1945 |
1946 |
1947 |
1948 |
1949 |
1950 |
|
Gesamt |
100,0 |
100,0 |
100,0 |
100,0 |
100,0 |
100,0 |
Davon |
||||||
aus der Kolchose |
3,7 |
4,2 |
4,4 |
11,6 |
14,6 |
19,7 |
aus der MTS |
0,3 |
0,4 |
0,5 |
1,0 |
0,6 |
0,6 |
Lohnarbeit |
6,9 |
9,5 |
10,5 |
18,3 |
20,8 |
20,2 |
Heimarbeit |
1,4 |
2,0 |
2,0 |
1,6 |
1,4 |
1,4 |
aus Pflichtablieferungen |
0,5 |
0,5 |
0,5 |
1,2 |
1,3 |
1,4 |
aus Pflichtablieferungen an Vieh und Geflügel |
0,1 |
0,2 |
0,2 |
0,4 |
0,4 |
0,5 |
Verkauf und Kontraktabgabe von Vieh |
14,8 |
18,9 |
18,2 |
16,6 |
14,2 |
11,8 |
Verkauf von landwirtschaftlichen Produkten |
58,3 |
49,9 |
50,0 |
36,6 |
33,0 |
31,6 |
Erlös aus Fischfang und Jagd |
0,9 |
2,1 |
1,6 |
1,2 |
1,2 |
0,9 |
Pensionen und Beihilfen der Sozialversicherung |
2,2 |
3,6 |
4,4 |
6,8 |
7,7 |
7,5 |
Beihilfen für Familien Armeeangehöriger |
2,5 |
1,4 |
0,7 |
0,5 |
0,6 |
0,5 |
Versicherungsleistungen |
0,1 |
0,2 |
0,1 |
0,1 |
0,3 |
0,2 |
Anleihegewinne |
0,5 |
0,6 |
0,7 |
0,3 |
0,7 |
0,8 |
Abhebungen von der Sparkasse |
0,2 |
0,1 |
0,1 |
0,2 |
0,1 |
0,2 |
Quelle: Istorija krest’janstva SSSR IV, 180–81
Auch verschiedene andere Indikatoren des materiellen Lebensniveaus auf dem sowjetischen Dorf der Nachkriegszeit lassen ein ambivalentes Bild erkennen. So zeigen Berechnungen des Verzehrs, dass sich der Speiseplan der durchschnittlichen Bauernfamilie zwar veränderte, aber nicht grundlegend. Der Getreidekonsum nahm wieder zu. Kartoffeln kamen zunächst häufiger, gegen Ende des Planjahrfünfts seltener auf den Tisch. Der Verbrauch von Gemüse und Eiern blieb in etwa gleich; der von Milch ging sogar zurück; dafür stieg – ein wichtiger Maßstab ausreichender Ernährung – der Genuss von Fleisch und (tierischen) Fetten deutlich an, wenngleich man sich den Braten nach wie vor nur selten leisten konnte. Alles addiert, aßen die Bauern 1950 mehr und besser als zehn Jahre zuvor; aber groß war der Unterschied nicht. Ungleich schneller kam die Versorgung mit industriellen Konsumgütern voran. Von Textilien über Schuhe und Kerosin (für die Lampen) bis zu Wasch- und Toilettenseife erhöhte sich der Verbrauch um ein Vielfaches (bis 600 %). Allerdings fehlen hier Vergleichsdaten für die Vorkriegszeit, so dass die Aussagekraft der Steigerungsraten sehr begrenzt bleibt.
Aus anderen Gründen sind auch Angaben über den Bau von Wohnungen und kulturellen Einrichtungen mit Vorsicht zu betrachten. Außer Zweifel steht, dass die schlimmste Not gelindert wurde. In den Besatzungsgebieten, wo noch zwei Jahre nach Kriegsende ca. 60.000 Familien in Erdhöhlen lebten, wurden Hunderttausende neuer Häuser gebaut. Da der Staat die Dringlichkeit des Problems erkannte, verzichtete er anfangs oft darauf, selber die Federführung zu übernehmen. Die Kolchosen bildeten Brigaden, deren Tagewerke der Gemeinschaft angeschrieben (die aber auch von ihr bezahlt) wurden, auch wenn sie den Familien ein privates Dach über dem Kopf verschafften. Zudem gewährte der Staat individuelle Kredite, mit denen die Bauern solche dann von ihnen selber beauftragte Brigaden bezahlen oder die Materialien kaufen konnten, die sie in eigener Arbeit zu einem Haus zusammenfügten. Allein in Weißrussland entstanden auf diese Weise in den ersten drei Nachkriegsjahren ca. 340.000 Häuser für 1,8 Mio. Menschen. Nach dieser ersten Hilfe konnte man auch darangehen, das kulturell-zivilisatorische Angebot auf dem Lande zu verbessern. Die Kolchosen errichteten Klubs und Lesesäle, an zentralen Orten öffneten ‹Kulturhäuser› und Schulen ihre Pforten. Unklar bleibt, welche qualitativen Veränderungen sich hinter den quantitativen Erfolgsmeldungen verbargen. Die Vermehrung der entsprechenden Räumlichkeiten war durchaus eindrucksvoll; in der Regel wurde der Vorkriegsstand auch übertroffen. Wieweit Klubs und Lesesäle aber in Anspruch genommen wurden und welche Erfolge der Besuch der neuen Schulen brachte, lässt sich nicht genau beantworten. Sicher ging es aufwärts, aber langsam, denn die Rückkehr zum Frieden bedeutete in jeder wesentlichen Hinsicht auch die Rückkehr zum Alten.[13]
