Rosenberg, der »Osten« und die »Endlösung« bis Anfang 1942

Seit August beschleunigte die Zusammenarbeit zwischen Rosenbergs und Himmlers Sachwaltern im zivil verwalteten Gebiet die Ermordung jüdischer Männer, Frauen und Kinder in den Städten, die »Säuberung des flachen Landes von Juden« und die Konzentration der Überlebenden in Ghettos erheblich. Frühere Bedenken, auf diese Weise ließe sich die »Judenfrage« nicht endgültig lösen,[238] traten mit der wachsenden Effizienz der Erschießungskommandos und der Erprobung alternativer Tötungsarten zurück; gleichzeitig war dem Interesse der deutschen Kriegswirtschaft an Arbeitskräften Rechnung zu tragen, ohne dass dies dem Ziel nachhaltiger »Entjudung« widersprechen musste.[239] Der Umgang der Wehrmacht mit kriegsgefangenen Soldaten der Roten Armee führte drastisch vor Augen, welches Schicksal die Besatzungsmacht »unnützen Essern« zudachte: Ab September stieg hinter der Front die Zahl der hauptsächlich durch absichtsvolle Unterversorgung Ermordeten drastisch an. Allein in den letzten drei Monaten des Jahres 1941 starben jeweils zwischen 300000 und 500000 sowjetische Kriegsgefangene.[240]

Im Reich und in einigen Besatzungsgebieten forderten regionale Machthaber angesichts der Ostexpansion, mit der Deportation von Juden nicht bis nach Kriegsende zu warten. In der deutschen Botschaft in Paris wurde Ende August die Erwartung laut, die »fortschreitende Eroberung und Besetzung der weiten Ostgebiete« sei geeignet, »das Judenproblem in ganz Europa in kürzester Zeit zu einer endgültigen, befriedigenden Lösung« zu bringen;[241] in der zweiten Septemberwoche hatte das Auswärtige Amt im RSHA nachgefragt, ob die verbliebenen serbischen Juden nicht nach Polen oder Russland abgeschoben werden könnten.[242] Heydrich und sein RSHA arbeiteten eifrig an dem von Göring in Auftrag gegebenen »Endlösungs«-Plan, doch fehlte es ihnen seit dem Stopp für Deportationen ins Generalgouvernement und mit den schwindenden Aussichten für eine Massenverschiffung nach Madagaskar an geeigneten Zielorten, zumal die Verschickung nach Sibirien oder allgemein »hinter den Ural« auf absehbare Zeit nicht in Frage kam.[243]

Rosenberg versuchte in diesen entscheidenden Wochen den Blick der Regimespitze von Partikularinteressen auf das große Ganze und von räumlich amorphen, für die Nachkriegszeit vorgesehenen »Reservat«-Ideen auf eine bestimmte, deutsch beherrschte Region zu lenken, nämlich die von ihm verwaltete. Während seine Autonomiepläne für die Ukraine beim Diktator zunehmend auf Widerstand stießen und vor Ort von Reichskommissar Koch völlig ignoriert wurden,[244] nutzte er Anfang September Nachrichten über Stalins Plan zur Deportation der Wolgadeutschen für eine am 11. September zur Vorlage bei Hitler ausgearbeitete Initiative. Er schlug vor, den Alliierten zu drohen, »dass wenn dieser Massenmord durchgeführt werden sollte, Deutschland die Juden Zentraleuropas dafür büßen lassen würde«.[245] Wie gewohnt schwieg sich Rosenberg in seinem Tagebuch über konkrete Maßnahmen aus, doch notierte Bräutigam, der Reichsleiter habe »die Verschickung aller Juden Zentraleuropas in die östlichen, unter unserer Verwaltung stehenden Gebiete in Aussicht genommen« und ihn telefonisch beauftragt, »die Zustimmung des Führers zu diesem Projekt herbeizuführen«.[246] Unabhängig davon, ob Rosenbergs Initiative als präventiver Propagandaschachzug oder Vorwand für Massendeportationen gedacht war:[247] Hitler zeigte Interesse, wollte aber das Auswärtige Amt einbezogen sehen, wo man zur gleichen Zeit den Vorschlag des Pariser Botschafters zur Deportation der französischen Juden in die »weiten Ostgebiete« erwog.[248]

Am Nachmittag des 17. September 1941 scheint Hitler Außenminister Ribbentrop gegenüber seine Zustimmung gegeben zu haben, die Juden aus dem Reich und dem Protektorat »möglichst bald« zu deportieren.[249] Weder Rosenberg noch Himmler waren bei dieser Besprechung anwesend, doch erfuhr Letzterer offenbar noch am gleichen Tag davon, als er am Abend mit Ribbentrop zusammentraf. Himmlers Schreiben an Arthur Greiser, Gauleiter im »Reichsgau Wartheland«, vom 18. September 1941 weist darauf hin, dass sich Hitler über Umfang, Geschwindigkeit und Zielort der Deportationen nicht geäußert hatte; der Reichsführer nutzte dies, um die »Judenabwanderung« nach seinen Vorstellungen zu gestalten: 60000 Juden sollten zunächst ins Ghetto Litzmannstadt verschleppt werden, »um sie im nächsten Frühjahr noch weiter nach dem Osten abzuschieben«.[250] Rosenbergs spärliche Tagebuchnotizen aus diesen Wochen enthalten nichts zu diesen Ereignissen, die den Wettlauf von Hitlers Satrapen, ihre Regionen möglichst schnell »judenfrei« zu machen, noch beschleunigten. Dass dieses Ziel nur in Etappen zu erreichen war, ergab sich schon aus dem Mangel an Orten, die ohne Beeinträchtigung der militärischen Verkehrsverbindungen Deportationstransporte mit Tausenden von Juden aufnehmen konnten.

