Ab Mitte der1920er Jahre wurden Picassos Gemälde weniger zurückhaltend. Sitzende Frau ist ein gutes Beispiel dafür. Zweifellos ist die Raumkonzeption eine Fortsetzung der Entdeckungen des Kubismus; so auch der Ausschneide-und-Aufklebe-Ansatz bei der Komposition. Allerdings markieren die ausdrucksstarken, geschwungenen Linien und Verzerrungen des Frauenkörpers auch eine neue ästhetische Richtung.
Picassos Verformung der menschlichen Figur erreichte ihren Höhepunkt in größter Ausdruckskraft wie im Fall dieses Akrobaten, den er am Wendepunkt der 1930er Jahre malte. Wie so viele moderne Kunstwerke vermittelt dieses Bild eine Idee, keine körperliche Erscheinung. Während es die anmutige Bewegung des Akrobaten ausdrückt, kann gleichzeitig auch ein Bezug mit den verstörenden Skulpturen des Surrealisten Hans Bellmer hergestellt werden.
Picasso konnte zur gleichen Zeit verschiedene Malstile perfekt umsetzen, so wie er es in der ersten Hälfte der 1920er Jahre in Gemälden von stilistischer Vielfalt wie Die drei Musiker und Panflöten getan hatte. Auch jetzt noch erschuf der Spanier spätkubistische Werke, wobei er sich bereits mitten in seiner neuen surrealistisch geprägten Phase befand. Das Atelier ist so ein Werk. Hier ging er im Kubismus sogar noch einen Schritt weiter hin zu einem Akt der radikalen Vereinfachung.
Ab den späten 1920er Jahren erschien die Thematik „Das Atelier des Künstlers“ immer wieder im Werk Picassos. Obwohl im Stil des Bildes Das Atelier ausgeführt, weist das Gemälde Maler und Modell andere formale Referenzen auf, die sich im Einklang mit den dominanteren stilistischen Ansätzen seines Schaffens in den späten 1920er und 1930er Jahren befinden.
Picasso verwies oft auf die Tatsache, dass er erst verlernen musste, was er als Student gelernt hatte, um wieder wie ein Kind malen zu können. Es gibt wohl nur wenige geeignetere Beispiele zu veranschaulichen, was er damit meinte, als sein Bild Ballspiel am Strand. Trotz des naiven Ansatzes besitzt dieses Gemälde erotische Konnotationen in Form eines verzerrten weiblichen Aktes. Ihr Schatten auf der kleinen Strandkabine im Hintergrund und die Kombination von getönter und ungetönter Haut deuten auf Picassos hoch ausgebildetes Auge für Details hin. Ohne Zweifel ist dies das Werk eines sehr talentierten Kindes.
In dieser Strandszene – eine der vielen, die er während jener Zeit malte – erreichen Picassos Figuren ein Niveau von extremer Vereinfachung. Sie werden auf bloße geometrische Formen, die minimale Details körperlicher Merkmale zeigen, reduziert. Dies ist ein spielerischer Blick auf den Strand, zu dem Picasso vermutlich während seiner Sommeraufenthalte in Südfrankreich inspiriert wurde.
Der Ansatz dieser neuen Version des Themas „Das Atelier des Künstlers“ zeugt trotz seiner sehr engen Komposition von dem Wunsch nach mehr Ausdruckskraft in dieser Phase von Picassos Schaffen. Das Motiv des verzerrten Kopfes wird zu einem Leitgedanken in den kommenden Jahren, obwohl dieses Gemälde aufgrund der dominierenden Blau- und Grautöne einiges an Gewalttätigkeit enthält.
