Kapitel 21

Belastungsdimensionen und Bewältigungsmuster von Lehrkräften

IN DIESEM KAPITEL

  • Welchen Stressoren Sie in Ihrem beruflichen Alltag ausgesetzt sind
  • Wie Sie mit dem Stressmodell von Lazarus Ihre innere Einstellung ändern oder Stress bewältigen

2006 zogen die Ergebnisse der Potsdamer Lehrerstudie unter der Leitung von Prof. Dr. Schaarschmidt breite Aufmerksamkeit auf sich. Groß angelegt in zwei Etappen und über einen Zeitraum von sechs Jahren, analysierte die Studie zunächst konkrete Belastungssituationen und daran anknüpfend Unterstützungsmaßnahmen, die den unterschiedlichen Belastungsanforderungen gesundheitsfördernd und -erhaltend entgegenwirken sollten.

Insgesamt nahmen rund 16.000 Lehrkräfte aus dem gesamten Bundesgebiet, 2.500 Lehramtsanwärter sowie 1.500 Lehrkräfte anderer Länder und circa 8.000 Vertreter anderer Berufe als Vergleichsgruppe an dieser Studie teil.

Die erste Etappe ermittelte differenziert, wie es um die psychische Gesundheit der Lehrkräfte steht. Dies geschah mittels einer differenzierten Fragebogenerhebung. Die sogenannten persönlichen Muster des arbeitsbezogenen Verhaltens und Erlebens (AVEM) dienten als wichtigste Indikatoren für die psychische Gesundheit.

Die Muster arbeitsbezogenen Verhaltens und Erlebens werden an elf Merkmalen erfasst, die sich drei Bereichen zuordnen lassen (siehe Abbildung 21.1). Die Merkmale stehen innerhalb dieser Bereiche in Beziehung zueinander.

Engagement

Widerstandskraft

Emotionen

  • Bedeutsamkeit der Arbeit
  • Beruflicher Ehrgeiz
  • Verausgabungs-bereitschaft
  • Perfektionsstreben
  • Distanzierungsfähigkeit
  • Resignationstendenz (bei Misserfolg)
  • Offensive Problembewältigung
  • Innere Ruhe / Ausgeglichenheit
  • Erfolgserleben im Beruf
  • Lebenszufriedenheit
  • Erleben sozialer Unterstützung

Abbildung 21.1: Die elf Merkmale arbeitsbezogener Verhaltens- und Erlebensmuster

Es lassen sich vier Muster der Bewältigung unterscheiden. Die einzelnen Mustertypen repräsentieren, wie sie mit den Arbeitsanforderungen zurechtkommen, ob die jeweiligen Strategien eher gesundheitsförderlich oder gesundheitsgefährdend sind:

  • Muster G – Gesundheit: gesund und leistungsbereit
    • Hohes, jedoch nicht überhöhtes Engagement, verbunden mit Widerstandsfähigkeit und emotionalem Wohlbefinden
  • Muster S – Schonung: sich schonend, vor Belastung schützend
    • Geringes Engagement bei Widerstandsfähigkeit und (relativem) Wohlbefinden
    • Das geringe Engagement ist häufig als Rückzugsreaktion auf unbefriedigende Arbeitsbedingungen zu verstehen.
  • Risikomuster A – Selbstüberforderung: erholungsunfähig
    • Überhöhtes Engagement bei Einschränkungen in der Widerstandsfähigkeit und im Wohlbefinden
  • Risikomuster B – Resignation: chronisch erschöpft
    • Verringertes Engagement bei deutlichen Einschränkungen in der Widerstandsfähigkeit und im Wohlbefinden

Mustertypen sind nicht statisch, sondern können durch Unterstützungsangebote förderlich entwickelt werden.

Die zweite Etappe diente dazu, auf der Basis der zuvor gewonnenen Ergebnisse Maßnahmen zu erproben und darauf gegründete Unterstützungsangebote auszuarbeiten, die Belastungen reduzieren. Diese Unterstützungsangebote sind so konzipiert, dass sie auf verschiedenen Ebenen (zum Beispiel in Aus- und Fortbildung, Beratung und Coaching, Berufsorientierung) unterschiedliche Zielgruppen (Schulleitungen, Lehrkräfte, Lehramtsanwärter, Abiturienten) ansprechen.

