592. Kapitel

Die Rechtfertigungsmacht der Zustimmung

Seit Ende des 20. Jahrhunderts und insbesondere im Zuge der #MeToo-Bewegung hat das Konzept der Zustimmung den Bereich der Philosophie, der politischen Theorie und des Rechts verlassen und ist zu einem Schlüsselbegriff in der öffentlichen Debatte über Sexualität und Gleichheit der Geschlechter geworden. Die Zustimmung, insgesamt verstanden als gültiges Einverständnis, erscheint als das Kriterium, das erlaubt, den guten vom schlechten Sex, Sex und Vergewaltigung zu unterscheiden. Deshalb haben viele Länder in jüngster Zeit ihre Gesetzgebung geändert. Zum Beispiel hat Deutschland 2016 die Artikel 177 und 178 des Strafgesetzbuches im Zuge eines Gesetzes geändert, das in den Medien als »Nein heißt Nein« bezeichnet wurde: Die Vergewaltigung wird nicht mehr als eine sexuelle Handlung definiert, die Gewalt, Drohungen oder die Wehrlosigkeit des Opfers impliziert, sondern als sexuelle Handlung gegen den erkennbaren Willen des Opfers. Schweden ging, worauf ich zurückkommen werde, noch einen Schritt weiter, indem es die Vergewaltigung als jedwede Form des Sexes ohne Zustimmung definierte: Das Gesetz zur Vergewaltigung von 2018 führte so den neuen Straftatbestand der »fahrlässigen Vergewaltigung« für Fälle ein, in denen die Gerichte feststellen, dass keine Zustimmung vorlag, der Täter aber nicht die Absicht 60hatte, zu vergewaltigen, sondern lediglich eine schuldhafte Fahrlässigkeit bewies.

In den Medien, Fernsehserien und Filmen entwickelt sich ein Konsens, wonach die Zustimmung das Instrument sei, um die mannigfachen Formen, in denen das Patriarchat unsere Sexualität geprägt hat, in Frage zu stellen. So sei die Zustimmung nicht nur ein gutes Instrument, um sexualisierte Gewalt zu bekämpfen, sondern auch, um eine Veränderung der sexuellen Praktiken hin zu einem besseren und egalitäreren Sex herbeizuführen. Diese Vorstellung wird zum Beispiel in den Debatten über die positive (oder affirmative) Zustimmung deutlich, also die Vorstellung, dass die Zustimmung verbal mitgeteilt werden muss, um gültig zu sein.

Anders gesagt wird die Zustimmung allgemein als das Kriterium verstanden, das es uns erlaubt, in zweierlei Hinsicht zwischen gutem und schlechtem Sex zu unterscheiden: zum einen zwischen einem Sex, der moralisch akzeptabel oder erlaubt (engl. right) ist, und einem Sex, der moralisch schlecht (wrong) in dem Sinne ist, dass er verboten ist – oder verboten sein sollte; zum anderen zwischen einem Sex, der positiv gut (engl. good) ist, und einem Sex, gegen den man moralische Vorbehalte haben kann, zum Beispiel Praktiken, die nicht unbedingt schlecht oder verwerflich, aber auf der moralischen Ebene problematisch sind. Um einen Sex zu bezeichnen, der in dem Sinne gut ist, dass er moralisch nicht schlecht ist und daher erlaubt sein sollte, wird hier für den engli61schen Begriff permissible nicht der im Französischen wenig elegante Begriff »permissible«, sondern regelmäßig der Begriff »légitime« (legitim) verwendet, um diesen Sex so von positiv gutem Sex zu unterscheiden. Diese Unterscheidung versteht man besser, wenn man zum Beispiel eine Situation annimmt, in der Dominique und Maxime[2]  ein Paar sind. Dominique insistiert ein wenig darauf, mit Maxime Geschlechtsverkehr zu haben, und Maxime möchte nicht aktiv Geschlechtsverkehr haben. Dominique bedient sich nicht der Erpressung oder eines starken Drucks (zum Beispiel hält Dominique Maxime nicht vom Schlafen ab, bis Maxime nachgibt), dringt aber ein wenig darauf, so dass Maxime sich darauf einlässt und mit Dominique Geschlechtsverkehr hat, um »seine Ruhe zu haben«. In diesem Fall kann man davon ausgehen, dass Maxime dem Geschlechtsverkehr zugestimmt hat, der Geschlechtsverkehr also nicht unmoralisch und moralisch akzeptabel ist; trotzdem ist er nicht moralisch gut, da er nicht dem positiven Bild von einem Geschlechtsverkehr entspricht, der von beiden Partnern wirklich gewollt und gewünscht wird.

Die Moral und der Sex

Auf den ersten Blick mag die Frage, was den Geschlechtsverkehr moralisch gut oder moralisch erlaubt macht, suspekt erscheinen, vor allem dem französischen Geist: 62Den Sex unter dem Aspekt seiner Moralität zu untersuchen, ist das nicht auf jeden Fall eine Form von Moralismus? Und, was noch bedenklicher ist, ist dies nicht ein Zeichen für einen auf der Lauer liegenden Puritanismus, der versucht, die Errungenschaften der sexuellen Revolution und ihres Slogans »Es ist verboten, zu verbieten« wieder rückgängig zu machen? Eine erste Antwort auf diese Fragen besteht darin, deutlich zu machen, dass man sich, wenn man von sexueller Zustimmung spricht, sofort auf eine moralische Ebene begibt, nicht in dem Sinne, dass man irgendjemandem »eine Moralpredigt halten« will, sondern in dem Sinne, dass man versucht, die Kriterien für die Moralität unserer Handlungen zu bewerten. Worum es bei der Zustimmung geht, ist das Nachdenken darüber, wie sich Wille und Wunsch in unseren Handlungen manifestieren und dazu beitragen können, sie legitim zu machen, und die Moral kann als normative Reflexion über menschliche Handlungen definiert werden. Den Sex unter dem Gesichtspunkt der Zustimmung zu denken, bedeutet somit notwendig, eine moralische Analyse des Sexes vorzunehmen. Es bedeutet jedoch nicht, dass diese Analyse moralisierend oder paternalistisch sein muss. Der Philosoph Ruwen Ogien zum Beispiel hat in mehreren Büchern1 eine Moralphilosophie vorgeschlagen, die er als Minimalethik bezeichnet:

Unsere Lebensweisen haben keine moralische Bedeutung, solange anderen dadurch kein Unrecht geschieht (was unter anderem bedeutet, dass das kontemplative Leben eines Denkers oder Philosophen kein moralisches Vorrecht genießt). Dasselbe gilt für unsere Vorstellungen vom eigenen Wohl. Besonders deutlich wird dies im Bereich des Sexuallebens. Man kann homosexuelle, heterosexuelle oder überhaupt 63keine sexuellen Vorlieben haben; Geschmack an einmaligen, mehrmaligen oder gar keinen sexuellen Beziehungen. Man kann über diese Vorlieben diskutieren, aber es wäre absurd zu sagen, dass eine von ihnen »moralischer« ist als die anderen. Mit anderen Worten: Die Minimalethik empfiehlt uns, eine neutrale Haltung gegenüber Vorstellungen vom eigenen, insbesondere sexuellen Wohl einzunehmen und, allgemeiner gesagt, auf die großen existenziellen Fragen (»Was ist ein gutes Leben?«, »Was ist ein gelungenes Leben?« etc.) zu verzichten.2

Das Beispiel von Ogien zeigt, dass eine moralische Analyse der Sexualität vorzuschlagen nicht unbedingt bedeutet, den Ehrgeiz zu haben, sexuelle Praktiken zu diktieren oder den Sex in einer rigorosen und keuschen Weise zu denken.

