Diagramm 4: Kontinuität der Vollmitglieder des Zentralkomitees der KPdSU 1939–1970

Quelle: Mawdsley, Portrait (VIII. 1, 1), 197

Aus evidenten Gründen war es leichter, die personelle Erneuerung auf der unteren Parteiebene voranzutreiben. Ein gleichsam offizielles Signal gab dabei Chruščevs Kritik am restriktiven Zulassungskurs der Nachkriegsjahre im Februar 1954. Spätestens um diese Zeit begann die längste Öffnungsphase in der Geschichte der bolschewistischen Partei. Anfangs scheint es gelegentlichen Widerstand gegen eine so klare Abkehr von der Vergangenheit gegeben zu haben. Nach dem 20. Parteitag aber gewann die Erneuerung an Tempo. Von ca. 234.000 Neuaufnahmen (ohne Kandidaten) 1956 kletterte deren Zahl 1964 auf etwa 629.000. Insgesamt stieg sie dabei von 6,8 Mio. Vollmitgliedern und 0,4 Mio. Kandidaten auf 11,5 Mio. bzw. 0,8 Mio. zu Jahresbeginn 1966; dies entsprach einem Zuwachs von 39,8 % resp. 41,9 % einschließlich der Kandidaten. Bei alledem blieb die jährliche Wachstumsquote deutlich hinter den entsprechenden Raten früherer Expansionsphasen, etwa des «Leninaufrufs» nach 1924 oder der Aufbruchskampagne nach 1928, zurück. Desgleichen wurde die KPdSU keine Massenpartei im genaueren Sinn. Mit einem Anteil von etwa 3,9 % (Mitglieder und Kandidaten) an der Gesamtbevölkerung im Stichjahr 1959 bildete sie weiterhin eine schmale Minderheit, der funktional der Charakter einer Elite beizumessen war.[22]

Zweifellos ging es Chruščev nicht um die bloße Vermehrung der Mitgliederzahl. Auch in seiner Sicht sollte die Partei das ‹Salz› der sowjetischen Gesellschaft bleiben. Aber es entsprach sowohl dem populistischen Gestus seiner Politik als auch seinem ‹ursprünglichen› Sozialismusverständnis, die Auswahl sozial ausgewogener zu gestalten. Schon im ersten öffentlichen Bekenntnis zum neuen Kurs bemängelte Chruščev den weitgehenden Ausschluss von Kolchosbauern. Sein damaliger Mitstreiter Suslov formulierte die Hauptabsicht auf dem 20. Parteitag noch deutlicher: Der Anteil von Arbeitern und Bauern sollte, notwendigerweise zu Lasten der Intelligenz, merklich erhöht werden. Alle Daten deuten darauf hin, dass intensive Anstrengungen dieser Art unternommen wurden und nicht ohne Ergebnis blieben. 40,7 % aller zwischen dem 20. und 22. Parteitag neu Aufgenommenen bezeichneten sich zum Zeitpunkt ihres Beitritts als Arbeiter, 22,7 % als Bauern. Bis 1964 nahm der Anteil der Arbeiter weiter auf 44,3 % zu, während das relative Gewicht der Bauern auf 15,1 % fiel. Was immer genau unter den Berufskategorien zu verstehen war, die Tendenz steht außer Frage: Die sozialen Unterschichten wurden in der Chruščev-Ära mit dem typischen Akzent auf der Arbeiterschaft bevorzugt.

Auf einem anderen Blatt steht, ob der Wandel zu einer spürbaren und dauerhaften Veränderung führte. Mehrere gesamtgesellschaftliche Tendenzen wirkten ihm entgegen. Die demographischen Proportionen verschoben sich zu Lasten des Dorfes. Da Industrialisierung und Urbanisierung noch schneller voranschritten als vor dem Weltkrieg, vermochte die Erhöhung des bäuerlichen Anteils in der Partei den dadurch hervorgerufenen Gewichtsverlust höchstens zu verlangsamen, nicht jedoch umzukehren. Aber auch der Arbeiterschaft kam der allgemeine Wandel nur teilweise zugute. Zum einen hob die gleichzeitige Erhöhung der allgemeinen Qualifikationsanforderungen den entsprechenden Effekt der gesamtgesellschaftlichen Modernisierung in gewissem Maße auf. Zum anderen dehnte sich auch im total verstaatlichten Sowjetsystem der administrative Sektor stark aus. Beide Veränderungen begünstigten nicht das ‹Proletariat›, sondern die technisch-administrative Intelligenz. Auch wenn der Anteil von Arbeitern und Bauern zunahm, zeigte die soziale Aufschlüsselung der Parteimitglieder im Längsschnitt daher deutlich, wer ‹siegte›: Das gehobene qualifizierte Personal aller Art, von Ingenieuren über Ärzte bis zu Lehrern, stellte fast die Hälfte aller eingeschriebenen Kommunisten, 1956 sogar über 50 %.

Dabei lässt eine weitere Aufgliederung erkennen, dass innerhalb der qualifizierten Berufe die technischen zunahmen. Von 1956 bis 1967 wuchs deren Anteil von 20,1 % auf 34,9 %. Was schon an den Biographien der führenden Politiker aus der Generation der Stalin-Zöglinge abzulesen war, findet darin eine Bestätigung: In der ‹sozialistischen Industriegesellschaft› avancierten die technisch-administrativen Fähigkeiten zur Basisqualifikation, die multiple Karrierechancen eröffnete und – deshalb? – auch in der Partei mehr und mehr die Oberhand gewann.[23]

Aus der relativen Stärkung der ‹Sowjetintelligenz› ergab sich eine weitere Veränderung der Mitgliederstruktur von selber: die zunehmende Bildung. Was in den unmittelbaren Nachkriegsjahren begonnen hatte, setzte sich beschleunigt fort. Anfang Januar 1956 machten Kommunisten mit (abgeschlossener und abgebrochener) Hochschul- sowie mit höherer Fachhochschul- und Oberschul- bzw. Gymnasialbildung 36,8 % der Gesamtzahl aus; bis Anfang 1965 vergrößerte sich dieser Anteil auf 47,7 %. Parallel dazu erhöhte sich der Prozentsatz der Mitglieder mit mittlerer Bildung von 66,3 % auf 75,6 %. Entsprechend sank der Anteil derjenigen mit bloßen Grundschulkenntnissen von 33,7 % auf 24,4 %. Diese Entwicklung erfasste die obere Parteiebene in besonderem Maße. Die Ersten Sekretäre der Gebietsorganisationen (oblast’) verfügten über eine zunehmend höhere Qualifikation. Um die Mitte der sechziger Jahre gab es nur noch wenige ohne Hochschulabschluss. Dabei neigten sie ebenfalls auffällig zu einem technischen Fachstudium: Der kommunistische Regionalführer war typischerweise ein Ingenieur. Und auch unter den Parteitagsdelegierten, schon 1961 immerhin knapp 4400 Personen (ohne Gäste), die aus den entlegensten Winkeln des Reiches kamen, fanden sich immer weniger, die nur einen mittleren Schulabschluss vorweisen konnten. Der Anteil der Hoch- und Fachhochschulabsolventen erreichte auf dem 22. Parteitag immerhin knapp 73 % und auf dem 23. Parteitag 1966 fast 80 %.[24]