Projekt für ein Denkmal für Guillaume Apollinaire, 1928. Stahl, Höhe: 59,5 cm. Musée Picasso Paris, Paris
In den späten1920er und den 1930er Jahren wagte Picasso eine weitere Innovation in der Bildhauerei. Mithilfe seines spanischen Künstlerkollegen Julio González, einem ausgebildeten Kunstschmied, forderte er die Grenzen zwischen Zeichnung und Volumen heraus. Mit einer der Montage seiner kubistischen Konstruktionen ähnlichen Technik setzte Picasso Fragmente aus Stahl zusammen, um diese stark vereinfachte, abstrakte Figur einer Frau zu schaffen. Die Skulptur wurde als Reaktion auf einen Auftrag angefertigt, ein Denkmal für Apollinaire zu realisieren. Obwohl als zu radikal abgelehnt, wurde diese Arbeit ein neuer Meilenstein in der modernen Skulptur. Dieses Werk signalisiert auch den Beginn einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Picasso und González: sie produzierten zehn gemeinschaftliche Skulpturen in vier Jahren. Des Weiteren handelte es sich um den eifrigsten Dialog zwischen Picasso und einem anderen Künstler seit den Zeiten des Kubismus und seiner Zusammenarbeit mit Braque.
Picasso fertigte eine Serie von Kupferstichen für Ambroise Vollard, um Honoré de Balzacs Le Chef-d’oeuvre inconnu („Das unbekannte Meisterwerk“) zu illustrieren. Die Geschichte handelt von einem Künstler aus dem 17. Jahrhundert, genannt Frenhofer, der zehn Jahre damit verbrachte an einem Gemälde zu arbeiten. Sobald es fertig war, zeigte Frenhofer sein Werk zwei Künstlerkollegen (der junge Poussin ist einer von ihnen). Frenhofers Freunde waren überrascht, dass das, was sie für ein Porträt einer jungen Frau halten sollten, nichts anderes war als eine Reihe von Linien und Farben, unter denen außer einem Fuß nichts sichtbares dargestellt war. Da sich Picasso stark mit Frenhofer indentifizierte, zog er sogar in die Rue des Grands-Augustins um, wo Balzacs Geschichte stattfindet. Hier war es, wo er im Jahr 1937 Guernica malen sollte.
1924 war das Geburtsjahr des Surrealismus. André Breton, Gründer und Anführer der Künstlergruppe, verkündete Picasso als „einen von uns“. Obwohl er nie ein Mitglied der Gruppe war, stellte er 1925 einige seiner Werke gemeinsam mit den Surrealisten aus. Es gibt keinen Zweifel, dass sie seine Arbeit beeinflussten. Picasso wurde oft als eine Art alles verschlingendes Künstler-Monster angesehen, das die unglaubliche Fähigkeit besaß, alles und jeden um sich herum aufzusaugen. Dabei war der Surrealismus keine Ausnahme. Obwohl er sich nicht im psychischen Automatismus übte, verlieh der Surrealismus Picasso einen ausdrucksstärkeren Ansatz in seiner Kunst mit befreienden Elementen wie Gewalt und Erotik, die in den kommenden Jahren erhalten bleiben sollten. Frau in einem roten Sessel ist ein deutlicher Beweis dafür.
Die Schlafende vor einem Spiegel (Marie-Thérèse Walter), 1932. Öl auf Tafel, 130 x 97 cm. Privatsammlung
1927 trafen sich Picasso und die junge Marie-Thérèse Walter, die gerade einmal 17 Jahre alt war. Sie wurde Picassos Muse für einige seiner erotischsten Werke. Marie-Thérèse dominiert Picassos Bilderwelt vor allem in der ersten Hälfte der 1930er Jahre. Dieses Bild hat in seiner Form und Farbe einen fast musikalischen Rhythmus. Die Schlafende ist auf erotische Weise den Augen des Betrachters in einem Akt des Voyeurismus ausgeliefert, welchen Picasso während seiner gesamten Karriere oftmals wiederholte.