Eine andere Form der Antwort auf den Verdacht des Puritanismus ist die folgende: Alle Überlegungen zu dem, was in Bezug auf die Sexualität erlaubt oder zulässig sein sollte, sei es auf der juristischen, ideologischen oder explizit moralischen Ebene, gehen aus einer moralischen Analyse der Sexualität hervor. Selbst wenn man behauptet, das einzige Kriterium für die Qualität eines Geschlechtsverkehrs sei die Quantität der Lust, die man daraus bezieht, handelt es sich um eine Position, die der Moralphilosophie zuzuordnen ist (da man die Kriterien des Guten bewertet), und in diesem konkreten Fall um eine Position, die die Moralphilosophie als hedonistisch bezeichnet. Der Puritanismus, wenn man darunter einen übertriebenen Rigorismus in moralischen Fragen versteht,3 besteht im Übrigen nicht darin, die Ethik des Sexes zu hinterfragen, sondern gerade darin, den Sex mit einer Art Schweigen zu umgeben, das keines ist, aber auf jeden Fall eine Refle64xion und offene Diskussion über die Sexualität verbietet. In dieser Hinsicht ist es ein zutiefst antipuritanisches Unterfangen, philosophisch zu untersuchen, was guter Sex ist, und, wie hier, zwischen dem zu unterscheiden, was den Sex »nicht schlecht«, das heißt erlaubt macht, und dem, was den Sex positiv gut macht.

Zuerst eine moralische Analyse

Warum wird zuerst eine moralische Analyse und nicht eine rechtliche Analyse der sexuellen Zustimmung vorgeschlagen? Um es einfach zu sagen: Das Recht, insbesondere das Strafrecht, hat die Aufgabe, bestimmten moralischen Regeln, die für das Leben in der Gesellschaft als besonders wichtig angesehen werden, einen verbindlichen Wert zu verleihen. Das heißt, dafür zu sorgen, dass die Bürger verpflichtet sind, diese Regeln zu befolgen. Nicht alle unmoralischen Verhaltensweisen werden vom Recht verboten – man hat das Recht, seiner Großmutter gegenüber unfreundlich zu sein, auch wenn dies kein gutes Benehmen ist –, aber die vom Strafrecht verbotenen Verhaltensweisen sind alle zumindest zum Teil aufgrund ihrer Immoralität verboten. Bevor wir also darüber nachdenken, was das Recht in Bezug auf die Sexualität erlauben oder verbieten sollte, müssen wir klar und deutlich bewerten, was richtig oder falsch ist, und dabei unterscheiden, was akzeptabel ist, insofern es nicht unmoralisch ist, und was positiv moralisch und mithin wünschenswert ist.

Die Unterscheidung zwischen moralisch akzeptablem und moralisch wünschenswertem Sex gestattet uns, zu verstehen, dass das Konzept der Zustimmung mit zwei unterschiedlichen Zielen verwendet wird: Man will, dass 65es uns erlauben kann, sexualisierte Gewalt zu erkennen (und zu bestrafen), indem es ein klares Kriterium für die Unterscheidung zwischen erlaubtem und verbotenem Sex bietet, aber man hofft auch, dass es uns helfen kann, positiv zu bestimmen, was moralisch gute sexuelle Beziehungen wären. In dieser Hinsicht, und darauf werde ich noch zurückkommen, entspringt die Zentralität dieses Konzepts in den zeitgenössischen Diskussionen einer neuen Form der Aufmerksamkeit für die Sexualität: Wenn so viel über die Zustimmung gesprochen wird, dann weil die Reflexion der Sexualität nicht mehr dieselbe Funktion hat. Wie der Historiker Georges Vigarello in seiner Histoire du viol zeigt,4 war die Bestrafung der Vergewaltigung lange Zeit davon motiviert, dass die Männer sicherstellen wollten, dass der Körper »ihrer« Frau nicht von anderen benutzt wird und dass insbesondere die Reinheit ihrer Linie gewahrt wird (das heißt, dass ihre Kinder auch wirklich ihre sind). Es ist eine neuere Entwicklung, dass man sich für das Begehren der Frauen, ihren Willen und die Gewalt interessiert, die gegen sie ausgeübt wird. Und es ist ein noch neueres Anliegen, sich mit der Frage zu befassen, wie eine Sexualität und eine Intimität aussehen könnten, die positiv eine Quelle von Freude, Vergnügen und Glück wären. Wenn die Zustimmung im Mittelpunkt der zeitgenössischen Diskussionen über Sexualität steht, dann weil man nicht nur hofft, über sie das Gewalttätige und Unmoralische in bestimmten sexuellen Beziehungen zu bekämpfen, sondern auch die Sexualität von der Herrschaft und Unterdrückung zu emanzipieren, die sie durchzieht, um ungehindert und auf eine Weise genießen zu können, die uns positiv frei macht.5

66Drei moralische Annahmen

Wie wir sehen werden, gibt es gute Gründe, dem Konzept der Zustimmung oder zumindest dem hohen Stellenwert, der ihm verliehen wird, zu misstrauen. Doch bevor wir die externe Kritik an dem Konzept reflektieren, gilt es, die Zustimmung und die Funktion zu untersuchen, die sie in der moralischen Bewertung der Sexualität einnimmt. So kann man drei unterschiedliche Annahmen bezüglich der normativen Macht der Zustimmung identifizieren:

1. Es wird allgemein anerkannt, dass die Nicht-Zustimmung eine notwendige Bedingung für die Vergewaltigung ist (auch wenn mit Ausnahme von Schweden kein Rechtssystem die Nicht-Zustimmung als ausreichende Bedingung für die Feststellung der Vergewaltigung versteht). Das bedeutet, dass die Zustimmung eine notwendige Bedingung dafür ist, dass ein Geschlechtsverkehr moralisch zulässig ist.

2. Die meisten Spezialisten für die Zustimmung in der Moralphilosophie sind der Ansicht, dass die Zustimmung den Geschlechtsverkehr erlaubt macht. Folglich ist die Zustimmung eine hinreichende Bedingung dafür, dass der Sex moralisch zulässig ist; und, wenn man davon ausgeht, dass ein guter Geschlechtsverkehr notwendigerweise zulässig ist, eine notwendige Bedingung dafür, dass der Sex moralisch gut ist.

