10   Eine schwierige Beziehung: die modernen Wirtschaftswissenschaften und wir
Die meisten von uns haben eine schwierige und unklare Beziehung zu den Wirtschaftswissenschaften. Wir ziehen sie gern ins Lächerliche. In den Nachrichten hören wir oft von irgendeiner ökonomischen Vorhersage, die sich inzwischen als völlig falsch herausgestellt hat, oder von einer wirtschaftspolitischen Maßnahme, die nicht die Versprechungen des Ökonomen erfüllen kann, der sie empfohlen hat. Und doch ist, wie ich in diesem Buch gezeigt habe, in der jüngeren Geschichte zu beobachten, dass wir den Ideen von Ökonomen immer mehr Ehrfurcht entgegenbringen. Einstmals umstrittene »ökonomistische« Denkweisen sind in unseren Alltag eingeflossen. Unsere Beziehung zu den Wirtschaftswissenschaften ist eine Hassliebe.
Und sie ist zutiefst ungleich. Viele Ökonomen scheinen sich selbst als Außenseiter zu sehen, als wissenschaftliche Beobachter der Gesellschaft, die auf normale Bürger mit dem überlegenen, emotionslos prüfenden Blick eines Charles Darwin herabsehen, der einen aufgespießten Käfer unter die Lupe nimmt. Manche Ökonomen geben offen zu, dass sie normale Menschen für dumm halten. Der MIT -Ökonom Jonathan Grube r hat behauptet, ein kürzlich verabschiedetes Gesetz zur Gesundheitsvorsorge sei absichtlich »gequält« formuliert worden, um es unverständlich zu machen, »in Anbetracht der Dummheit des amerikanischen Wählers«. [1] Eine britische Ökonomin beendete ihr populärwissenschaftliches Buch mit »Zehn Regeln ökonomischen Denkens«, von denen eine lautet: »Die Ökonomie ist dem gesunden Menschenverstand im Zweifel überlegen.« [2] Der libertäre Ökonom Bryan Capla n geht noch weiter: Er widmet sein ganzes Buch The Myth of the Rational Voter dem »Mythos des rationalen Wählers« und behauptet darin, Nichtökonomen würden immer wieder unter tendenziösen Vorurteilen leiden: »Voreingenommenheit gegen freie Märkte, ausländische Produkte, subventionierte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie einem generellen Pessimismus«. [3] Capla n meint sogar, dass angehende Studenten in Ökonomie-Einführungskursen im Dunkeln gelassen werden sollten über die Annahmen und Einschränkungen, die den orthodoxen ökonomischen Schulweisheiten zugrunde liegen. Er empfiehlt Ökonomieprofessoren, ihren Studenten zu sagen: »Ich habe recht, die Leute außerhalb dieses Vorlesungssaals haben unrecht, und Sie wollen doch nicht sein wie sie, oder?« [4]
Caplan s Ansichten sind zwar extrem, aber tatsächlich sind viele Mainstream-Ökonomen frustriert, weil ungeachtet ihres jahrzehntelangen, unermüdlichen Einsatzes, um der Allgemeinheit die grundlegenden Prinzipien der Wirtschaftswissenschaften nahezubringen, die Menschen einfach nichts lernen wollen. Ganz oben auf der Liste steht für gewöhnlich das Prinzip, freier Handel sei besser als Protektionismus. Eine kurze Suche in der Blogosphäre genügt, um zu erkennen, dass zahlreiche ernsthafte Ökonomen sich darüber beklagen, dass die Allgemeinheit die Vorzüge von freiem Handel nicht wahrhaben wolle. Häufig machen Ökonomen »die Medien« und ihre angeblich vorsätzlich falsche Darstellung von ökonomischen Konzepten zu politischen Zwecken für die beklagenswerte Ignoranz der Allgemeinheit verantwortlich. Erst vor ganz kurzer Zeit haben einige Ökonomen begonnen, eine andere Erklärung in Betracht zu ziehen: Es könnte ja auch sein, dass sich der normale Bürger durchaus der Ansichten von Ökonomen bewusst ist (über freien Handel und so weiter), aber gute Gründe hat, sie abzulehnen. Es ist ganz einfach: Viele Menschen lehnen ganz bewusst viele der Annahmen und Theorien ab, die Mainstream-Ökonomen für selbstverständlich halten. [5] Natürlich nehmen auch Akademiker und Experten anderer Fachgebiete im privaten Gespräch die Ansichten von Laien nicht immer ganz ernst. Was jedoch die Ökonomen unterscheidet, ist der Umstand, dass sie auch an den Ansichten von anderen Experten und Akademikern kaum Interesse zeigen. In den vorigen Kapiteln haben wir zahlreiche Beispiele für ökonomischen Imperialismus gesehen: die Kolonisierung nichtökonomischer Lebensbereiche und akademischer Fachgebiete durch ökonomische Ideen. Und diese Vereinnahmung geht hauptsächlich in eine Richtung. Die moderne Mainstream-Ökonomik hat wenig von anderen relevanten Disziplinen gelernt, etwa aus den Rechtswissenschaften, der Psychologie, Soziologie und Geschichte. In einem Artikel mit der bescheidenen Überschrift »Economic Imperialism«, der in einer der renommiertesten Ökonomik-Fachzeitschriften veröffentlicht wurde, hat der Harvard-Ökonom Edward Lazea r impliziert, dass diese Kolonisierungsstrategie durchaus erfolgreich gewesen sei, da ja die Ökonomik im Gegensatz zu anderen Gesellschaftswissenschaften »eine echte Wissenschaft« sei. [6] Belege für den charakteristischen Glauben von Ökonomen an die Überlegenheit ihrer Disziplin über andere Fachgebiete liefert eine Umfrage unter akademischen US -amerikanischen Ökonomen, Historikern, Psychologen, Politikwissenschaftlern und Betriebswirtschaftsdozenten. Die meisten von ihnen meinen vernünftigerweise, »interdisziplinäres Wissen« sei besser als Wissen, das »aus einer einzigen Disziplin erlangt wurde«. Die einzigen Abweichler sind die Ökonomen. [7] Folglich sind Ökonomen auch insularer: Sie zitieren seltener aus anderen Disziplinen als Akademiker aus anderen Fachgebieten. [8]
Es liegt auf der Hand, dass wir eine neue Beziehung zu den Wirtschaftswissenschaften brauchen – eine Beziehung auf gleicher Augenhöhe, die kritischer und weniger ehrfürchtig ist. Es muss erlaubt sein, ökonomische Orthodoxien infrage zu stellen – vor allem jene in früheren Kapiteln behandelten Lehrmeinungen, die dazu dienen, unsere Wert- und Moralvorstellungen zu formen. Doch bevor wir diese neue Beziehung näher erkunden, müssen wir uns mit der Standardantwort auseinandersetzen, die Ökonomen ins Feld führen, wenn sie kritisiert werden: »So sind wir nicht mehr; die Ökonomik hat sich weiterentwickelt.« Ökonomen nennen zwei Gründe, warum frühere Probleme mit der Ökonomik inzwischen ausgeräumt seien. Erstens habe eine Datenrevolution stattgefunden: Die ökonomische Forschung sei inzwischen weit weniger theorielastig und beruhe in höherem Maße auf quantitativen Daten. Zweitens seien ökonomische Theorien heute realistischer, vor allem die Modelle des menschlichen Verhaltens, die aus der Verhaltensökonomik erwachsen.