Es ist schwer, religiöse Themen in Picassos Œuvre zu finden, vor allem, wenn diese in einer solchen Art und Weise wie diese Kreuzigung aus dem Jahr 1930 dargestellt werden. Viele erkennbare Elemente sind da – Christus am Kreuz, der Soldat, der ihn mit der Lanze sticht, die Soldaten beim Würfelspiel –, aber anderes bleibt im Dunkeln. Vielleicht auffälliger als Picassos verwendeter Stil (die gleichen verzerrten Figuren erscheinen immer wieder in dieser Periode) ist die Farbe, so intensiv und hell, dass das Gemälde auf den ersten Blick alles andere als eine Kreuzigung zu zeigen scheint.
Großer Frauenakt in einem roten Sessel, 1929. Öl auf Leinwand, 195 x 129 cm. Musée Picasso Paris, Paris
Im Gegensatz zu anderen weiblichen Darstellungen aus diesem Zeitraum zersplittert dieser Große Frauenakt in einem roten Sessel nicht den weiblichen Körper. Dennoch ist dieser vielleicht noch heftiger verzerrt; der Körper bleibt als Ganzes bestehen, wird aber in einer monströsen Weise präsentiert. Der Mund ist weit geöffnet und zeigt drohend die Zähne. Die wiederholten Bilder bedrohlicher weiblicher Akte fallen mit dem Bruch der Ehe von Picasso und Olga zusammen, der vermutlich die Ursache für solche Gewaltdarstellungen des weiblichen Körpers ist.
Dieses Porträt von Marie-Thérèse Walter besitzt nicht den gleichen stark erotischen Charakter anderer Werke dieser Periode. Picasso scheint hier das Thema mehr als ein Mittel des formalen Experimentierens (und zwar nur zum Vergnügen) denn als Ausgang für die Anziehungskraft seines Modells genommen zu haben. Es ist eine Demonstration von Picassos befreiteren Werken dieser Periode, mal gewalttätig und mal mehr spielerisch wie dieses Porträt.
Schlafende Frau mit Jalousie (Detail), 1936. Öl und Zeichenkohle auf Leinwand, 54,5 x 65,2 cm. Musée Picasso Paris, Paris
Neben den Aktbildern und der gewalttätigen Ausdruckskraft dieser Phase in Picassos Œuvre gibt es auch zarte und intime Szenen wie diese Schlafende Frau mit Jalousie. Wie fast alles, was Picasso bis zum Ende seines Lebens malte, ist dies keine naturalistische Darstellung; Verzerrung bedeutet aber nicht unbedingt Gewalttätigkeit. Es ist eine enorme meisterliche Fertigkeit erforderlich für die Darstellung eines deformierten Gesichts wie das dieser Frau, das dennoch ein Gefühl von Ruhe vermittelt.
Erneut ließ sich Picasso von seiner jungen Geliebten inspirieren. Das Gesicht von Marie-Thérèse nimmt hier eine Form an, die ein Leitmotiv Picassos werden wird: ein Gesicht, das sowohl im Profil als auch en face zu sehen ist. Dies ist natürlich ein Erbe vom Kubismus; der Unterschied jedoch liegt in der Tatsache, dass Picasso das Gesicht nicht inverschiedene Facetten aufteilt. Es gibt eine und verschiedene Perspektiven auf ein und derselben Ebene. Dieses Porträt gehört auch in die gleiche dekorative Reihe von vielen anderen Gemälden dieser Zeit.
Mädchen vor einem Spiegel, 1932. Öl auf Leinwand, 162,3 x 130,2 cm. The Museum of Modern Art, New York
Im Gegensatz zu der drohenden Gewalt in den Bildern wie Großer Frauenakt in einem roten Sessel produzierte Picasso auch einige sinnliche Arbeiten zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere. Mädchen vor einem Spiegel, ein Porträt von Marie-Thérèse Walter, ist so ein Gemälde. Hier zielt Picasso nicht darauf ab, ein psychologisch aufgeladenes Bild zu erstellen; dieses Bild zeigt das Vergnügen einer unzensierten Betrachtung. Marie-Thérèses Körper ist in einer Weise dargestellt, die den Wunsch des Betrachters, hier Picassos, erfüllt. Sie ist verbogen und kurvenreich dargestellt, um auf seinen Zustand der Erregung zu reagieren.