Das Spektrum der Unterstützungsangebote umfasst vier Schwerpunkte:

  1. Analyse und Gestaltung von Arbeitsbedingungen und Arbeitsabläufen
  2. Unterstützung der Teamentwicklung und Führungsarbeit an der Schule
  3. Berufsbegleitende und -vorbereitende Interventionen durch Gruppentraining und individuelle Beratung
  4. Unterstützung in der Gewinnung geeigneten Lehrernachwuchses

Belastungsfaktoren für Lehrkräfte

Die Arbeitszeit als Lehrkraft findet innerhalb von drei Tätigkeitsbereichen statt:

  • Unterricht (Planung, Durchführung, Reflexion)
  • Unterrichtsnahe Tätigkeiten (Korrekturen, Konferenzen, Gespräche mit Schülern/Eltern, Fortbildungen …)
  • Verwaltungsaufgaben (Notenfestlegung fürs Zeugnis, Berichte verfassen, Statistiken ausfüllen …)

Die Zeit in der Schule deckt einen Teil der Arbeitszeit ab. Die Vermischung von häuslichem Arbeitsplatz und dem Arbeitsplatz Schule kann einerseits als attraktiv und familienfreundlich gewertet werden. Andererseits bedarf die Ausübung von Arbeitszeit im privaten Umfeld stets guter Abgrenzungsstrategien.

Auch ein gutes Zeit- und Aufgabenmanagement ist von großer Bedeutung, um die vielfältigen Aufgaben als Lehrkraft sinnstiftend umzusetzen. Fehlende Struktur und mangelnde Organisation durch Fehlpriorisierung, aber auch ein falsches Zeitmanagement wirken sich relativ schnell negativ auf die Selbstwirksamkeit aus.

Ein weiterer Belastungsfaktor für Lehrkräfte ist die Gestaltung der Beziehungen zu Schülern und Eltern.

Das Stressmodell von Lazarus

Das Stressmodell von Richard Lazarus liefert einen psychologischen Erklärungsansatz und wird auch »Transaktionales Stressmodell« genannt. Es betont die subjektive Natur von Stress und die Rolle der individuellen Bewertung und Bewältigung von Stressoren. Stress hängt nicht allein von äußeren (objektiven) Faktoren ab, sondern auch von der Art und Weise, wie eine Person eine Situation wahrnimmt und darauf reagiert.

Die Situation bewerten

Das Modell vollzieht sich in einer zweistufigen Bewertung (siehe Abbildung 21.2). In der ersten Stufe werden vorhandene Stressoren bewertet, in der zweiten die Ressourcen.

Diagramm zu Stressbewertung und -bewältigung: Primäre Bewertung (positiv, irrelevant, gefährlich), Sekundäre Bewertung (ausreichende, mangelnde Ressourcen), Stressbewältigung (Situation, Einstellung ändern), NEU-Bewertung.

Abbildung 21.2: Das Stressmodell nach Lazarus

Anhand der Schritte im Modell lässt sich nachvollziehen, wie die unterschiedlichen Wahrnehmungen subjektiv gefiltert werden und inwiefern unterschiedliche Bewertungen auf das Wahrgenommene Stress auslösen oder verstärken können. Das Ziel ist es, zu verstehen, wie eigene Stressoren effektiv bewältigt werden können, um die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden zu fördern und zu erhalten. Mentale Muster (Reflexion der Einstellungen, Glaubenssätze etc.) zählen ebenso zu den Bewältigungsmechanismen wie konkrete Handlungsmuster. Nach der Reflexion der unterschiedlichen Bewältigungsmuster und deren tatsächlicher Umsetzung erfolgt eine Neubewertung der Situation. Die Neubewertung kann erneut eine Stressreaktion auslösen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn sich an den Rahmenbedingungen einer Situation nichts ändern lässt und auch Bewältigungsmechanismen nur bedingt hilfreich sind.

Eine Lehrkraft hat in einem Schuljahr zwar einen Teilzeitauftrag, dafür muss sie jedoch sowohl an der Stammschule als auch an der Außenstelle unterrichten. Die Fahrt erfolgt jeweils mit dem Auto und lässt ihr keine richtige Pausenzeiten, da sie die Pause für den Ortswechsel nutzen muss. Am jeweiligen Schulort kommt sie abgehetzt und meist gerade auf den Punkt in ihren Unterricht. Die Situation wird auch nach der Neubewertung als Stress eingestuft. Auf den Stundenplan hat die Lehrkraft in diesem Schuljahr keinen Einfluss.