Die Veränderung der Altersstruktur legt eine doppelte, in mancher Hinsicht zwiespältige Schlussfolgerung nahe. Einerseits brachte die Öffnung der Partei eine abermalige Verjüngung mit sich. Junge suchten nicht nur die Karrierechancen in größerem Maße, die der Beitritt eröffnete. Nicht wenige ließen sich darüber hinaus (was man mit Blick auf die Dissidentenbewegung der kommenden Jahrzehnte nicht vergessen sollte) von der Dynamik des aufgefrischten, entstalinisierten Sozialismus mitreißen. Beides fand seinen Niederschlag in der Tatsache, dass 1966 fast die Hälfte aller Parteimitglieder unter vierzig Jahre alt war und mehr als zwei Drittel (71,6 %) das fünfzigste Lebensjahr noch nicht überschritten hatten. Klarer tritt der Wandel in Längsschnittvergleichen der oberen Parteiorgane zutage. So verdoppelte sich unter den Parteitagsdelegierten zwischen 1956 und 1966 der Anteil derjenigen, die das 40. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten. Zugleich sank der Prozentsatz der 41–50-Jährigen von 55,7 % auf 34,3 %. Bemerkenswerterweise ging aber die Repräsentanz der Älteren (51 Jahre und mehr) nicht zurück; sie blieb vielmehr mit 24 % auf dem 20. Parteitag und 25,5 % auf dem 23. (1966) ungefähr konstant. Auf der höchsten Ebene schließlich zeigte sich, dass der Anteil der 40–49-Jährigen unter den ZK-Mitgliedern im Jahre 1952 von fast 60 % bis 1966/71 auf weniger als 20 % schrumpfte.

In diesem Befund wird das andere Ergebnis der Generationsanalyse besonders deutlich greifbar: Nach der Vernichtung der ersten Bolschewiki im «Großen Terror» alterte die Parteiführung kontinuierlich. Die abermalige, ‹friedliche› Verjüngung kam oben nicht an. Zwar wurden Stalins engere Helfer samt den vor 1900 Geborenen nach und nach aus den Entscheidungspositionen entfernt. An ihre Stelle traten aber diejenigen, die unter ihm groß geworden waren. So gaben gegen Ende der Chruščev-Ära vor allem zwei Generationen in der KPdSU den Ton an: die in den zwanziger und dreißiger Jahren Geborenen unter den einfachen Mitgliedern und die in der Revolutionsdekade Geborenen unter den wichtigeren Funktionsträgern. Letztere hatten ihre Karrieren im frühen Stalinismus begonnen, Erstere ihre politisch-mentale Prägung in diesen Jahren erhalten; beide gehörten – auf verschiedenen Ebenen, aber mit gleich tiefen Eindrücken – zu den frontoviki des Zweiten Weltkriegs. Was immer den Ausschlag gab, keiner dieser Tatbestände begünstigte eine tiefgreifende Vergangenheitsbewältigung und wirkliche Entstalinisierung.[25]

Trotz eines geringen Wandels zeigte die Entwicklung zweier weiterer Merkmale der Parteimitglieder, die als Abrundung des Strukturprofils Beachtung verdienen, mehr Kontinuität. Zum einen ging der Frauenanteil, den der Verlust an Männern im Krieg hatte nach oben schnellen lassen, langsam zurück. Zugleich stieg die Zahl der weiblichen Kommunisten absolut an, so dass sich der entsprechende Prozentsatz bei etwa einem Fünftel stabilisierte. Zum anderen veränderte sich die national-regionale Zusammensetzung der Partei wenig. Die KPdSU blieb – bis zum Ende der Sowjetunion – eine großrussische Partei. Aufgrund ihres unbeschränkten Einflusses übertrug nicht zuletzt sie die Hegemonie des Zentrums auf den Gesamtstaat. Daran änderte die Rolle der Ukrainer als nächstgrößter Nationalität unter den registrierten Mitgliedern wenig. Auf keinen Fall zeigte die Partei Anzeichen, zu dem zu werden, was sie der Staatsidee nach hätte sein müssen: die Verkörperung eines ‹multikulturellen› Föderalismus.[26]

Alles spricht dafür, dass sich der Komsomol ähnlich veränderte wie die Partei. Als Symptom verdient schon die Häufigkeit der Kongresse Beachtung. Die erste Zusammenkunft der Nachkriegszeit fand 1949, dreizehn Jahre nach der letzten, statt. Fünf Jahre später versammelten sich die Delegierten erneut, um ihr Wirkungsfeld in der poststalinistischen Ära zu beraten. Danach tagten sie im statutenmäßig vorgesehenen Turnus von vier Jahren (1958, 1962). Inhaltlich blieb die Tätigkeit des Jugendverbandes aber zunächst weitgehend unverändert. Dies änderte sich erst mit dem 20. Parteitag. Allem Anschein nach stellte er sich besonders entschieden hinter Chruščev und sein Entstalinisierungsprogramm. Zugleich zeigt der Untergang beider, dass er weiterhin keinen entscheidenden Einfluss auf die Partei ausübte. Im Rückblick war seine Rolle allerdings langfristig durchaus bedeutsam. Kaum zufällig waren es die jungen Kommunisten der 1950er Jahre, die dreißig Jahre später in großer Zahl die Perestrojka mittrugen. Die generationsspezifische Sozialisation siegte hier, anders als die ‹totalitaristische› Deutung der Funktion des Komsomol meinte, über ideologische Indoktrination und propagandistische Erzeugung von Regimetreue.[27]

Trotz des entschieden ‹zivilen›, auf die Verbesserung der Lebensbedingungen gerichteten Zuschnitts der Politik darf die Chruščev-Ära auch als diejenige gelten, in der das Gewicht der Armee in neuer Form zutage trat. Als die ‹kollektive Führung› die Interessen der großen Institutionen wieder stärker hervortreten ließ, profitierte davon nicht zuletzt die Armee. Durch den Triumph über Deutschland und den Ausbruch des Kalten Krieges mächtig gestärkt, war sie neben der Partei, den Apparaten von Staat und Wirtschaft sowie dem KGB endgültig zur dritten Säule des Gesamtsystems aufgestiegen. Dies zeigte sich zum einen im starken Anstieg von Soldaten unter den Parteineulingen. 1958/59 rekrutierte die KPdSU 60 % mehr Kandidaten in der Armee als 1956–57, während sich die Quote der Neuaufnahmen allgemein nur um 38 % erhöhte. Unteroffiziere traten dabei in besonders großer Zahl bei. Auf diese Weise gelang es, in zwei Dritteln aller Kompanien Parteizellen einzurichten. Partei und Armee waren zu Beginn der sechziger Jahre enger miteinander verzahnt als je zuvor.[28]

Größere Probleme warf allerdings ein anderer Aspekt des neuen Gewichts der Armee auf. Selbstbewusster geworden, strebten die führenden Generäle nach Beachtung ihrer Interessen. Dabei lagen ihre Wünsche auf der Hand. Wer die Armee auf seiner Seite haben wollte, tat gut daran, den Vorrang der Schwer- (und Rüstungs)industrie in der Wirtschaftsplanung nicht zu tangieren und keine Kürzung des Militärbudgets zu befürworten. Anfangs gab sich Chruščev große Mühe, Rücksicht darauf zu nehmen. Insofern liegt es nahe, seinen Sieg und die Entmachtung Malenkovs, der anders operierte, auch damit in Verbindung zu bringen. Während der Juni-Krise 1957 wurde diese Hilfe offensichtlich. Die Berufung Žukovs, seit 1955 (in der Nachfolge Bulganins) Verteidigungsminister und seit dem 20. Parteitag Kandidat des Parteipräsidiums, zu dessen Vollmitglied verlieh ihr auch einen formalisierten Ausdruck.