Diese Verteidigung der Ökonomik ist so allgegenwärtig, dass man sich mit ihr befassen muss. Eine neue Beziehung zu den Wirtschaftswissenschaften wäre wesentlich einfacher aufzubauen, wenn Ökonomen akzeptieren würden, dass sie die Probleme noch nicht ausgeräumt haben.
Zum Stichwort »Datenrevolution«: Es ist richtig, dass reines ökonomisches Theoretisieren, völlig losgelöst von der realen Welt, heute weniger Gewicht hat, als es früher unter studierten Ökonomen üblich war. Darüber hinaus haben »Big Data« und Fortschritte der Informationstechnologie es möglich gemacht, Theorien auf eine Art zu testen, die früher nicht möglich war. Das heißt: Ja, auf empirischen Belegen basierende ökonomische Forschungen sind durchaus seit einiger Zeit häufiger geworden.
Aber auch heute noch zögern Ökonomen, sich »die Finger schmutzig zu machen« an der Unordentlichkeit des wirklichen Lebens. Die meisten heutigen Ökonomen verlassen sich hauptsächlich auf eine Art von empirischen Belegen – große statistische Datenbestände –, auf die sie zugreifen können, ohne ihr Büro zu verlassen. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shille r hat das Problem beschrieben als eine »Haltung in dieser Profession, dass Datenerhebung etwas fürs Fußvolk ist«. [9] Bevor ab den 1960er-Jahren der »Physikneid« dazu führte, dass die Mainstream-Ökonomik immer stärker vom mathematischen Modellieren beherrscht wurde, hatten Ökonomen auf eine breitere Datenbasis zurückgegriffen, etwa auf Fallstudien und Interviews – die es häufig notwendig machten, vor die Tür zu gehen und mit Menschen in der realen Wirtschaft zu sprechen.
Selbst wenn wir das Problem der schmalen Datenbasis der modernen Ökonomik ignorieren wollen, haben Historiker gezeigt, dass empirische Studien in den Wirtschaftswissenschaften heute immer noch seltener sind als in den 1950er-Jahren. [10] Daher sind die von heutigen Ökonomen aufgestellten Behauptungen von einer »Datenrevolution« irreführend. Tatsächlich hat sich die empirische Forschung seit den 1940er-Jahren in einem permanenten Zustand der Revolution befunden – oder zumindest einer ständigen Zunahme von Umfang und Breite der zur Verfügung stehenden ökonomischen Daten, was sogar dazu führte, dass Ökonomen ständig klagen, all die neuen Daten würden von der ökonomischen Forschung nicht genutzt. Was die echte Revolution angeht, die in den vergangenen Jahren in der Informationstechnologie stattgefunden hat, ist der Gegensatz zwischen ihrer Wirkung auf die selbst ernannte »Wissenschaft« der Ökonomik und auf Naturwissenschaften wie Physik und Biologie bemerkenswert. Die IT -Revolution hat in Physik und Biologie nicht nur mehr empirische Forschungsarbeit ermöglicht, sondern sie hat die zu prüfenden Theorien transformiert und die Entwicklung neuartiger Theorien provoziert. In der Ökonomik hat keine solche Transformation stattgefunden: Das von den meisten Ökonomen meistens verwendete Theoriegerüst ist im Kern unverändert geblieben. [11]
Dieser Punkt muss unterstrichen werden. Der Umstand, dass ökonomische Theorien heutzutage gründlicher gegen empirische Daten geprüft werden, bedeutet keineswegs, dass Theorien, die nicht zu den Daten passen, verworfen werden. Das Bild des homo oeconomicus (oder zumindest eines berechnenden Individuums, das so agiert, als ob es irgendetwas »optimieren« würde) wirft immer noch einen langen Schatten. Die zu prüfende Theorie geht fast immer von solcherlei optimierendem Verhalten als Norm aus, als Ausgangspunkt, selbst wenn später Ausnahmen zugelassen werden. Das formt die Fragen, die den Daten gestellt werden, und es beeinflusst, wie die von den Daten gelieferten Antworten interpretiert werden. In diesem Buch haben wir immer wieder gesehen, wie ökonomische Theorien und ihre Transformation in formale mathematische Modelle das formen, was wir zu sehen bekommen – und was nicht. Mindestens zwei Nobelpreisträger haben dieses Problem erkannt. Paul Krugma n hat es so ausgedrückt: »Wir bekommen einfach nicht zu sehen, was wir nicht formalisieren können.« [12] Entsprechend hat George Akerlo f argumentiert, dass eine ökonomische Analyse ignoriert wird, wenn sie nicht in einem Forschungsbericht niedergeschrieben wird, und das kann nur geschehen, wenn die Analyse mathematisch ist: »Was mich am meisten beunruhigt, ist das, was wir nicht sehen. … Die Analyse, die nie gesehen wird, die nie zu einem Fachartikel wird. … Und sie kann nicht zu einem Artikel werden, weil es in der Ökonomik bei einem Artikel um etwas ganz anderes geht. … Wir wissen, dass solche blinden Flecken existieren.« [13]
Fairerweise muss gesagt werden, dass einige Ökonomen radikaler gewesen sind. Sie haben nicht nur versucht, Theorien gegen Daten zu prüfen, sondern jede Form von Theorie aufgegeben. Dies ist der heißeste Trend in der aktuellen ökonomischen Forschung, der keine Zeichen zeigt, sich abzuschwächen. Diese Ökonomen sind »Data Geeks«, und ihre wichtigste Untersuchungsmethode besteht darin, ein »natürliches Experiment« zu finden – zwei parallele Konstellationen von Umständen in der realen Welt, die in allen relevanten Aspekten identisch sind, bis auf einen entscheidenden Unterschied. Durch Vergleichen der Entwicklungen in diesen beiden parallelen Welten können die Auswirkungen dieses Unterschieds beobachtet werden.