Am 4. Oktober 1941 traf sich Heydrich, dem Ende September zusätzlich zu seinen anderen Funktionen das Amt des stellvertretenden Reichsprotektors für Böhmen und Mähren übertragen worden war, mit Rosenbergs Vertreter Alfred Meyer und anderen Beamten des Ostministeriums, um die leidigen Zuständigkeitsfragen zu besprechen. Dabei kam, laut Aktenvermerk Heydrichs, als letzter Tagesordnungspunkt auch der »Plan einer totalen Aussiedlung der Juden aus den von uns besetzten Gebieten« zur Sprache, allerdings reduziert auf die Frage, ob die Zivilverwaltung angesichts der Verhältnisse im Osten »noch eigene Referenten und Sachbearbeiter für Judenfragen« haben müsste. Da die Vertreter des Ostministeriums hart blieben und »die Durchführung der Behandlung der Juden in jeder Beziehung sowieso in den Händen der Sicherheitspolizei« lag, verfolgte Heydrich diese Frage nicht weiter.[251] Wiederum sorgte nicht die Art der »Lösung der Judenfrage«, sondern Kompetenzrivalität für Streit zwischen Zivilverwaltung und Polizei; entsprechend konnte Heydrich – wie schon im August Stahlecker im RKO – Rosenbergs Verwalter gewähren lassen, solange sie seiner »Durchführung der Behandlung der Juden« nicht im Weg standen.

In diesen Oktobertagen kursierten bei den beteiligten Stellen verwirrende Meldungen über »den Osten« als Bestimmungsort und die Methoden neuer Judendeportationen. Am 7. Oktober meldete Koeppen aus dem Führerhauptquartier, Hitler sei entschlossen, sobald es der Transportbedarf der Wehrmacht zulasse, alle Juden aus dem Protektorat, aus Berlin und Wien zu »entfernen«, und zwar »nicht erst ins Generalgouvernement, sondern gleich weiter nach Osten«.[252] Himmler hatte demgegenüber am 18. September die Verschleppung der Juden des Reichs und des Protektorats nach ŁódŹ im Warthegau (und nicht ins Generalgouvernement) angekündigt, um sie erst im Frühjahr 1942 »weiter nach dem Osten« zu deportieren. Am 10. Oktober besprach Heydrich in Prag mit SS-Offizieren, darunter Adolf Eichmann, die »Lösung von Judenfragen«, insbesondere Deportationen aus dem Protektorat. Mit »Rücksicht auf die Litzmannstädter Behörden« sollten einstweilen »die lästigsten Juden herausgesucht« und nach Minsk und Riga verschleppt werden. Die Besprechungsnotizen behandelten vor allem die Ghettoisierung in Theresienstadt, erwähnten die besetzten Ostgebiete aber noch an anderer Stelle: Zum einen habe Eichmann veranlasst, dass die Führer der Einsatzgruppen B und C, Nebe und Rasch, deportierte Juden »in die Lager für kommunistische Häftlinge im Operationsgebiet […] hineinnehmen« würden, zum anderen könnten »die zu evakuierenden Zigeuner […] nach Riga zu Stahlecker gebracht werden, dessen Lager nach dem Muster von Sachsenhausen eingerichtet« sei. Die Zeit drängte; am 15. Oktober sollten die ersten Transporte abgehen. Hitler wünsche, »dass noch Ende d.J. möglichst die Juden aus dem deutschen Raum herausgebracht sind«; folglich seien alle »schwebenden Fragen« umgehend zu lösen.[253]

Was Heydrichs Offiziere im Bestreben um Erfüllung des Führer-Wunschs als konkrete Zieloption ausgaben, gehörte in Wirklichkeit zu den »schwebenden Fragen«. Geeignete Lager für kommunistische Häftlinge im Operationsgebiet der Einsatzgruppen B und C existierten nicht; ebenso wenig konnte von einem Sachsenhausen gleichenden Lager in Riga die Rede sein. Dort waren zu diesem Zeitpunkt Sipo und SD über KZ-Planungen nicht hinausgekommen.[254] Die Prager Besprechung zeigt, dass Rosenbergs Reich in diesen Tagen ins Zentrum der »Endlösungs«-Planung rückte. Himmlers Apparat musste sich mit dem Ostministerium über die konkreten Schritte verständigen, ebenso die im Rahmen der im August 1941 von Hitler gestoppten »Aktion T4« mit den »Euthanasie«-Morden befassten Stellen.[255] Als Rosenberg am 13. Oktober 1941 in Berlin von Generalgouverneur Hans Frank auf »die Möglichkeit der Abschiebung der jüdischen Bevölkerung des Generalgouvernements in die besetzten Ostgebiete« angesprochen wurde, verwies der Ostminister laut Frank auf »ähnliche Wünsche« anderer Behörden und sah kurzfristig keine Möglichkeit. »Für die Zukunft« sei er jedoch »bereit, die Judenemigration nach dem Osten zu fördern, zumal die Absicht bestehe, überhaupt die asozialen Elemente innerhalb des Reichsgebietes in die dünn besiedelten Ostgebiete zu verschicken«.[256]

Im Hinblick auf die angestrebte »Entjudung« konzentrierten sich die Zielvorstellungen der NS-Spitze nun eindeutig auf die Ostgebiete. Auch Rosenberg nutzte stärker als zuvor die bei ihm einlaufenden Meldungen über von SS und Polizei durchgeführte Gewaltorgien gegen Juden im Kompetenzstreit mit Himmler. Dabei verhielt er sich jedoch trotz der eskalierenden Brutalität weiterhin primär taktisch und meldete keinen grundsätzlichen Protest an. Mitte Oktober berichtete der Gebietskommissar im lettischen Libau über das »Moment der Unruhe« und das »allgemeine Entsetzen«, das die Erschießung jüdischer Frauen und Kinder in seiner Region erzeugt hatte; aus Weißruthenien vermerkte Anfang November Generalkommissar Kube Gewaltexzesse des Polizeibataillons 11, die er als »bodenlose Schweinerei« bezeichnete und an Göring und Hitler weitergemeldet sehen wollte.[257] Dazu kam es offenbar nicht; stattdessen beließ es Rosenberg bei Andeutungen gegenüber Himmlers Amtschef Gottlob Berger – »[m]anche SS-Führer sollen sehr gewaltsame Aktionen durchgeführt haben, ohne daß RFSS über alles im Bilde gewesen« sei – und bei vager Kritik gegenüber Lammers an mündlichen, Rosenberg unbekannten Anweisungen, die Himmler auf seinen häufigen Ostreisen örtlichen SS- und Polizeioffizieren gebe.[258]