Umso überraschender kam der erwähnte schnelle Sturz im Oktober 1957. Bis zum Ende der Sowjetunion konnte man sich keinen Reim darauf machen. Zeitgenössische Studien werteten ihn als Niederschlag institutioneller Rivalitäten. ‹Die Armee› habe den Vorrang ‹der Partei› angefochten und in Gestalt der Degradierung ihres prominentesten Repräsentanten eine empfindliche Schlappe erlitten. In der Tat lässt sich Žukovs Mahnung an die Offiziere unter den Delegierten des 20. Parteitags, über die ideologische Treue ihre Profession nicht zu vergessen, in diesem Sinn verstehen. Seit der Archivzugang Licht auch in dieses Dunkel gebracht hat, spricht allerdings alles dafür, dass Chruščev allein aus machttaktischen Erwägungen handelte. Žukovs Vergehen bestand einzig darin, dem Ehrgeiz des Parteichefs im Wege zu stehen. Gerade weil seine Absetzung somit ganz anders zu deuten ist, lässt sie keine Rückschlüsse auf die Stellung der Armee im gesamten institutionell-politischen Machtgefüge zu. Sicher stand der Primat der Partei gerade unter Chruščev nie in Frage; Beachtung verdient aber auch, dass der Parteichef die Unterstützung der anderen Generäle suchte und den populären Kriegshelden unter Ausnutzung offenbar erheblicher Animositäten stürzte. Und auch die Vorgeschichte seiner eigenen Entmachtung verweist auf die anhaltende Bedeutung des Militärs. Denn zweifellos setzte die Blamage vor Kuba den Generälen vor dem Hintergrund des atomaren Rüstungswettlaufs mit den USA nicht minder zu als der zivilen Führung. Auch in der Armeeführung rührte sich keine Hand zugunsten ihres obersten Herrn. Gewiss herrschte der ‹militärisch-industrielle Komplex› nicht, aber er zählte zu den zunehmend mächtigen Apparaten und Interessen im Sowjetsystem.[29]

Der Staat und seine Institutionen haben von Anfang an unter dem Verdacht gestanden, bloße Dekoration zu sein. Sicher sprach seit Lenins faktischem Ausscheiden aus dem SNK manches für eine solche Sicht. Fortan entschied die Partei- und nicht die Staatsführung alle Schicksalsfragen des Landes. In welchem Maße dies unter Chruščev anders gesehen werden kann, hängt gleichfalls erheblich von der Gesamtinterpretation der Sowjetordnung dieser Jahre ab. In totalitaristischer Perspektive tritt die ungebrochene Vorherrschaft der Partei in den Vordergrund. Niemand wird in Frage stellen, dass sowohl nach Stalins Tod als auch während der hohen Zeit der neuen Alleinherrschaft alle wichtigen Weichen in den Gremien der KPdSU gestellt wurden. Der Führungsstil änderte sich, nicht der Anspruch der Partei auf Führung. Allerdings verdient das Argument Beachtung, dass die allermeisten Parteimitglieder inzwischen exekutive oder administrative Leitungsfunktionen in Staat, Wirtschaft und Kultur ausübten und damit hauptberuflich außerhalb der Partei tätig waren. Eben weil die Monopolpartei den Staat übernahm, verliert die Unterscheidung zwischen beiden einen Großteil ihres Sinns. Es ist zu kurz gegriffen, dieses Verhältnis als Unterwerfung des Staates unter die Partei zu deuten. Vielmehr rächten sich Anspruch und exklusive Stellung der Partei von Anfang an auch darin, dass die Partei ‹verstaatlichte›. Die in ‹öffentlichen› Apparaten tätigen Kommunisten trugen deren Interessen und Probleme in die Partei hinein. Deshalb gewinnt die Frage mindestens gleich viel Gewicht, welche institutionellen Anliegen sich in den entscheidenden Parteigremien durchsetzten.[30]

Wo die hauptsächlichen Aufgaben der Staatsverwaltung lagen, geht schon aus augenfälligen Tatbeständen hervor. Zum einen erfüllten vor allem der Oberste Sowjet der UdSSR, aber auch die analogen höchsten Republiksowjets überwiegend repräsentative Aufgaben. Ob man sie deshalb zum bloßen Dekor erklären sollte, wäre von Fall zu Fall zu prüfen. Ihr Fassadencharakter wurde auch aus traditioneller Sicht zumeist funktional interpretiert: Zwar glichen die Wahlen der berühmten Prophezeiung, die sich selbst erfüllt; aber sie dienten zugleich der Bestätigung des demokratischen Scheins. Das gesamte trügerische Gebäude war insofern nützlich, als viele seine Leere nicht sahen. In dieser Perspektive erscheint das Ornamentale als integrativ und auch die vorwiegend repräsentative Funktion der Obersten Sowjets nicht als überflüssig, sondern als notwendig im Sinne der Erzeugung symbolvermittelter Loyalität.

Mit dieser Deutung korrespondiert die gleichfalls einleuchtende Auffassung, dass umgekehrt die lokalen Sowjets (also alle unterhalb des Obersten) mehr und mehr administrative Aufgaben übernahmen und zu unentbehrlichen Exekutoren übergeordneter Entscheidungen wurden. In diesem Sinne gewannen sie ein erhebliches Maß jener Kompetenzen zurück, die ihnen laut Verfassung zukamen. Für eine solche Rolle der Regional (oblast’), Stadt-, Gebiets (kraj) und Dorfräte sprechen fast alle messbaren statistisch-strukturellen Indikatoren. So deutet die wachsende Zahl der Deputierten von 1,5 Mio. 1957 auf 2,0 Mio. 1965 auf eine Beteiligung hin, die mit dem Bevölkerungswachstum Schritt hielt und die Erledigung einer anschwellenden Aufgabenlast zumindest ermöglichte. Die Beobachtung, dass dabei zwischen 1959 und 1963 ein besonders starker Zuwachs zu verzeichnen war, legt das zusätzliche Motiv der gezielten Partizipationssteigerung nahe. Ganz ähnlich entsprach es Chruščevscher Politik, dass sich der Anteil von Arbeitern der ‹materiellen Produktion› kontinuierlich erhöhte. Auch wenn diese Veränderung überwiegend auf die Umwandlung von Kolchosen in Sowchosen zurückging, bleibt ein Rest, der sich dem Bemühen um die Einbeziehung der unteren Schichten verdankte. Nicht weniger typisch war freilich eine Verschiebung, die sich ohne deutliche Nachhilfe vollzog. Die Zahl derer nahm erheblich zu, die eine ‹höhere› und ‹mittlere› Ausbildung im sowjetischen Sinne genossen hatten. In der Mitte der Chruščevščina (1959) belief sich der entsprechende Anteil in der gesamten UdSSR auf 40,1 %, zehn Jahre später auf 53,7 %, wobei der eigentliche ‹Sprung› in den ersten Jahren der neuen Ära zu verzeichnen war. Regional lag er zum Teil, in den jeweiligen Exekutivkomitees überwiegend deutlich höher. Ende der sechziger Jahre fand sich in den obersten Gremien der Stadtverwaltungen nur noch einer unter zehn, der nur eine mittlere Schulbildung (nach hiesigen Maßstäben) genossen hätte. Selbst in den ländlichen Ispolkomy betrug sogar der Anteil der Hochschul- und Gymnasialabsolventen Mitte der sechziger Jahre schon über die Hälfte. Demgegenüber veränderte sich die Quote von Parteimitgliedern unter den lokalen Sowjetdeputierten kaum. Sie befand sich mit 52 % (1959 einschließlich der Kandidaten und Komsomol-Angehörigen) schon auf einem hohen Niveau und erhöhte sich in den ersten Brežnev-Jahren im Wesentlichen nur durch die größere Zahl der Komsomolzen (auf 57,6 % 1969). Die Annahme liegt nahe, dass eine hinreichende Sättigung erreicht war, die man mit Rücksicht auf das eigene Selbstverständnis nicht vergrößern wollte. Allerdings kann man auch Hindernisse für weitere parteiliche Rekrutierungen nicht ausschließen.[31]