3. Es scheint in den zeitgenössischen Diskursen über die Zustimmung und insbesondere von den Anhängern einer sexuellen Minimalethik, zum Beispiel dem Philosophen Ruwen Ogien, häufig angenommen zu werden, dass die Zustimmung eine hinreichende Bedingung dafür ist, dass der Sex moralisch gut ist.

67Die Annahme (1) bereitet wenig Probleme: Es scheint unmöglich, sich einen moralisch vertretbaren Geschlechtsverkehr vorzustellen, dem die Partner nicht zustimmen. Die genaue Definition der Zustimmung kann Gegenstand von Debatten sein, aber die Vorstellung, dass der Sex einvernehmlich sein muss, um erlaubt zu sein, ist es nicht. Hingegen ist der Unterschied zwischen den Annahmen (2) und (3) der Kern der moralischen Ambiguität der Zustimmung und korrespondiert mit dem folgenden Problem, das eine der grundlegenden Fragen ist, die dieses Buch zu beantworten versucht: Reicht die Zustimmung der Partner aus, damit der Geschlechtsverkehr moralisch gut ist?

Auf den ersten Blick scheint unsere Annahme bezüglich des Zusammenhangs zwischen Zustimmung und Moralität auf folgender Überlegung zu beruhen: Wenn ich zustimme, drücke ich meinen autonomen Willen aus; wenn es einen Ausdruck des autonomen Willens der zustimmenden Partei gibt, dann ist die Handlung gut, in dem Sinne, dass sie moralisch ist. Nun sind in dieser Überlegung aber zwei Konzeptionen des Willens und der Freiheit im Spiel, die sich vermischen: eine formale Moral, nach der ein Vertrag oder eine Übereinkunft gültig ist, wenn die Vertragsparteien zustimmen und damit ihren Willen zum Ausdruck bringen, und eine substanzielle Moral, nach der die Handlungen, die ich wähle, jeweils meine Humanität, meine Würde und meine Moralität zum Ausdruck bringen.

Was im Fall der formalen Moral zählt, ist die Respek68tierung der Formen des Willens, zum Beispiel einen Vertrag zu unterzeichnen, zu sagen, »ich bin einverstanden«. In dem Moment, in dem ich in einer formal akzeptablen Weise zustimme, drücke ich meinen Willen aus. Wenn ich zum Beispiel in einen Bus einsteige, besage ich stillschweigend, dass ich einem Beförderungsvertrag mit dem Busunternehmen zustimme und somit akzeptiere, im Austausch für die Beförderung ein Ticket zu bezahlen. Was bei der substanziellen Moral zählt, ist jedoch, dass die betreffende Zustimmung wirklich eine Wahl ist, die die Moral und die Humanität des/der Zustimmenden einbindet. Im Grunde geht es um die Frage, was man als Willen bezeichnet: Geht man davon aus, dass alle Entscheidungen, die man trifft, auch ohne darüber nachzudenken, unseren Willen ausdrücken, oder dass der Wille im vollen Sinne eine Entscheidung über die Mittel und Zwecke unseres Handelns voraussetzt?

Um es anders zu sagen: In der Alltagssprache bedeutet zustimmen, etwas zu akzeptieren, das von jemand anderem angeboten oder vorgeschlagen wird – jemand will mein Fahrrad ausleihen, fragt mich, und ich stimme zu –, oder zustimmen bedeutet, aktiv zu wählen – zum Beispiel in juristischen Verträgen, bei denen jede Partei an der Erstellung des Vertrags beteiligt ist und zustimmt, sich an das zu halten, was der Vertrag vorsieht. Und mit diesen beiden Bedeutungen sind zwei unterschiedliche Konzeptionen von der normativen Macht der Zustimmung verbunden: eine, die davon ausgeht, dass die Zustimmung Erlaubnisse erzeugt, die auf einem Verzicht auf ein Recht beruhen (in dem Sinne, dass man zum Beispiel ein moralisches Recht auf körperliche Unversehrtheit haben kann), und eine, die davon ausgeht, dass die Rechtfertigungsmacht der Zustimmung daher rührt, dass sie 69ein Ausdruck des autonomen Willens der Person ist, die zustimmt.

Zustimmen heißt, auf ein Recht verzichten

Die in den zeitgenössischen philosophischen Analysen der Zustimmung und insbesondere der sexuellen Zustimmung allgemein anerkannte Auffassung ist, dass man mit der Zustimmung auf ein Recht verzichtet, das man bis dahin hatte – zum Beispiel das Recht, dass niemand unseren Körper intim berühren darf –, und so eine Erlaubnis begründet. Genauer gesagt ist die Zustimmung eine formell gültige Vereinbarung, die »eine Handlung, die einem Akteur A ansonsten ein Unrecht zufügen würde, weil sie seine Rechte verletzen würde, in eine zulässige Handlung verwandelt, die mit seinen Rechten vereinbar ist«.6 In diesem Rahmen wird die sexuelle Zustimmung als ein Sonderfall der Zustimmung verstanden, analog zu gängigen und alltäglichen Formen der auf Zustimmung beruhenden Erlaubnis. Konkret bedeutet diese Auffassung, dass ich, wenn ich einwillige, mein Auto zu verleihen, auf mein ausschließliches Nutzungsrecht an meinem Eigentum verzichte und mithin erlaube, dass mein Eigentum genutzt wird (was ohne diese Zustimmung verboten war). Und wenn ich zustimme, mit jemandem Sex zu haben, verzichte ich auf mein Recht, dass diese Person mich nicht sexuell berührt, und erlaube ihr folglich, mich auf diese Weise zu berühren.

Diese Konzeption der Zustimmung ist eine liberale Konzeption, die man an den von John Stuart Mill in Über die Freiheit entwickelten Positionen festmachen kann. Die liberale Doktrin beruht auf der Hypothese, dass das, 70was die Menschen teilen, die Suche nach einem guten Leben ist, dass diese Suche individuell ist und dass das Individuum die Freiheit haben sollte, sie so zu betreiben, wie es möchte. Der Utilitarismus der Liberalen John Stuart Mill und Jeremy Bentham impliziert, dass es nicht möglich ist, die Qualität einer Wahl objektiv zu definieren. Es zählt nur, inwiefern diese Wahl zum Glück des Einzelnen beiträgt. Folglich muss ein jeder frei sein, das Leben zu wählen, das er will. Nur weil im gesellschaftlichen Leben die Entscheidungen eines Individuums negative Auswirkungen auf ein anderes Individuum haben können, kann die individuelle Freiheit eingeschränkt werden. Daher kann man allem zustimmen, wenn es sich um eine freie Wahl handelt und wenn es anderen nicht schadet.

