nettoeinkommen steigt, sind sie motiviert, mehr zu arbeiten. Das klingt zunächst durchaus plausibel, doch in der Praxis wird dieser Effekt wahrscheinlich minimal sein. Wenn die Einkommenssteuer sinkt, können viele von uns gar nicht mehr arbeiten, selbst wenn wir es wollten. Es besteht kaum die Möglichkeit, bezahlte Überstunden zu machen, und es bringt keine höhere Bezahlung ein, während der regulären Arbeitszeiten fleißiger zu arbeiten. Und selbst bei Menschen, die diese Möglichkeit haben, ist keineswegs klar, dass sie mehr oder fleißiger arbeiten würden. Stattdessen könnten sie beschließen, weniger zu arbeiten: Da ihr Nettoeinkommen gestiegen ist, könnten sie weniger Stunden arbeiten und dennoch ihr gewohntes Einkommen halten, sodass ihr materieller Lebensstandard unverändert bliebe. Somit hat die verbreitete Annahme, Einkommenssteuersenkungen würden zu mehr geleisteten Arbeitsstunden und mehr produktiver wirtschaftlicher Aktivität führen, kaum eine Grundlage – weder nach dem gesunden Menschenverstand noch nach der ökonomischen Theorie.
Osborne s Argument hat noch fundamentalere Schwächen, die selbst unter Ökonomen kaum bekannt sind. Wenn das oberste Prozent durch Einkommenssteuersenkungen motiviert wird, mehr zu verdienen, wird häufig angenommen, dass dieser höhere Verdienst eine Zunahme der produktiven wirtschaftlichen Aktivitäten reflektiert. Mit anderen Worten: dass der Kuchen größer wird. Aber einige Ökonomen (etwa der einflussreiche Thomas Pikett y) haben gezeigt, dass das für CEO s und andere Spitzenmanager großer Konzerne nach den Steuersenkungen der 1980er-Jahre nicht galt. Vielmehr haben sie im Wesentlichen ihre eigenen Gehaltserhöhungen finanziert, indem sie ihren Aktionären weniger zahlten – was wiederum wegen niedrigerer Dividenden zu geringeren Steuereinnahmen führte. Aufgrund dieser und ähnlicher Effekte – die Reichen verteilen den Kuchen um, anstatt ihn größer zu machen – sind Pikett y und seine Kollegen zu dem Schluss gekommen, dass der aufkommensmaximierende Spitzensteuersatz bei bis zu 83 Prozent liegen könnte. [37]
Die Einkommenssteuersenkungen für Reiche im Laufe der vergangenen 40 Jahre wurden ursprünglich mit ökonomischen Argumenten gerechtfertigt: Viele Politiker übernahmen eifrig Laffer s Thesen. Doch für Ökonomen waren dessen Ideen sowohl vertraut als auch trivial. Die moderne Ökonomik liefert weder theoretische noch empirische Argumente für die Vorteile solcher Steuersenkungen – beide sind nicht eindeutig. Obwohl Politiker diesen Umstand eine Weile ignorieren können, lässt er vermuten, dass der breite Widerstand gegen eine höhere Besteuerung der Reichen letztlich auf Gründen außerhalb der Ökonomik beruht.
Als 2009 der britische Einkommenssteuer-Spitzensatz auf 50 Prozent erhöht wurde (bis Osborn e ihn vier Jahre später wieder auf 45 Prozent senkte), reagierte der Musical-Komponist Andrew Lloyd Webbe r, einer der reichsten Menschen Großbritanniens, ziemlich ungehalten: »Das Letzte, was wir brauchen, ist ein Raubzug im Stil somalischer Piraten gegen die wenigen Menschen, die hierzulande Wohlstand schaffen und es immer noch wagen, in den stürmischen britischen Gewässern zu kreuze n.« [38] In den USA verglich Stephen Schwarzma n, CEO der Investmentgesellschaft Blackstone, Vorschläge, eine spezielle Steuervergünstigung (von der er in hohem Maße profitierte) abzuschaffen, mit der deutschen Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg. [39]
Obwohl wir uns manchmal über solcherlei Gejammer von Superreichen lustig machen, akzeptieren die meisten von uns die fundamentale Idee, die dahintersteckt, ohne groß darüber nachzudenken: dass Einkommenssteuer nämlich eine Art Diebstahl sei und Einkommen vereinnahme, das mit Fug und Recht der Person gehöre, die es verdient habe. Daraus folgt dann, dass Steuern bestenfalls ein notwendiges Übel seien und daher möglichst weit gesenkt werden sollten. Nach dieser Logik ist der von Pikett y in Betracht gezogene Spitzensteuersatz von 83 Prozent schlichtweg inakzeptabel. Es existiert ein ganzes kulturelles Ökosystem, das aus der Idee »Steuern sind Diebstahl« entstanden ist und sich heute in den Sprüchen von Politikern zeigt, »das Geld des Steuerzahlers auszugeben«, oder im Gerede von Aktivisten, die den »Tax Freedom Day« (»Steuerfreiheitstag«) zelebrieren. Das ist nicht nur Populismus. Steuerökonomen, Steuerberater und Anwälte reden von »Steuerlast« – und wenn Sie meinen, »Steuerlast« sei eine wertfreie Bezeichnung, dann sollten sie sich konsequenterweise auch freuen, wenn der Ausdruck »staatliche Ausgaben« durch »staatliche Leistungen« ersetzt würde.