Die Proteste der Zivilverwalter im Besatzungsgebiet gegenüber ihren Polizeiführern dürften dazu beigetragen haben, dass Himmler in dieser Zeit parallel zu den Deportationsplanungen ins RKO alternative Formen einer »Endlösung« in anderen Teilen des »deutschen Ostens« intensiver sondierte, zumal kein Ende des Dauerstreits mit Rosenberg in Sicht war. Zu diesen Alternativen zählten: Deportationen in die unter Militärverwaltung stehende weißrussische Stadt Mogilew, wo die Einsatzgruppe B bereits Mitte September 1941 »Probevergasungen« durchgeführt hatte und seit Mitte November unter HSSPF Erich von dem Bach-Zelewski ein Krematorium mit einer täglichen Einäscherungskapazität von 3000 Leichen geplant war;[259] der Ausbau des Konzentrationslagers Auschwitz im annektierten Ostoberschlesien einschließlich einer vergrößerten Krematoriumsanlage;[260] die Einrichtung des Vernichtungslagers Chełmno im Warthegau, wo die während der »Aktion T4« und regionalen Mordaktionen gewonnene Expertise zur Anwendung kam; schließlich der Neubau von Massenmordeinrichtungen im Bezirk Lublin des Generalgouvernements, wo Himmlers treuer Gefolgsmann Odilo Globocnik Anfang November mit der Errichtung des Vernichtungslagers Belzec begann.[261] Im November kritisierte Himmler gegenüber Heydrich ungehalten »diese ganze Petzbriefschreiberei« durch Vertreter Rosenbergs; er habe »deutlich ausgesprochen, dass selbstverständlich dort oben kein Friede sein könne, wenn jeder unten weiß, dass er oben angesehen ist, wenn er viele Beschwerden über die SS und Polizei bringt«.[262] In der Sache jedoch – dass nämlich die Juden im Zusammenhang mit »Umvolkung« und »Befriedung« der Ostgebiete zu verschwinden hätten – waren Himmler und Rosenberg sich nach wie vor einig. Ähnliches galt für die sicherheitspolizeiliche »Überholung« der sowjetischen Kriegsgefangenen, um die »unverbesserlichen bolschewistischen, hetzerischen und kriminellen Elemente« auszusondern; nach Ansicht von Rosenbergs Abteilungsleiter Bräutigam verstand sich die »Liquidierung der Kommissare und Juden« von selbst.[263]

Anfang Oktober 1941 brechen Rosenbergs Tagebuchnotizen ab; Mitte Dezember fasste er dann religionspolitische Überlegungen Hitlers zusammen, und Ende des Monats folgte ein »kl. Querschnitt durch die Arbeit der letzten Monate« in Gestalt zumeist kalendarischer, sehr selektiver Einträge zu einigen teilweise entlegenen Themen. Weder die »Judenfrage« noch andere aus den Kernzielen deutscher Besatzungspolitik erwachsende Zwangsmaßnahmen werden erwähnt; ein paar Worte widmete Rosenberg immerhin dem Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen.[264] Es ist unwahrscheinlich, dass Rosenberg zwischen Ende 1941 und Anfang Oktober 1942 – der Fortsetzung seiner Notizen – keine Zeit fand, Tagebuch zu führen; auch der unvermittelte Beginn des Eintrags vom 7. Oktober 1942 deutet auf in der Zwischenzeit Geschriebenes hin, das entweder nicht mehr vorhanden ist oder noch der Entdeckung harrt. Die erhalten gebliebenen Dienstakten des Ostministeriums und Quellen anderer Provenienz helfen nur bedingt, diese Lücke in einem Schlüsselabschnitt in der Geschichte des Holocaust zu schließen; die folgenden Bemerkungen fassen die wichtigsten Entwicklungen bis Anfang 1942 zusammen, sofern diese mit Rosenbergs Rolle bei der »Endlösung« in Verbindung stehen.[265]

Zwischen Mitte Oktober und Anfang November 1941 deportierten deutsche Polizisten annähernd 20000 Juden und 5000 »Zigeuner« aus dem Reich und dem Protektorat nach Litzmannstadt, wobei sowohl örtliche deutsche Verwalter als auch Himmler und Heydrich um die begrenzte Aufnahmefähigkeit des dortigen Ghettos wussten, an der auch die bereits laufenden Vorarbeiten zum Beginn von Massenvergasungen in Chełmno kurzfristig nichts änderten.[266] In Vorbereitung der vom RSHA geplanten Transporte ins RKO traf sich Eichmann Ende Oktober mit Rosenbergs »Rassereferent« Erhard Wetzel. Einem Brief zufolge, den Wetzel am 25. Oktober für Rosenberg entwarf, sollte Reichskommissar Lohse informiert werden, dass Viktor Brack, einer der Mitorganisatoren der »Aktion T4«, bei der »Herstellung der erforderlichen Unterkünfte sowie der Vergasungsapparate« – wahrscheinlich in Gestalt von »Gaswagen« – seine Mithilfe angeboten hatte. Eichmann habe »diesem Verfahren« zugestimmt und die Errichtung von Lagern in Riga und Minsk angekündigt, »in die evtl. auch Juden aus dem Altreichgebiet kommen«; Deportationen von Juden aus dem Reich, »die nach Litzmannstadt, aber auch nach anderen Lagern kommen sollen«, seien bereits unterwegs, »um dann später im Osten, soweit arbeitsfähig, in Arbeitseinsatz zu kommen. Nach Sachlage«, so Wetzel weiter, »bestehen keine Bedenken, wenn diejenigen Juden, die nicht arbeitsfähig sind, mit den Brackschen Hilfsmitteln beseitigt werden.« Die restlichen Juden sollten einstweilen, nach Geschlechtern getrennt, in Lagern untergebacht und im Frühjahr weiter »nach Osten« abgeschoben werden.[267]

