Jahr |
Getreideernte |
Vom Staat beschafftes Getreide |
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brutto |
absolut |
Ernte = 100 |
davon Naturalsteuer |
über: Tausch, Handel |
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1916/17 1917/18 1918/19 1919/20 1920/21 1921/22 1922/23 1923/24 1924/25 1925/26 |
54,6 49,5 50,5 45,2 36,3 50,31 56,59 51,40 72,46 |
8,32 1,20 1,77 3,48 6,01 3,81 6,95 6,84 5,25 8,91 |
13,3 10,5 13,8 12,1 10,2 12,3 |
3,67 5,92 1,90
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0,14 1,03 4,94 5,25 8,91 |
Quelle: Merl, Agrarmarkt, 55
Diese Entscheidungen führten im Sommer 1925 im Verein mit anderen Faktoren zu einer ausgezeichneten Ernte. Insgesamt erreichte der Ertrag 95 % des besten Vorkriegsergebnisses; regional wurde dieses Ergebnis sogar übertroffen. Die Lage schien sich zu entspannen. Unerwartet stellten sich jedoch erneut Beschaffungsprobleme ein. Als Folge zu früher staatlicher Aufkäufe stiegen im Spätsommer die Preise. Um den armen Bauern einen günstigen Verkauf zu ermöglichen, setzte das zuständige Kommissariat daraufhin Direktivpreise fest – mit der Folge eines weiteren steilen Preisauftriebs. Hinzu kam eine Reihe ungeschickter Maßnahmen von Seiten des Staates. Sie reagierten auf späte, regionale Ernteminderungen (die das außerordentlich günstige Gesamtergebnis nicht beeinträchtigten) zögerlich und falsch; sie hielten an der präfixierten Aufkaufmenge fest, orderten auch dort, wo Einbußen zu verzeichnen waren, machten sich selbst Konkurrenz und gaben den Preisen einen kräftigen Schub, statt sie zu stabilisieren. Da die staatlichen Agenturen seit der Ersetzung der Naturalabgabe durch eine Geldsteuer mit privaten Aufkäufern konkurrieren mussten und die Marktpreise die Fixpreise bald um 60 % und mehr überstiegen, blieben die Folgen nicht aus. Die zuständigen Behörden gerieten erneut in Bedrängnis: Es ergab sich die paradoxe Situation von Mangel im Überfluss, in der nicht nur die Linke einen neuerlichen Beleg für die schädlichen Umtriebe der Kulaken erkannte. Als Antwort verstärkte die Regierung ihre Intervention und senkte im Frühjahr 1926 den Getreidepreis auf das niedrigste Niveau seit Anfang 1924. Da zugleich die Industriepreise stiegen, tat sich abermals eine ‹Schere› zum Nachteil der Landwirte auf, die neue, alte und marktkonforme Reaktionen hervorrief: Schon im Sommer wurde Getreide auf dem Binnenmarkt knapp, zumal auch die private Nachfrage in den Städten größer war als erwartet. Der Beschaffungsplan konnte trotz der guten Voraussetzungen nicht erfüllt werden: Diese Enttäuschung war nicht der NĖP anzulasten, sondern der mangelnden Kompetenz der staatlichen Eingriffe, deren schlimmste Folgen allerdings noch bevorstanden.[30]
Auch über die Ernte des Jahres 1926 konnte sich das Regime freuen. Sie fiel reichlich, wenn auch regional sehr unterschiedlich aus, so dass die anvisierte Getreidemenge leicht beschaffbar zu sein schien. Außerdem bemühte man sich, aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre zu lernen. Nach der Stärkung der wirtschaftlichen Planungs- und Lenkungsorgane durch den 14. Parteitag geriet auch die Sicherung der städtischen Brotversorgung in den Sog des Dirigismus. Der private Handel wurde durch die erwähnten Steuererhöhungen, die Verstaatlichung der Mühlen und andere Maßnahmen geschwächt, der staatliche Aufkauf bei den Genossenschaften zentralisiert. Man gab Quoten vor, die dem Staat 70 % des Marktaufkommens zuwiesen. Faktisch sicherte sich der STO – inzwischen eine Kommission des SNK – in diesem Jahr ein Verteilungsmonopol. Plan und Kontrolle griffen mehr und mehr auf den Handel mit Agrarerzeugnissen und die agrarische Produktion selbst über. Trotz eines vorübergehenden Einbruchs der Aufkäufe im Herbst sorgten sie in Verbindung mit der guten Ernte mittels wachsendem Steuerdruck dafür, dass im Wirtschaftsjahr 1926–27 das größte Volumen an Getreide seit der Revolution in die staatlichen Lager eingebracht werden konnte. Freilich übersah man im allgemeinen Optimismus Warnsignale, die hätten stutzig machen müssen: Als der Steuerdruck Anfang 1927 nachließ und die Industriepreise zu Lasten der Bauern weiter stiegen, sanken die staatlichen Getreideeinkäufe unter das Niveau des Vorjahres. Hinzu kam eine spürbare Absatzkrise bei Industriewaren auf dem Dorf. Nicht zuletzt sie zeigte die gefährliche Tendenz an, dass die Einkommen der Dorfbevölkerung infolge der niedrigen Agrarpreise und höherer Steuern bei einem erheblichen Bevölkerungswachstum (von ca. 2 % jährlich) stagnierten. Die Weichen waren für weitere Schwierigkeiten gestellt.