Zu erwähnen ist schließlich eine Schicht, die sich in mancher Hinsicht der Beschreibung entzog: die der sog. wissenschaftlich-technischen Arbeiter, aus denen sich ein erheblicher Teil der Intelligenz rekrutierte. Einerseits deutet alles darauf hin, dass sie quantitativ und strategisch weiter an Bedeutung gewann; andererseits blieben ihre Konturen unscharf. Der Zusammenbruch der regulären Ausbildung und Laufbahn im Krieg zwang gerade in dieser Hinsicht zur Improvisation. Viele Betriebe zogen ihre technischen Kader unter Rückgriff auf die obligatorischen Arbeitsreserveschulen selbst heran. Dadurch konnten sie den Bestand an hinreichend ausgebildetem Personal in bemerkenswertem Maße sichern (1940.932.000, 1945.806.000). Zugleich wurde der Übergang zwischen den einzelnen Gruppen leichter; faktische Qualifikation ersetzte die formale. Die Friedenswirtschaft und der Fortgang der Industrialisierung lenkten die Entwicklung auch in dieser Hinsicht wieder zu den Vorkriegszuständen zurück. Gegen Ende der Wiederaufbaujahre kam eine wachsende Verfestigung der sozialen Struktur hinzu. Die Ära der außerordentlichen – von Terror und Krieg begünstigten – Aufstiegschancen ging zu Ende; die gesamtgesellschaftliche Mobilität ließ nach. Beide Veränderungen stärkten bei parallel steigenden Anforderungen das Gewicht schulisch-formaler Qualifikation.
So wie die Bewährung in der Partei zur Übernahme leitender administrativer Positionen immer weniger ausreichte, bedurfte es auch in den oberen Etagen der verstaatlichen Wirtschaft zusätzlicher Fachkenntnisse. Dafür spricht nicht nur die starke Vermehrung des entsprechenden Personenkreises von 806.000.1945 auf 1,2 Mio. 1950 und 1,5 Mio. bei Ende der nächsten Planperiode. Ebenso deutlich ist der Fingerzeig, den die Angaben über die Hochschulabgänger enthalten. Von allen höheren Lehranstalten, darunter vielen technisch-naturwissenschaftlichen Fachhochschulen, fanden 1938–40 72.000, 1941–45 54.200, 1946–50 aber bereits 112.900 und 1951–55.219.000 Aufnahme in Industrie und Bauwesen. Offensichtlich wuchs hier in raschem Tempo eine Qualifikationselite heran, deren Grundstein ebenfalls bereits vor dem Krieg gelegt worden war, die aber in den Jahren des Wiederaufbaus auf zunehmend günstige Rahmenbedingungen traf. Bezeichnend war dabei (auch in den folgenden Dekaden), dass sie nicht nur sektoral die führenden Funktionen übernahm, sondern darüber hinaus weiter zum gesamtgesellschaftlichen Leitbild avancierte. Der Ingenieur verkörperte den Wunschtraum von Modernisierung und einer besseren Zukunft. Er stand für Wissen, Kompetenz und Machbarkeit. Zugleich warf seine Idealisierung auch ein bezeichnendes Licht auf den rein technisch-materiellen Gehalt des ‹sozialistischen Aufbaus›. Quantitativ rivalisierte am ehesten der Lehrer mit ihm. Die Rubrik «Bildung», die hauptsächlich er füllte, wuchs sogar noch schneller als die der technischen Kader. Dennoch wird man darin eher eine Voraussetzung als ein Ziel zu sehen haben. Der Übergang zur industriellen Massengesellschaft verlangte eine höhere Allgemeinqualifikation. Aber die Lehrer, die dafür nötig waren, wurden schlecht bezahlt und nahmen (außerhalb der Wissenschaft) einen niedrigen Rang in der sozialen Prestigeskala ein. Gleiches galt für Ärzte, Hygienefachleute und sonstige Träger des öffentlichen Gesundheitswesens. Man brauchte sie eher, als dass man sie prämierte.[14]
Quer zu all diesen Gruppen stand (und steht überwiegend) die Intelligenz im russisch-sowjetischen Sinn. Auch das kleine Fähnlein der Kunst- und Filmschaffenden ist ihr nicht ohne Weiteres zuzurechnen. Schon seit zarischer Zeit bildete sie ganz überwiegend eine geistig-kulturelle Kategorie, keine soziale. Zu ihr zählte, wer ihre Werte teilte, nicht, wer eine bestimmte beruflich-fachliche Qualifikation besaß.