Selbst die Grobstruktur der Staatsverfassung wäre ohne die Erwähnung des Ministerrats unvollständig skizziert. Er bildete zumindest de jure das höchste exekutiv-administrative Gremium. Freilich fiel ihm die Ausfüllung dieser Rolle in der Praxis schwer. Denn allen Beschneidungsmaßnahmen nach Stalins Tod zum Trotz entfaltete er eine starke Tendenz, das zu tun, wozu einem bekannten (Vor)Urteil zufolge alle Bürokratie neigt: zu wachsen. Gegen Ende der unsteten Reformen Chruščevs, als die Dezentralisierung wieder der Vereinheitlichung wich, gehörten ihm Vertreter von fast 80 obersten Behörden an, darunter der Unionsministerien, Staatskomitees, Republiksministerräte und mehr als einem Dutzend wirtschaftlicher Fachkomitees, die mit anderen Institutionen den wiedererstandenen Obersten Volkswirtschaftsrat bildeten (Stand Ende Dezember 1963). Ein so großes Gremium – letzten Ende das zwangsläufige Ergebnis der Verstaatlichung von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – war nicht entscheidungsfähig. Schon unter Stalin bildete sich daher in faktischer Analogie zum Präsidium (Politbüro) des ZK ein Präsidium des Ministerrats. Ende 1963 gehörten ihm zwölf Mitglieder an, darunter als Vorsitzender Chruščev selber sowie ein Erster und mehrere weitere Stellvertreter. Schon die Personalunion von Partei- und Regierungschef deutet an, dass auf dieser Ebene die Verzahnung von Partei und Regierung besonders eng war. Vier von zwölf Vollmitgliedern des Parteipräsidiums gehörten zugleich dem Regierungspräsidium an, darunter der künftige Regierungschef im Wartestand Kosygin (vgl. oben Tab. 45). Dass die Mehrzahl nach wie vor ‹nur› Parteiämter wahrnahm, zeigt allerdings auch an, wo sich weiterhin das Zentrum der Macht befand. Selbst das ‹kleine Kabinett› exekutierte nur. Erst recht beschränkte sich die Tätigkeit des gesamten Ministerrates, der sich dafür der Hilfe großer Apparate mit 700–1000 zentralen Mitarbeitern und Heerscharen von Beamten in den nachgeordneten Instanzen bedienen konnte, auf die Ausführung dessen, was die Parteispitze beschloss. Zuverlässige Angaben über das numerische Verhältnis zwischen Administratoren im weiteren Sinne und der übrigen Bevölkerung wird es kaum geben. Insofern ist die übliche Vermutung, der Sowjetstaat sei nicht nur als Inhaber der Zwangsgewalt, sondern auch als Administrator allgegenwärtig gewesen, zwar nach Maßgabe einer Vielfalt anderer Zeugnisse begründet, aber nicht über alle Zweifel erhaben.[32]

Da der Sowjetstaat ein föderativer war, konnte der Versuch seiner Erneuerung nicht ohne Auswirkungen auf die Behandlung der Nationalitäten bleiben. Der Anstoß zu entsprechenden Korrekturen wurde früh gegeben und ging von einem Akteur aus, der sich ansonsten nicht eben durch Sorge um die Rechte von Minderheiten auszeichnete: von Berija. Schon dieser Umstand gibt Anlass, besonderen Handlungsbedarf zu unterstellen. In der Tat gab es nur wenige Politikfelder, auf denen die Stalinsche Diktatur größere Verheerungen anrichtete als auf diesem. Als Folge von Unterdrückung und Deportationen stellten sich passiver Widerstand und Apathie ein. Die vielzitierte Friedhofsruhe der letzten Jahre Stalins galt gerade für die Regionen. Ob Berijas Änderungsvorschläge dabei bloßen Opportunitätsüberlegungen oder tieferer Einsicht entsprangen, mag offen bleiben. In jedem Falle begrüßte das ZK seine Überlegungen am 12. Juni 1953 und beschloss in einer geheimen Resolution, den Regionen nicht nur durch Aufnahme ihrer Parteiführer in die zentralen Entscheidungsgremien angemessene Mitwirkungsmöglichkeiten zu eröffnen, sondern ihnen sogar die Benutzung der Landessprache im inneren amtlichen Schriftverkehr zu erlauben.

Nach Berijas Sturz waren kurzzeitig wieder zentralistische Parolen zu hören. Aber nicht nur erhoben viele Partei- und Staatsführungen der nichtrussischen Republiken ähnliche Forderungen. Eine tatsächliche Rückkehr zum extremen Zentralismus der letzten Stalinjahre hätte der Aufbruchsstimmung des «Tauwetters» so sehr widersprochen, dass sie nur mit erneuerter Repression und erzwungenem Schweigen durchsetzbar gewesen wäre. Chruščev aber brauchte Zustimmung, die nicht zuletzt aus den Regionen kommen musste. So rief der 20. Parteitag 1956 mit seiner Losung vom «Aufblühen der Völker» faktisch eine neue korenizacija aus. Auch die Regionalisierung der Volkswirtschaftsräte seit 1957 entsprach einem solchen Bekenntnis zur Revitalisierung des Föderalismus, wie er eigentlich in der Verfassung festgeschrieben war. Dabei kam es Chruščev sicher zupass, dass er das Gütesiegel eines neuen Umgangs mit den Regionen in Anspruch nehmen konnte, um mit personalpolitischen Maßnahmen seine eigene Macht zu sichern. Keine andere Nationalität hat ihr Gewicht an der Spitze von Partei und Staat sichtbarer erhöht als die ukrainische. Sie profitierte vom politischen Lebensweg Chruščevs und dem Umstand, dass er befolgte, was ihm Stalin vorgemacht hatte: in allen wichtigen Funktionen Schützlinge und Getreue zu installieren. Die Motive lassen sich dabei nicht immer klar voneinander scheiden.

Auch dies ist zu bedenken, wenn man nach den Ursachen für das schnelle Ende der neuen Politik sucht. Bereits das Schulreformgesetz vom Dezember 1958 markierte den abermaligen Umschlag. Zwar berührte der Text das entscheidende Problem der Unterrichtssprache nicht. Aber die Parteiführung machte unmissverständlich klar, dass sie dem Regionalismus an der sprachlichen Wurzel zu Leibe rücken und das Russische zur lingua franca im Gesamtstaat erheben wollte. An der andersartigen Praxis haben Gesetz und Ausführungsbestimmungen noch einige Zeit wenig geändert. Dennoch können sie als Signal für einen neuen Unitarismus und abermalige Hegemonialbestrebungen der russischen Zentrale gelten. Dabei verdient der Zeitpunkt Beachtung: Die Abkehr begann, als Chruščev niemanden mehr zu fürchten hatte. So liegt der Gedanke nahe, dass strukturelle Gegebenheiten und die Tradition der Einmannherrschaft sich durchsetzten. Solange die ‹russische› KPdSU allmächtig blieb, konnte die UdSSR keine wirkliche Union werden. Parteiliche Monokratie und Föderalismus schlossen einander aus. [33]