Die Krisengefahr wuchs, als sich im Sommer 1927 ein Ernterückgang abzeichnete. Die Einbuße schien mit ca. 4 % im Vergleich zum Vorjahr aber nicht gravierend zu sein. Fataler als dieses Defizit selbst war die ungebrochene Euphorie, mit der die Planungsbehörden die Versorgungsperspektiven beurteilten. Trotz realistischer Schätzung der Bruttoernte rechnete man mit einem Marktaufkommen an Getreide, das um ca. 7 % über der Vorjahresmenge lag. Dementsprechend setzte man auch den Sollwert des Beschaffungsvolumens hoch an. Bereits Ende September wurde jedoch ein dramatischer Einbruch erkennbar. Die Aufkäufer sammelten so wenig Getreide, dass mit Brotmangel in den Städten zu rechnen war. Partei und Regierung mussten handeln. Die erste große Debatte fand auf demselben ZK-Plenum Ende Oktober statt, das der Opposition den letzten, tödlichen Streich versetzte. Die Koinzidenz war paradox und symptomatisch. Als der Trotzki-Anhänger Smilga vor einem Hungerwinter warnte und Bucharin mit der Versicherung abwiegelte, man habe die Lage dank der NĖP im Griff, setzte Molotov als Referent zur Agrarfrage die sozialistische Umgestaltung auch des Dorfes und die Stärkung der «staatlich-planerischen Regulierung» der Landwirtschaft auf die Tagesordnung. Der wirtschafts- und allgemeinpolitische Wind blies den Bauern immer kräftiger ins Gesicht. Statt ihnen monetäre, fiskalische oder politische Anreize zum Verkauf zu geben, bewirkten Partei und Staat durch die Senkung des Getreidepreises und wachsende Angriffe gegen Kulaken und ihre Helfershelfer das Gegenteil. Die Produzenten sahen keinen Nutzen darin, ihre Vorräte an konkurrenzlose und schlecht zahlende staatliche Agenten abzugeben.
Gegen Jahresende erkannte die Staatsführung schließlich den Ernst der Lage. Nun meinte sie so schnell handeln zu müssen, dass nur noch außerordentliche Maßnahmen in Frage kämen. Über deren Art konnte nach dem 15. Parteitag kein Zweifel mehr bestehen. Jetzt machte man ernst mit dem, was längst beschlossen und auf den Weg gebracht worden war. Man liquidierte die private Handelskonkurrenz endgültig, schickte Parteiaktivisten als Beschaffungsschwadronen in die Dörfer, requirierte mit Hilfe von Artikel 107 des Strafgesetzbuchs, der «Spekulation» ahndete, die Bestände von Verkaufsunwilligen und verteilte dabei ein Viertel des Beuteguts an arme Bauern, kurz: Man griff gezielt zu administrativ-repressiven Mitteln und scheute dabei vor Gewalt und Rechtsbeugung nicht zurück. Auf das staatliche Zwangsmonopol gestützt, triumphierte die Kommandoordnung nun auch in den Beziehungen zwischen Stadt und Land. Nicht nur in den Augen der Bauern erlebten die Methoden des «Kriegskommunismus» ihre Wiedergeburt.[31]
Die Frage drängt sich auf, welche Ursachen diesem unerwartet schnellen Ende der NĖP zugrunde lagen. Zeitgenössische wie spätere bolschewistische Selbstrechtfertigungen wälzten die Schuld auf die «Kulaken» ab. Die ‹kapitalistischen› Elemente auf dem Dorfe hätten sich zu einem Verkaufsstreik verschworen und die proletarische Macht durch Aushungern stürzen wollen. Seriöse Deutungen haben sich von solchen apologetischen Vereinfachungen durchweg distanziert. Dennoch hat ein Element dieser ‹Erklärung› lange Zeit eine gewisse Rolle in der Debatte gespielt. Nicht ohne Grund hat man, als einen Faktor unter anderen, auf die gestiegene Finanzkraft und das gestärkte