Wetzels Briefentwurf scheint sich durch einen Besuch Lohses in Berlin erledigt zu haben.[268] Der staatsanwaltlichen Untersuchung zum Ostministerium aus den 1960er Jahren zufolge soll Rosenberg Wetzel geraten haben, die Finger »davon« zu lassen, womit die Frage nach den Mordmethoden gemeint war.[269] Wetzel bezog sich in seinem Entwurf auf einen vorangegangenen, nach 1945 nicht mehr vorhandenen Schriftwechsel, was die Dringlichkeit der Frage und die Verwirrung bei den Verwaltern im RKO andeutet.[270] Die Trennung der Juden in »arbeitsfähig« und »nicht arbeitsfähig« reflektierte die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Zivilverwaltung und Polizei ebenso wie die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Ostgebieten; entsprechend der bereits eingespielten Aufgabenteilung blieb die Bereitschaft Rosenbergs, Himmler die exekutiven Aspekte der »Judenfrage« zu überlassen, unausgesprochen. Am 31. Oktober 1941 fragte Leibbrandt aufgrund einer Beschwerde des RSHA bei Lohse an, aus welchem Grund er die Ermordung von Juden im lettischen Libau untersagt habe. Eine Woche später nahm der Leiter der Politischen Abteilung des RKO, Karl Friedrich Trampedach, Beschwerden der Wehrmacht zum Anlass, den Gebietskommissar Wilna-Stadt anzuweisen, weitere Exekutionen von jüdischen Facharbeitern zu unterbinden und »grundsätzliche Anweisungen« anzufordern; am 9. November protestierte er schriftlich beim Ostministerium und bei Lohse, der sich gerade in Berlin aufhielt, gegen die angekündigten Transporte nach Riga und Minsk. Wenige Tage später beruhigte Leibbrandt Trampedach mit der Versicherung, die Deportierten würden weiter nach Osten verbracht; bei Fragen solle er sich an den HSSPF Ostland wenden.[271] Lohse antwortete auf Leibbrandts Anfrage vom 31. Oktober zwei Wochen später, er habe die »wilden Judenexekutionen in Libau untersagt, weil sie in der Art ihrer Durchführung nicht zu verantworten waren«. Der weitere Wortlaut von Lohses Schreiben spiegelt den Kenntnisstand von Rosenbergs Vertretern am Vorabend der Ankunft deportierter Juden aus dem Reich: »Ich bitte, mich zu unterrichten,« schrieb Lohse, »ob Ihre Anfrage v. 31.10. als dahingehende Weisung aufzufassen ist, dass alle Juden im Ostland liquidiert werden sollen? Soll dieses ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht und wirtschaftliche Interessen (z.B. der Wehrmacht an Facharbeitern in Rüstungsbetrieben) geschehen? Selbstverständlich ist die Reinigung des Ostlandes von Juden eine vordringliche Aufgabe; ihre Lösung muss aber mit den Notwendigkeiten der Kriegswirtschaft in Einklang gebracht werden. Weder aus den Anordnungen zur Judenfrage in der ›braunen Mappe‹ noch aus anderen Erlassen konnte ich bisher eine solche Weisung entnehmen.«[272]

Zum Zeitpunkt von Lohses Anfrage war bereits der erste Transport mit deutschen Juden in Minsk angekommen; sechs weitere folgten bis zum 5. Dezember. Fast zeitgleich gingen fünf Deportationszüge nach Kaunas und von Ende November bis Mitte Dezember 1941 zehn Transporte nach Riga. Ihnen folgten von Anfang Januar bis Anfang Februar 1942 zehn weitere.[273] Insgesamt wurden in dieser Zeit etwa 32000 Juden ins RKO verschleppt, zusammen mit den 20000 zuvor nach Litzmannstadt deportierten Juden und 5000 »Zigeunern« deutlich weniger als die 60000 Juden, die Himmler gegenüber Greiser am 18. September genannt hatte. An den Zielorten im RKO herrschte Verwirrung, was mit den unerwünschten Deportierten geschehen sollte – nicht nur bei Rosenbergs Vertretern, sondern auch auf Seiten von Sipo und SD. Anfang November, vor der Ankunft der Deportierten in Minsk, erschossen deutsche Polizisten und ihre Helfer rund 12000 Juden des Minsker Ghettos.[274] Da das geplante Lager bei Riga noch im Aufbau war, wurden die ersten fünf Transporte mit rund 5000 Juden aus dem Reich nach Kaunas umgeleitet. Zwischen dem 29. November und dem 1. Dezember ermordeten deutsche Polizisten in Riga 1000 kurz zuvor aus Berlin eingetroffene Deportierte zusammen mit rund 14000 Juden aus dem Rigaer Ghetto; am 8./9. Dezember fielen mindestens 13000 Ghettoinsassen einer neuen Mordaktion zum Opfer, bevor alle weiteren Transporte aus dem Reich im Ghetto der lettischen Hauptstadt endeten.[275] Vor Ort erschien »Platz schaffen« für die Deportierten als bruchlose Fortsetzung vorangegangener Mordwellen, doch war die eine Form extremer Gewalt keine notwendige Voraussetzung für die andere: In Kaunas ermordeten Sipo und SD Ende Oktober annähernd 10000 »nicht arbeitsfähige« Juden, ohne die im November von Riga umgeleiteten rund 5000 Deportierten ins Ghetto zu verschleppen; stattdessen ermordete man sie unmittelbar nach ihrer Ankunft an einer der Erschießungsstätten am Rande der Stadt.[276]

In Berlin war man aufgrund der vorangegangenen Massenerschießungen und anderen radikalen Maßnahmen offenbar überzeugt, dass die Verantwortlichen vor Ort auch beim Fehlen konkreter Anweisungen wussten, was von ihnen erwartet wurde. Nach dem Krieg behauptete der neue, gegen Prützmann ausgetauschte HSSPF im RKO Friedrich Jeckeln, er habe am 10. oder 11. November von Himmler in Berlin den Befehl erhalten, dass »alle sich im Ostland befindenden Juden bis zum letzten Mann vernichtet werden müssen«.[277] Sollte der Reichsführer sich Anfang November gegenüber seinem Stellvertreter vor Ort tatsächlich derart deutlich geäußert haben, so machte er offenbar keine Unterscheidung zwischen einheimischen und deportierten Juden. Als Jeckeln die ersten aus Berlin nach Riga deportierten Juden Ende November erschießen ließ, handelte er sich einen Rüffel Himmlers ein, der am 30. November – zu spät – »keine Liquidierung« angeordnet hatte.[278] Im Ostministerium antwortete Bräutigam auf Lohses Anfrage vom 15. November erst am 18. Dezember 1941 mit drei scheinbar lapidaren, jedoch in ihrer Bedeutung fatalen Sätzen: »In der Judenfrage dürfte inzwischen durch mündliche Besprechungen Klarheit geschaffen sein. Wirtschaftliche Belange sollen bei der Regelung des Problems grundsätzlich unberücksichtigt bleiben. Im übrigen wird gebeten, auftauchende Fragen unmittelbar mit dem höheren [sic] SS- und Polizeiführer zu regeln.«[279] Von Deportationen »weiter nach Osten« war nun keine Rede mehr.