Eine liberale Konzeption der Zustimmung

Nach der liberalen Doktrin besteht das zentrale Problem darin, sicherzustellen, dass der Staat die Freiheit des Einzelnen nicht unberechtigt einschränkt. Die liberale Doktrin beruht auf dem Primat des Individuums und seiner Freiheit, und der Staat erscheint als eine Bedrohung dieser Freiheit. Von den ersten Seiten von Über die Freiheit an identifiziert Mill die »Tyrannei der Mehrheit«7 als die spezifische Bedrohung, vor der sich die modernen Demokratien schützen müssen. Mill zufolge ist in den Demokratien des 19. Jahrhunderts der angebliche Wille des Volkes, auf den sich die politische Autorität gründet, in Wirklichkeit der Wille der größten Zahl und stellt als solcher eine Bedrohung für das Volk dar, insofern es nicht möglich ist, die Versuchung der Mehrheit auszuräumen, einen Teil des Volkes zu unterdrücken. Das Spezifische 71dieser Tyrannei liegt ihm zufolge darin, dass sie nicht nur politisch, sondern auch sozial ist. Im Unterschied zur politischen Tyrannei des Tyrannen, in deren Lücken eine Form von Freiheit fortbestehen kann,8 kann sich die Tyrannei der Mehrheit nicht nur durch das Gesetz, sondern auch durch soziale Normen behaupten.

Die Tyrannei der Mehrheit bezieht sich auf Formen des Paternalismus und Moralismus, die sowohl aus dem staatlichen Handeln selbst als auch aus der Funktionsweise der Gesellschaft hervorgehen können. Der Paternalismus bezeichnet alle Maßnahmen, die darauf abzielen, den Einzelnen vor sich selbst zu schützen, sei es ein rechtlicher Paternalismus (Helm- oder Gurtpflicht) oder ein sozialer Paternalismus (Paternalismus der Arbeitgeber, die den Arbeitern bestimmte Verhaltensweisen aufzwingen wollen, die als gut für sie angesehen werden: zum Beispiel den Lohn nicht am Freitagabend auszuzahlen, um zu verhindern, dass die Arbeiter ihn in der Kneipe ausgeben). Der Moralismus bezeichnet Maßnahmen, die im Namen der Verletzung der Menschenwürde Verhaltensweisen verbieten sollen (zum Beispiel war die Homosexualität auf dieser Grundlage lange Zeit sowohl gesetzlich verboten als auch sozial stigmatisiert). Gemäß Mill birgt die Macht der Mehrheit in der Demokratie an sich die Gefahr des Paternalismus und Moralismus und steht der Möglichkeit des Einzelnen entgegen, so zu leben, wie er will.

Nun genießt nach Mill die Individualität aber einen besonderen Wert, der diese nicht nur politische, sondern auch gesellschaftliche Gefahr zum größten moralischen Risiko der modernen Gesellschaften macht. Die Fähigkeit, einen eigenen Willen zu haben, sich selbst zu bestimmen und seine Individualität zu kultivieren, ist die Grundlage 72der menschlichen Natur.9 So gilt, dass »nur die Kultivierung der Individualität hochentwickelte Menschen hervorbringt und hervorbringen kann«:10 Die Auffassung vom Guten ist persönlich, es gibt keine objektive Auffassung vom Guten, das die Gesellschaft oder der Staat zu garantieren oder zu schützen hätte.

Mills Problem ist dann die Frage, wie man einerseits die Tatsache, dass der moderne Staat das beste Mittel ist, um die natürlichen Rechte des Einzelnen zu garantieren, damit er seine Individualität kultivieren kann, und andererseits die Bedrohung einer Tyrannei der Mehrheit, die jedem modernen demokratischen Staat innewohnt, zusammendenken kann. Um dieses Problem zu lösen, schlägt Mill einen Grundsatz vor, der ein Kriterium für die Bewertung von Einschränkungen der individuellen Freiheit darstellt und den er als harm principle bezeichnet:11

Dieser Grundsatz lautet: Das einzige Ziel, um dessentwillen es der Menschheit gestattet ist, einzeln oder vereint, die Freiheit eines ihrer Mitglieder zu beschränken, ist Selbstschutz. Und der einzige Zweck, um dessentwillen man mit Recht gegen ein Glied einer gebildeten Gesellschaft Gewalt gebrauchen darf, ist: Schaden für andere zu verhüten. Das eigene physische oder moralische Wohl des Handelnden ist kein genügender Vorwand. […] Jeder ist nur für den Teil seines Handelns der Gesellschaft verantwortlich, der andere betrifft. In dem Gebiet, das nur ihn angeht, ist seine Unabhängigkeit absolut. Der Mensch ist Alleinherrscher über sich selbst, über seinen Körper und seinen Geist.12

Angesichts der Bedrohung der Tyrannei der Mehrheit schlägt Mill so ein einfaches Prinzip vor: Die Hand73lungsfreiheit eines Individuums kann vom Staat oder von der Gesellschaft eingeschränkt werden, wenn und nur wenn die Ausübung seiner Handlungsfreiheit eine Gefahr für andere darstellt. Freiheit wird hier als negative Freiheit, das heißt als Unabhängigkeit, verstanden, und das Primat des Individuums ist der Kern von Mills Vorgabe. Nur die Notwendigkeit, zu verhindern, dass ein Individuum durch die willkürliche Handlung eines anderen Individuums einen schweren und konkreten Schaden erleidet, kann ein Eingreifen des Staates rechtfertigen.

Die liberale Konzeption der Zustimmung beruht auf einer Äquivalenz zwischen Zustimmung und Freiheit. Bei Mill ist die Zustimmung ein Ausdruck der individuellen Freiheit und stellt als solche ein Kriterium für Gerechtigkeit dar. Die Formulierung des harm principle soll ein Kriterium für die Bewertung staatlicher Eingriffe liefern, das heißt in Fällen vermitteln, in denen eine Spannung zwischen dem Wohl der Gesellschaft und dem Wohl des Einzelnen zu bestehen scheint. Es gibt jedoch noch eine andere »Lebenssphäre«, die das Individuum, aber auch seine Beziehungen zu anderen Individuen betrifft, insofern sie für niemanden eine Bedrohung darstellen:

Aber es gibt eine Lebenssphäre, an der die Gesellschaft im Unterschied von dem Einzelnen nur ein indirektes Interesse hat; sie betrifft den ganzen Umkreis des Lebens, der nur den Einzelnen selbst angeht oder andere höchstens bei eigener, freier, selbst gewollter und nicht erzwungener Zustimmung und Teilhabe. […] Dies ist also der eigentliche Bereich der menschlichen Freiheit. […] Sodann erfordert unser Prinzip Freiheit des Geschmacks und der Betätigung, die Freiheit, den Plan unseres Lebens so zu entwerfen, wie es unserem Charakter angemessen ist, zu tun, was wir wollen, und die 74Folgen unseres Handelns zu tragen; ungehindert von unseren Mitmenschen, solange wir ihnen kein Leid zufügen – ungehindert auch dann, wenn jene unser Handeln töricht, pervers oder falsch finden sollten.13