Doch die Idee, dass Ihr unversteuertes Einkommen irgendwie Ihnen allein gehören könnte, ist zwar naheliegend, aber falsch. Erstens können Ihre Eigentumsrechte nie Vorrang vor der Besteuerung haben oder unabhängig davon sein. Eigentum ist ein gesetzliches Recht. Damit Gesetze funktionieren können, bedarf es diverser Institutionen wie Polizei und Rechtssystem. Diese Institutionen werden durch Besteuerung finanziert. Steuer- und Eigentumsrechte werden letzten Endes zugleich geschaffen; wir können das eine nicht ohne das andere haben. Vielleicht übersehen wir diese immanente wechselseitige Abhängigkeit zwischen Steuer- und Eigentumsrecht, weil wir als Individuum davon fantasieren können, ihr zu entgehen: Dann könnte ganz offensichtlich ein Individuum sein gesamtes unversteuertes Einkommen vereinnahmen und ein rechtlich durchsetzbares Eigentumsrecht daran haben – vorausgesetzt, dass alle anderen ihre Steuerschulden zahlen, um das System aufrechtzuerhalten, das notwendig ist, um dieses Recht durchzusetzen.
Wenn es freilich die einzige Aufgabe des Staates wäre, private Eigentumsrechte durchzusetzen (indem er ein Rechtssystem, Polizeikräfte und so weiter vorhält), scheint es so, also ob die Besteuerung sehr niedrig sein könnte – und jegliche Besteuerung, die darüber hinausgeht, könnte immer noch als eine Art Diebstahl betrachtet werden.
Diese Perspektive beruht auf der impliziten Vorstellung, dass Einkommen verdient und somit Eigentumsrechte geschaffen werden in einer völlig freien Marktwirtschaft, und dass der Minimalstaat erst später auf den Plan tritt, um dafür zu sorgen, dass diese Rechte durchgesetzt werden. Viele Ökonomiklehrbücher stellen den Staat auf diese Weise dar, sozusagen als Ergänzung des Marktes. Aber auch das ist eine Illusion. In der modernen Welt reflektieren sämtliche wirtschaftlichen Aktivitäten den Einfluss des Staates. Märkte werden zwangsläufig von Regierungen definiert und gestaltet. So etwas wie Einkommen, das verdient wird, bevor der Staat auf den Plan tritt, gibt es nicht. Mein Einkommen beruht unter anderem auf meiner Bildung. Schon früher haben die Umstände meiner Geburt und mein späteres gesundheitliches Wohlergehen das zur Verfügung stehende Gesundheitswesen reflektiert. Selbst wenn dieses Gesundheitswesen völlig »privat« organisiert ist, beruht es auf der Berufsausbildung von Ärzten und Krankenschwestern, auf der Verfügbarkeit von Medikamenten und anderen Technologien. Wie alle anderen Güter und Dienstleistungen basieren diese wiederum auf der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Infrastruktur – Verkehrsnetzen, Kommunikationssystemen, Energieversorgung – und einem umfassenden rechtlichen Rahmenwerk, das so komplexe Angelegenheiten wie geistiges Eigentum, geregelte Märkte (etwa Aktienbörsen) und internationales Recht regelt. Andrew Lloyd Webbe rs Vermögen basiert auf staatlichen Entscheidungen über den zeitlichen Bestand des Urheberrechts an der von ihm komponierten Musik. Insgesamt betrachtet ist es unmöglich, das »Eigentum« des Einzelnen von all dem zu trennen, was durch die Rolle des Staates überhaupt erst möglich oder beeinflusst wurde. [40]
Gerede von »Steuern als Diebstahl« stellt sich als weitere Variante der oben beschriebenen egoistischen Tendenzen heraus – ich will meinen Erfolg in Splendid Isolation sehen und die Beiträge früherer Generationen, jetziger Kollegen und des Staates ignorieren. Wenn Sie klug, qualifiziert und fleißig sind und die Rolle des Staates unterbewerten, führt das zu der Überzeugung, dass die hohe Steuerlast, die Sie ertragen müssen, um einen oftmals verschwenderischen Staat zu finanzieren, kein gutes Geschäft sei. In einer Gesellschaftsordnung mit Minimalstaat und niedrigen Steuern würde es Ihnen besser ergehen. Eine Erwiderung auf diese Kritik weist auf Belege hin, dass Reiche ihre Heimat verlassen und sich in einem Niedrigsteuerland niederlassen würden: Tatsächlich tun das nur sehr wenige von ihnen. [41] Hier ist eine etwas ausführlichere Antwort von Warren Buffet t:
Stellen Sie sich zwei eineiige Zwillinge in der Gebärmutter vor … Und Genie, der Geist aus der Flasche, sagt zu ihnen: »Einer von euch wird in den Vereinigten Staaten geboren werden und der andere in Bangladesch. Und falls du in Bangladesch zur Welt kommst, wirst du keine Steuern zahlen. Welchen Anteil deines Einkommens würdest du bieten, um in den Vereinigten Staaten geboren zu werden?« … Die Leute, die immer sagen: »Ich habe das alles allein geschafft« … glaub mir, sie würden mehr dafür bieten, in den Vereinigten Staaten zu sein als in Bangladesc h. [42]
Die Rache des Lumpenproletariats
Der Begriff Lumpenproletariat war die von Karl Mar x geprägte Bezeichnung für die Unterklasse, die ärmsten und marginalisiertesten Mitglieder der Gesellschaft, von denen die meisten wenig oder gar keine geregelte Arbeit und kein festes Einkommen hatten. Sie waren anfällig dafür, von Politikern durch leere Versprechungen, ihnen helfen zu wollen, dazu gebracht zu werden, sie zu unterstützen. (Nachdem Donald Trum p in den USA die Wahl gewonnen hatte, breitete sich im Internet das Wort Trumpenproletariat viral aus.) Doch das Lumpen-/Trumpenproletariat hat mehr Macht als es scheint. In aller Welt gehen große und kleine Arbeitgeber davon aus, dass ein einfacher Weg zu höheren Profiten sei, ungelernten Arbeitern möglichst wenig Lohn zu zahlen – gerade genug, um sie bei der Stange zu halten. Diese Strategie hat den Segen der konventionellen Wirtschaftstheorie, die Arbeitskraft lediglich als einen von vielen Inputs für den Produktionsprozess betrachtet – als wären Arbeiter nicht mehr als eine andere Art von Maschine. Und wir haben gesehen, wie diese mechanistische Sicht des Menschen über Frederick Taylo r und die frühen Verhaltenspsychologen sich auch außerhalb der Ökonomik ausgebreitet hat. Aber Menschen können sich rächen.
Wenn ein Mensch weiß, dass ihm ein möglichst niedriger Lohn gezahlt wird, dann wird er dafür möglichst wenig arbeiten. Ein ungenannter Arbeiter hat einmal seinen Job in einer sowjetischen Fabrik so beschrieben: »Sie tun so, als ob sie uns bezahlen, und wir tun so, als ob wir arbeiten.« Um Missverständnissen vorzubeugen: Dies ist kein marxistisc h oder kommunistisch inspiriertes Argument für die heimliche Macht unterdrückter Arbeiter. Die sowjetische Produktion war vor allem deswegen hoffnungslos ineffizient, weil sie diese Macht nicht erkannte. Unter modernen Ökonomen wurde dieses Argument ursprünglich nicht von Marxiste n ins Feld geführt, sondern von zwei Wirtschaftsnobelpreisträgern und einer späteren US -Notenbankchefin: George Akerlo f, Joseph Stiglit z und Janet Yelle n haben gezeigt, dass die Gewinne eines Unternehmens steigen können, wenn es Löhne zahlt, die höher sind als das absolute Minimum, das notwendig ist, um zu verhindern, dass seine Mitarbeiter sich einen anderen Job suchen. Wenn das Unternehmen stattdessen einen deutlich höheren »Effizienzlohn« zahlt, maximiert es dadurch Effizienz und Produktivität, indem es die Mitarbeiter motiviert, ihr Bestes zu geben. Und die Mitarbeiter legen sich ins Zeug, weil sie sich von ihrem Arbeitgeber geschätzt und respektiert fühlen – und auch, weil sie ihren Job behalten wollen, da sie wissen, dass sie anderswo wahrscheinlich weniger verdienen würden.