Was war zwischen November und Mitte Dezember geschehen, dass nach all der Konfusion in der »Judenfrage« nach Ansicht des Ostministeriums plötzlich Klarheit herrschen sollte? Als Bräutigam wenige Tage vor Weihnachten 1941 im Auftrag Rosenbergs seine kurze Notiz nach Riga schickte, hatten sich die Handlungsalternativen nach Ansicht der Verantwortlichen derart reduziert, dass faktisch nur noch Genozid durch gezielte Ermordung und »Vernichtung durch Arbeit« übrig blieb. Rosenberg war an diesem Entscheidungsprozess beteiligt. Am 14. November hatte er eine längere Besprechung mit Hitler, über die wir nichts aus dem Tagebuch, dafür aus einem Aktenvermerk des Ostministers erfahren. Wie immer blieb Rosenberg vage, ob nur in seinen schriftlichen Aufzeichungen oder auch in seinen mündlichen Ausführungen gegenüber Hitler, lässt sich nicht sagen. Es ist unvorstellbar, dass er in einer seiner seltenen Audienzen beim Diktator neben all den besprochenen Trivialitäten wie den »bisher durchgeführten Arbeiten zum Aufbau des Ministeriums« die »Judenpolitik« im Osten nicht wenigstens in ihrem breiteren Kontext zur Sprache gebracht haben soll.[280] Rosenbergs Erwähnung der Tagung des »zentralen Planungsstabs Ost« gegenüber Hitler deutet darauf hin: In Fortsetzung seiner weitreichenden politischen Pläne vom Frühjahr 1941 hatte Rosenberg zum 30. Oktober Vertreter anderer Dienststellen, darunter Reichsminister Fritz Todt, zur konstituierenden Sitzung dieses Gremiums geladen. Dies geschah auch als Reaktion auf Koeppens Warnung von Mitte Oktober, angesichts »der außerordentlich scharfen und bestimmten Ausführungen des Führers über deutsche Siedlung und Germanisierung der besetzten Ostgebiete« könne das Ostministerium gegenüber dem RKFdV »zu einer Nebensächlichkeit herabsinken«, mit der Restfunktion, »die in Reservaten zusammengepferchten Slawen möglichst bald zum Auswandern oder Absterben zu bringen«.[281] Als »Einleitung einer Arbeit für 100 Jahre« in Gestalt der »Schaffung eines Siedlungsraumes für 1520 Millionen Deutsche« sollten, so hieß es in der Niederschrift der Planungsstab-Sitzung, zunächst Verkehrserschließung – hier vor allem ambitionierte Straßenbauvorhaben –, Wirtschafts- und Siedlungsplanung im Vordergrund stehen; für das RKO stelle sich schon jetzt die Frage, wie das mit Vorrücken der Front anzuschließende »Gebiet zwischen Peipus- und Ilmensee« zu behandeln sei, ob »als ein Ansiedlungsraum für unbequeme Elemente« oder als deutsches Siedlungsgebiet.[282]

Genau diese Frage, die auf der Planungsstab-Sitzung unbeantwortet geblieben war, legte Rosenberg am 14. November Hitler vor. Für das Gebiet zwischen Peipus- und Ilmen-See hätte man »die Wahl, dieses Gebiet mit auszuweisenden Elementen zu bevölkern oder es als deutsche Militärkolonie auszubauen«, um »hier die neue Grenze gegen das Slawentum aufzurichten«.[283] Hitler entschied sich für den Ausbau von Militärkolonien und damit gegen die Option, Deportationstransporte aus dem Westen »weiter nach Osten« zu schicken. Als Rosenberg einen Tag später mit Himmler zusammentraf, ging es neben dem Dauerthema Kompetenzabgrenzung auch um »die Behandlung des Judenproblems«. Himmlers Argument, »die Judenfrage sei im Osten im wesentlichen eine polizeiliche Angelegenheit und müsse daher von der Polizei bearbeitet werden«, verschloss sich Rosenberg nicht völlig, er insistierte aber auf seiner Federführung bei der »Gesamtpolitik« und der »Völkerführung«.[284] Man einigte sich am 19. November schließlich insoweit, als die HSSPF und SSPF den Reichs- bzw. Generalkommissaren »persönlich und unmittelbar unterstellt« sein sollten.[285] Damit wurden zwar die Konflikte zwischen Himmler und Rosenberg nicht beendet, doch auf regionaler Basis eine Funktionseinheit zwischen Polizei und Zivilverwaltung hergestellt, die eine tragfähige Basis für die weitere Zusammenarbeit beider Apparate im Rahmen der »Judenpolitik« bildeten.

Schon Rosenbergs frühe Schriften belegen, dass die NS-Führung zwischen Ostjuden und Juden in anderen Teilen Europas nicht klar unterschied; mit der deutschen Expansion in den amorphen »Ostraum« verschwand diese Differenzierung vollends; was blieb, war die Frage der Machbarkeit, und hier gab es in Regionen, die unter direkter deutscher Kontrolle standen, eindeutig bessere Möglichkeiten zu radikalem Vorgehen. Als Himmler am 17. November mit Heydrich, seinem Verbindungsmann zum Ostministerium, telefonierte, stand neben der Besprechung mit Rosenberg und den Verhältnissen im Generalgouvernement auch die »Beseitigung d. Juden« auf der Agenda.[286] Analog zur bürokratischen Praxis aufgrund der »11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz« vom 25. November, nach der Juden beim Überschreiten der Reichsgrenze ihre deutsche Staatsangehörigkeit und die Rechte an ihrem Eigentum verloren, galt in den besetzten Ostgebieten nur die Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden; stand die Zugehörigkeit zum Judentum fest, entschied die Antwort auf die Frage der Arbeitsfähigkeit über Leben oder Tod. Rosenberg war einer der konsequentesten Verfechter einer ganzheitlichen »Judenpolitik«, die nur in Anwendung auf alle Vertreter der »Gegen-Rasse« und auf gesamteuropäischer Ebene ihre Erfüllung finden konnte. In einer Rede am 18. November in Berlin, nach der offiziellen Bekanntgabe der Existenz seines Ostministeriums, formulierte Rosenberg seine Zielvorstellung sehr deutlich:

»Zugleich ist dieser Osten berufen, eine Frage zu lösen, die den Völkern Europas gestellt ist: das ist die Judenfrage. Im Osten leben noch etwa sechs Millionen Juden, und diese Frage kann nur gelöst werden in einer biologischen Ausmerzung des gesamten Judentums in Europa. Die Judenfrage ist für Deutschland erst gelöst, wenn der letzte Jude das deutsche Territorium verlassen hat, und für Europa, wenn kein Jude mehr bis zum Ural auf dem europäischen Kontinent steht.«[287]