Diese Textstelle ist entscheidend, um das liberale Verständnis dessen zu begreifen, was man allgemein als Privatsphäre bezeichnet und noch allgemeiner als menschliche Beziehungen, wenn sie nicht rein politisch sind. Erstens bekräftigt diese Passage die normative liberale These, dass es ein Außerhalb der staatlichen Intervention gibt: Der Staat darf nicht in das Leben der Individuen eingreifen, das heißt ihre Unabhängigkeit einschränken, wenn der Schutz und die Sicherheit der Individuen nicht auf dem Spiel stehen. In gewisser Weise könnte man meinen, dass Mill, nachdem er das harm principle als Grundlage der staatlichen Intervention und damit vor allem als Prinzip des Strafrechts aufgestellt hat, die Grundprinzipien skizziert, welche die Beziehungen zwischen den Individuen regeln sollen, und damit die des Zivilrechts.14

Zweitens stellt Mill implizit ein Kriterium für die Bewertung interindividueller Beziehungen auf, das sich mit dem harm principle überschneidet, dessen positive Version es gewissermaßen ist: Die individuelle Freiheit impliziert negativ, dass ich nicht so handeln kann, dass ich anderen Schaden zufüge, und sie impliziert positiv, dass ich nur »bei eigener, freier, selbst gewollter und nicht erzwungener Zustimmung und Teilhabe« in einer Weise handeln kann, die Dritte beeinträchtigt.15 Die Freiheit des Einzelnen bedeutet, dass ich nicht so handeln kann, dass ich anderen Schaden zufüge. Das Konzept der Zustimmung ist somit zentral, um im liberalen Denken die interindividuellen Beziehungen zu denken: Die Freiheit 75des anderen zu respektieren bedeutet nicht nur, ihm nicht zu schaden, sondern seine als Selbstbestimmung verstandene Freiheit zu respektieren. Wenn ich also eine Handlung ausführe, die andere einbezieht, muss ein anderer seine Freiheit genauso zum Ausdruck gebracht haben wie ich meine in dieser Handlung.

Die Kriterien für die Gültigkeit der Zustimmung

Diese Formel schlägt Kriterien für die Bewertung der Zustimmung vor: Damit die Zustimmung gültig ist, muss sie frei, selbst gewollt und nicht erzwungen sein.16 Neben der Zustimmung fordert Mill die Beteiligung des in die Handlung implizierten Individuums: Das kann als Bekräftigung der Notwendigkeit einer aktiven Position aller an der Handlung beteiligten Individuen interpretiert werden, während die Zustimmung nur eine passive Zustimmung erfordern könnte. Dieses Element ist natürlich entscheidend, und ich werde darauf zurückkommen, insofern es darauf hindeutet, dass selbst in Mills Konzeption, die gemeinhin als die am wenigsten restriktive gilt, das Sprichwort »Wer nichts sagt, stimmt zu« keine Garantie für eine gültige Zustimmung ist. Wenn man der Ansicht ist, dass dieses Modell der Zustimmung auf den sexuellen Bereich übertragen werden kann, bedeutet dies, dass die Art von Zustimmung, die Mill evoziert, nicht einfach die Tatsache ist, zum Geschlechtsverkehr nicht »nein« zu sagen.

Wenn man diese Passage aufmerksam liest, wird auch deutlich, dass die Zustimmung das Kriterium für die Begrenzung des Handlungsbereichs ist, der dem staatlichen Handeln entzogen sein soll. Um sich vor der Tyrannei der 76Mehrheit zu schützen, muss sichergestellt werden, dass der Staat nur dann in das öffentliche Leben eingreift, wenn ein Schaden droht, und dass er nicht in den Handlungsspielraum des Einzelnen eingreift, wenn dessen Handlung nur ihn selbst oder andere betrifft, die zugestimmt haben.

Was hier unklar bleibt, ist der Anwendungsbereich des harm principle: Denn man kann die Passage so lesen, dass der Staat niemals in diese Sphäre eingreifen darf, da sie nur einzelne Individuen einschließt oder solche, die der Interaktion zugestimmt haben, unabhängig vom Inhalt dieser Zustimmung, oder aber so, dass der Staat nur dann in diese Sphäre eingreifen darf, wenn die Gefahr einer Schädigung besteht. Die erste Lesart erscheint insofern überzeugender, als Mill diese Passage als eine Begrenzung der »Region der menschlichen Freiheit« darstellt. Die Wiederholung des Grundsatzes der Nichtschädigung (»solange wir ihnen kein Leid zufügen«) scheint sich auf diejenigen zu beziehen, die außerhalb der betreffenden Assoziation stehen: Zustimmung und Teilnahme würden so dazu führen, die assoziierten Individuen als eine einzige Einheit zu begreifen, deren Handlungen den anderen, das heißt denjenigen, die sich außerhalb dieser Assoziation befinden, nicht schaden dürfen. Diese Lesart wird durch die von Mill genannten Bedingungen bekräftigt: Man kann sich vorstellen, dass mündige, nicht gezwungene und aufgeklärte Individuen nur dem zustimmen, was sie im intimen Bereich ihres Gewissens wirklich wollen, und dass niemand ihre Handlungen im Namen moralischer Erwägungen einschränken darf. In diesem Fall bedeutet dies, dass die Zustimmung nicht nur eine notwendige, sondern auch eine hinreichende Bedingung dafür ist, dass die Handlung eines Individuums gegenüber einem anderen als etwas anzusehen ist, das vor unrechtmäßigen 77staatlichen Eingriffen geschützt werden muss. Wird die Zustimmung unter den genannten Bedingungen gegeben, die sie real machen,17 dann erscheint sie als Garantie dafür, dass eine Beziehung zwischen zwei oder mehr Individuen frei ist und daher nicht Gegenstand eines Eingriffs des Staates oder jedweden anderen Individuums sein kann, ohne unter das harm principle zu fallen. Die Zustimmung ist dann das Kriterium für die Legitimität der Handlung eines Individuums gegenüber einem anderen.