Gute Gründe stützen die Meinung, dass Partei und Staat bei der Rückkehr zum Alten im kulturell-geistigen Leben besonders abrupt und rigoros vorgingen. Wer die Verhärtung nicht im politischen Leben spürte oder in den Strudel des erneuerten Terrors geriet, der konnte bald an der Propaganda, an Lehrinhalten und den verschiedensten Ausformungen von Kunst und Wissenschaft ablesen, was die Stunde wieder geschlagen hatte. Denn der Friede hob die Notwendigkeit jener Konzessionen auf, die der Zwang zur Mobilisierung aller Überlebenskräfte hervorgerufen hatte. Schon seit der Wende des Jahres 1943 kursierten Gerüchte, die wissen wollten, dass es mit der relativen Liberalität bald ein Ende habe. So fiel die Rückbesinnung auf den ‹reinen Leninismus› nicht vom Himmel. Sie kam mit dem Sieg, weil die Selbstbehauptung auch ein Triumph des Regimes war. Bitter genug, brachte die äußere Befreiung keine innere, sondern das Gegenteil.[1]
Dabei lohnt es darüber nachzudenken, ob der Zeitpunkt des Kampagnenbeginns zufällig war. Ein Jahr lang gewährten Partei und Regierung der Bevölkerung eine Verschnaufpause. Sie mussten den Übergang zum Frieden vollziehen, das Land neu organisieren und hatten stärker als zuvor und danach die Bedürfnisse der geschundenen Bevölkerung im Blick. Im Sommer 1946 mehrten sich die Zeichen für ein Ende dieser Schonzeit. Die schlimme Dürre zeigte Wirkung, der Kalte Krieg kündigte sich an. In dieser Situation hatten diejenigen leichtes Spiel, denen die patriotische ‹Libertinage› ohnehin ein Dorn im Auge war. Für sie sprach Ždanov als Ideologiefachmann des Politbüros in einer berühmt-berüchtigten Rede vor Leningrader Schriftstellern und Parteigenossen, die am 14. August 1946 in einen formellen ZK-Beschluss umgesetzt wurde. Ždanov wählte zwei Schriftsteller für seine Attacke aus, meinte aber die Verlockung ästhetischer Autonomie generell. Was Michail Zoščenko und Anna Achmatova vorgeworfen wurde, stand für zwei der größten geistigen Gefährdungen nach den Maßstäben stalinistischer Orthodoxie: für zersetzenden ‹Negativismus›, der den Sowjetstaat diskreditiere, und für selbstverliebten ‹Formalismus›, der das Geschäft der Konterrevolution, des «reaktionären Obskurantismus», betreibe. Leicht ist zu sehen, dass sich hinter solchen Verunglimpfungen nicht der unbedeutendsten unter den zeitgenössischen Literaten zwei fundamentale Glaubenssätze des sozialistischen Realismus alter Prägung verbargen. Der ‹positive Held› sollte in gleicher Weise wieder zur Pflicht werden wie die ideologische Botschaft. Literatur und Kunst hatten nicht zu mäkeln oder sich selbst zu genügen, sondern vorbildlich zu sein.
Zugleich verdient Beachtung, dass die approbierte Gestaltungsweise eine Reihe von Konnotationen einschloss, die kaum weniger über die offiziell-normativen kulturell-geistigen Werte aussagten als sie selbst. Zoščenkos Satire vom Affen, der sich durch den mühseligen, von Elendsquartieren und Armut, von Mangelwirtschaft und Trunksucht geprägten sowjetischen Alltag schlägt und aus seiner tierisch-verkehrten Sicht die Wahrheit sagt, ließ nicht nur die Anerkennung sozialistischer Leistungen vermissen. Darüber hinaus störten die Kritik und die exponierende, als Brennglas dienende Einseitigkeit. ‹Gewohnheitsmäßige Verhöhnung› wollte sich das Regime ebenso wenig gefallen lassen wie vor dem Krieg. Was ihm missfiel, erhielt den Stempel des ‹Widerlichen› und ‹Oberflächlichen›. So wie Ždanov nicht versäumte, Zoščenkos angebliche Verirrungen aus seiner Vergangenheit als Mitglied der bewusst apolitischen «Serapionsbrüder» herzuleiten, so warf er auch Achmatova vor, die Ideale ihrer vorrevolutionären Jugend nicht aufgegeben zu haben. Von ‹Imaginisten›, ‹Symbolisten› und ‹Dekadenten aller Schattierungen› habe sie sich nicht gelöst. Ihre Kunst sei esoterisch und «dem Volk vollkommen fremd». Dass auch der Vorwurf des Bigotten und Pornographischen nicht fehlte («halb Nonne, halb Dirne»), nimmt ebenso wenig wunder wie die Billigung patriotischer Untertöne. Es war abermals eine stalinistisch-sozialistische Variante des gesunden Volksempfindens, die Ždanov mit der Androhung staatlicher Sanktionen zur verbindlichen Norm erhob. Weder ihr Inhalt noch die Art ihrer Durchsetzung enthielten Neues, aber die Wende war nach der relativen Freiheit der Kriegsjahre schroff. Auch darin mag begründet sein, dass Zoščenko über den formellen Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, der dem obrigkeitlichen Tadel noch am selben Abend folgte, zerbrach.[2]