Selbstbewusstsein der Bauern verwiesen. Zwei gute Ernten und drei Jahre voll entfalteter NĖP hätten ihre Wirkung nicht verfehlt. Auch wenn sie nicht horteten, aßen und verfütterten die Bauern mehr, verkauften weniger und beobachteten den Markt genauer als zuvor. Als auch noch die Preise gesenkt wurden, für technische Kulturen sowie für Produkte der Viehzucht höhere Erlöse als für Getreide zu erzielen waren und Industrieerzeugnisse das Dorf nur noch selten erreichten, sei die Brotknappheit in den Städten programmiert gewesen. Die NĖP hatte in dieser Sicht schon mittelfristig wenig Überlebenschancen, weil sie grundsätzlich an mangelnder Stabilität litt. Ihre Tage waren gezählt. Sie hatte aufs Beste erfüllt, was sie sollte und konnte: die Wirtschaft wieder ungefähr auf das Vorkriegsniveau zu heben. Zu mehr aber war sie nicht in der Lage. Für den eigentlichen Fortschritt und eine ganz neue Grundlegung brauchte man in dieser Sicht eine andere Politik.[32]
Die Gegenposition vertreten diejenigen, die das Ende der NĖP in erster Linie auf gesamtwirtschaftliche Steuerungsprobleme und Zielkonflikte zurückführen. Diese Deutung hat in der jüngeren Forschung erheblich an Gewicht gewonnen. In ihrem Rahmen kommt der Preis- und Finanz- (Steuer)politik entscheidendes Gewicht zu. Im Kern versucht sie zu zeigen, dass die NĖP an der Unfähigkeit oder dem Unwillen ihrer Exekutoren gescheitert sei, das marktwirtschaftliche Instrumentarium in schwieriger Lage effektiv zu nutzen. Die Wirtschaftspolitiker fanden kein Mittel, um Kaufkraft und Industriewarenangebot in Balance zu halten. Ob als «Scherenkrise», «Warenhunger», Hortung, Steigerung des Eigenverbrauchs, Verringerung der Saatfläche oder Übergang zum Anbau technischer Kulturen anstelle von Getreide – das Problem des Ungleichgewichts zwischen Stadt und Land blieb dasselbe. Statt Angebot und Nachfrage mit den Mitteln der NĖP wie zuvor einigermaßen ins Lot zu bringen, gab die Regierung seit Anfang 1926 der Inflationsbekämpfung einseitige Priorität. Sie setzte alle Hebel in Bewegung, um den Getreidepreis zu senken. Dies gelang ihr dank der wirtschaftlichen Dominanz des Staates in erheblichem Maße. Für ihr Hauptprodukt erhielten die Bauern schon bald weniger, als sie aufwenden mussten und zur Bezahlung von Steuern und überteuerten Industriewaren brauchten. Zugleich suchten sie bei einträglicheren Industriepflanzen (Raps, Zuckerrüben) Zuflucht, die der Staat ebenfalls benötigte und deshalb mit relativ hohen Preisen prämierte, die aber nicht zur Ernährung der Bevölkerung taugten. Überwiegend – von strukturellen Gründen für die geringere Marktquote an Getreide im Vergleich zu den Vorkriegsjahren abgesehen – trieb mithin eine falsche und trotz offensichtlicher Turbulenzen störrisch verfolgte Preis- und Fiskalpolitik eine Wirtschaftsordnung ins Fiasko, die überlebensfähig war. In dieser Perspektive war die NĖP nicht nur erfolgreich, sondern auch zukunftsträchtig: Sie hätte den politischen und soziostrukturellen Rahmen auch für die nächste(n) Stufe(n) einer wirtschaftlichen Entwicklung ohne staatlichen Zwang und massive Gewalt bilden können.[33]