So könnten wir zum Beispiel an der Frage interessiert sein, ob durch das Ableisten von Militärdienst das Einkommen im späteren Leben sinkt. Wir können nicht einfach den Verdienst von Menschen, die Militärdienst geleistet haben, mit demjenigen von anderen vergleichen, die nicht beim Militär waren, weil auch davon abgesehen die beiden Gruppen nicht gleich sind. Für Menschen mit einem niedrigeren Bildungsabschluss mag das Militär attraktiver sein: Für sie mag ein niedrigeres Einkommen im späteren Leben nicht auf ihren Militärdienst, sondern auf ihre geringe Bildung (und somit die Jobs, die sie bekommen können) zurückzuführen sein. Doch Joshua Angris t, einer der Pioniere der Data Geeks, hat das perfekte »natürliche Experiment« gefunden, um dieses Problem zu umgehen: Er verließ sich auf das zufallsbedingte Auswahlverfahren, das eingesetzt wurde, um US -Männer zum Militärdienst im Vietnamkrieg einzuziehen. Diejenigen, die eingezogen worden waren, verdienten im späteren Leben weniger. [14] In der ökonomischen Forschung hat die Zahl der natürlichen Experimente explosionsartig zugenommen. So wird zum Beispiel unter anderem behauptet, es habe sich zweifelsfrei erwiesen, dass Änderungen der Abtreibungsgesetze sich einige Jahrzehnte später auf die Kriminalität auswirken, oder dass US -Bürger, die regelmäßig Fox News sehen, bei Wahlen mit höherer Wahrscheinlichkeit einen Kandidaten der Republikanischen Partei wählen werden. [15]
Angesichts des vermeintlichen Potenzials dieser Methode ist leicht zu erkennen, warum natürliche Experimente so beliebt geworden sind. Die Schlussfolgerungen scheinen sich kostenlos einzustellen, sozusagen wie von selbst und aus dem Nichts; das heißt, dass keine Theorie gebraucht wird, um diese Schlussfolgerungen zu stützen, und vor allem werden keine der unter Ökonomen üblichen Annahmen gebraucht, dass der Mensch stets optimiere oder sich rational verhalte. Doch leider kommt es kaum einmal vor, dass Wissen sich sozusagen wie von selbst einstellt. In vielen Fällen stellt sich heraus, dass die Randomisierung – die zufallsbedingte Auswahl –, die ja für die Validität des natürlichen Experiments entscheidend ist, letztlich doch nicht ganz so zufällig ist. Ja, seinerzeit wurde jedem Mann eine Zufallszahl zugewiesen, die bestimmte, ob er zum Militärdienst in Vietnam eingezogen werden würde (je niedriger die Zahl eines Mannes, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass man ihn einziehen würde). Aber auch die Arbeitgeber wussten das, und daher waren sie weniger motiviert, in die Ausbildung von Arbeitnehmern mit einer niedrigen Zahl zu investieren – was wiederum eine der Erklärungen dafür sein könnte, dass viele dieser Männer im späteren Leben weniger verdienten. [16]
Nicht nur die »Beweise«, die auf natürliche Experimente zurückgehen, werden angezweifelt. Seit einigen Jahren sind die von führenden ökonomischen Fachzeitschriften angewendeten Tests auf statistische Signifikanz massiv kritisiert worden, unter anderem von Statistikern. [17] Ein wichtiges statistisches Kriterium, nämlich die Reproduzierbarkeit, wird in vielen Fällen nicht erfüllt: Viele veröffentlichte empirische Studien können von anderen Wissenschaftlern nicht reproduziert werden. Die sogenannte Datenrevolution hat nicht zu neuem, unbestreitbarem, auf Daten basierendem ökonomischen Wissen geführt, sondern lediglich die Kontroverse um die Frage, was die Daten zeigen können, verschärft.
Abgesehen von solchen statistischen Kontroversen entsteht noch ein fundamentaleres Problem, wenn anhand der Arbeit von Data Geeks gezeigt werden soll, wie die Ökonomik sich zum Besseren gewandelt habe – bei ihrer Arbeit lassen sie die Ökonomik außer Acht. Da die Data Geeks die gesamte ökonomische Theorie aus ihrer Arbeit ausgeschlossen haben, bleiben keine spezifisch »ökonomischen« Inhalte mehr übrig: Ihre Arbeiten sind nicht mehr und nicht weniger als statistische Analysen. Dieser Ausschluss der Ökonomik an sich kann auch helfen, die Interessen der Data Geeks zu erklären. Die Untersuchung der Auswirkungen von Abtreibungsgesetzen auf das spätere Kriminalitätsniveau – so interessant und wichtig sie auch sein mag – scheint keine für die Wirtschaftswissenschaften geeignete Thematik zu sein. Im privaten Gespräch stimmen viele Ökonomen dieser Aussage zu. Doch hier zeigt sich eine gewisse Ironie, da – wie wir gesehen haben – im Laufe der vergangenen 50 Jahre die Mainstream-Ökonomen sich zunehmend als Gesellschaftswissenschaftler geriert haben, die nicht nur Kenntnisse vom Funktionieren der Wirtschaft für sich reklamieren, sondern auch ein breiter angelegtes gesellschaftliches Wissen. Daher ist es für heutige Ökonomen heikel, die Arbeit von Data Geeks aus dem Grund zu kritisieren, dass sie nichts mit Ökonomik zu tun habe – obwohl das in vielen Fällen eindeutig so ist.
Der Blick von außen auf die Ökonomik ist beunruhigend. Wir erfahren, dass in vielen Fällen den von Ökonomen getroffenen Vorhersagen über die reale Welt ökonomische Theorien zugrunde liegen, die vom homo oeconomicus bevölkert sind. Aber wie kann irgendjemand ernsthaft glauben, dass der homo oeconomicus uns irgendetwas über das Verhalten echter Menschen sagen kann?
Heute präsentieren Ökonomen die Verhaltensökonomik als Antwort auf solche Kritik. Uns wird gesagt, die Verhaltensökonomik sei ein großer Fortschritt hin zu mehr Realismus. Tatsächlich ist sie jedoch nur eine kleine Modifikation. Die von Verhaltensökonomen beschriebenen »Menschen« zeigen nach wie vor keine Ähnlichkeit mit echten Menschen. Sie verhalten sich ebenso roboterhaft wie der homo oeconomicus  – abgesehen davon, dass sie auch Fehler machen. Im Wesentlichen ist die Verhaltensökonomik nichts anderes als der homo oeconomicus mit Fehlern. Vor allem sind die fehlerträchtigen Roboter der Verhaltensökonomik, wie der homo oeconomicus , berechenbar – sie sind »vorhersehbar irrational«. [18] Aber das Verhalten echter Menschen kann nicht ohne Weiteres vorhergesagt werden, weil sie in der Lage sind, echte Entscheidungen zu treffen – Entscheidungen, die nicht durch ihre Umgebung vorherbestimmt sind.
