7 Ratten

Dorothea Döring

7.1 Allgemeines

Heimtierratten stammen von der Wanderratte (Rattus norvegicus) ab, die in großen Familienrudeln lebt. Ratten sind obligat sozial, sie sind dämmerungs- und nachtaktiv und sie suchen Schutz in Verstecken oder graben unterirdische Bauten. Sie haben differenzierte soziale Verhaltensweisen.

7.1.1 Körpersprache

7.1.1.1 Angstverhalten/Schreckreaktion

7.1.1.2 Thigmotaxis

Zum Schutz vor Beutegreifern vermeiden es Ratten, offene Flächen zu betreten; sie bewegen sich hauptsächlich an Strukturen wie Wänden bzw. deckungsbietenden Objekten entlang. In Verhaltenstests wird von der Ausprägung dieses Verhaltens auf den emotionalen Zustand der Ratte geschlossen: Meidet eine Ratte im „Open-Field“-Test das Zentralfeld und hält sich nur am Rand auf, wird sie als ängstlicher eingestuft als ein Tier, das auch in die Mitte der Testarena läuft.

7.1.1.3 Agonistisches Verhalten

Beide Ausdrucksformen kommen sowohl beim „seitlichen Angriff“ (Angreifer nähert sich seitlich, stößt mit der Hüfte den Gegner an und tritt ihn mit einem Hinterbein) als auch beim „aufrechten Angriff“ vor.

Bei Konflikten können Ratten auch Putzverhalten zeigen (Putzen als Übersprungshandlung).

7.1.2 Vokalisation

Ratten hören in einem Frequenzbereich bis zu 80 kHz ▶ [89]. Ihre akustische Kommunikation liegt daher teilweise außerhalb des menschlichen Hörbereichs.

7.1.3 Erkennen von Schmerzen

7.1.3.1 Erkennen von Schmerzen aufgrund der Mimik

Um Schmerzen bei Versuchsratten erkennen und quantifizieren zu können, wurde der Rat Grimace Scale (RGS) entwickelt ▶ [87]. Er bezeichnet den Normalzustand mit Score 0, leichte Veränderungen mit 1 und offensichtliche Veränderungen mit 2. Folgende Elemente sind enthalten ( ▶ Abb. 7.1):

Abb. 7.1 Rat Grimace Scale ▶ [87]. Zusammenfassende Darstellung der vier Ausdrucksregionen (Augen, Nase/Wangen, Ohren, Vibrissen).

Abb. 7.1a Score= 0: Normalzustand.

(Zeichnung: Dr. Dorothea Döring, München. Quelle: Schneider B, Döring D. Verhaltensberatung bei kleinen Heimtieren: Haltung, Normalverhalten und Behandlung von Verhaltensproblemen. Stuttgart: Schattauer, 2017; S. 67.)

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Abb. 7.1b Score=2: offensichtliche Veränderungen der Ausdrucksregionen, d.h. Augenlidschluss, Schnauzen-/Wangenabflachung, Ohreneinrollen, Vibrissenabstellen (weg vom Gesicht).

(Zeichnung: Dr. Dorothea Döring, München. Quelle: Schneider B, Döring D. Verhaltensberatung bei kleinen Heimtieren: Haltung, Normalverhalten und Behandlung von Verhaltensproblemen. Stuttgart: Schattauer, 2017; S. 67.)

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7.1.3.2 Körperliche Signale und Verhalten bei Schmerzen

Folgende Veränderungen am Tier können auf Schmerzen hindeuten ▶ [78]:

„Brillenaugen“

Die Harder‘sche Drüse am Auge bildet rötliches, porphyrinhaltiges Sekret. Zeigen Ratten „Brillenaugen“ (rötliche Verfärbungen um die Augen) oder roten Nasenausfluss, kann dies für Stress ▶ [84] bzw. reduziertes Putzverhalten sprechen – etwa bei kranken oder alten Tieren ▶ [90]. Bei manchen Laborrattenstämmen sind die „Brillenaugen“ jedoch als normal anzusehen ▶ [78].

Ein ▶ Merkblatt für Ihre Klienten zur Schmerzerkennung bei der Ratte finden Sie im Anhang.