Freilich lässt die stark ökonomisch geprägte, monetär-fiskalische Argumentation eine wesentliche Frage offen: wie die Obsession mit niedrigen Getreidepreisen und das obstinat-kontraproduktive Krisenmanagement insgesamt zu erklären sind. Vieles drängt zu der Annahme, dass hier allgemeinpolitische und ideologische Motive ins Spiel kamen. Es sind dieselben Präferenzen und Grundsatzentscheidungen, die seit dem 14. Parteitag zur Renaissance von Plan und Kontrolle und zur Bevorzugung der Industrie führten. Der systematische Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in jenem Verständnis, das mehr und mehr um sich griff, verlangte langfristige umfangreiche Investitionsprogramme. Diese übten nicht nur einen permanenten Inflationsdruck aus, sondern mussten auch finanziert werden. Die Diskrepanz zwischen niedrigen (staatlichen) Getreide- und hohen Industriepreisen, die seit 1926 wieder auftrat und künstlich erhalten wurde, trug zu diesem Mitteltransfer bei. Sie entsprach dem Grundsatzbeschluss zur Industrialisierung und zur Festigung des revolutionären Regimes ohne äußere Hilfe. Hinzu kamen ungelöste Probleme der politischen Kontrolle. Nicht nur wirtschaftlich blieb die Bauernfrage ein Stein des Anstoßes für die neuen Machthaber. In den Städten groß geworden, war ihnen die dörfliche Denk- und Handlungsweise fremd. Als Marxisten hatten sie gelernt, in selbständigen Landwirten zumindest potentielle Kapitalisten zu sehen. Die Bauern ihrerseits misstrauten den Städtern und hatten die im Namen des Regimes verübten Grausamkeiten des Bürgerkriegs nicht vergessen. So war die Parteiführung in ihrer Mehrheit nur allzu sehr geneigt, die permanenten Reibungen im wirtschaftlichen Verhältnis zwischen Stadt und Land mit ihren gravierenden Folgen entweder für die Versorgung oder die Beschäftigung der Arbeiter als Ausdruck eines tiefgreifenden und letztlich irreparablen Bruchs in der sozioökonomischen und politischen Gesamtordnung zu deuten. Die Entscheidung zugunsten der forcierten, geplanten und staatlich gelenkten Industrialisierung schloss bereits – unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Realisierung – eine vorgängige Festlegung darüber ein, wie der Mangel an Synchronisation zu beheben sei. Wo sich die Industrie nach Vorausberechnungen und Kontrollziffern entwickeln sollte, musste auch die landwirtschaftliche Produktion planbar werden. Die unverstandenen und widerspenstigen Bauern aber entzogen sich einer solchen Verfügung. Sicher hätte es Mittel gegeben, ihr ökonomisches Verhalten zu beeinflussen, aber nicht im Rahmen des Plansystems, auf das man sich festgelegt hatte. So wurde die NĖP nur scheinbar plötzlich liquidiert. Bei Licht besehen, war sie politisch und theoretisch schon durch die Entscheidung für den «Sozialismus in einem Lande» aufgegeben worden.[34]
Der Name der NĖP war wörtlich zu nehmen. Das neue Regime ließ sich auf ökonomische Zugeständnisse ein, um die Bauern zu besänftigen und den Wirtschaftskreislauf des verwüsteten Landes wieder in Gang zu bringen. Aber es wollte die sozialen Folgen (und Voraussetzungen) dieser Wende möglichst gering und in jedem Falle unter Kontrolle halten. Als überzeugte Marxisten hatten sich die neuen Herren vorrangig dem Ziel verschrieben, die Arbeiterschaft für die erlittene kapitalistische Ausbeutung gleichsam zu entschädigen und eine egalitäre Gesellschaft aufzubauen, die angesichts der besonderen russischen Bedingungen auch die ‹arme› Bauernschaft vom Los der Unterdrückung befreien sollte. Kaum zufällig stritt man über die sozialen Konsequenzen der NĖP besonders heftig. «Kulak» und «NĖP-Mann», zunehmend auch die «bürgerlichen Spezialisten» avancierten zu bevorzugten Zielscheiben linker theoretisch-propagandistischer, stark ideologiebestimmter Attacken. Aber auch die pragmatischen Protagonisten der NĖP wagten es in der Regel nicht, sich vorbehaltlos für die Wünschbarkeit ‹kapitalistischer› Veränderungen der Sozialstruktur auszusprechen. Privateigentum und Markt bedeuteten Ungleichheit und tendenzielle Dominanz der Besitzenden und Leistungsstärkeren über die Mittellosen und Qualifikationsarmen. Es fiel schwer, dies mit dem proklamierten Egalitarismus und dem Ende aller ‹Herrschaft des Menschen über den Menschen› zu vereinbaren. Hinzu kamen weitere Erblasten der jüngsten Vergangenheit und der spezifischen sozioökonomischen Gegebenheiten generell. Nach dem Welt- und Bürgerkrieg war das Land für soziale Experimente denkbar schlecht gerüstet. Demographisch und materiell bedurfte es zuallererst der Konsolidierung. Zugleich sollte die Zukunft nicht in der Vergangenheit liegen und die Normalisierung dem eigentlichen Ziel nicht den Weg versperren. So standen die Führer von Partei und Staat vor der Doppelaufgabe, die Gesellschaft nach Maßgabe dessen, was sie vorfanden, wieder funktionstüchtig zu machen, ohne der ‹Macht des Faktischen› nachzugeben. Es zeigte sich, dass ihnen dieser Brückenschlag nicht gelang. Allzu groß waren die Angst, dass die Mittel den Zweck schädigen könnten, und die Unfähigkeit, Abweichungen vom Ideal zu akzeptieren. Dem Regime fehlten die Gelassenheit und die Geduld einer gefestigten, sich sicher fühlenden Macht.
Bevölkerungsentwicklung Zur Rekonvaleszenz der Gesellschaft (und Wirtschaft) gehörte zunächst die Wiederherstellung ihrer demographischen Basis. Sieben Jahre Blutvergießen an äußeren und inneren Fronten hatten tiefe Lücken in die Bevölkerung gerissen. Schätzungen besagen, dass 1914–1917 auf russischer Seite 1,6–2 Mio. Soldaten fielen und mehrere Hunderttausend Zivilisten im Gefolge der Kämpfe umkamen. Hinzu kam eine noch schwerer bestimmbare Zahl an zivilen Opfern von Cholera, Typhus und anderen Krankheiten. Als virtuelle Opfer sind – wie bei anderen demographischen Krisen auch – ferner die Ungeborenen einzubeziehen, die der normalen demographischen Reproduktion entzogen blieben; Angaben darüber beruhen allerdings auf bloßen Hochrechnungen einer als normal angenommenen Bevölkerungsvermehrung und unterliegen im Ergebnis besonderen Schwankungen. Der anschließende Bürgerkrieg 1918–20 kostete weitere ungezählte Leben. Mindestens 0,8–1,2 Mio., der jüngsten Schätzung zufolge sogar 2,5–3,3 Mio., fielen als Soldaten in den Kämpfen selbst; zwei weitere Millionen gingen an den Epidemien zugrunde, die durch schlechte Ernährung, mangelnde Hygiene in überfüllten Flüchtlingsquartieren, den Zusammenbruch der Wasserversorgung und andere Zerstörungen verursacht wurden. Damit nicht genug, machte die anschließende Hungersnot das Maß des Leids übervoll. Zwischen den Ernten der Jahre 1921 und 1922 starben mehr Menschen als im Bürger- oder Weltkrieg, ihre Zahl könnte 5 Mio. und mehr erreicht haben. Alles in allem summierten sich die ‹zusätzlichen› Todesfälle in der knappen Dekade von Januar 1914 bis Januar 1923 spätsowjetischen Berechnungen zufolge auf 7,3 Mio. bzw. 9,6 Mio., laut jüngsten, postsowjetischen sogar allein für die kürzere Zeitspanne von 1917 bis 1922 auf 12,7 Mio.