Effizienzlöhne haben tiefgreifende Implikationen für das Denken über Ungleichheit. Wenn dadurch, dass Arbeitern das absolute Minimum gezahlt wird, eine höhere Ungleichheit der unversteuerten Einkommen entsteht, führt der so herbeigeführte negative Effekt auf Produktivität und Profite zu Schäden für die gesamte Wirtschaft. Der Kuchen wird kleiner. An dieser Stelle führt Ungleichheit nicht nur dazu, dass es den Armen und Ungelernten schlechter geht, sondern auch der gesamte Rest der Gesellschaft verliert.
Wenn die Produktivität sinkt, weil Arbeitern weniger als der Effizienzlohn gezahlt wird, ist das nicht die einzige Art, auf die zunehmende Ungleichheit kostspielig sein kann, selbst für Menschen mit mittleren und hohen Einkommen. Selbst wenn wir die allgemeineren gesellschaftlichen Kosten von Ungleichheit außer Acht lassen, bleiben wichtige – aber kaum diskutierte – Gründe, warum hohe Ungleichheit selbst in eng gefassten ökonomischen Begriffen kostspielig ist.
Wie wir gesehen haben, sind die rapide steigenden Einkommen der Mitglieder des oberen einen Prozents eine Folge ihrer politischen und wirtschaftlichen Macht und ihrer sich verändernden Einstellungen, also nicht etwa ein Ergebnis ihres größeren wirtschaftlichen Beitrags. Das zunehmende Ungleichgewicht zwischen Einkommen und Beitrag des obersten Prozents führt zu hohen Kosten für die gesamte Wirtschaft, die weit über die direkten Kosten üppiger Vergütungspakete hinausgehen. In der Finanzwirtschaft treten diese Kosten am deutlichsten zutage, da in dieser Branche ein so hoher Anteil des oberen einen Prozents (und ein noch höherer Anteil der oberen 0,1 Prozent) beschäftigt ist. Diese Kosten werden auch von Insidern der Branche anerkannt, nicht nur von deren Kritikern. Selbst führende Zentralbankmanager haben betont, dass durch manipulierte Pay-for-Performance-Verträge die Wahrscheinlichkeit von weiteren Bank-Bailouts und anderen Schäden für die Gesamtwirtschaft zugenommen habe, weil solche Verträge zu exzessiver Spekulation und Risikobereitschaft an den Finanzmärkten führen. [43] In solchen manipulierten Verträgen geht es weniger um Pay-for-Performance als vielmehr um »Heads I win, tails you lose« (beim Münzwurf: »Bei Kopf gewinne ich, bei Zahl verlierst du«). Auf der Basis solcher Verträge können Banker einen großen Teil der Gewinne aus erfolgreichen Wetten selbst behalten, ohne dass sie bei Verlustgeschäften entsprechende Verluste tragen müssten.
Ein weiteres Problem von exzessiven Vergütungspaketen in der Finanzwirtschaft ist, dass sie zu viele talentierte Menschen in diese Branche locken – Menschen, die anderswo einen größeren wirtschaftlichen Beitrag leisten würden. Zu dieser Verschwendung an menschlichen Ressourcen kommen noch die Ressourcen hinzu, die ausschließlich dafür verschwendet werden, exzessive Einkommen zu erzielen – wodurch lediglich der Kuchen umverteilt statt vergrößert wird. Mit anderen Worten: noch mehr Rent-Seeking. Einen groben Anhaltspunkt für den Umfang solcher Verschwendung kann die klassische Rent-Seeking-Aktivität liefern: Lobbying. In den USA wurden allein im Jahr 2011 über drei Milliarden Dollar für Lobbying ausgegeben. [44]
Wenn wir uns das andere Ende der Einkommensverteilung ansehen, stellen wir fest, dass Armut nicht nur eine Tragödie für die Armen ist, sondern auch eine enorme Verschwendung produktiver Kapazitäten in der übrigen Wirtschaft. Die Armen haben kaum Zugang zu erschwinglichen, lang laufenden Krediten, was bedeutet, dass sie sich die Schul- und Berufsbildung, die Bessergestellten zur Verfügung steht, nicht leisten können. Und sie haben große Schwierigkeiten, sich genug Geld zu leihen, um eine Geschäftsidee umsetzen zu können. Eine Geschäftsgründung, immer ein riskanter Schritt, ist besonders kritisch für Menschen, die auf minimale staatliche Sozialleistungen angewiesen sind und kein Polster aus Familienvermögen im Rücken haben, das sie auffangen kann, falls das Geschäft scheitert. Neben der durch Armut bewirkten wirtschaftlichen Verschwendung mehren sich die makroökonomischen Belege dafür, dass neben anderen Faktoren zunehmende Armut und Ungleichheit für die niedrigeren Wachstumsraten verantwortlich sind, die in den vergangenen Jahren in vielen Ländern zu verzeichnen waren. [45] Die Erklärung ist ganz einfach: Da die Realeinkommen am unteren Ende stagniert haben, hat zwangsläufig auch die Nachfrage von Armen nach Gütern und Dienstleistungen stagniert, wodurch das Wirtschaftswachstum verringert wurde. (Geringerer Konsum der Armen wurde nicht durch höheren Konsum der Reichen ausgeglichen, da Arme einen wesentlich höheren Anteil ihres Einkommens für Konsum ausgeben als Reiche. Wenn also Geld von den Armen zu den Reichen fließt, geht der Konsum insgesamt zurück.)