Doch Rosenbergs Vision, sein Einflussgebiet im Osten zum Schauplatz »einer biologischen Ausmerzung des gesamten Judentums in Europa« zu machen, war selbst für Deutschland nicht ohne weiteres zu realisieren. »Die Frage«, schrieb Goebbels über sein Gespräch mit Heydrich am 17. November, »lässt sich doch schwieriger an, als wir zuerst vermutet hatten«, da die Juden aus dem Reich angesichts des Bedarfs der Kriegswirtschaft kurzfristig nicht in gewünschtem Umfang deportiert werden konnten.[288] Mit dem Stocken der deutschen Offensive gewannen militärische Prioritäten an Bedeutung. Am 20. November protestierte der Wehrmachtsbefehlshaber im RKO, Generalleutnant Walter Braemer, gegen die Verschärfung der besonders im weißrussischen Minsk ohnehin prekären Sicherheits- und Transportlage durch Deportationen von Juden aus dem Reich.[289] Schon die Anwesenheit der bis Jahresende nach Minsk verschleppten 6000 bis 7000 deutschen Juden im Ghetto, unter ihnen mit dem Eisernen Kreuz dekorierte Weltkriegsveteranen, stieß bei den Vertretern der Zivilverwaltung auf Unverständnis. Generalkommissar Kube erklärte sich »gewiss hart und bereit, die Judenfrage mit lösen zu helfen, aber Menschen, die aus unserem Kulturkreis kommen, sind doch etwas anderes als die bodenständigen vertierten Horden«.[290] Derartige Bedenken machte sich Rosenberg jedoch nicht zu eigen; sie blieben auch in seinem Halbjahresrückblick unerwähnt. Als der Stadtkommissar von Minsk, Wilhelm Janetzke, Anfang Januar 1942 gegen die geplante Deportation von 50000 Berliner Juden direkt bei Rosenberg protestierte, rügte ihn Lohse wegen Missachtung des Dienstwegs.[291] Wie das Schreiben Bräutigams an Lohse vom 18. Dezember 1941 verdeutlicht, war man im Ostministerium entschlossen, es bei mündlichen Direktiven zu belassen und »auftauchende Fragen« an SS und Polizei zu verweisen. Transportsorgen der Wehrmacht wurden ernst genommen; zudem erschwerte der harte Winter das Ausheben von Massengräbern, so dass viele »Aktionen« auf das Frühjahr verschoben werden mussten. Tatsächlich endeten mit einem am 28. November 1941 aus Köln abgehenden Zug die Deportationen nach Minsk, um erst im Mai 1942 wiederaufgenommen zu werden, als Sipo und SD die ankommenden Juden aus dem Reich ohne Umweg über das Ghetto direkt zu den Erschießungsgruben brachten. Allein im Vernichtungslager Maly Trostinez bei Minsk sollen bis zum deutschen Rückzug im Sommer 1944 mindestens 40000 Menschen ermordet worden sein.[292]

Als Heydrich Ende November 1941 Einladungsschreiben für die später als Wannsee-Konferenz in die Geschichte eingegangene Staatssekretärbesprechung versandte, dürfte er in Rosenbergs Reich gute Möglichkeiten für eine umfassende »Endlösung der Judenfrage« gesehen haben. Von der »Aussprache« erhoffte sich Heydrich, so formulierte er es in seiner Einladung, die »Erreichung einer gleichen Auffassung«; sie schien ihm schon deshalb besonders dringend, weil seit Mitte Oktober Juden aus dem Reich und Protektorat »nach dem Osten evakuiert« wurden. Als einzige andere Dienststelle war das Ostministerium mit zwei Beamten repräsentiert, nämlich Rosenbergs Vertreter Meyer und Hauptabteilungsleiter Leibbrandt. Auf der Sitzung am 20. Januar 1942 kam dann noch mit SS-Sturmbannführer Rudolf Lange der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Lettland hinzu, der aufgrund seiner formellen Unterstellung unter den Generalkommissar eine Mittlerfunktion zwischen Polizei und Zivilverwaltung einnahm und zudem über Erfahrung bei der Durchführung von Massenmorden verfügte.[293] Ursprünglich für den 9. Dezember 1941 geplant, wurde die Besprechung auf den Januar verschoben; in der Zwischenzeit veränderten sich die Rahmenbedingungen entscheidend. Mit der Verhärtung des sowjetischen Widerstands und dem Kriegseintritt der USA stellte sich der NS-Führung die Frage, wie man vorhandene Ressourcen am effizientesten nutzen konnte, mit größerer Dringlichkeit.

Alfred Rosenberg hielt sich mit Vorschlägen nicht zurück, vor allem wenn sie seinen lange gehegten Überzeugungen entsprachen. So insistierte er auf der aktiven Zersetzung der UDSSR durch bevorzugte Behandlung bestimmter ethnischer Gruppen. Auch in der »Judenfrage« blieb seine Haltung im Wesentlichen unverändert: Seiner Meinung nach musste eine Antwort gefunden werden, nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa.[294] Die anzuwendenden Methoden waren zweitrangig und nicht seine Sache. Als er sich am 14. Dezember 1941 mit Hitler traf, fragte er nach, in welcher Form er in einer geplanten Rede in Berlin auf das Problem eingehen solle, da »die Anmerkungen über die New Yorker Juden vielleicht jetzt nach der Entscheidung« – gemeint war wohl die kurz zuvor erfolgte deutsche Kriegserklärung an die USA – »etwas geändert werden müssten«.[295] Sein Vorschlag, »von der Ausrottung des Judentums nicht zu sprechen«, war weniger deutlich als seine mit der Bitte um Vertraulichkeit dünn ummäntelte Rede am 18. November 1941, in der er von der »biologischen Ausmerzung des gesamten Judentums in Europa« gesprochen hatte. Rosenbergs Bemerkungen und Hitlers Antwort – wonach die Juden »uns den Krieg aufgebürdet« und »die Zerstörung gebracht« hätten, »es sei kein Wunder, wenn die Folgen sie zuerst träfen« – betonten ganz im Duktus des NS-Diskurses die gleichsam naturgesetzliche Selbstverständlichkeit genozidaler Gewalt. Hitler wollte einstweilen »die anderen Völker« von der »Mitarbeit« ausgeklammert sehen, »da sie darin für später einen Rechtsanspruch erblicken könnten«. Rosenberg verlor in seinem Tagebucheintrag vom 14. Dezember kein Wort über das Thema. Stattdessen sprach er sich im Zusammenhang mit Hitlers Ausführungen zum »Problem des Christentums« gegen die katholische Präferenz für die von ihm so genannte »Idiotenerhaltung« aus[296] – ein deutlicher Verweis auf die kirchliche Kritik am »Euthanasie«-Mordprogramm.