Dadurch, dass die Lehrkraft erkennt, dass sie auf eine äußere Veränderung keinen Einfluss hat, besteht immerhin die Möglichkeit, dass sie ihre Ressourcen schont und sich für die bestehende Zeit positiv mit der Situation abfindet.

Die beiden Hauptinterventionen des Modells bilden die primäre und sekundäre Bewertung:

  • Primäre Bewertung: Bei der primären Bewertung beurteilt eine Person eine Situation zunächst hinsichtlich ihrer Bedeutung und Relevanz. Sie stuft die Situation als positiv, irrelevant oder gefährlich (im Sinne von Stress auslösend durch Herausforderung, Bedrohung oder Verlust) ein. Dies erfolgt häufig automatisiert, das bedeutet, unser Gehirn übernimmt die Bewertung in die drei unterschiedlichen Kategorien. Stuft die Person die Situation als gefährlich ein, entsteht Stress.
  • Mögliche Gedanken bei der Bewertung als herausfordernd: »Auch wenn mich die Situation fordert, werde ich das gut schaffen«, »Ich habe schon ganz andere Sachen geschafft«, »Ich bin neugierig, welche Lösungen ich entwickeln kann.«
  • Mögliche Gedanken bei der Bewertung als bedrohlich: »Ich muss alles können!«, »Ich darf mir keine Fehler erlauben«, »Hoffentlich spricht mich niemand darauf an (merkt keiner was).«
  • Mögliche Gedanken bei der Bewertung als schädigend (Verlust): »Ich habe keinen Einfluss mehr auf die Situation«, »Es ist zu spät, um noch etwas zu erreichen«, »Das bringt doch nichts.«
  • Sekundäre Bewertung: Nach der primären Bewertung erfolgt die sekundäre Bewertung, bei der die Person ihre Bewältigungsmöglichkeiten und Ressourcen als ausreichend oder nicht ausreichend einschätzt, um mit der wahrgenommenen Stresssituation umzugehen. Dies beinhaltet die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, der Unterstützungssysteme und der potenziellen Bewältigungsstrategien.

Wie eine Person die Situation bewertet, hat unmittelbar Einfluss auf drei Ebenen:

  • Emotionales Erleben: Wie fühlt sich das an? Welche Gefühle werden ausgelöst?
  • Physiologische Reaktionen: Wie reagiert der Körper? (Hormonausschüttung, Herz-Kreislauf, Nervensystem)
  • Handlungsspielraum: Welche Handlungsimpulse/Verhaltensweisen werden aktiviert?

Um dauerhaft gesund mit Stress und Stressoren umzugehen, braucht es wirksame Bewältigungsmechanismen. Auf ein stressfreies Arbeitsleben als Lehrkraft zu hoffen, ist dabei wenig realistisch. Es gibt Situationen, auf die haben Sie nur bedingt Einfluss.

So liegt es nicht (allein) in Ihrer Hand, ob Ihr Siebtklässler X gut gelaunt in Ihren Unterricht kommt und hoch motiviert dabei ist oder ob er seine Aufmerksamkeit in der Stunde eher Schülerin Y widmet und dabei womöglich Ihren Unterricht stört. Und ob Ihre Schulleitung Sie in diesem Monat zum wiederholten Mal für eine Vertretungsstunde einsetzt, können Sie auch nicht direkt steuern. Hier haben Sie die Möglichkeit, durch einen inneren Veränderungsprozess die Situation als weniger stressig zu bewerten (im besten Fall als »irrelevant«).

Auf der Handlungsebene wäre das direkte Gespräch mit der Schulleitung hilfreich. Es ändert wenig, wenn Sie mit Ihren Kollegen im Lehrerzimmer darüber sprechen. Manchmal löst das Gespräch mit der Schulleitung zwar auch nicht die Situation (Lehrkräfte sind nun mal verpflichtet, ein gewisses Maß an Vertretungsstunden zu halten), allerdings besteht die Chance, dass sich Ihre innere Spannung löst und sich die Beziehung zur Schulleitung besser gestaltet. (In Teil V Kommunikation kultivieren finden Sie hilfreiche Impulse für (emotional) geladene Gespräche und konstruktives Feedback.)