Was der Literatur recht war, sollte den anderen Künsten billig sein. Dabei machten weitere offizielle Resolutionen klar, dass die Parteimeinung auch in dieser Hinsicht einem Befehl gleichkam. Am 4. September legte man dem Film noch engere Zügel an, als dies unter dem vereinnahmenden Druck der Vaterlandsverteidigung ohnehin der Fall gewesen war. Die Inszenierung des Wiederaufbaus im Donecbecken unter dem Titel «Ein großes Leben» musste sich vorhalten lassen, «die Sowjetmenschen falsch und verzerrt» darzustellen. Statt wirklicher Helden präsentiere sie dem Zuschauer Faulenzer, Trunkenbolde und Ignoranten. Ždanov vermisste auf der Leinwand ebenfalls das Konstruktive und plädierte dafür, dass der «Realismus» nicht die Wirklichkeit, sondern die ideologisch verschönerte Vorstellung von der Wirklichkeit wiedergebe. Auch dieser Tadel galt dabei nicht einem Werk allein. Man liest ihn kaum falsch, wenn zwei später namentlich genannte prominente Regisseure ihre eigentlichen Ziele waren. Selbst dem großen Eisenstein wurde die «Ignoranz» vorgeworfen, im zweiten Teil seines Epos über Ivan den Schrecklichen «das fortschrittliche Heer der Opritschniki» als «entartete Bande vom Schlage des amerikanischen Ku-Klux-Klan» porträtiert zu haben. Ähnlich erfuhr der nicht weniger bekannte Pudovkin, dass er keinen Film über den historischen Helden Admiral Nachimov – so der Titel – gedreht habe, sondern einen «über Bälle und sonstige Tanzveranstaltungen». Pudovkin kroch zu Kreuze. Sein Film wurde geschnitten und gezeigt. Eisenstein erbat und erhielt eine Audienz bei Stalin persönlich, die ihm nicht half. Seine «Fehler» waren irreparabel, der Film verschwand im Archiv. Eisenstein erlitt eine Herzattacke und starb zwei Jahre später im Alter von nur fünfzig Jahren.[3]
Um dieselbe Zeit verstärkten sich auch die Angriffe auf die zeitgenössische Musik. Nicht zuletzt an Opern und sonstigen Kompositionen vermisste Ždanov den Rückgriff auf die «besten Traditionen» der russischen Klassik, besonders die Melodik und Harmonie. An ihre Stelle träten formalistische Experimente mit Atonalität und Dissonanz. Im Kern wiederholte der entsprechende ZK-Beschluss vom 10. Februar 1948 die Kritik, die zwölf Jahre zuvor an Šostakovičs Vertonung der Leskovschen Novelle über die «Lady Macbeth von Mcensk» geübt worden war. Auch der Spätstalinismus wandte sich gegen esoterische «Volksfeindlichkeit» und zersetzende Vernünftelei. Was stattdessen gewünscht wurde, dürfte einem Pendant zu jener affirmativen Selbstrepräsentation nahegekommen sein, die in der Architektur immer deutlicher zutage trat. Wer die Bahnhöfe der Moskauer Metro, über fast zwei Jahrzehnte errichtet, miteinander vergleicht, dem fällt diese Veränderung ins Auge. Die schnörkellose (dabei durchaus nicht unscheinbare) Geradlinigkeit kubischer, lichtvoller, von Marmorkolonnaden gesäumter Hallen wich kirchenschiff- und gelegentlich grottenähnlichen, dunkleren Räumen, deren Ende überlebensgroße Reliefs und Bilder freudiger Industriearbeit oder überreich belohnter Ernteeinsätze sozialistischer Helden und Heldinnen zierten. Manieristischer Prunk löste die letzten Reste funktionaler Sachlichkeit ab. Der späte Stalinismus verzichtete auch in seiner Architektur auf Dynamik und Bewegung. Seltsam statische Üppigkeit erzeugte eine erkennbar falsche Scheinwelt – sozialistischen Barock.[4]
Auch vor der Wissenschaft machte die materialistische Eiszeit nicht Halt. In mancher Hinsicht erreichte sie auf diesem Gebiet sogar einen Höhepunkt. Einige Disziplinen wurden durch die neue Macht des Dogmas um Jahrzehnte zurückgeworfen, weil sie Forschungserkenntnisse der jüngeren Vergangenheit öffentlich nicht zur Kenntnis nehmen durften und der Anschluss an die internationale Diskussion endgültig verlorenging. Andere konnten zumindest nicht ungehindert verfolgen, was im Westen vor sich ging, und Geld für Experimente fehlte ohnehin. Weil der Schaden, auch materiell, so immens war, gelten die Vorgänge in der sog. Agrobiologie als exemplarisch. Was hier an Verirrung für sakrosankt erklärt und jahrelang praktiziert wurde, ging aufgrund der besonderen Agilität, Bösartigkeit, aber auch – auf seine Weise – Wirksamkeit eines Beteiligten sicher über das Normalmaß hinaus. Andererseits warf allein ihre Möglichkeit ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis zwischen verordneter Ideologie und vorurteilsfreier Forschung.