Die Ambiguität des Textes bezüglich des Verhältnisses von Zustimmung und harm principle und, weiter gefasst, die zentrale Stellung, die Mill der Zustimmung in interindividuellen Beziehungen einräumt, sind entscheidend, um die Positionen zeitgenössischer liberaler Philosophen zur sexuellen Zustimmung zu verstehen. Denn das Problem wird folgendermaßen gestellt: Wenn man voraussetzt, dass das, was um jeden Preis geschützt werden muss, die Fähigkeit der Individuen ist, ihr eigenes Leben so zu führen, wie sie es wollen, dann ist das Kriterium für die Bewertung der Legitimität einer interindividuellen Beziehung die Zustimmung, die zu dieser Beziehung gegeben wird oder nicht, und eventuell die Risiken, die eine solche Beziehung begründet, unter Ausschluss jedes anderen Kriteriums oder jeglicher moralischer Erwägung. In diesem Rahmen sind sich die Philosophen generell darin einig, zu denken, dass die Zustimmung eine formal gültige Übereinkunft von mündigen und informierten Personen ist, die Erlaubnisse erzeugt, so dass der, der seine Zustimmung erteilt, dem, der sie erhält, das Recht verleiht, etwas zu tun, das ohne diese Zustimmung die Rechte desjenigen verletzen würde, der seine Zustimmung gibt. Dies hat vor allem für den sexuellen Bereich Folgen, da, wie bereits Jeremy Bentham in Offences Against One78self: Paederasty 1785 gezeigt hat, der liberale Rahmen zu behaupten erlaubt, dass keine Art von sexuellen Beziehungen – insbesondere keine nicht heterosexuellen, nicht reproduktiven oder außerehelichen sexuellen Beziehungen – gesetzlich bestraft werden können sollten, wenn diese Beziehungen zwischen zustimmenden Individuen stattfinden.18 Die Zustimmung ist eine hinreichende Bedingung dafür, dass der Geschlechtsverkehr zulässig ist, und eine notwendige (aber nicht hinreichende) Bedingung dafür, dass er gut ist.

Die Betonung der Zustimmung beruht jedoch auch auf der Vorstellung, dass die Zustimmung die Autonomie des Willens des Zustimmenden zum Ausdruck bringt. Dieser Grundsatz steht zum Beispiel im Mittelpunkt des juristischen Verständnisses der Zustimmung im französischen Recht sowie der französischen Positionen zur Bioethik. Was genau dieser Grundsatz der Autonomie des Willens besagt, ist unter den Juristen umstritten, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, aber die allgemeine Vorstellung lautet, dass das Recht und die Moral die Funktion haben, die Humanität oder Würde der Menschen und damit ihren autonomen Willen zu schützen.

Diese Auffassung kann man an der Moraltheorie festmachen, die der deutsche Philosoph Immanuel Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwickelt hat. Kant ist unter anderem der Begründer dessen, was man als Pflichtmoral bezeichnet. Er vertritt eine Auffassung, die man im Gegensatz zur millschen Moral als substan79ziell bezeichnen kann.19 Wenn Rousseau im Gesellschaftsvertrag die Verbindung zwischen Autonomie, Freiheit und Zustimmung im politischen Bereich hergestellt hat, dann ist es Kant, der die Funktionsweise dieser Konzepte und ihre Verbindung im Rahmen der Moralphilosophie aufzeigt. Die Ausgangsfrage lautet für Kant, was ist moralisches Handeln, das heißt, was bedeutet, auf eine gute Art und Weise zu handeln. In seinen Augen kann man die Moralität einer Handlung nicht an ihrem Ergebnis messen, denn was eine Handlung zu einer guten Handlung macht, ist der gute, an sich selbst gute Wille, der in ihr zum Ausdruck kommt.20 Zum Beispiel unterscheidet er zwischen Handlungen, die pflichtmäßig erfolgen, und solchen, die aus Pflicht getan werden: Es ist nicht dasselbe, wenn ein Kaufmann für alle den gleichen Preis verlangt, weil sein Interesse dies erfordert, und wenn er dies aus Pflicht tut, das heißt aus Respekt vor dem Sittengesetz.21 Der Zweck einer Handlung erlaubt nicht, ihren moralischen Wert zu bewerten; nur die Absicht, die hinter der Handlung steht, erlaubt es, diese Handlung moralisch zu bewerten. Kant stellt also den Standpunkt der Legalität – der Gesetzeskonformität – und den Standpunkt der Moralität – der in der Reinheit der Absicht liegt – einander gegenüber. Das Ergebnis der Handlung sagt uns nichts über ihre Moralität, die Tatsache, äußerlich ein Gesetz einzuhalten, und sei es ein Moralgesetz, reicht nicht, um über die Moralität der Handlung zu entscheiden.

Kant zeigt, dass das, was den moralischen Wert einer Handlung ausmacht, das Prinzip des Willens ist, das diese Handlung leitet und das Kant als dessen Maxime bezeichnet. Kant zufolge haben alle vernünftigen Wesen – die Menschen – aufgrund der Tatsache, vernünftige Wesen zu sein, ein Prinzip des Willens gemeinsam, das das morali80sche Gesetz ist und das er als kategorischen Imperativ bezeichnet. Ohne nun auf die sehr technischen Details einzugehen, die für unsere Überlegungen zur Zustimmung nicht wichtig sind, zeigt Kant, dass vernünftige Wesen über ein universelles Moralgesetz verfügen, das folgendermaßen formuliert werden kann: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.«22 Das bedeutet, um es ganz kurz zu sagen, dass eine Handlung dann und nur dann moralisch ist, wenn die Maxime, die den Willen bei dieser Handlung leitet, so beschaffen ist, dass sie universalisierbar sein kann. Zum Beispiel ist nach Kant ein Versprechen nicht zu halten eine Handlung, die unmoralisch ist, denn wenn jeder so handeln würde, würde diese Handlung logisch unmöglich werden: Ohne Vertrauen darauf, dass das Versprechen gehalten wird, gibt es kein mögliches Versprechen.

Kants Analyse des Handelns beruht auf der Tatsache, dass vernünftige Akteure die besondere Eigenschaft haben, gemäß der Vorstellung zu handeln, die sie sich vom Gesetz machen, und nicht nur gemäß den Gesetzen (das heißt, dass sie sich nicht damit begnügen, Gesetze zu befolgen, sondern dass sie sich diese vorstellen, dass sie sie als moralische Gesetze denken). Was erlaubt, zwischen dieser Fähigkeit, sich sein eigenes Gesetz vorzustellen, und der Formulierung des kategorischen Imperativs eine Verbindung herzustellen, ist das Konzept der Humanität:

Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines kategorischen Imperativs, d.i. praktischen Gesetzes, liegen.

81Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.23

Die Welt teilt sich in zwei Arten von Entitäten: Dinge, die wir als Mittel für unsere Handlungen verwenden, und Personen, die etwas Höheres gemeinsam haben, das bewirkt, dass man sie nicht nur als Mittel behandeln kann – oder jedenfalls nicht als solche behandeln sollte –, sondern dass man gezwungen ist, sie als Zweck an sich selbst anzuerkennen. Vernünftige Wesen anerkennen, dass sie die Gemeinsamkeit haben, vernünftige Wesen zu sein, dass dies erklärt, dass sie gemeinsam ein universelles moralisches Gesetz besitzen, und dass dies sie dazu verpflichtet, in sich selbst und bei anderen diese Humanität anzuerkennen, die sie gemeinsam haben und die ihnen eine Würde verleiht, die zu respektieren ist.