Trotz seiner Vielzahl von Malstilen konzentrierte sich Picasso in diesem Zeitraum auf nur wenige Themen. Eines seiner wichtigsten war „Der Künstler in seinem Atelier“. Seine seltsame Behandlung von Raum und Formen, ein Erbe des Kubismus, gibt den Bildern einen spielerischen Erfindungsreichtum. Die Büste auf der linken Seite des Bildes ist ein Porträt von Picassos junger Geliebten Marie-Thérèse Walter. Der Bildhauer ist als ruhiger, auf seine Arbeit konzentrierter Mann dargestellt, kein Zweifel, eine Anspielung auf Picasso selbst, der auch die Person im an der rechten oberen Ecke befindlichen Spiegel sein könnte.
Obwohl vielleicht nicht so perfekt, konkurriert diese Darstellung von Marie-Thérèse in Bezug auf die Erotik sicherlich mit Mädchen vor einem Spiegel. Es ist beeindruckend zu sehen, wie Picasso den weiblichen Körper in einer Art verdreht und verzerrt, die seinen erregten Augen gefällt. Was bemerkenswert ist, scheint nicht so sehr das Ergebnis als vielmehr die scheinbare Leichtigkeit, mit der die liegende Frau gefertigt ist.
Sowohl formal als auch thematisch ist Figuren am Strand möglicherweise das Ergebnis von Picassos vielen Sorgen in dieser Zeitspanne, die in der Mitte der 1920er Jahre begann. Die Figuren werden hier in einer abstrakten Form dargestellt; in einer Weise, dass nur die kleinsten Details – Augen, Zunge, Brüste – zu erkennen sind, die darauf verweisen, was das Sujet des Bildes ist. Der Geschlechtsverkehr zwischen diesen Figuren zeigt die ambivalenten Emotionen Picassos, der soeben den Untergang seiner Ehe mit Olga, allerdings unter Fortführung der Liebesaffäre mit der jungen Marie-Thérèse Walter, erlebte. Die unbefriedigende Erotik dieser Bilder zeigt möglicherweise, was Picasso am Surrealismus interessierte.
Dieses Gemälde zeichnet ein weitaus spielerischeres Bild von Picasso aus jener Periode. Es scheint, als ob er im Umgang mit den Linien und Farben sehr ausgelassen war. Dieser fast rein dekorative Ansatz ist sowohl von den gewalttätigen Frauendarstellungen (trotz der nackten Brust) als auch von der überwältigenden Erotik anderer Porträts seiner Geliebten Marie-Thérèse weit entfernt.
Dieses Gemälde ist eher verspielt als erotisch oder bedrohlich. Picasso reiste weiterhin während der Sommermonate an die Südküste Frankreichs, und die Stimmung dieses Bildes ist kaum zu vergleichen mit anderen Strandszenen wie Figuren am Strand. Hierbei handelt es sich um eine ruhige Küstenszene, die mit den heftig aufgeladenen Bildern, die in diesen Jahren seiner Karriere dominierten, kontrastiert.
Dieses Porträt von Marie-Thérèse Walter mit einem Buch auf dem Schoß ist eines jener scheinbar mehr erheiternden Bilder Picassos, die er in den frühen 1930er Jahren fertigte. Hinter einer ausgewogenen Komposition mit einer dekorativen Kombination von Farbtönen versteckt sich Picassos latente Obsession für seine junge Geliebte.
Als unverhohlen erotisches Gemälde ist Liegender Akt eines der vielen Bilder, die von Marie-Thérèse inspiriert sind. Der weibliche Akt, der durch intensive Sinnlichkeit dem Betrachter ausgesetzt ist, liegt vor einem erhitzten Hintergrund, und erneut scheint es, als habe Picasso in einem Zustand intensiver Erregung gemalt.