7.2 Vorbereitung auf den Tierarztbesuch

7.2.1 Augenmerk auf Besonderheiten

7.2.1.1 Leben in Gemeinschaft

Ratten sind obligat sozial, d.h., sie brauchen zwingend eine soziale Haltung mit Artgenossen. Durch viele Studien wurde belegt, dass die Einzelhaltung eine Belastung darstellt. Auch die Wundheilung ist in Einzelhaltung deutlich schlechter ▶ [88].

Praxistipp

Ratte mit Partnertieren in die Praxis bringen lassen

7.2.1.2 Aktivitätszeit

Ratten sind dämmerungs- und nachtaktiv und haben ein mehrphasiges Aktivitätsmuster ▶ [84]. Albinoratten sind besonders lichtempfindlich. Sie meiden bereits einen Schlafplatz ab einer Lichtintensität von 25 Lux ▶ [86] und bekommen ab 60 Lux Netzhautschäden ▶ [85].

Praxistipp

Tageszeit und Licht

7.2.1.3 Orientierung durch Geruch

Die Duftkommunikation spielt bei Ratten eine sehr große Rolle: Zum einen orientieren sie sich in ihrem Revier an „Duftstraßen“, die sie mit Urin und Pfotensekret anlegen. Zum anderen ist der Rudelgeruch entscheidend für die Akzeptanz von Artgenossen. Denn durch Körperkontakt, Über- und Unterkriechen und Benetzen mit Urin wird ein gemeinsamer Gruppengeruch hergestellt.

Praxistipp

Schaffen eines vertrauten Geruches

7.2.1.4 Rückzugsorte

Als kleine Beutetiere halten sich Ratten hauptsächlich an geschützten Orten auf. Zum Schlafen bevorzugen sie abgedunkelte Rückzugsbereiche. Ratten bewegen sich entlang von Objekten wie Wänden und vermeiden es, offene Flächen zu betreten.

Praxistipp

Verstecken ermöglichen

7.2.1.5 Erschrecken vermeiden

Die Anwesenheit großen Beutegreifer kann als belastend für Ratten angesehen werden. Untersuchungen zeigen, dass die Furcht vor Katzen bei Ratten angeboren ist. Bei Katzengeruch zeigen Ratten Stress- und Meidereaktionen ▶ [76], ▶ [81]. Auch das Beugen des Menschen von oben über die Ratte kann Furcht auslösen.

Praxistipp

Schutz vor Erschrecken

7.2.2 Hinweise an Besitzer

Rattenbesitzer sollten beraten werden, wie sie Probleme im Vorfeld vermeiden und wie sie ihre Tiere auf den Tierarztbesuch vorbereiten können.

7.2.2.1 Sozialisierung auf den Menschen

Es gibt viele Untersuchungen zum pränatalen Stress bei Ratten. Wird das Muttertier während der Tracht Stressoren ausgesetzt, hat das langanhaltende Folgen für den Nachwuchs, u.a. eine größere Ängstlichkeit ▶ [85]. Züchter sollten daher Stress für trächtige Tiere vermeiden.

Am besten sucht man sich Ratten aus einer Zucht, bei der die Tiere tiergerecht gehalten werden und ausreichend Kontakt zu Menschen haben. Insbesondere in der 4. und 5. Lebenswoche müssen die Jungtiere viel sanft angefasst werden (mindestens zweimal täglich zehn Minuten), um auf Menschen „sozialisiert“ zu werden (siehe dazu die Studie von Maurer et al. ▶ [80]). Auch an Alltagsreize und -geräusche sollten die Jungratten gewöhnt sein. Das nach Rauth-Widmann ▶ [84] ideale Übernahmealter liegt bei sechs Wochen. Am besten übernimmt man mindestens drei Geschwister gleichen Geschlechts.

Praxistipp

Beratung über Sozialisierung

Jungratten sollten insbesondere im Alter von 4–5 Wochen ausreichend menschlichen Kontakt haben, damit sie Menschen später nicht als Beutegreifer ansehen.

7.2.2.2 Gewöhnungstraining zur „Zähmung“

Es ist empfehlenswert, dass sich Ratten von ihren Besitzern angstfrei und ohne aggressive Gegenwehr anfassen lassen. Bei scheuen Tieren muss mittels Gewöhnungstraining ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden.