Denn die Thesen des erwähnten Pflanzenkundlers Lysenko hatten sich im Kern nicht verändert. Nach wie vor bestritt er den Zufallscharakter von Mutationen und behauptete stattdessen die grundsätzliche Möglichkeit, durch Veränderung der Umgebung neue, linear vererbbare Eigenschaften zu züchten. Mit diesen Anschauungen passte Lysenko nachgerade musterhaft in das Ždanovsche Konzept, schien er doch zu beweisen, dass die offizielle Welt-Sicht mit den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft nicht nur vereinbar war, sondern diese nachgerade vorweggenommen habe. Hinzu kam ein ‹nationaler Vorzug› von wachsendem Gewicht. Im Maße der Eskalation des Kalten Kriegs gewann der Patriotismus abermals an integrativer Qualität. Offiziell fielen die Adjektive sozialistisch und russisch-sowjetisch nun auch im Frieden in eins. So passte es in die politische Gesamtsituation, dass Lysenko seit dem Frühjahr 1948 mit obrigkeitlicher Hilfe endgültig die Oberhand gewann. Ein gutes Jahrzehnt lang waren kritische Stimmen in der Akademie der Wissenschaften nicht verstummt. Sie hatten seine Stellung zwar nicht erschüttern, aber doch seine Alleinherrschaft verhindern können. Nun verbanden sich die Umstände zu seinen Gunsten. Dabei war es bezeichnend, dass Lysenkos Triumph mit dem Sturz (und Tod) Ždanovs zusammenfiel. Andere traten dessen ideologisches Erbe an: Es gab einen Ždanovismus ohne Ždanov – Indiz dafür, dass die ideologische Verhärtung nicht von ihm allein, sondern von der gesamten Parteiführung getragen wurde. Die entscheidende Sitzung der (Leninschen Allunions-)Landwirtschaftsakademie fand Anfang August 1948 statt. Lysenko versäumte nicht, die Versammlung durch den Hinweis vollends gefügig zu machen, Stalin selbst habe seinen Thesen zugestimmt. So wurde die Behauptung von der umweltabhängigen Manipulierbarkeit der Erbanlagen zur allein gültigen Lehre erhoben; abweichende Auffassungen traf der Bann. Dank der neuen Massivität staatlich-parteilicher Unterstützung blieb die Ächtung keine bloße verbale Erklärung. Einflussreiche Widersacher wurden ihrer Ämter enthoben, Experimente zum Beweis alternativer Hypothesen verboten, «falsche» Bücher aus den Bibliotheken entfernt. «Grauhaarige Wissenschaftler», die es besser wussten, mussten sich in Lysenkos Vorlesungen begeben, «um neu zu lernen». Um den Monopolisten entstand ein regelrechter Kult. Büsten und Hymnen, die seine Leistung priesen, verbargen den einen und dokumentierten den anderen, was Lysenkos Sieg in Wahrheit bedeutete: den weiteren, unaufholbaren Rückfall der sowjetischen Genetik hinter den globalen, vom Westen bestimmten Standard.[5]
Offensichtlich stand dieses amtliche Unfehlbarkeitszeugnis für Lysenkos Scharlatanerie in enger Verbindung mit weiteren, ungefähr zeitgleichen Kampagnen. Bereits 1947 lebte die alte Debatte über Materialismus und Idealismus in der Philosophie, besonders der naturwissenschaftlichen, wieder auf. Auch dabei zog Ždanov die Fäden. Nachdem er dem Verfasser einer neuen «Geschichte der westlichen Philosophie» auf einer Konferenz höchstpersönlich die Leviten gelesen hatte, leitete die neu begründete Fachzeitschrift zu Beginn des folgenden Jahres eine neue Phase der Kontroverse um das Weltbild der modernen Physik ein. Programmatisch verwarf ein Beitrag vom März 1948 den Versuch, die Quantenmechanik in der Bohrschen Interpretation für marxistische Erkenntnistheorie annehmbar zu machen. Statt Letztere, wie vorgeschlagen, in eine flexible Deutung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses einzufügen und die Substanz des Problems an sich als unverändert zu betrachten, erklärte er die Hypothesen und Beweise von der Planckschen Korpuskulartheorie bis zur Heisenbergschen Unschärferelation für unstatthaften Idealismus. Auf Ždanovs Geheiß bekräftigten die Wissenschaftszensoren, dass nicht sein konnte, was nicht sein durfte: Die Beschaffenheit der Realität sollte nicht vom Standpunkt des Betrachters abhängen, das Bezugssystem von Raum und Zeit nicht relativ und die Materie