Die Verhaltensökonomik bietet keine Lösung für die von der Mainstream-Ökonomik aufgeworfenen moralischen Probleme. Zunächst einmal sind Verhaltensökonomen häufig blind für die dubiosen moralischen Annahmen und Folgen der von ihnen empfohlenen Maßnahmen, wie wir es im Kontext von Nudg e gesehen haben. Und die zugrunde liegende Botschaft der Verhaltensökonomik ist die gleiche wie bei Nudge : »Normale Menschen sind dumm.« Das ist wohl kaum eine erfolgversprechende Basis für einen respektvolleren Umgang zwischen Ökonomen und der Öffentlichkeit – und das nicht zuletzt, weil in wichtigen Aspekten das Gegenteil richtig ist. Die Menschen sind wesentlich klüger , als es die Mainstream-Ökonomik annimmt. Wir können vielleicht wesentlich schlechter rechnen als der homo oeconomicus , aber wir haben andere Talente. Computer – und der homo oeconomicus  – brauchen Daten, mit denen sie arbeiten können. In Situationen, in denen kaum Daten vorhanden sind, verstummen sie. Wie in Kapitel 8 beschrieben, müssen Menschen sich im wirklichen Leben häufig angesichts reiner, unberechenbarer Ungewissheit entscheiden, sodass ein kalkulierender, auf Wahrscheinlichkeitsdaten basierender Lösungsansatz unmöglich ist. Stattdessen erzählen wir Geschichten. Menschen, deren Job es mit sich bringt, unter reiner Ungewissheit folgenschwere Entscheidungen zu treffen – sei es in der Medizin, im Finanzwesen oder bei der Planung von Katastrophenhilfe –, sind sich durchweg darüber einig, dass eine auf Szenariotechnik basierende Planung erforderlich ist. Verschiedene mögliche Zukunftsszenarien sind letztlich verschiedene Geschichten, die wir konstruieren, und um uns neue oder unvertraute zukünftige Szenarien vorstellen zu können, brauchen wir Fantasie . Das heißt, dass für Szenarioplanung Menschen gebraucht werden – und kein homo oeconomicus .
Es liegt auf der Hand, dass eine gleichberechtigtere Beziehung zwischen Ökonomik und dem Rest der Gesellschaft voraussetzt, dass die Ökonomik sich eine vollständigere und realistischere Sicht des Menschen zu eigen macht, die berücksichtigt, dass wir mehr können als ein alter Desktop-Computer. Aber das ist erst der Anfang. Wir müssen für unsere Beziehung zu Ökonomik und Ökonomen einen neuen Anfang finden. Hier sind einige Leitlinien, die helfen können, Ökonomik und Ökonomen mit anderen Augen zu sehen.
Ökonomen stehen nicht außerhalb der Wirtschaft
Eine gleichberechtigtere Beziehung ist nicht möglich, solange sich Ökonomen an ihrem Selbstbild als außerhalb der Gesellschaft stehende Wissenschaftler festklammern, die uns von oben unter die Lupe nehmen, wie Charles Darwin einen aufgespießten Käfer. Diese Analogie ist falsch, weil der Käfer sein Verhalten als Reaktion auf wissenschaftliches Theoretisieren über ihn nicht ändert. Dagegen haben wir gesehen, dass schon ökonomische Ideen und Theorien unser Verhalten verändern können. Und wieder zeigt sich: Die Wettervorhersage kann das Wetter nicht verändern – aber wirtschaftliche Vorhersagen können durchaus die Wirtschaft beeinflussen. Wenn Ökonomen ihr Fachgebiet als Wissenschaft darstellen, die der Physik oder Chemie ähnelt, implizieren sie ein objektives, distanziertes Verständnis der Wirtschaft, das sie nicht liefern können. Es ist eine riskante Strategie, die leicht nach hinten losgehen kann. Wenn die Ökonomik als Wissenschaft dargestellt wird, wird es zum Beispiel wahrscheinlicher, dass die Menschen ökonomische Vorhersagen ernst nehmen. Falls (wenn) solche Vorhersagen sich dann als falsch herausstellen, wird die Glaubwürdigkeit der Ökonomik insgesamt infrage gestellt. Daher kann es, wenn der Ökonomik ein »wissenschaftliches« Image zugeschrieben wird, ihrem Ansehen in der breiten Öffentlichkeit schaden, anstatt es zu fördern.
Dass Ökonomen und ihre Ideen innerhalb der Wirtschaft – statt außerhalb oder »an« ihr – operieren, ist keine neue Erkenntnis. Die klassische Einführung in die Geschichte ökonomischer Ideen ist auch heute noch Robert Heilbroner s The Worldly Philosophers (1953), (deutsche Ausgabe: Die Denker der Wirtschaft, 2006), ein millionenfach verkaufter Bestseller, der fast 70 Jahre nach Drucklegung immer noch lieferbar ist. Heilbroner s Kernaussage – die er überzeugend mit seiner Erörterung von Smit h, Mar x, Keyne s und anderen großen Ökonomen der Vergangenheit illustriert – ist, dass die Entwicklung des Kapitalismus untrennbar mit der Entwicklung von ökonomischen Ideen verbunden sei. Kausalität wirkt in beide Richtungen: Der Kapitalismus wird durch die Ideen großer Ökonomen geformt, und er prägt ihr Denken. Es ist Zeit, die Illusion von »außenstehenden« Ökonomen aufzugeben, die ober- und außerhalb der Wirtschaften und Gesellschaften stehen, die sie untersuchen.
In der Ökonomik gibt es kaum »Fakten«
Eine weitere Folge des zwanghaften Drangs von Ökonomen, sich selbst als Wissenschaftler zu sehen – und gesehen zu werden –, ist ihre Verdrängung der Tatsache, dass die Ökonomik von politischen und moralischen Ideen durchdrungen ist. Viele Ökonomen zitieren gern folgende Passage aus einem Brief, den Keyne s an einen engen Kollegen geschrieben hat. Darin behauptet er: »Die Ökonomik ist eine Wissenschaft vom modellhaften Denken, verknüpft mit der Kunst, solche Denkmodelle zu wählen, die für die Wirklichkeit Relevanz besitzen.« [19] Sie erwähnen jedoch nicht, wie Keyne s seinen Brief beendet: »Die Ökonomik ist im Wesentlichen eine moralische Wissenschaft, keine Naturwissenschaft. Das heißt, dass sie Selbstbeobachtung und Werturteile anwende t.«
Wie ich gezeigt habe, ist die Ökonomik von moralischen Unterstellungen und Werturteilen durchdrungen, auf diverse und häufig subtile Arten. Auf die Gefahr hin, einige dieser Feinheiten zu verlieren, können wir die moralische Haltung der zeitgenössischen ökonomischen Orthodoxie auf zwei Kernideen herunterbrechen. Erstens: Markttransaktionen würden wie eine Art moralisches Bleichmittel wirken, das die Folgen aus moralischer Sicht weißer als weiß und fleckenlos rein wäscht. Das Argument, dass beide Parteien einer freiwilligen Transaktion durch sie bessergestellt werden müssten, da sie sonst nicht stattfinden würde, wird herangezogen, um jede Sorge um Gerechtigkeit, Fairness, Verantwortung, Ausbeutung und so weiter fortzuwaschen. Zweitens: Falls ein Werturteil notwendig ist, würde eine – hypothetische oder tatsächliche – Markttransaktion die Antwort liefern; ein Ding habe genau den Wert, den jemand dafür zu zahlen bereit ist.