Die Situation bewältigen

Ressourcen spielen in der Stressbewältigung eine zentrale Rolle. Wenn Sie sich Ihren Anforderungen gewachsen sehen und um Ihre Ressourcen wissen und diese ausreichend zur Verfügung stehen, gelingt die Überwindung und Lösung einer stressigen Situation meist gut.

Sind hilfreiche oder notwendige Ressourcen jedoch nicht in ausreichendem Maße aktivierbar, wird dies das Stresserleben häufig verstärken, da sich ein Ohnmachtsgefühl gegenüber der Situation einstellen kann. Die Person fühlt sich den Anforderungen dann nicht gewachsen. Dieses Erleben steht in Wechselwirkung mit Erfahrungen. Wenn keine Erfahrungswerte zu dieser oder einer ähnlichen Situation vorliegen, sind fehlende Ressourcen leicht nachvollziehbar und erklärbar. Das ist wichtig für das Selbstverständnis und den Selbstwert.

Ziel von Stressbewältigung ist die Aktivierung vorhandener Ressourcen und bei Bedarf die Entwicklung neuer, hilfreicher Ressourcen.

Die Stressbewältigung orientiert sich an der Frage: »Wie viel Einfluss haben Sie auf eine Stress auslösende Situation?«, und bietet zwei Möglichkeiten:

  • Veränderung der inneren Einstellung zur Situation und zum Stressor
  • Veränderung durch konkrete Handlungsmöglichkeiten, um die Situation im Außen zu verändern

Systemisch betrachtet zieht eine innere Veränderung häufig Veränderungen im Außen nach sich. (Die Wechselwirkungen und Dynamiken des systemischen Ansatzes finden Sie in Kapitel 4 Der systemische Ansatz in der Pädagogik.)

Die Situation neu bewerten

Nach erfolgter Stressbewältigung schließt das Stressmodell nach Lazarus mit einer Neubewertung der ursprünglichen Situation ab. Auch die Neubewertung kann dazu führen, dass die Situation weiterhin Stress auslöst. Das ist leicht erklärbar, denn nicht immer ist die Situation tatsächlich veränderbar und auch die innere Einstellung zu ändern gelingt nicht zwangsläufig.

Durch die subjektive Bewertung einer Situation beziehungsweise einem Stressor wird ein Verarbeitungsprozess angeregt, der genau dafür sensibilisieren will: Stress ist nicht objektiv, sondern ein subjektives Wirklichkeitskonstrukt. So kann sich durch das Modell ergeben, dass minimale Änderungen im Verhalten oder in der Einstellung sich insgesamt positiver auf das Erleben auswirken.

Das Modell sensibilisiert für die Möglichkeit, Stress als Einladung zur Selbstfürsorge zu sehen, statt als generelle Bedrohung, die es zu bekämpfen gilt. Im Sinne eines Growth Mindset steht im Fokus, die eigene Situation als grundsätzlich gestaltbar zu erleben. Mehr zum Thema »Mindset« schreibe ich Kapitel 7 Wie bin ich eingestellt?.

Wenden Sie das Stressmodell doch einmal auf eine eigene Situation an: Welche Situation fordert Sie aktuell heraus? Erste Bewertung: Wie belastend schätzen Sie diese Situation ein? Wenn Sie die Situation als grundsätzlich »positiv« oder »irrelevant« bewerten, besteht kein Handlungsbedarf. Wenn Sie diese allerdings als »gefährlich« einstufen, folgt die zweite Bewertung: Wie schätzen Sie Ihre zur Verfügung stehenden Ressourcen für diese Situation ein? Bei »ausreichend« können Sie in Richtung Lösung voranschreiten. Bei »nicht ausreichend« ist es sinnvoll und notwendig, Strategien und Ideen zu entwickeln, die zu einer stimmigen Lösung führen. Die eigentliche Stressbewältigung berücksichtigt zuvor, ob die Situation grundsätzlich beeinflussbar ist oder nicht. Zuletzt bewerten Sie Ihre Ausgangssituation neu, vor dem Hintergrund der entwickelten Lösungen und Lösungsideen. Bleibt nach der Neubewertung noch eine Belastung, hilft vielleicht der Umweg über eine »zweitbeste« Lösung.