Dies ist nicht der richtige Ort, um ausführlich auf spezifische politische Maßnahmen zur Bekämpfung von Ungleichheit einzugehen. Wir haben uns ja bereits einen wichtigen Aspekt einer wichtigen politischen Maßnahme kurz angesehen: Wenn der Einkommenssteuer-Spitzensatz erhöht wird, kann das nicht nur zu einem insgesamt höheren Steueraufkommen führen, sondern auch die Ungleichheit der versteuerten Einkommen direkt reduzieren. Um das zu vertiefen, können Sie auf die Arbeiten zahlreicher führender Ökonomen zurückgreifen, die argumentiert haben, dass in Gesellschaften mit höherer Ungleichheit eher niedrigeres als höheres Wirtschaftswachstum zu verzeichnen ist; dass Steuererhöhungen für Reiche dem Wirtschaftswachstum nicht schaden und nicht zum Abwandern von Talenten führen; und dass umverteilende Maßnahmen in Form von höheren Sozialausgaben auch in einer Volkswirtschaft, die im globalen Wettbewerb steht, sowohl erschwinglich als auch durchführbar sein können. [46]
Doch vielleicht gehen all diese differenzierten ökonomischen Argumente am springenden Punkt vorbei. Der entscheidende ökonomische Einwand gegen jeden ernsthaften Versuch, Ungleichheit zu reduzieren, könnte wesentlich fundamentaler und pragmatischer sein. Es gibt eine große und politisch einflussreiche Gruppe – nennen wir sie die »wohlhabende Mittelschicht« –, deren Mitglieder deutlich reicher als der Durchschnitt sind, aber ärmer als die oberen ein Prozent. Sie haben das unbestimmte Gefühl, durch die Zunahme von Ungleichheit in jüngerer Vergangenheit etwas verloren zu haben (und wie wir gesehen haben, ist dieses Gefühl durchaus berechtigt), und ein wesentlich deutlicheres und stärkeres Gefühl, dass sie durch Steuererhöhungen und andere politische Umverteilungsmaßnahmen definitiv schlechtergestellt würden. Aber damit liegen sie falsch.