nicht mehrdeutig sein. Auch in der theoretischen Physik war für 1949 eine Unionskonferenz geplant, um die «Wahrheit» ex cathedra zu verkünden. Zum Glück der wahrscheinlichen Opfer fiel die Veranstaltung aus, weil Berija auf Drängen Kurčatovs intervenierte. Lediglich ein Sammelband erschien zwei Jahre später, der fast die gesamte einschlägige, stark jüdisch geprägte sowjetische Elite, von Ioffe über Ja. I. Frenkel’ bis L. D. Landau, anschwärzte und ihre international längst anerkannten Erkenntnisse auf den Index setzte. Bei alledem war es kein Zufall, dass sich die Maßregelung weitgehend auf verbale Kritik beschränkte: Man brauchte die Gescholtenen im Rüstungswettlauf mit den Vereinigten Staaten. Mit ‹materialistischer› Physik des 19. Jahrhunderts ließ sich keine Atombombe bauen. Die Spezialisten, die dies 1949 zuwege brachten und 1953 die noch verheerendere nukleare Sprengkraft des Wasserstoffs erfolgreich testeten, gingen von den Überlegungen und Berechnungen Einsteins, Bohrs und Heisenbergs aus, nicht von ‹marxistischen›.[6]
In mancher Hinsicht flossen die Kritik an ‹entarteter› Literatur und Musik, der molekularen, von der Spontanmutation ausgehenden Genetik, der ‹idealistischen› Elementarphysik und andere Angriffe auf angebliche Abweichungen vom materialistisch-dialektischen Königspfad in der Kampagne gegen den sog. «Kosmopolitismus» zusammen. Obwohl schon Ždanov nationalpatriotische Töne angeschlagen hatte, um Kunst und Wissenschaft in eine sowjetsozialistische Form zu trimmen, geriet die entsprechende Propaganda erst nach seinem Tod richtig in Fahrt. Dabei zeigte sich noch deutlicher als bei den übrigen Attacken, dass das Feindbild höchst unscharf war. Inhalte und Personen ließen sich so weit austauschen, dass auch ehemalige Schützlinge Ždanovs in die Schusslinie gerieten. Im Kern entpuppte sich der ‹Anti-Kosmopolitismus› als Antisemitismus: Seine Opfer waren ganz überwiegend Juden. Die Verfolgung erstreckte sich dabei auf die verschiedensten Bereiche der Kultur. Ob Schriftsteller, Literaturkritiker, Philosophen oder Naturwissenschaftler, wer jüdischer Herkunft war – und das galt für überaus viele –, stand in besonderer Gefahr, ‹wurzelloser› Volksfeindlichkeit beschuldigt und mit Lagerhaft bestraft zu werden. Wenig spricht dafür, diese und die anderen Kampagnen der späten Stalinära irrational im Sinne des Selbstlaufs zu nennen. Aber sie waren insofern willkürlich, als ihr Gegenstand immer beliebiger wurde: Die Parteiherren brauchten Sündenböcke, gleich welche.[7]
Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, dass die Kampagnen auf bestimmte Bereiche beschränkt blieben und selbst hier keine dauerhafte Durchschlagskraft entfalteten. Gewiss forderte auch die Ždanovščina zahlreiche Opfer, darunter solche im schlimmsten Sinne der physischen Vernichtung. Und in einigen Berufsgruppen, vor allem unter den Biologen und den Schriftstellern nach dem zwölften Allunionskongress vom Dezember 1948, kam es sogar zu regelrechten «Säuberungen». Dennoch ignorierten viele Betroffene die obrigkeitlichen Zumutungen in einer Form, die von Ablehnung kaum zu trennen war. Dabei legt die Chronologie den Verdacht nahe, dass der unerwartete Tod Ždanovs solche Verhaltensweisen erleichterte. Auch wenn die Angriffe von Stalin und dem Politbüro gebilligt wurden, fehlte seit dem Spätsommer 1948 die treibende Kraft. Schon die nächste, 13. ordentliche Versammlung der organisierten sowjetischen Schriftsteller nahm Warnungen vor einer «mechanischen» Übertragung politischer Überzeugungen in die Literatur mit Beifall zur Kenntnis. Desgleichen interpretierten viele Zuhörer die Kritik an ‹missverstandenem› Vorgehen gegen die drei großen Übel des ‹Kosmopolitismus›, ‹Idealismus› und volksfernen ‹Subjektivismus› sicher richtig als Ermunterung zur Mäßigung. Wenn auch verschleiert, setzte sich die Einsicht durch, dass man die Künste nicht so eng an die ideologische Kandare legen konnte, ohne ihre ästhetische Qualität vollends zu opfern und den bald bemängelten unglaubwürdigen und immergleichen süßlichen ‹Glanz› (lakirovka) nachgerade zu provozieren.[8]