Titelbildentwurf für die Zeitschrift ,Minotaure’, 1933. Assemblage aus Wellpappe, Metallfolie, Bändern, Papier, Spitze, Zwecken und Bleistift auf Papier auf Holz mit Kohleausbesserungen, 48,5 x 41 cm. The Museum of Modern Art, New York
Nach La Révolution surréaliste und Le Surréalisme au service de la Révolution fanden die Surrealisten ihr neues Medium, um die Öffentlichkeit zu erreichen, im Minotaure. Neben dem Fokus auf die surrealistische Gruppe waren die Absichten des Herausgebers Albert Skira, alle Elemente der modernen Bewegung zu reflektieren und weniger bekannten Figuren mehr Aufmerksamkeit durch eine breitere Öffentlichkeit zu gewähren. Die Zeitschrift war eine der aufwendigsten künstlerischen Publikationen jener Zeit mit vielen Farbfotografien und Titelbildentwürfen bekannter Künstler. Der Einband für die erste Ausgabe war diese Collage von Picasso.
Mit Beginn der 1930er Jahre wurde der Minotaurus zu einer Art Alter Ego für Picasso. Er scheint dieses Fabelwesen – halb Mensch, halb Stier –, das sowohl die zerstörerischen als auch schöpferischen Kräfte des Menschen darstellt, verkörpern zu wollen. Von dieser Zeit an wird die Figur des Stiers ständig in seinen Bildern erscheinen und hat seinen vielleicht berühmtesten Auftritt einige Jahre später in Guernica.
Sterbender Minotaurus, aus der Serie ,Suite Vollard’, 1933. Radierung, 19,4 x 26,8 cm. Musée Picasso Paris, Paris
In den 1930er Jahren malte Picasso weniger Bilder und experimentierte mehr mit anderen Medien. Eines seiner erfolgreichsten Unterfangen war das Gravieren. 1930 beauftragte Ambroise Vollard Picasso, eine Serie von Radierungen anzufertigten, an der er für einige Jahre arbeitete und die heute unter dem Titel Suite Vollard bekannt ist. Die Drucke dieser Serie (die wegen des Todes von Vollard 1939 und dem Zweiten Weltkrieg erst 1950 veröffentlicht werden konnten) sind Picassos am meisten von der Antike inspirierten Arbeiten. Nur ein paar Bilder aus den frühen 1920er Jahren wie Panflöten sind mit ihnen vergleichbar. In Szenen wie in diesem Sterbenden Minotaurus zeigt Picasso, wie sich sein enormes Talent in scheinbar einfachen Bildern, die diese bemerkenswerte Serie zusammenfassen, entfaltete.
Bacchantische Szene mit Minotaurus, aus der Serie ,Suite Vollard‘, 1933. Radierung, 29,9 x 36,6 cm. Musée Picasso Paris, Paris
Dies ist vermutlich eine der besten Szenen aus der Suite Vollard. Es ist eine Komposition von Picassos vielfältigen Anliegen der 1930er Jahre. In erster Linie ist ein Minotaurus, eine seiner Obsessionen, der ein Symbol der schöpferischen und zerstörerischen Kräfte des Menschen ist, dargestellt. Die einem Faun ähnliche Figur verkörpert die Rolle des Künstlers, der gleichzeitig Betrachter und Liebhaber seiner Modelle oder Musen ist. Diese Darstellungen sind ohne Zweifel eine Anspielung auf Picasso selbst, der sich selbst als gottähnlichen Schöpfer verstand. Die Frauen erscheinen in dieser Serie – typisch für den gesamten Verlauf seiner Karriere – nur als Quellen der Inspiration oder der sexuellen Lust.