Die meisten Menschen mit überdurchschnittlichem Einkommen geben einen großen Teil davon für Güter und Dienstleistungen aus, die aus Sicht eines Ökonomen untypisch sind. Sie haben eine ungewöhnliche Eigenschaft: Ihr Angebot steht praktisch fest, oder, falls es steigen kann, tut es das nur selten. Hier geht es nicht um die offensichtlichsten Beispiele solcher Güter mit unveränderlichem Angebot (alte Originalkunstwerke und -möbel, Oldtimer und Weine), da selbst in der wohlhabenden Mittelschicht nur wenige Menschen einen großen Teil ihres Einkommens für solche Dinge ausgeben. Dagegen geben sie einen großen Teil ihres Einkommens für Wohnen aus – und zumeist für eine Art von Wohnraum, die immanent knapp ist, entweder, weil sein Stil oder bestimmte Eigenschaften bei Neubauten nicht reproduziert werden können, oder weil die Wohnlage bestimmte knappe Merkmale aufweist. Zwangsläufig kann nur eine bestimmte Zahl von Menschen komfortabel in einer Innenstadtlage leben, oder mit Blick auf den Park, oder in der Nähe der besten Schule für ihre Kinder. Solche Knappheiten haben gesellschaftliche Gründe, nicht physische, und das bringt uns zu einer anderen Art von Gütern, die knapp sind, weil sie es sein müssen: Sie sind wertvoll oder attraktiv, eben weil sie knapp sind. Die Produkte von Luxusmarken – Handtaschen von Gucci, Sportwagen von Ferrari – werden dadurch begehrenswert, dass sie ihren Eigentümer in die Lage versetzen, ihren ungewöhnlichen Reichtum oder erlesenen Geschmack zu zeigen. Die Mitglieder der wohlhabenden Mittelschicht geben wenig Geld für solche Produkte aus. Deutlich mehr geben sie für Bildungsangebote aus (elitäre Hochschulen, elitäre akademische Abschlüsse und Titel), die ihnen im Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt Vorteile verschaffen – weil sie knapp sind. Ökonomen nennen solche Angebote Statusgüter , weil Sie, um sie kaufen zu können, mehr Geld für das knappe Angebot bieten müssen als andere Interessenten: Solche Angebote hängen nicht von Ihrem absoluten Einkommen ab, sondern von Ihrem relativen Rang in der Einkommensverteilung.
All das bedeutet letztlich, dass die Unzufriedenheit der Mittelschicht über Menschen mit höheren Einkommen nicht unbedingt auf Neid beruhen muss, sondern auf berechtigten Sorgen über den eigenen sozialen Status – etwa im Wettbewerb um einen Studienplatz an einer besseren Hochschule für das eigene Kind zurückzufallen. Ja, hier besteht durchaus eine gewisse Irrationalität, aber sie ist kollektiv, nicht individuell (ähnlich dem Gefangenendilemm a aus Kapitel 2). Wenn Sie im Stadion bei einem Sportereignis sind, ist es individuell rational aufzustehen, um besser sehen zu können – um ihre relative Position zu verbessern –, aber dann stehen bald auch alle anderen auf, und dann sind alle schlechtergestellt. Entsprechend sind die meisten von uns im gesellschaftlichen Wettbewerb gefangen und konkurrieren darum, die schönen Häuser in der Nähe der besseren Schulen kaufen zu können. Wenn alle Einkommen steigen, bleibt die Frage, wer welches Haus ergattert, unverändert, aber die Immobilienpreise steigen: Wir müssen alle mehr Geld ausgeben, um das gleiche Haus zu bekommen. Wir stehen alle auf. Wenn dann alle mehr Steuern zahlen, passiert das Gegenteil: Die versteuerten Einkommen fallen, es ändert sich nichts daran, wer welches Haus bekommt, und wir setzen uns alle wieder hin. [47] Höhere Steuern zu zahlen, muss also nicht zwangsläufig bedeuten, dass Ihr materieller Lebensstandard sinkt. Wenn andere mit der gleichen Steuererhöhung konfrontiert sind, wird Ihre relative Stellung unverändert bleiben, und deswegen auch Ihr Zugang zu begehrten Statusgütern. [48]
Natürlich gibt es Vorbehalte gegenüber und Ausnahmen von dieser Argumentation. Es liegt auf der Hand, dass sie nicht anwendbar ist für ärmere Mitglieder der Gesellschaft, die einen großen Teil ihres Einkommens für Güter des täglichen Grundbedarfs ausgeben, nicht für Statusgüter. Andererseits kann durch Steuererhöhungen für Reiche mehr erreicht werden, als die Lebensstandards unverändert zu lassen, da ich in meiner Argumentation bis jetzt die Nutzen höherer Staatsausgaben außer Acht gelassen habe. Es fällt auf, dass auch bei vielen wohlvertrauten ökonomischen Argumenten die Nutzen höherer Staatsausgaben ignoriert werden: Wenn die Einkommenssteuer steigt, dann nimmt der orthodoxen Steuerökonomik zufolge der Nutzen aus Arbeit ab, weil auch das versteuerte Einkommen fällt. Aber was ist mit den zusätzlichen Leistungen, in deren Genuss Sie dann durch höhere Staatsausgaben kommen könnten? Es führt zu absurden Ergebnissen, solche Leistungen zu ignorieren. Wenn eine Person beschließt, einen bestimmten Anteil ihres Verdienstes in eine private Rentenversicherung einzuzahlen, sagen wir deswegen nicht, dass ihr Nutzen aus Arbeit zurückgegangen sei. Wenn jedoch der gleiche Anteil ihres Verdiensts einer staatlich organisierten, durch höhere Einkommenssteuern finanzierten Rentenversicherung zufließt, ist von Ökonomen häufig zu hören, ihr Nutzen aus Arbeit sei zurückgegangen, weil die Steuern gestiegen sind.