Im Auftrag des Völkerbundes hat einer der besten zeitgenössischen Sachkenner folgende Gesamtbilanz bis zur ersten Volkszählung der neuen Ära (August 1914 bis Dezember 1926) aufgemacht, die immer noch als Referenz einschlägiger Untersuchungen dient: Gefallene – 2 Mio.; zivile Tote – 14 Mio.; Emigration – 2 Mio.; unterbliebene Geburten – 10 Mio., zusammen also ein Defizit von 28 Mio. Die Zahl der zivilen Opfer ist dabei (als Restkategorie) ebenso errechnet wie die der Ungeborenen, die der Flüchtlinge eher zurückhaltend geschätzt. Die jüngste Gesamtkalkulation, in ähnlicher Weise belegte Daten und Interpolationen verbindend, senkt diese Zahl auf 20–25 Mio. Welche Angaben auch immer der Wirklichkeit am nächsten kommen, sie belegen zwei unbestrittene Befunde: dass entschieden mehr Menschen außerhalb der Armeen starben als in Uniform und dass der allergrößte Teil der Verluste nicht im Weltkrieg, sondern im Bürgerkrieg und der Hungersnot zu beklagen war.[1]
Dieser Aderlass, fraglos der verheerendste seit vielen Generationen, fand erst mit Beginn der NĖP ein Ende. Im ersten Jahr nach ihrer Einführung zählte man auf dem Territorium der baldigen Sowjetunion 136,1 Mio. Bewohner (vgl. Tabelle A–1). Der Zensus von 1926 ergab eine Gesamtsumme von 146,8 Mio.; dies entsprach in den Grenzen von 1913 einem Zuwachs von fast 8 Mio. Auch in demographischer Hinsicht waren mithin, ungefähr parallel zur Industrie und Landwirtschaft, die äußeren Wunden der sieben friedlosen Jahre einigermaßen verheilt. Allerdings hieß das nicht, dass alle Spuren getilgt waren. Es blieben strukturelle Schäden, die erst die Zeit beheben konnte. So gab es wenig Kinder der Bürger- und der ersten Kriegsjahre. Vor allem aber fehlten die in zarischer, roter oder weißer Uniform gefallenen Männer.[2]
Ein Blick auf die natürliche Bevölkerungsbewegung verdeutlicht diese Entwicklung. Im ausgehenden 19. Jahrhundert registrierte man im Zarenreich die höchste Geburtenrate und trotz einer ebenfalls hohen Sterblichkeit die höchste Zuwachsrate unter den führenden Ländern Europas. Vom ersten Gesamtzensus bis zum Ausbruch des Weltkriegs (1897–1914) nahm die Bevölkerung jährlich um 2,5–3 Mio. zu. Die hohe Kinderzahl hatte viel mit dem niedrigen Heiratsalter auf dem Lande, der Belohnung früher Familiengründung durch Landzuteilung von Seiten der obščina, geringer Verstädterung, fehlender anderweitiger Altersversorgung und anderen Aspekten einer rückständigen Wirtschafts- und Sozialordnung zu tun. Zugleich hatten Veränderungen, die unter dem Sammelbegriff der sozio-kulturellen Modernisierung zusammengefasst werden und phasenverschoben weltweit zur Verlangsamung des Bevölkerungswachstums führten, schon eingesetzt. Seit den 1880er Jahren begannen sowohl die Geburten- als auch die Sterberate zu sinken. Krieg und Revolution unterbrachen diese Entwicklung und schufen eine demographische Ausnahmesituation. Dazu trug nicht nur der millionenfache Tod bei, sondern auch die enorme, überwiegend erzwungene Migration, die Ehen zerriss und Familiengründungen verhinderte. Man hat geschätzt, dass bis Ende 1917 ca. 15,7 Mio. Menschen in die Armee eingezogen wurden. Deren Demobilisierung, die Flucht vor den äußeren Feinden und die Turbulenzen der beiden Revolutionen lösten eine Wanderung aus, die zum selben Zeitpunkt etwa 17,5 Mio. noch keinen neuen festen Wohnsitz hatte finden lassen. Schon kurze Zeit später entstand eine zweite Migrationswelle von kaum geringerem Ausmaß. Etwa 3,5 Mio. Männer traten der Roten, ca. 1 Mio. der ‹weißen› Armee bei, mindestens zwei, vielleicht sogar 3,5 Millionen Einwohner emigrierten ins Ausland, und ungezählte flohen danach vor dem Hunger aus den am stärksten heimgesuchten Regionen an der Wolga. Umso größere Beachtung verdient der Befund, dass schon 1924 nicht nur das absolute Bevölkerungsniveau von 1914, sondern auch das demographische