Beispiel für ein Gewöhnungstraining

Praxistipp

Beratung zum Gewöhnungstraining

Rattenbesitzer sollten ihre Tiere schrittweise über vertrauensbildende Maßnahmen an das Anfassen und Hochheben gewöhnen.

7.2.3 Vorbereitende Maßnahmen

Um den Transport stressarm zu gestalten, sollten die Besitzer ihre Ratten an die Transportbox gewöhnen. Empfehlenswert ist eine Box, die Platz für die ganze Gruppe bietet. Der obere Teil sollte abzunehmen sein, damit man in der Praxis einen leichteren Zugriff auf die Tiere hat und sie gegebenenfalls in der Unterwanne untersuchen kann.

7.2.3.1 Gewöhnung an die Transportbox

Die Box sollte permanent im Aufenthaltsbereich der Tiere stehen, sodass sie nach ihrem Revier riecht und bereits als Schlafplatz benutzt wird. In kleinen Schritten kann man dann den Transport üben: Man legt besonders begehrtes Futter in die Box. Wenn die Ratten darin sitzen und das Futter fressen, schließt man kurz die Tür und hebt die Box einen Zentimeter vom Boden an. Dann stellt man die Box gleich wieder ab und öffnet die Tür. Nach und nach wird die Zeit des Anhebens und Tragens gesteigert.

Praxistipp

Was zum Tierarztbesuch mitgenommen werden sollte

Im Anhang finden Sie ein entsprechendes ▶ Merkblatt für die Besitzer.

7.3 Situationen in der Tierarztpraxis

7.3.1 Handling

7.3.1.1 Umgangsregeln

Um eine positive Assoziation mit der Situation beim Tierarzt zu erreichen und eine bessere Toleranz von Manipulationen, sollte man besonders begehrte Leckereien vor und während der Untersuchung und Behandlung verfüttern.

Da sich Ratten eines Rudels gegenseitig am Geruch erkennen, ist der Geruch der Hände wichtig. Daher sollte man sich vor dem Anfassen einer Ratte die Hände mit benutzter Streu dieses Tieres einreiben.

Zum Einfangen von Tieren, die sich nicht problemlos greifen lassen, kann man ein Behältnis (z.B. Röhre) verwenden, in das man das Tier laufen lässt.

7.3.1.2 Handling-Methoden

Am besten greift man Ratten, indem man mit beiden Händen eine Höhle bildet oder mit der einen Hand locker den Oberkörper umgreift und mit der anderen das Hinterteil stützt. Das lockere Umgreifen ist wichtig, da ein zu enger Griff um den Brustkorb die Atmung behindern kann und zu Panik- und Abwehrreaktionen der Ratte führen könnte ▶ [77].

Ratten sollten nicht am Schwanz hochgehoben werden, da ihre Schwanzhaut reißen kann. Insbesondere das Festhalten an der Schwanzspitze ist gefährlich. Wird die Ratte an der Schwanzbasis gehalten, muss eine zweite Hand das Gewicht des Tieres stützen.

Zum Fixieren bewähren sich die Schultergürtelgriffe. ▶ Abb. 7.2 zeigt die Position der Finger beim Greifen nach Hein ▶ [79], in ▶ Abb. 6.1 sieht man das Halten des Kleinsäugers mithilfe des Schultergürtelgriffes. Eine weitere Möglichkeit des Schultergriffes zeigt ▶ Abb. 7.3.

Der Nackengriff, d.h. das Fixieren am Nackenfell, wird von den Tieren als unangenehm empfunden ▶ [77] und führt nachweislich zu physiologischen Stressreaktionen ▶ [82].

Eine weitere Möglichkeit ist das Greifen und Festhalten mithilfe eines Tuches.

Abb. 7.2 Greifen einer Ratte zum Hochheben im Schultergürtelgriff nach Hein ▶ [79].

(Zeichnung: Dr. Dorothea Döring, München)

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Abb. 7.3 Fixierung bei einer Laborratte zur Injektion.