Während viele Ökonomen den Einfluss politischer Einschätzungen und moralischer Werturteile auf weite Teile ihrer Disziplin einräumen, postulieren sie auch den objektiven und »wertfreien« Charakter einiger Kernprinzipien, etwa des »Gesetzes der Nachfrage«, das besagt, dass die Nachfrage nach einem Ding fallen wird, wenn sein Preis steigt. Doch im Gegensatz zu den Gesetzen der Physik gibt es kaum objektive ökonomische Fakten, auf denen sich ökonomische Gesetze aufbauen ließen. Selbst wenn wir einen bestimmten Zeitpunkt und Ort festlegen, haben die meisten Güter und Dienstleistungen keineswegs nur einen einzigen Preis. Der scheinbar objektive Messvorgang löst sich in eine Reihe subjektiver Werturteile darüber auf, welche Güter wirklich das »Gleiche« sind wie andere, um ihren (durchschnittlichen) Preis ermitteln zu können. Davon abgesehen entstehen viele wirtschaftliche Rohdaten schlicht aus Ankündigungen, die häufig einer Empfehlung von Ökonomen folgen – so zum Beispiel, wenn eine Änderung des Leitzinses angekündigt wird. Und bei vielen komplexen Finanzprodukten, etwa bei Derivaten, wird die normale »wissenschaftliche« Beziehung zwischen Theorie und beobachteten Daten umgekehrt: Wenn der am Markt beobachtete Preis von dem Preis aus der ökonomischen Theorie abweicht, ändert sich ersterer, um sich letzterem anzugleichen. [20]
Im Endeffekt sind die meisten Wirtschaftszahlen auf die eine oder andere Art von Ökonomen konstruiert, anstatt einfach – wie die Variablen der newtonschen Mechanik – in der realen Welt beobachtet zu werden. Wieder sehen wir, dass die Ökonomik keine neutrale Sammlung von Ideen und Werkzeugen ist, um die Wirtschaft von außen zu beobachten und zu analysieren – vielmehr operiert sie innerhalb der Wirtschaft, formt und beeinflusst sie.
Wir stehen nicht außerhalb der Wirtschaft
Wir sollten diejenigen – Ökonomen und andere – zurückweisen, die behaupten, wir könnten ökonomische Ideen und die Wirtschaft nicht beeinflussen. Die Wirtschaft ist nicht wie ein natürliches System mit Gesetzen und Kräften, die der Mensch nicht kontrollieren könnte. Sie ist kein monolithisches Ding aus einer anderen Welt.
Es ist richtig, dass bösartige ökonomische Ideen sich tief in unserem alltäglichen Denken verankert haben, doch wie wir gesehen haben, ist diese Entwicklung relativ neu. Manchmal scheint es unmöglich zu sein, sich dem Einfluss von subtilen, als selbstverständlich geltenden Ideen zu entziehen, doch die Älteren unter uns können sich noch erinnern an eine andere Art, die Welt zu sehen. Und wir haben mehr Macht, als wir oft zu denken scheinen. Die Wirtschaft ist die Summe der Entscheidungen und Aktivitäten von etlichen Milliarden Menschen. Wir haben die Zukunft der Wirtschaft in der Hand. Wir können entscheiden, welche Art von Wirtschaft wir wollen. Aber dennoch brauchen wir natürlich den Rat von Experten.
Das bringt uns zu einer zentralen Frage: Was sollten wir von den Wirtschaftswissenschaften und von Ökonomen erwarten?
1. Ökonomen müssen besser kommunizieren und erklären, aus welchen Gründen sie zu ihren Schlussfolgerungen kommen. Wenn erwähnt wird, dass ein »Ökonom mit der breiten Öffentlichkeit kommuniziert«, kann das eine Karikatur von einem zögerlichen Akademiker heraufbeschwören, der sich damit schwertut, verschlungene Theorien in abstrusem Jargon zu erklären, und sich bemüßigt fühlt, jede seiner Aussagen mit etlichen Vorbehalten einzuschränken. Dabei ist heute nur allzu oft das Gegenteil zu beobachten: Ökonomen, die sich an der öffentlichen Debatte beteiligen, stellen klare und nachdrückliche Behauptungen auf und untermauern sie mit einer Zusammenfassung der Argumente, die ihren Schlussfolgerungen zugrunde liegen. Was könnte daran verkehrt sein?
Ein großes Problem ist, dass Ökonomen entscheidende Details ihrer Argumente nicht erklären. Häufig wird nur eine Blackbox präsentiert – »die Wirtschaftstheorie hat gezeigt, dass …«, oder »eine statistische Beziehung ist nachgewiesen worden« und so weiter. Solche Aussagen im Telegrammstil dienen nicht dazu, uns zu täuschen, sondern reflektieren in der Regel die Überzeugung der betreffenden Ökonomen, dass die relevanten Theorien oder Statistiken zu komplex seien, um von Laien verstanden werden zu können. In manchen Fällen ist das nicht ganz von der Hand zu weisen, aber es ist auch richtig, dass innerhalb der akademischen Ökonomik technische Spielereien nur allzu oft um ihrer selbst willen geschätzt werden. Demnach waren Ökonomen in der Regel kaum motiviert oder geübt zu versuchen, komplexe Ideen in einfachen Begriffen zu erklären. Manchmal haben sie eine verzerrte Sicht dessen, was komplex ist. Wie wir gesehen haben, sehen viele Ökonomen die Verhaltensökonomik lediglich als eine Ansammlung von »Abweichungen« von dem orthodoxen mathematischen Modell, das den homo oeconomicus definiert. Aus dieser Perspektive kann die Verhaltensökonomik nur verstanden werden, wenn man dieses mathematische Modell bereits kennt – in Verbindung mit etwas schwierigeren mathematischen Operationen, die obendrauf gepfropft werden, um diese Abweichungen in das Modell zu integrieren. Das hat zur Folge, dass die eigentlich einfachen Konzepte, die der Verhaltensökonomik zugrunde liegen, zu komplex erscheinen, um sie der Öffentlichkeit erklären zu wollen.