Sehr viel positiver fällt nach dem bisherigen Kenntnisstand die Antwort auf die Frage nach der Entwicklung des schlimmsten stalinistischen Erbes aus: nach Willkür und Terror. Entsprechende Maßnahmen folgten nach dem Tode Stalins rasch. Schon am 27. März 1953 verkündete der Ministerrat auf Drängen Berijas eine Amnestie für Haftstrafen unter fünf Jahren und die Verkürzung längeren Freiheitsentzugs auf die Hälfte; Minderjährige, werdende und junge Mütter sowie Kranke wurden generell entlassen. Bald darauf setzte man die überlebenden Opfer der ‹Ärzte-Verschwörung› auf freien Fuß. Darüber hinausgehende Hoffnungen riefen einige Pravda-Artikel hervor, die nach den Ursachen offensichtlicher Intrigen gegen verdiente «ehrliche Sowjetmenschen» fragten und die Ahndung weiterer Gesetzesverstöße ankündigten. Allerdings wurden sie überwiegend enttäuscht, da die Haftverkürzung nur für Strafen wegen krimineller Delikte galt. Die sog. ‹politischen› Insassen blieben ausgenommen. Nicht zuletzt dies trug zu tragischen Geschehnissen bei. Im Mai 1953 verweigerten die Häftlinge von Noril’sk (Nordsibirien) die Arbeit, im Juli folgten ihnen Schicksalsgenossen in Vorkuta (Nordural) und im Mai 1954 besonders viele in Kengir (Kazachstan). Die örtlichen Funktionäre des MVD reagierten unterschiedlich. Die einen verhandelten und machten Konzessionen (vor allem in Vorkuta); andere blieben hart. Zumindest in Noril’sk (bis zu 120 Tote) und Kengir (laut Solženicyn etwa 500 Tote) floss viel Blut, als die Obrigkeit bewaffnete Einheiten rief oder zum Teil auf höchst grausame Weise andere Waffen und schwere Maschinen gegen die unbewaffneten Rebellen einsetzte. So zynisch es klingt, die Opfer waren nicht vergebens. Im April 1954 folgte eine weitere Amnestie, die allen zur Tatzeit minderjährigen Häftlingen die Freiheit brachte. Am 17. September 1955 wurden tatsächliche oder vermeintliche Kollaborateure des Zweiten Weltkriegs entlassen und ein Jahr später schließlich auch die ehemaligen Soldaten, die Stalin nur deshalb eingesperrt hatte, weil sie in deutsche Gefangenschaft geraten waren. Hinzu kam die Prüfung zahlreicher Einzelfälle. Insgesamt konnten bis Ende 1955 etwa 10.000 Personen ins zivile Leben zurückkehren.

Parallel dazu ergriff die neue Führung Maßnahmen, um die politisch-administrativen Stützen des mächtigen Terrorsystems zu zerstören. Im März 1954 – nach dem Prozess gegen Berija und seine Vertrauten – gliederte man das ehemalige MGB wieder aus dem MVD aus und gab ihm als Komitee für Staatssicherheit (KGB) jenen Status, den es bis zum Ende der Sowjetunion behalten sollte. Im September 1953 wurde das berüchtigte Sonderkomitee beim MVD beseitigt, das seit 1934 alle Verhafteten im Schnellverfahren hatte aburteilen können. Etwa um dieselbe Zeit unterstellte man die Grenztruppen wieder dem Verteidigungsministerium, übertrug die ausgedehnten Kompetenzen des MVD über das Straßen- und Verkehrswesen auf ein neu gegründetes einschlägiges Fachressort und übergab die ökonomisch relevanten Arbeitslager an das Wirtschaftsministerium. Im Mai 1955 erhielt die Staatsprokuratur beim Obersten Sowjet eine neue Abteilung, deren Aufgabe es war, die Rechtmäßigkeit der Aktivitäten des KGB zu überwachen. Im April 1956 hob man die nach der Ermordung Kirovs erlassenen Sondergesetze auf, die dem ‹Großen Terror› ein pseudorechtliches Fundament gegeben hatten. Und im Dezember 1958 folgte ein neues Strafgesetzbuch, das zwar viele Schlupflöcher ließ, dem KGB aber gerichtliche Kompetenzen endgültig entzog. Ein Übriges bewirkte der Personalwechsel an der Spitze beider Ämter: Dem Innenminister Stalins nach dem Krieg S. N. Kruglov, Nachfolger Berijas als MVD, folgte im Februar 1956 der Ingenieur L. P. Dudorov, und der altgediente Geheimdienstexperte Chruščevs I. A. Serov, der den KGB übernommen hatte, wurde 1958 durch den aufstrebenden Komsomolvorsitzenden Šelepin ersetzt. Beide waren in erster Linie Männer der Partei; Letzterer galt außerdem als beinahe idealtypische Verkörperung des neuen talentierten Multifunktionärs. Ungeachtet seiner fortbestehenden, geheimnisumwitterten und gewiss faktisch ausgedehnten unsichtbaren Kompetenzen schrumpfte der KGB dank all dieser Maßnahmen zu einer vergleichsweise regulären, wenn auch nicht normalen, in jedem Falle der Partei unterworfenen Behörde. Als das MVD Ende Januar 1960 schließlich als Unionsministerium aufgelöst wurde, verschwand der Moloch als Organisation sogar völlig, der die ‹Kinder der Revolution› verschlungen und jedes noch so unbedeutende Glied der Gesellschaft bedroht hatte.[34]

Und dennoch: Auch in dieser Frage gibt es bedenkenswerte Argumente gegen das vorbehaltlose Fazit einer Abkehr von der Vergangenheit. Zwar trieb Chruščev die Entstalinisierung der ‹extralegalen› Gewalt weit voran. Insofern hat es seine guten Gründe, dass ihm selbst Beobachter aus dem westlichen Exil attestierten, die «sozialistische Gesetzlichkeit» – so das neue Schlagwort – wiederhergestellt zu haben. Wie programmatisch verkündet, bemühte er sich, zu ‹leninistischen Prinzipien› zurückzukehren und dem geltenden Recht wieder Respekt zu verschaffen. Dem widersprach aber offenbar nicht, dass von unabhängiger Justiz und der Beachtung international anerkannter Menschenrechte nicht die Rede sein konnte. Die Parteilichkeit der Gesetze und Gerichte gehörte nach wie vor ebenso zum angeblich revolutionären Staat wie ihr Fundament: die monopolistische Herrschaft der KPdSU. An Gewaltenteilung und einen tatsächlichen Macht- und Meinungspluralismus dachte Chruščev genauso wenig wie der Staatsgründer oder Stalin. Nicht nur in dieser Hinsicht verkörperte er nachgerade die Systemtreue der ersten Generation der ‹Sowjetintelligenz›.

Auf einem anderen Blatt steht, ob eine solche Kontinuität die Behauptung rechtfertigt, die sozialistische Herrschaftsordnung habe sich in ihrer Essenz trotz sozusagen neuer Einkleidung nicht verändert. Die Antwort hängt nicht nur vom vorgängigen Verständnis davon ab, was Wesen und was Erscheinung sei. Darüber hinaus verträgt sich die Annahme einer ‹qualitativen› Veränderung durchaus mit dem Tatbestand, dass das Ende des Massenterrors keine Rechtsstaatlichkeit, Freiheitsgarantien und Gewaltenteilung im westlichen Sinne nach sich zog. An die Stelle personaler Diktatur trat die kollektive, ‹pauschale› Gewaltandrohung wich selektiver Maßregelung, und an die Stelle autoritärer, gegebenenfalls terroristischer Durchsetzung einer zentralen Einzelentscheidung trat der Appell an freiwilliges Engagement. Mit diesem Wandel änderte sich auch das Wesen des Systems – nur war das neue ebenso wenig demokratisch wie das alte.