(Zeichnung: Dr. Dorothea Döring, München)

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Praxistipp

Empfehlungen zum Hochheben und Festhalten

7.4 Nach dem Tierarztbesuch

7.4.1 Vorsichtsmaßnahmen

Wurde eine Ratte ohne ihre Partnertiere in die Tierarztpraxis gebracht oder dort operiert, kann es zu Hause zu Unverträglichkeitsreaktionen kommen. Die Besitzer sollten gewarnt werden, dass der Patient aufgrund des fremden Geruches angegriffen werden könnte. Daher sollte man die Ratte, die aus der Praxis kommt, mit benutzter Streu der Gruppe einreiben und die Tiere erst einmal außerhalb des vertrauten Käfigs zusammensetzen.

Praxistipp

Beratung der Besitzer zur Wiedereingliederung

Am besten wird der Patient von seinen Gruppenmitgliedern in die Praxis begleitet. Ist das nicht möglich, muss er nach der Heimkehr mit benutzter Streu der Gruppe eingerieben werden, damit er wieder den vertrauten Gruppengeruch erhält. Der Patient wird dann nicht zur Gruppe zurückgesetzt, sondern die erste Begegnung nach der Heimkehr erfolgt möglichst außerhalb des Käfigs.

Ein ▶ Merkblatt für die Besitzer zum Thema Wiedereingliederung nach dem Tierarztbesuch finden Sie im Anhang.

7.5 Literatur

[76] Dielenberg RA, Carrive P, McGregor IS. The cardiovascular and behavioral response to cat odor in rats: unconditioned and conditioned effects. Brain Res 2001; 897: 228–237

[77] Flecknell P. Restraint, anaesthesia and treatment of children‘s pets. In Pract 1983; 5: 85–95

[78] Gärtner K, Militzer K. Zur Bewertung von Schmerzen, Leiden und Schäden bei Versuchstieren. Schriftenreihe Versuchstierkunde, Heft 14. Berlin, Hamburg: Verlag Paul Parey, 1993

[79] Hein J. Umgang mit Heimtieren in der Praxis. Prakt Tierarzt 2010 (91); 10: 869–871

[80] Maurer BM, Döring D, Scheipl F et al. Effects of a gentling programme on the behaviour of laboratory rats towards humans. Appl Anim Behav Sci 2008; 114: 554–571

[81] McGregor IS, Hargreaves GA, Apfelbach R et al. Neural correlates of cat odor-induced anxiety in rats: region-specific effects of the benzodiazepine Midazolam. J Neurosci 2004; 24: 4134–4144

[82] Mende G. Untersuchung zur Beurteilung der Belastung von Laborratten durch einfache Manipulationen an den Parametern Kortikosteron und Prolaktin [Dissertation]. Berlin: Freie Universität, 1999

[83] Panksepp J, Burgdorf J. 50-kHz chirping (laughter?) in response to conditioned and unconditioned tickle-induced reward in rats: effects of social housing and genetic variables. Behav Brain Res 2000; 115: 25–38

[84] Rauth-Widmann B. Meine Ratten. Stuttgart: Kosmos Verlag, 2000

[85] Schleif O. Ein Beitrag zur tiergerechten Haltung der Ratte anhand der Literatur [Dissertation]. Hannover: TiHo, 2001. Im Internet: http://elib.tiho-hannover.de/dissertations/schleifo_2001.pdf; letzter Zugriff: 18.06.2018

[86] Schlingmann F, De Rijk SHLM, Pereboom WJ et al. ‚Avoidance‘ as a behavioural parameter in the determination of distress amongst albino and pigmented rats at various light intensities. Anim Technol 1993; 44 (2): 87–95

[87] Sotocinal SG, Sorge RE, Zaloum A et al. The Rat Grimace Scale: A partially automated method for quantifying pain in the laboratory rat via facial expressions. Molecular Pain 2011; 7: 55. Im Internet: http://www.molecularpain.com/content/7/1/55

[88] Vitalo AG, Gorantla S, Fricchione JG et al. Environmental enrichment with nesting material accelerates wound healing in isolation-reared rats. Behav Brain Res 2012; 226 (2): 606–612

[89] Weiß J, Maeß J, Nebendahl K, Hrsg. Haus- und Versuchstierpflege. 2. Aufl. Stuttgart: Enke Verlag, 2003

[90] Wijnbergen, A. Ratten. In: Gabrisch K, Zwart P. Krankheiten der Heimtiere. Fehr M, Sassenburg L, Zwart P, Hrsg. Hannover: Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH, 2005