Was auch immer die Gründe sein mögen – Ökonomen müssen sich mehr Mühe geben. Wenn sie erreichen wollen, dass wir ihren Analysen Beachtung schenken, müssen wir diesen Analysen vertrauen – und dafür müssen sie einigermaßen verständlich sein. Wenn uns an einem kritischen Punkt einer ökonomischen Argumentation gesagt wird, dass »X nachgewiesen wurde«, fühlen wir uns herablassend behandelt und neigen dazu, diese Argumente völlig zu ignorieren.
Noch ein Problem ist, dass öffentliche Empfehlungen oder Schlussfolgerungen von Ökonomen manchmal zu stark vereinfacht sind, weil sie die Nuancen und Vorbehalte weglassen.
Man nehme zum Beispiel die Kontroverse um »Freihandel versus Protektionismus«. Der Harvard-Ökonom Dani Rodri k räumt ein, dass viele Ökonomen sich vorwerfen lassen müssen, sich in der Öffentlichkeit in allzu stark vereinfachender Form für Freihandel ausgesprochen zu haben. Rodri k berichtet dagegen, dass die meisten Ökonomen im privaten Gespräch durchaus zugeben, dass die Antwort auf die Frage »Freihandel oder Protektionismus?« eigentlich lauten muss: »Das kommt darauf an.« Der Grund für ihre dogmatischen öffentlichen Aussagen, so Rodri k, sei »ihr Drang, die Kronjuwelen der Profession … Markteffizienz, die unsichtbare Hand … in unbefleckter Form zu präsentieren und sie vor den Attacken egoistischer Barbaren – den Protektionisten – abzuschirmen. … Die Ökonomen, die sich von ihrer Begeisterung für freie Märkte hinreißen lassen, missachten die Grundsätze ihrer eigenen Disziplin.« [21] Rodri k hat recht mit seiner Auffassung, dass die Wirtschaftstheorie keinen Freihandelsfanatismus rechtfertige: Daher müsse dieser Eifer auf die politische Ideologie mancher Ökonomen zurückgehen. Aber auch das ist ein großes Problem. Es nützt nichts, wenn uns gesagt wird, privat würden Ökonomen die Dinge durchaus differenziert sehen, wenn sie in ihren öffentlichen Äußerungen aufgrund des fehlgeleiteten Drangs, uns nicht verwirren zu wollen, stets auf ein simplifizierendes Plädoyer für freie Märkte zurückfallen. Diese Vereinfachungsstrategie ist sogar noch weniger hilfreich, wenn sie voreingenommen ist: Ökonomen setzen sich viel häufiger auf simplistische Weise für freie Märkte ein, als dass sie sie auf simplistische Weise ablehnen.
Hinzu kommt, dass diese Strategie in der Regel nach hinten losgeht. Wenn Ökonomen hoffen wollen, unser Vertrauen zurückzugewinnen, müssen sie völlig offen sein über die Grenzen ihres Wissens. Die meisten Menschen sind sich der Tatsache bewusst, dass wirtschaftspolitische Entscheidungen nur in den seltensten Fällen klar sind, weil sie davon abhängen, welche relativen Prioritäten wir kollidierenden Zielen einräumen. (Was ist wichtiger: die Erhöhung des BIP durch das Aufheben von Zollschranken oder die steigende Arbeitslosigkeit in Branchen, die dadurch unter der zunehmenden ausländischen Konkurrenz leiden werden?) Wenn von Ökonomen lediglich ein simplifizierendes Dogma kommt, hören wir auf, ihnen zuzuhören.
2. Ökonomen sollten ihre politischen und moralischen Einschätzungen offen und explizit äußern  – was uns in die Lage versetzt, uns auf gleicher Augenhöhe mit ihnen auseinanderzusetzen, wenn wir anderer Meinung sind. In früheren Kapiteln haben wir gesehen, dass Ökonomen sich häufig zu den politischen und moralischen Einschätzungen, die ihren Argumenten implizit zugrunde liegen, nicht äußern. Ein immer wieder zu beobachtender Grund dafür ist der Drang von Ökonomen, als wissenschaftlich zu erscheinen. Eine etwas banalere Erklärung ist ihr Unbehagen bei der Auseinandersetzung um solche Angelegenheiten, das nur allzu verständlich ist: Mathematisch geschulte Ökonomen legen Wert auf Präzision, aber wenn es darum geht, ihre grundlegenden Moralvorstellungen darzulegen – etwa fundamentale Prinzipien der Wohlfahrtsökonomik –, fehlt es ihnen häufig an Erfahrung und sie werden vage und unpräzise in ihren Aussagen. 23
Leider gibt es auch noch eine weniger unschuldige Erklärung. Manche Ökonomen versuchen, ihre politischen Loyalitäten zu verschleiern – oder die Interessengruppen, die womöglich ihre Forschungsarbeit finanzieren.
Dies ist nicht nur Zynismus von Außenseitern. Mainstream-Ökonomen haben in ihren Blogs und in anderen offenherzigen Momenten zugegeben, dass einer der Gründe, warum Finanzökonomen in den Jahren vor der Krise die Deregulierung des Finanzsektors nicht kritisiert haben, die fehlende Bereitschaft war, »die Hand zu beißen, die sie füttert«. [22] Bei Anhörungen vor dem US -Kongress zu dem 2010 verabschiedeten Dodd-Frank Act, mit dem die Regulierung des Finanzsektors verschärft wurde, haben 82 Ökonomen ausgesagt. Ein Drittel von ihnen hat, obwohl sie unter Eid aussagten, ihre Beratungshonorare von Auftraggebern, denen durch die verschärfte Regulierung Nachteile entstehen würden, nicht offengelegt. [23] Ganz ähnlich gibt es klare Belege dafür, dass manche Ökonomen, die in renommierten akademischen Fachzeitschriften publizieren, ihre Interessenskonflikte allzu entspannt sehen: die Scheu von Finanzökonomen, ihre Beratungstätigkeiten für den Finanzsektor offenzulegen; [24] empirische Studien über Online-Vermittlungsdienste zur Personenbeförderung, die zum allergrößten Teil von Ökonomen dominiert werden, die von Uber gesponsert werden, oder auf Daten beruhen, die von Uber ausgewählt und bereitgestellt wurden, oder beides. [25]
Wie ist es mit dem einschlägigen standesrechtlichen Verhaltenskodex bestellt, dem solche Aktivitäten unterliegen – dem Standesrecht der American Economic Association (des weltweit größten Berufsverbands professioneller Ökonomen)?
Bis vor Kurzem gab es so etwas nicht.