Die »Klarheit« in der »Judenfrage«, die Bräutigam gegenüber Lohse behauptete, bestand vor allem darin, dass radikale Vorgehensweisen auf keine prinzipiellen Einwände stießen. Rosenberg sprach Anfang 1942 von »der selbstverständlichen Politik gegenüber dem Judentum«.[297] Jenseits der Einbindung anderer Regierungen, die sich Hitler »von Fall zu Fall in Einzelverhandlungen« vorbehielt,[298] bedurfte es nach dem Beginn des Massenmords an deportierten deutschen Juden angesichts des Engagements seiner Vertreter keiner »Grundsatzentscheidung« des Diktators. Strittig blieben ihre Kompentenzen, die mit der im Osten radikalisierten Gewaltpraxis in engem Zusammenhang standen. Während Rosenberg sein Drängen auf eine europaweite »Lösung« nicht aufgab und die Verantwortlichkeit seiner Zivilverwalter für zentrale Fragen der Judenpolitik – Ghettoverwaltung, Zwangsarbeit – in den Reichskommissariaten gegenüber Himmler zäh verteidigte,[299] überließ er diesem – angesichts der massiven praktischen Probleme auch durchaus absichtsvoll – als unbestreitbare Domäne die sicherheitspolizeiliche »Befriedung«. Dass Himmler entschlossen war, diesen Hebel zu nutzen, um weitere Kompetenzen an sich zu ziehen, zeigt sein Terminkalender-Eintrag über ein Gespräch mit Hitler vom 18. Dezember 1941 (»Judenfrage. | Als Partisanen auszurotten«). Darin betonte er die rücksichtslose Abwehr unmittelbarer Gefahr und verzichtete auf jede zielgruppenspezifische oder regionale Differenzierung.[300] Zum Jahreswechsel 1941/42 stand Himmler in der »Judenfrage« ungeachtet der Hunderttausenden von Toten, die seine Einheiten als »Erfolgsbilanz« ihres Osteinsatzes nach Berlin meldeten, unter erheblichem Druck. Hitler erwartete Fortschritte, seine Sachwalter drangen auf »Entjudung« ihrer Einflussgebiete, logistische Schwierigkeiten sorgten sowohl an den Ursprungs- wie Zielorten für stockende Deportationen aus dem Reich, während Rosenberg – Hitlers »Torhüter des Ostens« – als maßgeblicher Interpret der NS-Ideologie und Sprecher seines Herrn die europaweite Dimension der »Endlösung« betonte und gleichzeitig eifersüchtig die »Einheit der Repräsentanz des Deutschen Reiches in den besetzten Ostgebieten« verteidigte.[301]

Als Heydrich am 20. Januar 1942 die Teilnehmer der Wannsee-Konferenz begrüßte, verwies er laut des von Eichmann verfassten (und von Robert Kempner 1947 mitaufgefundenen) Konferenzprotokolls »im Hinblick auf die Endlösung der europäischen Judenfrage« auf »Lösungsmöglichkeiten nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer« in Gestalt der »Evakuierung der Juden nach dem Osten«. Mit der Unterscheidung zwischen einer »kommenden Endlösung«, die elf Millionen Juden in Europa erfassen sollte, und kurzfristig realisierbaren »Ausweichmöglichkeiten« lag der RSHA-Chef ganz auf der Linie, die Rosenberg schon im Halbjahr zuvor in seiner »Braunen Mappe« für das RKO vorgezeichnet hatte. Gleichzeitig (und auf der Konferenz anscheinend unausgesprochen) waren für Heydrich leichter realisierbare, effizientere Alternativen außerhalb von Rosenbergs Einflussgebiet in den annektierten oder besetzten Teilen Polens bereits erkennbar. Vor dem Hintergrund der Ereignisse im RKO und der Auseinandersetzungen in den vorangegangenen Wochen und Monaten lesen sich die Schlüsselsätze des Protokolls wie eine Fortführung früherer Richtlinien für eine »Endlösung« im »Osten«. Gleichzeitig vermieden sie es, die Mordabsicht und -methode, Tatorte und Zeitrahmen zu präzisieren. Es fehlten weder der vertraute Verweis auf die »Erfahrung der Geschichte« noch die biologistische Idee »natürlicher Verminderung«, das Kriterium »Arbeitsfähigkeit« und die Chiffre »Arbeitseinsatz« mittels Straßenbauvorhaben, wie sie im Rahmen der Sitzung von Rosenbergs »Planungsstab Ost« Ende Oktober 1941 diskutiert worden war und in Gestalt der »Durchgangsstraße IV« massenmörderische Wirklichkeit wurde.[302]

Heydrichs Intention, mit der Wannsee-Konferenz die Zustimmung anderer Instanzen für die Durchführung einer europaweiten, im »Osten« zu vollstreckenden »Endlösung« zu erreichen, stieß im Ostministerium auf keinerlei Widerspruch. Auf der Sitzung meldete sich Rosenbergs Vertreter laut Protokoll nur einmal zu Wort, als es um die »verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten« ging: Meyer schlug gemeinsam mit Staatssekretär Bühler aus dem Generalgouvernement vor, »gewisse vorbereitende Arbeiten im Zuge der Endlösung gleich in den betreffenden Gebieten selbst durchzuführen, wobei jedoch eine Beunruhigung der Bevölkerung vermieden werden müsse«.[303] Mehr noch: Bestand Rosenberg gegenüber Himmlers Apparat weiter auf seiner Entscheidungskompetenz in der Frage, ob jemand Jude und wie er zu behandeln sei,[304] so unterstützte er Heydrich nach der Wannsee-Konferenz gegen das Reichsinnenministerium in seinem Bestreben, »Mischlinge ersten Grades« unterschiedslos in die Deportationen miteinzubeziehen. Politische Opportunität spielte bestenfalls eine Nebenrolle. Laut Wetzel legte der Ostminister »persönlich entschiedenen Wert auf die Hereinnahme der Mischlinge ersten Grades in den Judenbegriff des Ostens«. Gleichzeitig entsprach es Rosenbergs schon früher sichtbaren Präferenzen, wenn Bräutigam gegenüber einem Mitarbeiter äußerte, dass er es »im Falle der Judenfrage für nicht unerwünscht halte, die Zuständigkeit der SS und Polizeiführung zu betonen«.[305]