Trotz der latenten Gewalt in vielen seiner Arbeiten der frühen 1930er Jahre sind Picassos Gemälde oder Zeichnungen selten so explizit gewalttätig wie diese Szene. Dieses reduzierte Szenario konzentriert sich auf die Figuren, die fast den gesamten zur Verfügung stehenden Raum besetzen. Das Fehlen einer anderen Farbe außer Schwarz und das sepiafarbene Papier helfen dabei, sich auf die Handlung, deren Dramatik durch den starken, durch das Fenster kommenden Lichtstrahl noch verstärkt wird, zu konzentrieren. Hier zeigt sich ein fast expressionistischer Picasso, und das Gemälde scheint eine frühe Vorahnung von Guernica zu sein.
Picasso beendete diese farbenfrohe und expressionistische Stierkampfszene bei seiner Rückkehr aus Spanien im Sommer 1934. Bei diesem Besuch – der letzte, den er in sein Heimatland machen sollte – nahm er seine Frau Olga und ihren gemeinsamen Sohn Paulo mit zu den corridas (,Stierkämpfe’) in Barcelona, Madrid und San Sebastián. Fasziniert von dieser Tradition, wird der Stierkampf wiederholt in seinem Werk präsent sein.
Frauenakt mit einem Schwertlilienstrauß und einem Spiegel, 1934. Öl auf Leinwand, 162 x 130 cm. Musée Picasso Paris, Paris
Das erotisch aufgeladene Bild dieser nackten Frau nimmt praktisch die gesamte Leinwand ein. Sie ist in der Mitte der geöffneten Flügeltüren eines Balkons vor dem Hintergrund der wilden grünen Landschaft platziert. Wie in so vielen Fällen ist die überschäumende Natur der Frau dem Betrachter in einem voyeuristischen Akt ausgesetzt, der sich durch Picassos gesamte Karriere zieht.
Frau vor dem Spiegel, 1937. Öl auf Leinwand, 129,8 x 194,7 cm. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
Diese ausgewogene Szene überträgt ein Gefühl der Ruhe, weg von dem ungestümen Werk Picassos jener Zeit. Die Frau starrt ruhig auf ein Stück Papier auf dem Boden, während das Sonnenlicht vom offenen Balkon her in den Raum scheint – ein Element, das an die Werke von Matisse in Nizza erinnert. Trotz der Gelassenheit der Szene schafft Picasso durch die Nacktheit der Brust der Frau einen Raum für die Erotik im Bild.
Marie-Thérèse Walter, die noch eine Jugendliche war, als sie Picasso im Jahre 1927 traf, war die Quelle der Inspiration für die am stärksten erotisch aufgeladenen Arbeiten der 1930er Jahre und möglicherweise seiner gesamten Karriere. Zwar nicht frei von erotischen Konnotationen, hat Marie-Thérèse mit Blumenkranz einen zärtlicheren Ansatz. Dies ist eine Darstellung der schönen jungen Frau, deren naiver und unschuldiger Charakter Picasso für einige Jahre faszinierte. Dennoch ist es überraschend, dass es Picasso gelang, ein so zartes Porträt von ihr zu malen, obwohl er bereits eine Affäre mit Dora Maar hatte.
Dora Maar, eine Französin, die in Argentinien aufwuchs, war eine bekannte Fotografin und Mitglied im Pariser Surrealistenkreis, als Picasso sie 1936 traf. Er begann eine Affäre mit ihr, während er sich noch in seiner Beziehung mit Marie-Thérèse befand. Beide blieben für mehrere Jahre seine Geliebten und lebten manchmal sogar mit Picasso zu dritt zusammen. Das Porträt von Marie-Thérèse ist offensichtlich erotisch konnotiert, während das von Dona Maar etwas komplexer erscheint. Ihre Augen starren in einer ungewöhnlichen Perspektive nach rechts auf den Betrachter, und die ganze Atmosphäre des Bildes scheint psychisch vorbelastet. Es scheint, als würde Picasso sein individuelles Interesse an jeder seiner Geliebten verdeutlichen wollen: Bei Marie-Thérèse ist es der Körper; bei Maar ist es der Geist.