Ärzte, Ingenieure, Soziologen, Anthropologen und Statistiker haben seit Langem einen formalen standesrechtlichen Verhaltenskodex. Doch die Aktivitäten von Ökonomen können potenziell noch gravierendere Folgen haben. Anfang der 1990er-Jahre beriet der Ökonom Jeffrey Sach s Polen und andere Länder des früheren Ostblocks über den schmerzhaften Übergang in eine freie Marktwirtschaft. Sachs wollte erreichen, dass dieser Übergang sehr schnell vollzogen wurde, bevor sich eine politische Opposition formieren konnte: »Finde heraus, was die Gesellschaft ertragen kann, und dann ziehe es dreimal so schnell durch.« [26] Das völlige Fehlen eines historischen Präzedenzfalls für eine solche »Schocktherapie« konnte nicht verhindern, dass sich unter Mainstream-Ökonomen ein starker Konsens herausbildete, dass dies die beste Strategie sei. Spätere Studien – die in der führenden britischen Medizinfachzeitschrift Lancet veröffentlicht wurden – haben gezeigt, dass zwischen 1991 und 1994, unmittelbar nach Einführung der schockartigen Privatisierungsprogramme in Russland, Kasachstan und den baltischen Staaten, die Sterberate unter Männern um 41 Prozent stieg. [27]
Im Jahr 1994 wurde das Exekutivkomitee der American Economic Association aufgefordert, die Einführung eines Verhaltenskodex in Betracht zu ziehen. Ein Mitglied des Komitees scherzte: »Klar werden wir einen Kodex haben, und seine erste Regel wird sein: ›Mach keine Prognosen über Zinssätze!‹« Alle lachten, und damit war die Angelegenheit vom Tisch. [28] Im Jahr 1998 kollabierte der Hedgefonds Long-Term Capital Management und drohte, durch seinen Absturz das gesamte globale Bankensystem zu destabilisieren. Bis zum bitteren Ende behaupteten die LTCM -Ökonomen, die Pleite sei durch Sabotage von Konkurrenten verursacht worden, und weigerten sich zu akzeptieren, dass sie mit ihrem Normalverteilungsdenken fundamental falsch lagen. Und nach der Finanzkrise behauptete der Makroökonom und Nobelpreisträger Thomas Sargen t, der vor der Krise kein einziges Mal vor drohenden Problemen im Finanzsektor gewarnt hatte: »Es ist einfach falsch zu sagen, dass die heutigen Makroökonomen von dieser Finanzkrise überrascht wurden.« [29] Der Makroökonom David Mile s, der Mitglied des Ausschusses der Bank of England war, der den britischen Leitzins festlegt, sah das anders; er bestand darauf, dass die Krise zwangsläufig eine Überraschung gewesen sei, mit ebenso wenig Hinweisen wie vor der Ziehung der Lottozahlen: »Jegliche Kritik an der Ökonomik, die darauf beruht, dass sie die Krise nicht vorhergesagt hat, ist nicht plausibler als die Vorstellung, dass die Theorie der Statistik neu geschrieben werden müsse, weil Mathematiker bei der Vorhersage von Lottogewinnzahlen keine großen Erfolge vorzuweisen haben.« [30] Und so geht es immer weiter. Die kürzlich in verschiedenen Ländern umgesetzte Austeritätspolitik basiert ausdrücklich auf Erkenntnissen der Harvard-Ökonomen Carmen Reinhar t und Kenneth Rogof f, die zeigen, dass das Wirtschaftswachstum eines Landes sich deutlich abschwächt, sobald die Staatsschuldenquote einen Wert von 90 Prozent übersteigt. [31] Allerdings gab es ein kleines Problem: Im April 2013 entdeckte ein Doktorand einen kritischen Fehler in ihrem Spreadsheet. Dann stellte sich heraus, dass langsames Wachstum zu hohen Staatsschulden führt – und nicht etwa umgekehrt, wie Reinhar t und Rogof f es impliziert hatten. Reinhar t und Rogof f hielten es nicht für nötig, sich für ihren Fehler zu entschuldigen; sie versuchten stattdessen, Politikern die Verantwortung in die Schuhe zu schieben, weil sie ihre Studie zu wichtig genommen hätten. Freilich hatten Reinhar t und Rogof f sich vorher nicht öffentlich beklagt, während die Politiker dabei waren, ihre Arbeit zu wichtig zu nehmen; vielmehr hatten Reinhar t und Rogof f sich in Washington und anderswo aggressiv für die Senkung von Staatsschulden eingesetzt. [32]
3. Wenn Ökonomen das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückgewinnen wollen, müssen sie weniger arrogant sein, Verantwortung für ihre Empfehlungen übernehmen und ihre Fehler einräumen. Falls sie das nicht tun, dann muss ein Berufsverband oder eine ähnliche Körperschaft sie öffentlich zur Rechenschaft ziehen. Im April 2018 hat die American Economic Association endlich einen standesrechtlichen Verhaltenskodex eingeführt, der allerdings im scharfen Gegensatz zum kodifizierten Standesrecht anderer Berufsverbände steht: Der Kodex der AEA ist weniger als 250 Worte lang, und nur acht davon beziehen sich auf Interessenskonflikte. Immerhin, es ist ein kleiner erster Schritt. Ökonomen sollten den Dialog mit der Öffentlichkeit suchen und begrüßen, nicht nur über Interessenskonflikte (wo die Probleme in vielen Fällen so offensichtlich sind, dass eine Diskussion sich nicht lohnt), sondern auch in Form eines breiter angelegten Gesprächs über ihren Platz in der Gesellschaft und die Pflichten, die daraus erwachsen.
Als Ausgangspunkt könnten wir eine Bemerkung von John Maynard Keyne s nehmen: »Wenn es die Ökonomen hinbekämen, dass man sie als bescheidene, kompetente Leute betrachtet, auf einer Ebene mit Zahnärzten, das wäre herrlic h.« [33]
Wie würde eine von der Zahnmedizin inspirierte Ökonomik aussehen? [34] In der Zahnheilkunde geht es ausschließlich darum, die Probleme von echten Menschen in der realen Welt zu lösen. Entsprechend würde die Forschungsagenda von Ökonomen durch solche Probleme bestimmt werden, nicht durch theoretische Entwicklungen innerhalb der Wirtschaftswissenschaften. Und die Verfahren und Werkzeuge, die eingesetzt werden, um diese Probleme zu lösen, wären nicht eingeschränkt durch die in der Ökonomik vorherrschende Kultur: Es wäre nicht erforderlich, sämtliche Analysen in mathematischen Begriffen zu formulieren, in dem Versuch, »stringenter« oder »wissenschaftlicher« zu sein. Wir haben den Einfluss dieser Kultur auf die Entwicklung der Nachkriegs-Mikroökonomik gesehen, und sie hat einen ebenso starken Einfluss auf die Makroökonomik gehabt. Hier ist ein Zitat von Roger Farme r, einem führenden Mainstream-Makroökonomen: »In den vergangenen 30 Jahren hat die Makroökonomik im Wiederentdecken von Wahrheiten bestanden, die [den Ökonomen] der 1920er-Jahre schon bekannt waren. … Während die ökonomischen Theorien in den 1920er-Jahren verbal ausgedrückt wurden, ist die Makroökonomik im Jahr 2011 so stringent formalisiert, wie es 1928 noch nicht möglich war, weil die mathematischen Werkzeuge noch nicht existierte n.« [35] Übersetzt, ohne den Fachjargon, heißt das: Der »Fortschritt« der Makroökonomik in der jüngeren Vergangenheit hat sich darauf beschränkt, das mathematisch nachzuweisen, was schon vor fast einem Jahrhundert bekannt war. Gewisse Teile der Verhaltensökonomik leiden unter der gleichen Einschränkung: Anhand von Framing-Effekten (siehe Kapitel 7) haben Ökonomen gezeigt, dass Menschen sich unterschiedlich entscheiden, je nachdem, wie die Optionen dargestellt werden. [36] Wer hätte das gedacht?