Dies ist eine komplexe Problematik. Eines ist jedoch klar: Wenn Ökonomen sich ein Bild davon machen wollen, wie die Bürger über Steuererhöhungen denken und auf sie reagieren, nehmen sie oft einen unangemessen einseitigen Standpunkt ein, der Hand in Hand geht mit der Unterstellung, der Staat würde verschwenderisch mit öffentlichen Geldern umgehen – eine von den Public-Choice-Ökonomen aus Kapitel 4 suggerierte Annahme. Und in der politischen Debatte werden häufig die Schulweisheiten der Steuerökonomik nachgebetet: Die meisten Vorkämpfer für Steuersenkungen blenden die staatlich finanzierten Leistungen aus, die dann notwendigerweise auch gekürzt werden müssten – was wiederum höhere Ausgaben der Bürger notwendig machen würde, weil sie solche Leistungen stattdessen von privaten Anbietern beziehen müssten. Eine Ironie dieser selektiven Blindheit ist, dass sie zu einer Gesellschaft führt, in der wir den durch niedrige Steuern ermöglichten privaten Luxus nicht genießen können, weil die öffentliche Infrastruktur verkommt. Oder, wie es ein US -Ökonom und Befürworter höherer Steuern ausgedrückt hat: »Ganz egal, wie reich du bist – wahrscheinlich würdest du es vorziehen, mit einem 150 000 Dollar teuren Porsche 911 Turbo auf einem ordentlich instand gehaltenen Highway zu fahren als mit einem 333 000 Dollar teuren Ferrari Berlinetta auf einer von Schlaglöchern übersäten Landstraße.« [49] Der springende Punkt ist klar: Selbst wenn die Reichen sich ausschließlich für ihren eigenen Lebensstandard interessieren würden, sollten sie keine Steuersenkungen fordern, weil auch sie unter dem dadurch herbeigeführten Niedergang staatlicher Leistungen zu leiden hätten. Und dennoch …
It’s not the economy, stupid
Ein großer Teil der Ungleichheit, die wir heute in reicheren Ländern beobachten, ist eher auf staatliche Entscheidungen als auf unumstößliche Marktkräfte zurückzuführen. Solche Entscheidungen können revidiert werden. Wir sind in das Zeitalter der Automatisierung und künstlichen Intelligenz eingetreten, das, wie es manchmal zu hören ist, zunehmende Ungleichheit unvermeidlich mache. Das läuft im Wesentlichen darauf hinaus, dass die Computerfreaks, die die Roboter konstruieren, und die 0,01 Prozent, denen sie gehören, unermesslich reich sein werden – und wir anderen arbeitslos. Aber wie wir gesehen haben, ist nichts an einer so ungerechten gesellschaftlichen Entwicklung schicksalhaft vorherbestimmt. Wir können die Richtung des technologischen Wandels bestimmen – vor allem, indem wir Innovationen fördern, die menschliche Arbeitskräfte unterstützen und ihre unersetzliche Rolle in wachsenden Berufsfeldern wie Pflege, Freizeit und Unterhaltung würdigen.
Aber wir müssen auch den Willen haben, gesellschaftliche Ungleichheit einzudämmen. Wir müssen die Bekämpfung von Ungleichheit zu einem zentralen Ziel der Regierungsarbeit und der Gesellschaft machen. Im Bereich der Wirtschaftspolitik sollte die Reduzierung von Ungleichheit kein nachträglicher Gedanke sein, sondern ein vorrangiges Ziel mit dem gleichen Stellenwert wie Effizienz und Wirtschaftswachstum – und somit ein Faktor, der bei sämtlichen Entscheidungsprozessen in allen Bereichen der Regierungsarbeit ausdrücklich berücksichtigt wird. Das wäre keineswegs eine Reise ins Unbekannte: Es liegen schon jetzt detaillierte, wissenschaftlich fundierte Vorschläge zur Reduzierung von Ungleichheit durch politische Maßnahmen vor. [50] Und schließlich sollten wir nicht nur tatenlos auf staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Ungleichheit warten, sondern unsere Entscheidungen als Verbraucher, Arbeitgeber und Arbeitnehmer von unserem Bewusstsein für die gesellschaftlichen Auswirkungen von Ungleichheit leiten lassen.