Wie Christian Gerlach bereits Ende der 1990er Jahre feststellte, war der »Plan, die europäischen Juden in die besetzten sowjetischen Gebiete zu transportieren und dort einer langsamen Vernichtung auszusetzen, […] zwischen Juni und Dezember 1941 Wandlungen unterworfen und wurde schließlich weitgehend aufgegeben«.[306] Die nun verfügbaren Teile des Rosenberg-Tagebuchs bestätigen dies; gleichzeitig stellen sie die Annahme in Frage, das Ostministerium hätte »die ganze zweite Jahreshälfte 1941 lang ein Konzept zur destruktiven Abschiebung der Juden in weit entfernte Gebiete« verfolgt.[307] Stattdessen befürwortete Rosenberg als Teil eines ganz Europa erfassenden ethnischen Großprojekts eine »Endlösung« auf dem von ihm verwalteten Gebiet durch die physische Vernichtung sowohl der einheimischen Juden wie der aus anderen Teilen Europas Deportierten. Dabei nahm er an den Massenmorden durch Himmlers SS- und Polizeikräfte keinen Anstoß, ja favorisierte sie sogar und war bereit, auch »Mischlinge ersten Grades« einzubeziehen. Je stärker jedoch im Laufe des Jahres 1942 andere Teile Osteuropas mit den Massenmorden in Chełmno, Belzec, Sobibor, Treblinka und Auschwitz in den Mittelpunkt des immer weiter ausgreifenden europaweiten Vernichtungsprozesses gerieten, umso mehr rückte Rosenbergs Zivilverwaltungsgebiet an dessen Rand. Die verbliebenen Ghettos und Lager waren für die dort lebenden einheimischen und deportierten Juden gleichwohl Stätten unbeschreiblichen Leids.

Mit Beginn des Frühjahrs 1942 machten die Mordkommandos in der besetzten Sowjetunion dort weiter, wo sie bei Einbruch des Winters aufgehört hatten. Dabei agierten Vertreter der Zivilverwaltung Hand in Hand mit SS und Polizei. Zeitgleich mit dieser »zweiten Tötungswelle« (Raul Hilberg), der die Mehrheit der bis dahin am Leben gebliebenen Juden in den Reichskommissariaten zum Opfer fielen, bereiste Rosenberg, inzwischen mit einer weiteren »Sonderbevollmächtigung« durch Hitler für die »planmäßige geistige Bekämpfung« von »weltanschaulichen Gegnern« ausgestattet,[308] erstmals sein Reich. Er fand weitgehend bestätigt, was er erwartete: »eindrucksvolles Raumerlebnis«, »wilder Osten« mit »wilden Völkern«; Trostlosigkeit in mehr als einer »öden, jüdisch-polnisch-ukrainischen Stadt«; bisweilen »ein Stück Deutschland inmitten der Wüste«.[309] Hinweise auf den Vollzug der »Endlösung« enthielt dieser Reisebericht ebenso wenig wie ein zweiter vom Sommer 1943, der kurz vor Übernahme der bis dahin noch vorhandenen Ghettos durch Himmler und ihre Umwandlung in Konzentrationslager entstand, und auch ein mutmaßlicher Besuch im Ghetto Kaunas blieb unerwähnt.[310] Mit der voranschreitenden Mordpraxis verschwanden die Juden noch mehr als zuvor aus Rosenbergs Tagebuchnotizen. Sollte Rosenberg einen seiner Vertreter vor Ort nach den Juden gefragt haben, dürfte er eine klare Antwort bekommen haben. Auf einer von Göring Anfang August 1942 einberufenen Besprechung sagte Lohse: »Die Juden leben nur noch zum kleinen Teil; zigtausend sind weg.«[311] Anfang Juni 1943 zitierte Hitler Rosenbergs RKU-Chef Erich Koch mit dem Schätzwert von einer halben Million ermordeter Juden.[312]

Die Tagebuchnotizen von 1942 bis Ende 1944 bestätigen, dass Rosenberg zwar verstärkt einzelne Aspekte der NS-Politik kritisierte, an seinen eigenen ideologischen Überzeugungen jedoch unverrückbar festhielt, nicht zuletzt in der »Judenfrage«. In einer undatierten, vermutlich nach der Schlacht um Stalingrad gehaltenen Rede sprach Rosenberg den Stand der »Endlösung« noch einmal deutlich an: Man sei dabei, »diesen Schmutz einmal auszurotten, und was heute mit der Ausschaltung der Juden aus allen Staaten des europäischen Kontinents geschieht, ist auch eine Humanität, und zwar eine harte, biologische Humanität«. Was immer sich auch seit der Formulierung der NS-Ideale verändert hatte, Rosenberg fühlte noch die »alte Wut«, und das Ziel konnte somit »nur das alte sein: Die Judenfrage in Europa und in Deutschland ist nur dann gelöst, wenn es keinen Juden mehr auf dem europäischen Kontinent gibt.«[313] Diese Ausführungen blieben in ihrer Deutlichkeit hinter der berüchtigten »Posener Rede« des Reichsführers SS Heinrich Himmler vom 4. Oktober 1943 kaum zurück.

Mit den immer stärker schwindenden Siegesaussichten hob Rosenberg die »Endlösung der Judenfrage« propagandistisch als europäisches Integrationsprojekt hervor, das die Völker und Staaten des Kontinents unter der Leitung Deutschlands auf den »Endsieg« einschwören sollte. War Hitler noch Ende 1941 über etwaige »Rechtsansprüche« besorgt, die aus der Beteiligung anderer Staaten erwachsen könnten, stand er diesen Gedanken nun aufgeschlossener gegenüber. Anfang 1944 plante Rosenberg einen großangelegten Kongress, der im Juli stattfinden und einen »Großeinsatz auf dem Gebiet der Judenbekämpfung« einleiten sollte, doch dazu kam es trotz intensiver Vorarbeiten nicht mehr.[314] Bis zum Ende des »Dritten Reiches« blieb Rosenberg ein ebenso fanatischer wie unbelehrbarer antisemitischer Ideologe, und vor Enttäuschungen, Rückzügen und Niederlagen bot ihm seine Weltanschauung bis in die Nürnberger Gefängniszelle hinein eine sichere Zuflucht.