Eine von der Zahnmedizin inspirierte Ökonomik wäre nicht daran interessiert, etwas nachzuweisen, was wir bereits wissen, weil das ihren Klienten – echten Menschen mit echten Problemen – nichts nützen würde. Vielmehr würden Ökonomen genau die Verfahren und Werkzeuge einsetzen, die am nützlichsten wären, um diese Probleme zu lösen. Unlängst haben manche Mainstream-Ökonomen behauptet, die moderne Ökonomik würde genau das leisten: Sie biete ein breites Sortiment an Werkzeugen (Modellen), und gute Ökonomen würden die Kunst beherrschen, daraus das richtige zu wählen, um die anstehende Aufgabe zu lösen. Doch das ist irreführend: Ja, Ökonomen sind durchaus bereit, in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Tools zu verwenden – aber nur, wenn diese Tools aus dem Werkzeugkasten der Mainstream-Ökonomik stammen. Ein echter Ansatz nach der Devise »Was auch immer funktionieren mag« würde den Werkzeugkasten nicht auf die aktuelle Orthodoxie beschränken, sondern sich auch die vielfältigen außerhalb des Mainstreams existierenden Ideen zunutze machen, aus diversen Denkschulen, von Mar x bis von Haye k. Das bringt uns zum Thema Bildung.
4. Die akademische Ausbildung von Ökonomen. [37] Dies ist nicht der richtige Ort, um detailliert auf eine Reform des ökonomischen Lehrplans einzugehen. Aber diese Thematik ist wichtig, weil im Vergleich zu vielen anderen Fachgebieten ein hoher Anteil der Studenten nach Abschluss ihres Grundstudiums in ihrer späteren Laufbahn auf diese Inhalte zurückgreift. Daher sollten Studenten schon im Grundstudium lernen, »was funktioniert«. Da die Ökonomik im Gegensatz zur Physik oder Chemie keine experimentelle Wissenschaft ist, sollte sie auch nicht so gelehrt werden, mit Lehrbüchern, die präsentiert werden, als würden sie die ökonomischen Naturgesetze beschreiben. Die Geschichte der ökonomischen Ideen strotzt vor Sackgassen und Fehlstarts: Die Wirtschaftswissenschaften machen keine reibungslosen und stetigen Fortschritte auf dem Weg zur reinen Wahrheit. Daher muss die aktuelle Orthodoxie nicht unbedingt sämtliche der besten Ideen aus der Vergangenheit enthalten. Heute konzentrieren sich fast alle einführenden Vorlesungen und Lehrbücher ausschließlich auf die vorherrschende Orthodoxie. Stattdessen sollte den Studenten in solchen Kursen die breite Palette nützlicher Konzepte und Theorien aus verschiedenen Denkschulen vorgestellt werden, wahrscheinlich am besten über die Geschichte der ökonomischen Ideen – sie zeigt, wie verschiedene Denkschulen entstanden, um auf die spezifischen Probleme bestimmter Epochen und Regionen einzugehen, anstatt einen theoretischen Ansatz zu verfolgen, der angeblich am besten geeignet sei, um sie allesamt zu lösen. Und wenn wir uns außerhalb der Orthodoxie begeben, werden wir angenehm überrascht sein, endlich Ökonomen zu finden, die eine gesunde Skepsis gegenüber Ökonomik und Ökonomen an den Tag legen. Joan Robinso n, die mit Keyne s befreundet war, seine Arbeit aber auch auf konstruktive Weise kritisierte, schlägt einen erfrischenden Ton an: »Das Ziel eines Studiums der Wirtschaftswissenschaften ist nicht, sich eine Sammlung von vorgefertigten Antworten auf ökonomische Fragen zu eigen zu machen, sondern zu lernen, wie man verhindert, von Ökonomen hinters Licht geführt zu werde n.« [38]
Eine weitere Folgerung aus der berufsbildenden Rolle der Ökonomik ist, dass angehende Ökonomen schon im Grundstudium lernen sollten, wie eine Wirtschaft funktioniert. Erstaunlicherweise ist das in den meisten heutigen Kursen nicht der Fall, da sie sich ganz überwiegend auf Wirtschaftstheorie und das Vermitteln von mathematischen und statistischen Kenntnissen konzentrieren. Und so bleibt wenig Zeit, um reale Volkswirtschaften und ihre Bestandteile zu studieren, geschweige denn die relevante historische und politische Entwicklung solcher Wirtschaftssysteme.
Die Folgen dieser klaffenden Lücke in der Ausbildung der meisten Ökonomen sind in der Finanzkrise von 2007 bis 2010 deutlich zutage getreten, die aufgedeckt hat, wie wenig viele Finanzökonomen – ob sie nun im akademischen Umfeld oder für eine Aufsichtsbehörde tätig sind – darüber wissen, wie Finanzinstitutionen und -märkte tatsächlich funktionieren. (Angeblich aufgeschlossenen Mainstream-Ökonomen fällt es immer noch schwer, das einzuräumen. Dani Rodri k sollte eines seiner »Zehn Gebote für Nichtökonomen« fallen lassen: »Nicht alle Ökonomen beten die Märkte an, aber sie wissen besser als du, wie sie funktionieren.« [39] )
Ein Schlusswort: Viele Kritiker der Wirtschaftswissenschaften haben Keyne s’ Vergleich zwischen Ökonomen und Zahnärzten als Teil ihrer Forderung ins Feld geführt, dass Ökonomen mehr Bescheidenheit an den Tag legen sollten. Aber diese Kritiker scheinen nicht bemerkt zu haben, dass auch wir anderen hier eine aktive Rolle spielen. Wenn die Ökonomik auf eine demütigere und bescheidenere Position in unserer Kultur heruntergeholt werden soll, sollten wir nicht warten, bis Ökonomen von ihrem hohen Ross absteigen. Letzten Endes haben wir selbst die Macht, die Ökonomik wieder auf den ihr zustehenden Platz zu verweisen. Damit sollten wir nicht allzu lange warten.