Mittels des Begriffs der Humanität verknüpft Kant Moralität und Freiheit. Er tut dies, indem er auf den Begriff der Autonomie zurückgreift. Denn Kant zeigt, dass das, was den Willen gut, das heißt moralisch macht, die Eigenschaft ist, sein eigenes Gesetz zu sein – im Griechischen auto-nomos. Im Unterschied zu einem Willen, der sich von seinen Begierden, von äußerem Druck leiten lassen würde, bringt der Wille, der aus Pflicht handelt, das moralische Gesetz hervor und unterwirft sich ihm zugleich:

[ob] wir gleich unter dem Begriffe von Pflicht uns eine Unterwürfigkeit unter dem Gesetze denken, wir uns dadurch doch zugleich eine gewisse Erhabenheit und Würde an derjenigen 82Person vorstellen, die alle ihre Pflichten erfüllt. Denn so fern ist zwar keine Erhabenheit an ihr, als sie dem moralischen Gesetze unterworfen ist, wohl aber, so fern sie in Ansehung eben desselben zugleich gesetzgebend […] ist.24

Wenn wir aus Pflicht handeln, unterwerfen wir uns dem moralischen Gesetz, aber diese Unterwerfung ist, anstatt – wie man meinen könnte und was die Unterwerfung gewöhnlich ist – ein Verzicht auf unsere Autonomie zu sein, in Wirklichkeit autonom, weil es der Wille selbst ist, der das moralische Gesetz hervorbringt, dem er sich unterwirft. Um zu verstehen, was Kant hier sagt, kann man sich ansehen, wie er die rousseausche Reflexion über die bürgerliche Freiheit, die man durch den Gesellschaftsvertrag erlangt, auf den moralischen Bereich überträgt: Nach Rousseau sind die Bürger sowohl Untertanen – und somit verpflichtet, den Gesetzen zu gehorchen – als auch Gesetzgeber – da sie Teil des Souveräns sind und somit die Gesetze der Stadt beschließen. In dieser Eigenschaft gehorchen die Bürger, wenn sie dem Gesetz gehorchen, in Wirklichkeit nur sich selbst, und, so Rousseau, »der Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selber vorgeschrieben hat, ist Freiheit«.25 In ähnlicher Weise ist nach Kant der gute Wille autonom, indem er sich selbst das moralische Gesetz gibt, dem er gehorcht, und er ist frei, weil er nicht Impulsen oder einer Naturnotwendigkeit gehorcht, sondern sich selbst sein Gesetz gibt.26

Was sich hier zeigt, ist also eine Moral, die sehr viel substanzieller ist als die von Mill27 – moralisch zu handeln bedeutet, nach dem kategorischen Imperativ zu handeln –, die auf der Autonomie des Willens beruht, die unserer Humanität entstammt und unsere Menschenwürde zum Ausdruck bringt und schützt. Jede Wahl, jede 83Übereinkunft, jede Zustimmung, die dem Sittengesetz gehorcht, erscheint in dieser Hinsicht als Demonstration unserer Autonomie; man bringt seine Humanität in jede Bewegung seines Willens ein, und man bringt sich selbst in jede Wahl, die man trifft, als Zweck ein.

Dieses Verständnis der menschlichen Agentivität hat Konsequenzen für die Art und Weise, wie wir uns anderen gegenüber verhalten sollen, wie die zweite Formulierung des kategorischen Imperativs zeigt, die oft als »Humanitätsformel« bezeichnet wird:

Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.28

Moralisch zu handeln, impliziert somit zwei verschiedene Pflichten: die negative Pflicht, andere nicht als Mittel zu benutzen, und die positive Pflicht, sie als Zwecke zu behandeln, das heißt, sie als das anzuerkennen, was Kant als Zweck an sich selbst bezeichnet. Im Rahmen einer Reflexion über Sexualität kann, wie verschiedene Artikel der feministischen Philosophie gezeigt haben,29 diese negative Pflicht als die Pflicht verstanden werden, andere nicht nur als Objekte zu behandeln, die der Befriedigung unseres Begehrens oder unserer Lust dienen. In der Praxis impliziert dies insbesondere, dass Camille Alex nicht gegen dessen Willen zum Geschlechtsverkehr zwingen darf, da Camille Alex in diesem Fall nur als Mittel zur Befriedigung ihres Begehrens und ihrer Lust behandeln würde, ohne Berücksichtigung seines Willens und seines Begehrens. Daher ist auch in diesem Rahmen die Zustimmung zu einer sexuellen Beziehung mit jemandem, das heißt die sexuelle Einwilligung, verstanden als formal gültiges Ein84verständnis, eine notwendige Bedingung dafür, dass diese Beziehung moralisch ist.

Der Sexualpartner als Person

Die in der Humanitätsformel enthaltene positive Pflicht schafft jedoch zusätzliche Einschränkungen hinsichtlich dessen, wie eine moralische sexuelle Interaktion aussehen kann. Wie die britische Philosophin Onora O’Neill in einem berühmten Artikel30 gezeigt hat, verlangt der positive Aspekt der Humanitätsformel nicht nur, nach Maximen zu handeln, welche die anderen teilen können, sondern auch nach Maximen, deren Ziel es ist, die Zwecke anderer zu verfolgen. Die Humanitätsformel verlangt, anderen Respekt und Liebe entgegenzubringen. Man muss sowohl ihre eigenen Zwecke respektieren als auch sie lieben, um ihnen zu helfen, diese Zwecke zu verfolgen. Diese positive Pflicht ist also sehr anspruchsvoll: Man muss auf die Besonderheiten der Personen achten und die Tatsache ernst nehmen, dass sie keine abstrakten autonomen Wesen sind, sondern Individuen, die ihre eigenen kognitiven Begrenzungen und eine partielle Autonomie haben, die ihre Fähigkeit zur Zustimmung in verschiedenen Situationen beeinflussen.

Wenn man sich wie O’Neill dafür entscheidet, die Humanitätsformel trotz Kants moralischer Vorbehalte gegenüber jeglichem Sex außerhalb der Ehe auf die sexuelle Zustimmung anzuwenden, beleuchtet dies zwei wichtige Aspekte der Sexualethik. Erstens führen die Besonderheiten intimer und sexueller Beziehungen dazu, dass beide Pflichten in diesem Rahmen besonders schwer zu erfüllen sind – und daher nicht zuletzt wahrscheinlich nicht 85erfüllt werden. Da die sexuelle Kommunikation überwiegend implizit stattfindet und »gesellschaftliche Traditionen Formen sexueller Doppelzüngigkeit fördern«, können zum einen Täuschung und Zwang vielfältige Formen annehmen (sie zeigt zum Beispiel, dass die Verführung oft eine Form von Täuschung ist, die den Test der Humanitätsformel nicht bestehen kann). Und andererseits »macht die Intimität den Mangel an Respekt und Liebe eher möglich«.31 Aber zweitens bietet die Intimität, die beim Sex oft vorhanden ist, »die besten Chancen, die anderen als die Personen zu behandeln, die sie sind«.32 Tatsächlich kann Intimität der beste Weg sein, um jene besondere Art von Verständnis und Kenntnis der besonderen Umstände und Fähigkeiten des anderen zu erlangen, die die Voraussetzungen dafür sind, ihn als Person zu behandeln. Sex ist also gleichzeitig eine Beziehungsform, die moralisch riskant ist, weil die Versuchung groß ist, den anderen zu benutzen, ihn zu betrügen und die intime Kenntnis, die man von ihm hat, für seine Zwecke auszunutzen, und gleichzeitig kann Sex eine echte moralische Beziehung zwischen Personen erlauben, weil diese Intimität eine Kenntnis, Liebe und Achtung ermöglicht, die es erlaubt, den anderen wirklich als Person behandeln zu wollen und zu können.