Chruščevs Ruhm gründet sich im Rückblick vor allem auf das, was seit dem Ende der Sowjetunion als erster Anlauf zur Entstalinisierung erscheint. Dabei sollte man diese Politik aber nicht auf die Beendigung des Massenterrors und das kulturelle «Tauwetter» einengen. Für seinen Aufstieg war ein anderes Handlungs- und Bewährungsfeld viel wichtiger: die Landwirtschaft. Am Anfang seiner Karriere standen neue Überlegungen zur Lösung des sowjetischen (und schon russischen) Kardinalproblems, wie die Versorgung der Bevölkerung zu sichern sei. Obwohl die Ansprüche bescheiden blieben, kam die Erholung von den Kriegsnöten gerade in dieser Hinsicht viel zu langsam voran. Überdies hatte Stalin schon während des vierten Fünfjahresplans die Weichen wieder auf die vorrangige Förderung der Schwer- (und Rüstungs)industrie gestellt. Darunter litten nicht nur die ‹kleinen Leute› in den Provinzstädten. Auch die Bauern, immer noch die Masse der Bevölkerung, spürten wenig Erleichterung. Sie standen weiterhin am unteren Ende der Sozialpyramide, bezogen die geringsten Einkommen und lebten in einer Umgebung, der die Segnungen der materiellen Zivilisation trotz aller Elektrifizierungspläne und «Kultur»-Kampagnen nach wie vor weitgehend fehlten.

Der Tod Stalins warf auch auf diese Probleme neues, grelles Licht. Die Versorgungsdefizite brannten auf den Nägeln. Ihnen standen jedoch mächtige Interessen der Wirtschaft und der Apparate entgegen, die sich außerdem sicherheitspolitische Erwägungen zu eigen machen konnten. Dabei spielte die Konkurrenz unter den Diadochen demjenigen in die Hände, der es verstand, mehrere Wünsche gleichzeitig zu bedienen. Wenn die Führung ohne Führer keine einseitige Prioritätensetzung vertrug, verbot sich eine klare Umlenkung der Investitionen in die Konsumgüterproduktion und Landwirtschaft. Die vielfach beschworene Vermehrung der Nahrungsmittel konnte dann nicht primär durch Produktivitätssteigerung erreicht werden, sondern eher ‹extensiv› durch Ausdehnung des Anbaus. In dieser Situation wartete Chruščev mit einem verblüffend einfachen, nachgerade wundersamen Vorschlag auf: die riesigen Steppen östlich des Unterlaufs der Wolga, im nördlichen Kazachstan und westlichen Sibirien für die Landwirtschaft nutzbar zu machen. Zugleich verband sich dieser Plan mit der Absicht, auch die Bauern der Kernländer durch preispolitische Maßnahmen zu vermehrten Anstrengungen zu bewegen. Schon im Spätsommer 1953 begann die Regierung, die Steuern für Privatland zu senken; zugleich erhöhte sie die staatlichen Ankaufpreise und verringerte die unbezahlten Zwangsabgaben. Bauern ohne Privatvieh wurden ganz von Fleischlieferungen befreit. Malenkov und Chruščev zogen in dieser Frage an einem Strang: Es sollte sich wieder lohnen, mehr zu produzieren.[1]

Wichtiger aber war das Neulandprogramm. Man darf davon ausgehen, dass Chruščev seinen unerwarteten Aufstieg vor allem dieser Idee zu danken hatte; und zu Recht hat sie sich in besonderem Maße mit seinem Namen verbunden. Dem neuen starken Mann, der um dieselbe Zeit zum Ersten Parteisekretär gewählt wurde, gelang es in bemerkenswert kurzer Zeit, Unterstützung für seine Pläne zu finden. Nach einem Grundsatzbeschluss über die Priorität der Agrarfrage im vorangegangenen Herbst verkündete eine Plenarversammlung des ZK am 2. März 1954 die große Aufgabe, zwischen Stalingrad und Semipalatinsk neues oder ungenutztes Land unter den Pflug zu nehmen. Dabei deutete die präzise Kennzeichnung der anvisierten Fläche darauf hin, dass die Absicht als solche nicht neu war. Auch sie war im Zusammenhang mit der gesamten Ostwendung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und besonders in der Vorkriegsdekade immer wieder in den Blick geraten. Klimatische Gefährdungen hatten aber Anlass gegeben, die Idee nicht intensiv zu verfolgen. Die Wahrscheinlichkeit starker Spätfröste und empfindlicher Dürren war in der südöstlichen Steppe hoch. Nicht nur Altstalinisten wie Molotov votierten daher gegen das Programm; auch wissenschaftliche Experten und die kazachische Parteiführung zeigten sich skeptisch. Chruščev ließ sich aber nicht beirren. Er witterte die Chance, den Machtkampf auch dadurch für sich zu entscheiden, dass er sich als Erneuerer und Wahrer der Kontinuität zugleich präsentierte. Volksverbunden wie er war, mag er darüber hinaus die Möglichkeit gespürt haben, mit dem Neulandprogramm einen allgemeinen Mobilisierungseffekt zu erzielen: Wenig eignete sich so sehr als Stimulans einer neuen Dynamik, deren die sowjetische Gesellschaft nach der Todesstarre im späten Stalinismus dringend bedurfte; wenig vermochte in vergleichbarer Weise als neue griffige Konkretisierung der Leistungsfähigkeit der sozialistischen Idee dienen. Chruščev war auch darin ein gelernter ‹Frühstalinist›, dass er die Notwendigkeit solcher massenwirksamer und integrierender «Kampagnen» erkannte.

Der Feldzug begann denn auch mit großen Schritten. Die Planung für 1954/55 war ehrgeizig. Zu den ca. 32 Mio. ha Ackerland, die in dieser Region zwischen 1913 und 1953 gewonnen worden waren, sollten allein in diesem Zeitraum dreizehn weitere Millionen hinzukommen, um den Markt um 13–15 Mio. t Getreide zu bereichern. Tatsächlich stellten sich bemerkenswerte Erfolge ein. Bereits im Juni des ersten Jahres war ein knappes Drittel der Fläche eingesät, so dass die Parteiführung es für möglich hielt, die Vorgaben weiter heraufzusetzen. Laut Beschluss vom August 1954 sollte die Ernte des übernächsten Jahres auf 28–30 Mio. ha Neuland gesteigert werden. In Wirklichkeit erreichte man 1956 sogar 35,5 Mio. ha; ausnahmsweise wurde der Plan übererfüllt. Danach ging man etwas vorsichtiger vor und empfahl, nur zweifelsfrei geeignetes Land zu bearbeiten. Zugleich wurden die Zuwachsraten im sechsten Fünfjahresplan (1956–60) bei Getreide so hoch angesetzt, dass sie die weitere Landerschließung und gleichbleibende Erträge voraussetzten. Der 21. (außerordentliche) Parteitag, der angesichts der Unerfüllbarkeit des laufenden Fünf- einen neuen Siebenjahresplan beschließen sollte, verzichtete wohlweislich darauf, genaue Zahlen zu nennen. Auch in der Folgezeit gab sich Chruščev für seine Art ungewöhnlich zurückhaltend und verwies darauf, dass die Neulanderschließung nun in die «zweite», durch Verbesserung der Anbaumethoden gekennzeichnete Phase getreten sei. Dennoch verlangte der unverminderte Zwang zur Erhöhung des Konsumniveaus nach weiterer Ausdehnung der Ackerfläche. Auf dem 22. Parteitag im Oktober 1961 wurde der Partei- und Staatschef wieder konkreter. Zwar verkündete er das bescheidenere Ziel, bis zur Mitte des Jahrzehnts acht Mio. ha zusätzliches Land zu kultivieren; insgesamt rückte damit aber die magische Zahl von 50 Mio. ha in greifbare Nähe.