In der Wissenschaft konnte sogar von deutlichem Widerstand die Rede sein. Parallel zur Korrektur der ideologischen Strenge in der Literatur wagten es vor allem theoretische Physiker, offen gegen die vorgeschriebenen Lehrmeinungen zu protestieren. Sie verteidigten die Revolution des Weltbildes unter anderem dadurch, dass sie eine klare Trennung zwischen ‹philosophischer› und ‹physikalischer Relativität› forderten. Wer Einsteins Theorien akzeptiere, stelle den recht verstandenen ‹historisch-dialektischen Materialismus› dadurch keineswegs in Frage. Geradezu als Provokation musste auf glaubensfeste Dogmatiker der Umstand wirken, dass die indizierten Schriften nicht nur weiterhin gelesen, sondern drei Werke Heisenbergs auch in russischer Übersetzung veröffentlicht wurden. Ähnlich verfuhren die Mathematiker, die trotz aller Kritik am ‹Formalismus› den Anschluss an die internationale Entwicklung nicht verloren. Und selbst einige Biologen probten den Aufstand. Wenn auch recht spät, veröffentlichte eine der führenden Fachzeitschriften 1952 prinzipielle Einwände gegen Grundannahmen des ‹Lysenkoismus›. Zugleich wurden ausländische Werke übersetzt, die konträre Gedanken entfalteten. Mithin trat schon vor Stalins Tod klar zutage, dass der Versuch, ein umfassendes Parteimonopol in allen Bereichen der Weltdeutung, von der künstlerischen Darstellung bis zur wissenschaftlichen Erklärung, zu verankern, zum Scheitern verurteilt war. Ein so weitgehender Monismus geriet offensichtlich in Gegensatz zu unbestreitbaren Erkenntnissen und unverzichtbaren Eigengesetzlichkeiten der wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen.[9]
Anders sah es nach wie vor in den Geisteswissenschaften aus. Auch sie hatten sich zwar zu einem erheblichen (und wachsenden) Teil unter das große, schützende Dach der Akademie der Wissenschaften flüchten können. Aber zum einen beschränkte sich die Unabhängigkeit im Wesentlichen auf den engen Kreis der (lebenszeitlich berufenen) Vollmitglieder (Akademiki), zum anderen blieb das Gewicht der Geisteswissenschaften in der Akademie bei aller Zunahme bescheiden. Hinzu kam der anhaltende, in mancher Hinsicht sogar verstärkte Druck des Regimes: Während die Naturwissenschaften die äußere und ökonomische Überlebensfähigkeit zu sichern hatten, zog man die Geisteswissenschaften weiterhin zur Legimation und inneren Festigung heran. Während Ersteren dafür faktisch ein gewisser Freiraum autonomer Fortentwicklung attestiert wurde, verzichtete man bei Letzteren nicht nur darauf, sondern verpflichtete sie mit neuer Strenge auf den universalen Gültigkeitsanspruch der Staatsideologie – einschließlich durchaus wechselnder Deutungen.
Es ergab sich daher von selbst, dass die Geisteswissenschaften ähnlich hart von der Zdanocvščina getroffen wurden wie Literatur und Musik. Was der Geschichtswissenschaft, immer noch mit einer Schlüsselfunktion versehen, widerfuhr, kann dabei als exemplarisch gelten. Im Krieg hatten nicht zuletzt die berufsmäßigen Historiker Anlass gesehen, in den patriotischen Chor einzustimmen. Die altrussische Geschichte fand neues Interesse. Moskowitische Helden zogen gemeinsam mit ‹großen Männern› des 18. und 19. Jahrhunderts in die Ahnengalerie des Sowjetimperiums ein. Man entdeckte die ‹Entstehung des zentralisierten Einheitsstaates› als Grundlage aktueller Größe und genierte sich nicht, das Schreckensregime Ivans IV. zur unverzichtbaren Politik der harten Hand zu verharmlosen, die Stalin als Vorbild dienen konnte. Mit dem Frieden zog eine gewisse Unsicherheit ein. Die nationale Orientierung hielt an, zumal sie (wie erwähnt) nicht erst nach dem deutschen Überfall entstand, sondern Fleisch vom Fleische des Stalinismus war. Andererseits lebte eine marxistische Strömung wieder auf, die den Verzicht auf Klassenkampfparolen als Konzession an die Notlage verstanden hatte und nun zu den ideologischen Ursprüngen des revolutionären Staates zurückdrängte.