Über die kantische Philosophie können wir zwei verschiedene Auffassungen der Zustimmung identifizieren:33 Eine, bei der die Zustimmung als eine formale und formal gültige Vereinbarung betrachtet wird, die Erlaubnisse erzeugt, und eine andere, bei der die Zustimmung als Ausdruck des autonomen Willens menschlicher Wesen und damit ihrer Würde verstanden wird. Im Kontext sexueller Interaktionen geht die erste davon aus, dass eine sexuelle Beziehung dann und nur dann zulässig ist, wenn 86die Partner sich gegenseitig die Erlaubnis gegeben haben, dass sie stattfinden kann. Also ist die Zustimmung eine hinreichende Bedingung dafür, dass der betreffende Sex zulässig ist, und eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dafür, dass er moralisch ist. Diese Theorie erkennt an, dass Individuen unterschiedliche Positionen zu der Frage haben können, welche Voraussetzungen notwendig sind, damit der Sex moralisch gut ist, dass diese Bewertung aber allein Sache der Beteiligten ist. Die zweite Theorie impliziert hingegen eine substanzielle Auffassung dessen, was sexuelle Moralität ist. Sie betrachtet die Zustimmung als Ausdruck der Humanität desjenigen, der zustimmt, und stellt anspruchsvolle Bedingungen auf, damit diese Humanität respektiert wird. Wenn diese Bedingungen jedoch erfüllt sind, dann ist die Zustimmung eine hinreichende Bedingung dafür, dass der Sex nicht nur zulässig, sondern gut ist.

Dass es zwei unterschiedliche Konzeptionen der Zustimmung gibt, ist an sich kein Problem. Was jedoch eines ist, ist, dass diese beiden Konzeptionen vermischt werden und sind. Denn die allgemein anerkannte Auffassung von der sexuellen Zustimmung lautet: (1) Zustimmen besteht darin, eine formal gültige Einwilligung zu geben. In einer der zeitgenössischen Debatten über die sexuelle Zustimmung stehen sich beispielsweise eine Position, in der »Nein heißt Nein« gilt, was bedeutet, dass ein Geschlechtsverkehr als einvernehmlich gilt, wenn der Partner seine Ablehnung nicht verbal oder körperlich zum 87Ausdruck gebracht hat, und eine andere Position gegenüber, bei der »nur ›ja‹ heißt ›ja‹« gilt, bei der die Zustimmung also nur dann vorliegt, wenn eine Person akzeptiert, mit einer anderen Person Geschlechtsverkehr zu haben, indem sie ihre positive Zustimmung verbal oder körperlich zum Ausdruck bringt. Bei beiden Positionen steht das Kriterium für die Gültigkeit zur Debatte, doch ist es für die eine wie für die andere wichtig, dass die Form des Einverständnisses gültig ist. Und (2) reicht eine solche Zustimmung aus, damit der betreffende Sex moralisch gut ist.

Nun ist der zweite Teil aber gemäß Kants Verständnis der Zustimmung als Ausdruck der Autonomie wahr, während der erste Teil auf die liberale Auffassung der Zustimmung Bezug nimmt, die, wie wir gesehen haben, weniger anspruchsvoll ist als die kantische Auffassung. So dass man sich leicht Situationen vorstellen kann, in denen die Zustimmung nach der ersten Auffassung als gültig angesehen werden kann, ohne die Prüfung der zweiten zu bestehen. Stellen wir uns zum Beispiel eine Situation vor, in der Dominique auf Tinder Camille begegnet. Dominique sucht eine langfristige Beziehung und Camille einen »One-Night-Stand«. Camille macht nicht deutlich, dass es sich nur um ein Mal handeln wird, und agiert zuvorkommend und liebevoll was allgemein als Zeichen für ein amouröses Interesse angesehen wird. Camille weiß, dass es möglich ist, dass Dominique eine längere Beziehung sucht. Dominique stimmt verbal begeistert zu, mit Camille eine sexuelle Beziehung zu haben, in der Annahme, dass dies der Beginn einer echten Beziehung ist. Camille hat Dominique nicht getäuscht, und Dominique hat auf formal gültige Weise eingewilligt, auch nach dem anspruchsvollen Standard der affirmativen Einwilligung 88(»nur ›ja‹ bedeutet ›ja‹«). Trotzdem kann man leicht die Ansicht vertreten, dass selbst wenn Camille Dominique nicht als reines Mittel zum Zweck benutzt hat, sie doch nicht den Respekt und die Liebe für Dominique gezeigt hat, die notwendig sind, um jemanden als Person zu behandeln. Denn sie interessierte sich nicht dafür, was Dominique wirklich wollte.

Dieses Beispiel zeigt, dass man nicht davon ausgehen kann, dass die nach dem liberalen Verständnis definierte Zustimmung die normative Macht hat, die sie in der kantischen Konzeption hat, und dass es folglich reicht, dass eine sexuelle Beziehung einvernehmlich ist, damit sie gut ist.

Diese Ausführungen mögen unnötig technisch erscheinen, sind es aber nicht: Bevor wir uns mit der Kritik befassen, die man aus juristischer oder feministischer Sicht an der Zustimmung üben kann, ist es unabdingbar, zu klären, was man vernünftigerweise von diesem Konzept erwarten kann. Die Vermischung der beiden Konzeptionen bringt die erste und sehr große Schwierigkeit, mit der sich jede philosophische Analyse der Verwendung der Zustimmung in intimen Beziehungen auseinandersetzen muss, in eklatanter Weise ans Licht: Entgegen unseren unmittelbaren Intuitionen entspricht die normative und rechtfertigende Macht der Zustimmung auf der moralischen Ebene nicht dem, was wir glauben. Unsere Intuitionen entspringen lediglich der falschen Überlagerung einer formalen Konzeption, die jedoch über eine moderate normative Macht verfügt, und einer substanziellen und daher sehr viel schwerer umzusetzenden Konzeption, die über eine tiefere normative Macht verfügt. Wenn man sich also an eine formale, gegebenenfalls rechtlich sanktionierbare Definition der Zustimmung halten will, kann 89die Zustimmung alleine nicht genügen, die Grundlage guter Sexualität zu bilden. Und wenn man eine Konzeption der Zustimmung will, die die Grundlage einer moralisch guten Sexualität bildet, ist diese Konzeption wahrscheinlich zu anspruchsvoll, um rechtlich sanktionierbar zu sein.