Tatsächlich spricht alles dafür, dass Chruščevs ehrgeiziges Programm quantitativ ungewöhnlich erfolgreich war. Zwischen 1953 und 1964 wuchs die gesamte Saatfläche in der UdSSR um 55,6 Mio. ha (von 157,2 Mio. auf 212,8 Mio.); davon entfielen 40,5 Mio. auf Neuland, ganz überwiegend in Westsibirien und Kazachstan. Damit veränderten sich wie in der Industrie auch in der Landwirtschaft die regionalen Proportionen: 35 % der genutzten Äcker befanden sich bei Chruščevs Sturz im asiatischen Reichsteil gegenüber 27 % zu Beginn seiner ‹Regentschaft›. Allerdings verweist schon ein zweiter Blick auch auf Schwächen und Probleme. Zum einen eignete sich nicht alles Land, das umgepflügt wurde, auch für die Bepflanzung. Immerhin ein Viertel (10,4 Mio. ha) des 1953–60 einbezogenen Bodens erwies sich als untauglich. Ähnlich blieb die tatsächlich bestellte Fläche erheblich hinter dem gesamten für nutzbar erklärten Landfonds zurück. Bei diesem Maßstab schrumpft das Resultat gewaltiger Anstrengungen während einer guten Dekade Chruščevscher Herrschaft (1953–64) auf einen Gewinn von mageren 10 %. Offenbar stieß die Expansion der Landwirtschaft an natürliche Grenzen. Wenn man den Statistiken trauen darf, war der Höhepunkt 1960 erreicht. Wohl vergrößerte sich die gesamte agrarische Nutzfläche weiter; aber der Umfang des Ackerlandes fiel 1964 auf das Niveau von 1960 zurück.[2]

Weil der Pflug Mittel zum Zweck war, gibt der Ertrag genauere Auskunft über den eigentlichen Erfolg des Programms. Die Ernten waren unterschiedlich, im ersten Jahrfünft (1954–58) aber im Ganzen mehr als zufriedenstellend. Nur 1957 gestaltete sich das Wetter so ungünstig, dass es zu schweren Einbußen kam. Dafür brachte das Jahr 1956 gute und das Jahr 1958 hervorragende Erträge. Im Durchschnitt erzielte man 9,1 Zentner Korn von einem Hektar, 1958 im annus mirabilis der Chruščev-Ära sogar 11,1. Auf dem Neuland lagen die Ergebnisse in den guten Jahren überwiegend noch darüber, in den schlechten darunter. Auch im zweiten Jahrfünft 1959–63 hielt die Aufwärtstendenz, quantitativ gesehen, an. Die Erträge stiegen durchschnittlich auf 10,2 Z./ha. Dabei fiel die Ernte in den ersten vier Jahren gut, 1963 aber katastrophal aus. In diesem Schreckens- und Schicksalsjahr Chruščevs standen nur 5 % mehr Korn auf dem Halm als 1957. Durchgehend waren die Ähren auf den neuen Feldern leichter; in Kazachstan wog man sogar nur enttäuschende 6,9 Z./ha. So ergibt sich mit Blick auf die Mengenerzeugung ein durchaus positives Fazit: Im Durchschnitt der Jahrfünfte stieg die Getreideproduktion in der Sowjetunion von 89,9 Mio. t 1949–53 über 110,3.1954–58 auf 124,7.1959–63 deutlich. Dazu trugen die Neulandgebiete mit einer Verdopplung des Aufkommens in den ersten Jahren ihrer Erschließung maßgeblich bei (22,7 Mio. t 1949–53, 45,2 Mio. t 1954–58); im letzten Jahrfünft aber nahm ihre Bruttoleistung kaum noch zu (51,6 Mio. t 1959–63). Zugleich hielten Urbanisierung und Industrialisierung unvermindert an. Nach der schlimmen Missernte von 1963 musste die Sowjetunion sogar erstmals Getreide vom amerikanischen Klassenfeind kaufen. So kamen nach der Dekadenwende mehrere ungute Vorgänge zusammen: die Abnahme des Ertragszuwachses in den Neulandgebieten, die ungebremste Bedarfssteigerung und die Enttäuschung überzogener Erwartungen. Ihre ‹Synergie› verdunkelte auch Aspekte des Unternehmens, die keine pauschale Verdammung verdienten.[3]

Denn auch die volkswirtschaftliche Gesamtbilanz, die sowohl die Investition von Geld und Arbeit einbeziehen als auch bedenken muss, dass manches Korn auf dem Wege von den Feldern in die staatlichen Vorratskammern verlorenging, blieb in der Schwebe. Auf die Gesamtzeit gesehen, ergab sich ein Ertrag von 7,5 Z./ha. Dies lag deutlich unter dem Durchschnitt für die RSFSR nach 1958 und hätte kaum einem westeuropäischen Bauern zum Überleben gereicht. Auf der anderen Seite stieg der Anteil des Neulandes am gesamten staatlichen Aufkommen von Getreide in den ersten Jahren gezielter Ausdehnung von 30,2 % 1949–53 auf 53,1 % 1954–58 und 62,2 % 1960 nahezu sprunghaft an; danach fiel er merklich auf 45,6 %, 47,8 % und den Tiefststand von 36,4 %, erreichte 1964 aber wieder 55 %, so dass er insgesamt beachtlich blieb. Zu einem weniger positiven Ergebnis gelangt man erst, wenn man die monetären und anderen Investitionen einbezieht. Eine solche Rechnung zeigt, dass die Kampagne bis 1960 einigermaßen rentabel war, danach aber Verluste brachte. Auch erhebliche Zusatzinvestitionen konnten diese Entwicklung nicht aufhalten. Über die entscheidende Ursache besteht Konsens: Die Überbeanspruchung von Land in einer klimatisch gefährdeten Region rächte sich. Was fünf Jahre gut ging und ‹nur› die Erschließung kostete, erwies sich als Raubbau. Wind und Trockenheit zerstörten den mühsam kultivierten Boden. Dauerhafte Fruchtbarkeit hätte eine vorsichtige Nutzung mit hohen Investitionen in Schutzmaßnahmen, Wechselkulturen und resistentes Saatgut erfordert. Was in Kanada gelang (Saskatchewan, Alberta), scheiterte in der Sowjetunion. Dabei war der ungeheure Verschleiß an menschlicher Arbeitskraft und Gesundheit noch gar nicht eingerechnet. Hunderttausende junger Leute, darunter viele Komsomolzen, konnten die harten Lebensbedingungen in eilig zusammengezimmerten Gemeinschaftshütten bei unzureichender Heizung und schlechter Ernährung nur unter Aufbietung höchster Begeisterung oder außerordentlicher Wertschätzung der besseren Bezahlung ertragen. Dennoch wurde auch die Abwanderung zu Beginn der sechziger Jahre zum Problem. So war der neue Wirtschaftsfeldzug, aus der Distanz betrachtet, auch darin sozialistisch und mit manchen stalinistischen Vorläufern verwandt, dass er kurzsichtig auf schnellen Gewinn zielte, aber die Vorsorge für dauerhaften Ertrag außer Acht ließ.[4]