Allerdings gab erst der offene Ausbruch des Kalten Krieges zur Konkretisierung des Neuen Anlass. Was Ždanov im Sommer 1947 – ein Jahr nach seiner ‹literarischen› Philippika – der Abhandlung über die westliche Philosophie ankreidete, wurde auch als Direktive für das offiziöse Geschichtsbild verstanden: Die nationale Komponente hatte der marxistischen an die Seite zu treten; der Feind stand zwar außerhalb der Grenzen, verfügte aber über innere Agenten, die an ihren ‹Abweichungen› von der Parteilinie zu erkennen waren. In diesem Geiste fand im Januar 1948 die erste sog. Diskussion im Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften statt, die wie viele nach ihr in Wahrheit der Durchsetzung der Parteilinie diente. Was dem ersten Opfer I. I. Minc – Verfasser einer (später zum monumentalen Standardwerk erweiterten) Darstellung der Revolution von 1917 und noch kurz zuvor mit der Dokumentation des großen Sieges von Stalingrad beauftragt – vorgeworfen wurde, war bezeichnend: das Gründungsdrama des Sowjetstaats als Ergebnis von Klassenkämpfen, nicht als Befreiung Russlands von ausländischem Kapital beschrieben zu haben. Folgekonferenzen im März 1948 und 1949 machten deutlich, dass sich der Akzent der Anklage immer weiter auf die angeblich mangelnde Wertschätzung von Errungenschaften der russischen Geschichte verlagerte. Der normannische Ursprung der Waräger und des ersten slavischen Staatsgebildes sei nicht entschieden genug zurückgewiesen, die großen Leistungen Lomonosovs und anderer hervorragender Gelehrter des achtzehnten Jahrhundert ungenügend gepriesen und überhaupt der Beitrag Russlands zur Entwicklung der Welt vernachlässigt worden. Die verbalen Kainsmale Ždanovscher Prägung, die jedem beliebigen Opfer stereotyp angeheftet wurden, drangen auch in die Spalten historischer Fachzeitschriften ein. Von ‹Kriecherei› vor dem Feind war ebenso die Rede wie vom ‹Kosmopoliten ohne Freunde und Verwandte›. Überhaupt wurden die Gemaßregelten den vermeintlichen Handlangern des ‹amerikanischen Imperialismus› immer ähnlicher. Auch in der Geschichtswissenschaft entpuppte sich die ‹Anti-Kosmopolitismus›-Kampagne mit wachsender Deutlichkeit als antisemitische Hetze. Im März 1949 hießen die Angegriffenen Minc, N. L. Rubinštejn, S. Ja. Lur’e und O. L. Vajnštejn, denen ein I. M. Razgon zugeschlagen wurde, weil er ein Schüler von Minc war und mit diesem als Vertreter von Ideen Pokrovskijs, des anderthalb Jahrzehnte zuvor von Stalin verjagten Lehrmeisters der frühsowjetischen Geschichtswissenschaft, galt. Dass die Ankläger, von A. L. Sidorov über N. A. Maškin bis zu L. V. Čerepnin, überwiegend russische Namen trugen, dürfte ebenfalls kein Zufall gewesen sein. Auch bei den Säuberungen in der Geschichtswissenschaft floss vieles zusammen: Nationalismus, parteikonformer Opportunismus, Antisemitismus und sicher eine gehörige Portion instituts- und disziplininterner Intrigen.[10]
Bei alledem bleibt bemerkenswert, dass die Historiker vergleichsweise glimpflich davonkamen. Zumindest rollten, soweit ersichtlich, keine Köpfe. Minc avancierte zum Doyen der sowjetischen Geschichtswissenschaft bis weit in die siebziger Jahre hinein; Lur’e konnte seinen Ruf als herausragender Fachmann für die frühmoskowitische Periode durch zahlreiche Schriften erhärten. Die Gangart änderte sich mit Beginn des neuen Jahrzehnts. Dabei dürfte der Inhalt der obrigkeitlich gelenkten ‹Debatten› recht unerheblich gewesen sein. Nach dem ‹Kosmopolitismus› stritt man, durchaus fachnäher, über die Periodisierung der russischen Geschichte. Abermals wurde das alte Problem erörtert, das jede Übertragung der marxistischen Geschichtstheorie auf Russland unweigerlich aufwarf: in welchem Maße die russische Entwicklung der ‹westeuropäischen›, verstanden als die ‹globale›, glich. Abermals gab die machtgestützte Ideologie die Antwort vor. Feudalismus, absolutistischer Zentralstaat, Kapitalismus und Imperialismus mussten den jeweils analogen ‹westeuropäischen› nicht nur wesensgleich sein, sondern ihnen auch chronologisch ungefähr entsprechen. Ob die Kritik aufrechte Historiker traf, die der Pflicht zur Objektivität durch Hinweise auf die ein oder andere Besonderheit der russischen Entwicklung wenigstens rudimentär zu entsprechen suchten (wie immer sie ihre Position verstanden), mag offen bleiben. Für eine erhebliche Beliebigkeit spricht der Umstand, dass das hauptsächliche Opfer der Periodisierungsdebatte, S. V. Bachrušin, aus dem Moskauer Großbürgertum stammte und noch bei dem bedeutendsten vorrevolutionären Historiker, dem liberalen Ključevskij, studiert hatte.
Warum schließlich wer verschwand, lässt sich vorerst nicht im Einzelnen angeben. Die Verhaftungen erfolgten willkürlich und verbanden sich mit physischen Maßregelungen derjenigen, die nach völlig unerwarteten heftigen Angriffen Stalins gegen den längst (1934) verstorbenen maßgeblichen sowjetischen Linguisten der zwanziger Jahre N. Ja. Marr im Juni 1950 ausbrachen. So undurchsichtig wie die Motive des greisen «Führers» für diesen Exkurs in völlig unvertrautes Gelände bleiben die ausufernden Folgen. Nicht nur die Spuren derjenigen wurden getilgt, die ins Kreuzfeuer der vorangegangenen Kampagnen geraten waren; auch Ankläger wie Maškin fanden sich plötzlich zur Rechenschaft gezogen. Offenbar wurden die Geschichts- und mit ihr andere Bereiche der Geisteswissenschaft in diesen letzten Jahren der Stalinära, als der neurotische Diktator abermals Intrigen zu spinnen begann, vom Strudel der Denunziation und Gewalt einfach mitgerissen. Nicht unbedingt wer gefügig war, überlebte, sondern oft einfach derjenige, der Glück hatte.[11]