Wachstumsmuster in etwa wiederhergestellt war. Das schloss den langfristigen Fall der Geburtenrate ein. Da die Mortalität aber infolge vor allem hygienischer Verbesserungen und der Senkung der Kindersterblichkeit noch stärker abnahm, war der Zuwachs erneut erheblich. Ob die ‹Nettoreproduktionsrate› dieser letzten Jahre der NĖP als normal gelten kann, gehört als einzig verfügbarer Maßstab zu den wichtigsten und zugleich umstrittensten Problemen (nicht nur) der demographischen Entwicklung in den folgenden anderthalb Jahrzehnten. In jedem Falle bewirkte erst der Beginn der Stalinära wieder eine tiefe Zäsur.[3]
Länger wirkten die Kriegsfolgen im Geschlechterverhältnis nach. Die erste gesamtrussische Volkszählung ergab 1897 im europäischen Reichsteil ein nicht unerhebliches Übergewicht von Frauen, das in einigen Gouvernements um Moskau 16–33 % erreichte. Umgekehrt registrierte man in den Städten deutlich mehr Männer als Frauen, im Gouvernement Moskau sogar 30 %. Ein Zusammenhang liegt nahe. Als Erklärung bietet sich die Arbeitsmigration an (otchod), die vor allem im zentralen Industriegebiet verbreitet war und überwiegend allein lebende, wenn auch nicht unverheiratete Männer in die Städte schwemmte. Der äußere und der innere Krieg ließen das Ungleichgewicht zu einer symptomatischen Verzerrung anwachsen. Zu Beginn der NĖP belief sich der Frauenüberschuss auf gut 6 Mio. Der Ausgleichsprozess, der um diese Zeit einsetzte, dauerte nicht lange genug, um sichtbare Resultate hervorbringen zu können. Allerdings bewirkte die höhere Männersterblichkeit, dass sich die Proportionen zwischen den Geschlechtern in den Städten einer Balance stärker annäherten als in den Vorkriegsjahren. Mit der NĖP setzte auch der otchod wieder ein. Er verbesserte die Relation zwischen Frauen und Männern in Moskau, der Stadt mit der höchsten Zahl an dörflichen Zuwanderern, zur Zeit des Zensus von 1926 auf 107:100. Auch diese Nivellierung wurde durch die große Wende von 1930 angehalten.[4]
Als Phase der Konsolidierung erweisen sich die zwanziger Jahre nicht zuletzt mit Blick auf die regionalen Wanderungsprozesse. Zu den markantesten demographischen Vorgängen des ausgehenden Kaiserreichs gehörte die rapide Urbanisierung. Auch wenn der Anteil von Stadtbewohnern an der Gesamtbevölkerung des Reiches im Durchschnitt bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs niedrig blieb (17,5 % nach den Kriterien des Zensus von 1926, sonst 14,6 %), bedeutete die Quote für die wenigen Zielpunkte der Migration einen dramatischen Zuwachs, der erhebliche soziale und politische Spannungen verursachte. Weniger der äußere Konflikt als der Bürgerkrieg unterbrach auch diese Entwicklung. In den Ballungsgebieten lösten Hunger und Arbeitslosigkeit eine regelrechte De-Urbanisierung aus. Bis 1920 verringerte sich die städtische Bevölkerung (in den Grenzen von 1939) von 25,8 Mio. (= 1917) auf 20,9 Mio. Umso rascher wurde dieser Verlust seit Beginn der NĖP wettgemacht. Die saisonale und permanente Zuwanderung in die Städte gewann in kurzer Zeit das Vorkriegstempo zurück. Schon Ende 1926 übertraf die Urbanisierungsquote mit 17,9 % zu 17,8 % den Vorkriegsstand, um im Zuge der nachfolgenden forcierten Industrialisierung ein Ausmaß zu erreichen, das auch im globalen Vergleich im 20. Jahrhundert beispiellos war.[5]