Die am tiefsten verwurzelten, irrealsten und sich selbst erhaltenden Rechtfertigungen für Ungleichheit, die in diesem Kapitel erkundet wurden, drehen sich um moralische Fragen, nicht um wirtschaftliche. Der herausragende Ökonom John Kenneth Galbrait h hat das Problem sehr schön zusammengefasst: »Eine der ältesten moralphilosophischen Übungen des Menschen … ist die Suche nach einer überlegenen moralischen Rechtfertigung für Selbstsucht. Es ist eine Übung, die immer auf einer Reihe von inneren Widersprüchen und sogar einigen Absurditäten aufbaut. Die offenkundig Reichen tun sich damit hervor, den Armen den charakterlich prägenden Wert eines entsagungsreichen Lebens aufzunötigen.« [51]
Es gibt einen letzten Grund für die Befürchtung, dass solche Einstellungen sich noch fester etablieren könnten. Hohe wirtschaftliche Ungleichheit wirkt als soziale Spaltung, die vielfältige Gemeinschaften zersetzt und die Menschen in Gettos für Reiche oder Arme treibt. Viele neue Wohngebäude in London haben zwei Eingänge: einen Vordereingang für Reiche, die in ihre Luxusapartments streben, und einen Seiten- oder Hintereingang für andere, die in bescheideneren Wohnungen untergebracht sind. Immer häufiger ist zu beobachten, dass Menschen aus sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Zusammenhängen und Gesellschaftsschichten sich kaum noch mischen. Dadurch fallen Ungleichheiten weniger auf und können leichter vergessen werden. Und wenn Reiche und Arme kaum noch Umgang miteinander haben, wird es wahrscheinlicher, dass Mythen über angeborene Unterschiede zwischen ihnen überleben und sich immer weiter ausbreiten werden.
Vor diesem Hintergrund zeichnet sich freilich der Hoffnungsschimmer ab, dass die Ungleichheit mittlerweile so weit zugenommen hat, dass sie große Auswirkungen auf das Leben künftiger Generationen haben wird. Selbst die eingefleischtesten Anhänger des Mantras »Du bekommst, was du verdienst« und ähnlicher Überzeugungen räumen ein, dass es nicht die Schuld eines Kindes ist, wenn es arm geboren wird. Und es gibt ein zunehmendes öffentliches Bewusstsein für die überwältigenden Belege (etwa die oben erwähnte »Great Gatsby Curve«), dass ein Mensch, wenn er arm geboren wurde, sehr viel wahrscheinlicher als andere auch arm bleiben wird. Wenn erst einmal die Rolle des Glücks und unseres üppigen Erbes – in Form des von früheren Generationen überkommenen Wissens und des Zufalls, in einem reichen statt einem armen Land geboren zu werden – weithin akzeptiert wird, können wir uns damit auseinandersetzen, welche Implikationen das für die Besteuerung hat. Eine historische Perspektive zeigt uns, dass Besteuerung auf allen Seiten des politischen Spektrums mit voller Überzeugung verteidigt werden kann. Trotz ihrer unterschiedlichen Auffassungen haben Denker wie John Stuart Mil l bis hin zu Thomas Pain e betont: Wenn ein Mensch reicher wird, beruht sein wachsender Wohlstand auch auf gesellschaftlichen Ursprüngen, und daher sollte er besteuert werden, um der Gesellschaft diesen Wohlstand zurückzugeben. Steuern haben nicht den Zweck, dem Bürger sein Geld zu nehmen, sondern der Gesellschaft den sozialen Wohlstand zurückzuzahlen, den sie ihm verliehen hat, in Form von Bildung und Zugang zu dem Wissen, das von früheren Generationen überliefert wurde. [52]
Dennoch wird es immer superreiche Egomanen unter uns geben. Und wie Galbrait h es gesagt hat, werden sie sich immer auf irgendwelche überstrapazierten Moralvorstellungen berufen. Aber das wird ihnen nicht helfen. Auf einer Party auf der Superyacht eines Milliardärs unterhielten sich zwei Schriftsteller über das Ambiente. Kurt Vonnegu t sah seinen Freund Joseph Helle r an und sagte zu ihm, ihr Gastgeber – ein Hedgefondsmanager – würde an einem einzigen Tag mehr Geld machen als Helle r mit seinem Roman Catch-22 insgesamt verdient habe (obwohl von diesem Bestseller über zehn Millionen Exemplare verkauft worden waren). »Ja, aber ich habe etwas, das er nie haben wird«, so Heller s Antwort: »Genug.«