Die Urbanisierung war zum Teil identisch mit umfassenderen interregionalen Migrationsbewegungen, die sich ebenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdichteten und als weiterer Aspekt des tiefgreifenden sozioökonomischen Modernisierungsprozesses seit den Reformen Alexanders II. gelten können. Aufwändige Berechnungen haben ergeben, dass vor allem zwei Migrationsströme andauerten: Zum einen zogen die industriell-gewerblich verdichteten Gebiete mit höheren Einkommen, geringerer Analphabetenrate oder reicheren Ernten mobile Bevölkerungsteile an; zum anderen setzte sich eine – partiell, aber nicht allein von solchen Motiven gespeiste – Auswanderung aus den nordeuropäischen Regionen des Reiches in die südöstliche Steppe und den gesamten Osten (Sibirien) fort. Ziele der erstgenannten Migration waren überwiegend aufstrebende Industriestädte, Fluchtpunkt der Letztgenannten die unerschlossene, überwiegend agrarische Peripherie, das später vielzitierte «Neuland», das unter den Pflug kam. Sowohl die Ergebnisse der Volkszählung von 1897 als auch die der Erhebung von 1926 bestätigen diese Bevölkerungsverschiebungen. Mithin überdauerten sie nicht nur die Turbulenzen des Krieges, sondern auch die Zäsur der Revolution. Sie bahnten jener Bewegung gleichsam den Weg, der die Stalinsche Industrialisierung und die Auslagerung der Industrie nach dem deutschen Überfall vom Juni 1941 einen mächtigen Impuls gaben und die bis in die jüngste Zeit andauerte. Eine solche Kontinuität wird bei der Suche nach tieferen, mit den geistig-ideologischen und politischen Motiven sowohl der großen Umwälzung von 1917 als auch des gesamten sozialistischen Experiments unlösbar verknüpften Triebkräften zu bedenken sein.[6]
Der Stellenwert der zwanziger Jahre im Prozess der sozialökonomischen Modernisierung Russlands wird nicht zuletzt an der Berufs- bzw. Beschäftigungsstruktur sichtbar. Im Vergleich zwischen der Vorkriegs- und der Hochzeit der NĖP ergibt sich ein paradoxes Fazit: Ungeachtet des tiefen Einschnitts, den der Oktoberumsturz vor allem sozial bewirkte, überwog die Kontinuität. Die sozialistische Umwälzung (nicht das Ende des Zarenreichs im genaueren Sinn) vernichtete die alten Eliten. Der grundbesitzende Adel, dessen Zahl man für 1912 auf 95.000 Familien geschätzt hat, wurde enteignet und floh oder blieb besitz- und rechtlos im Lande. Das gleiche Schicksal ereilte zumindest die mittleren und größeren Unternehmer und Kaufleute, von denen nicht wenige ihre ehemaligen Betriebe nach der Verstaatlichung als Geschäftsführer leiteten. Und auch die höheren Beamten der zarischen Verwaltung, die korporativ (wie Lenins Vater als ‹Schulrat›) zumeist dem «persönlichen Adel» angehört und in mancher Hinsicht als eine Art von ‹Bildungsbürgertum› fungiert hatten, verloren Rang und Einkommen und schlossen sich zu einem erheblichen Teil der großen Emigration gegen Ende des Bürgerkrieges an. Diese soziale Revolution, deren politisch-kulturelle Bedeutung außer Frage steht, berührte aber die großen Proportionen der Beschäftigungs- und Vermögensstruktur der Gesamtbevölkerung wenig. Unverändert blieb im Wesentlichen eines: die Verteilung der Erwerbsquellen auf agrarische und nichtagrarische Tätigkeiten, die im Großen und Ganzen mit dörflichen und städtischen samt entsprechender Residenz kongruent waren. Unter diesem Aspekt stellte die NĖP nur den Zustand wieder her, den die Kriege und Revolutionen beschädigt hatten. Dabei fiel insbesondere ins Gewicht, dass die Zahl der ‹selbständigen Landwirte›, was immer darunter im Einzelnen zu verstehen war, mit 70,5 Mio. laut Zensus von 1926 wieder das Niveau von 1913 erreichte (vgl. Tabelle 5 sowie die groben, aber im Längsschnitt nicht anders verfügbaren sowjetischen Angaben zur «Klassenstruktur» in Tabelle A–3/1). Allerdings gab es auch sichtbare Veränderungen. So ging die Zahl der selbständigen Kleingewerbetreibenden von 2,7 Mio. auf 1,6 Mio. zurück – ein Vorgang, der anzeigt, dass die Wiederzulassung von Handwerk und Kleinhandel im Gefolge der NĖP die Schäden des ‹Kriegskommunismus› nicht völlig kompensieren konnte. Desgleichen schrumpfte die Zahl der ‹unselbständig› landwirtschaftlich Tätigen, eine Folge vermutlich der Landnahme in der Revolution, während die der industriell Beschäftigten nur unwesentlich hinter dem Vorkriegsstand zurückblieb. Die große Transformation stand dem Land, quantitativ wie qualitativ, noch bevor.