Chruščev beließ es jedoch nicht bei der bloßen Ausdehnung der Anbaufläche. Er sah, dass der extensiven Soforthilfe intensivierende Maßnahmen folgen mussten. Solange die Altstalinisten noch nicht besiegt waren, schien ihm aber Zurückhaltung geboten. Erst nach dem Putschversuch vom Juni 1957 wagte er es, seine Karten offenzulegen. Dabei zeigte sich, dass seine Vorschläge auf eine tiefgreifende Veränderung der überkommenen wirtschaftlichen und politischen Organisation des Dorfes hinausliefen. Sie lassen sich vor allem in drei Absichten zusammenfassen: die Bauern durch fiskal- und preispolitische Maßnahmen zu entlasten und zu vermehrten Anstrengungen anzuspornen, durch die Abschaffung der MTS die Zersplitterung der Anweisungskompetenz zu beseitigen und sowohl durch die Förderung der Sowchosen als auch durch die Garantie eines festen Einkommens für die kolchozniki den staatlich-öffentlichen Agrarsektor so weit zu begünstigen, dass der private auf längere Sicht verkümmern würde. Chruščev hielt am Ziel des Sozialismus im Sinne staatlicher Lenkung und Gewinnabschöpfung fest, wollte die Dorfwirtschaft aber von jenen faktisch unentgeltlichen Zwangsleistungen Stalinscher Prägung befreien, die so viele Beobachter an vormoderne Hörigkeit erinnerten.

Erste Erleichterungen in Gestalt von Steuernachlässen und höheren Erzeugerpreisen wurden bereits im August 1953 von Malenkov mit Unterstützung Chruščevs verkündet. Sie gaben den Weg vor, dem nach der Sicherung seiner Alleinherrschaft explizite Reformen folgten. Ein Gesetz vom Juli 1957 hob mit Wirkung vom Beginn des nächsten Jahres an die Pflicht zur anteiligen Ablieferung von Privaterträgen der kolchozniki und anderer Kleinbesitzer auf. Die Regierung begründete diese Maßnahme mit der sinkenden Quote solcher Naturalabgaben am Gesamtaufkommen. In der Tat fiel dieser Anteil z.B. bei Fleisch von 23 % 1952 auf 10,2 % 1957. Andererseits war der Effekt durchaus erwünscht, dass auf diese Weise nicht nur Kapazitäten für den bäuerlichen Eigenkonsum, sondern auch für das Warenangebot auf den privaten Kolchosmärkten frei wurden. Dem ersten Schritt folgte eine gründliche Umgestaltung des staatlichen Erwerbssystems. Was ein ZK-Beschluss vom 18. Juni 1958 verhüllt erläuterte, entpuppte sich als Versuch, annähernd kostendeckende Preise zu zahlen und die Kolchosen durch die Zusammenfassung verschiedener Abgaben zu größerer Effizienz anzuspornen. Auch verbal kam die neue Absicht zum Ausdruck: Aus zagotovka (wörtlich: Bereitstellung) wurde zakupka (Aufkauf). Gewiss blieben die Preise niedrig. Im Schnitt stiegen sie aber zwischen 1952 und 1959 auf das Dreifache, bei Getreide, das zuvor fast gratis abgegeben werden musste, sogar auf das Siebenfache.[5]

Was den Anstoß zur Auflösung der MTS gab, bleibt weiterhin offen. Genau besehen, waren sie ein Überbleibsel der Zwangskollektivierung und der politischen Unterwerfungsabsicht, die sich damit verband. Sie passten nicht mehr zu einer Agrarpolitik, die den Bauern entgegenkam und sie durch Anreize statt durch Zwang zu mehr Einsatz anzuspornen suchte. Kaum zufällig waren es die Altstalinisten, die mit der ideologischen Begründung an ihnen festhielten, dass sie als Staatsbetriebe eine überlegene Form des sozialistischen Eigentums verkörperten. Erst ihre endgültige Niederlage im Juni 1957 machte den Weg frei für andere Argumente: dass die MTS den Bemühungen im Wege standen, das Nahrungsmittelaufkommen der Kolchosen zu erhöhen, weil die ‹Traktoristen› und Mähdrescherfahrer den größten Teil ihres Lohns in natura erhielten; und vor allem: dass Kolchosen und Maschinenstationen oft uneins waren, z.B. über den Zeitpunkt von Aussaat und Ernte, und es ein Strukturfehler sei, ‹zwei Herren› auf dem Lande zu installieren. Außerdem erschien die politische Kontrolle über das Dorf, die den MTS faktisch übertragen worden war, inzwischen entbehrlich. Was in den dreißiger Jahren aus Sicht von Partei und Staat nötig gewesen war, hatte zwei Jahrzehnte später seine Begründung verloren. Die alten Besitz- und Wirtschaftsverhältnisse waren wenn auch nicht vergessen, so doch außer Reichweite. Auch die Partei hatte in den Dörfern Fuß gefasst. Ökonomisch und politisch entbehrlich, administrativ eher hinderlich, verloren die MTS ihre Fürsprecher. Ende März 1958 wurde Gesetz, was Stalin noch 1952 abgelehnt hatte: die Auflösung dieser staatlichen Stützpunkte auf dem Lande. Die Kolchosen waren gehalten, die Traktoren und Maschinen zu kaufen. Neue konnten über eine eigene Organisation gekauft werden; die Wartung übernahmen «Reparatur- und Technikstationen» (RTS). Bei alledem hoffte die Parteiführung, dass die Kolchosen pfleglicher mit ihrem technischen Inventar umgehen würden – wie bei den höheren Preisen setzte man auch hier letztlich auf materielles Eigeninteresse.

In der Tat verschwanden die MTS schnell. Von 7903 Anfang 1958 waren zwei Jahre später nur noch 345 übrig; Ende 1961 gab es keine mehr. Stattdessen entstanden 2900 RTS mit fast 400.000 Arbeitskräften. Nur zeitigte diese überstürzte Kampagne ganz andere Wirkungen als beabsichtigt. Zum einen trat schnell zutage, dass die Reparaturstationen nicht in der Lage waren, ihre Aufgaben wahrzunehmen. Selbst bei Traktoren konnte nicht einmal in der Hälfte der Fälle Hilfe geleistet werden. Zum anderen verbesserte sich auch die Planung der landwirtschaftlichen Arbeiten nicht: In den saisonalen Spitzenzeiten, wenn in wenigen Wochen alles eingesät oder geerntet werden musste, fehlten Maschinen an allen Ecken und Enden; in den übrigen Monaten lagen sie nicht nur brach, sondern verfielen auch oft. Vor allem aber, und dies erwies sich mittelfristig als besonders fatal, bluteten die Kolchosen finanziell aus. Der faktische Zwang, die Maschinen zu kaufen, raubte ihnen die wenigen Mittel, über die sie ohnehin nur verfügten. Unabdingbare andere Investitionen unterblieben. Viele Kolchosen versanken in Schulden, so dass der Staat einspringen musste. Er verwandelte sie in Eigenbetriebe (Sowchosen), die er alimentierte. Im Endeffekt brachte die überstürzte Auflösung der MTS nicht nur keine Fortschritte; sie kam ihn sogar teuer zu stehen. Die überfällige Mechanisierung der Landwirtschaft kam nicht voran, und die Agrarproduktion blieb weiterhin niedrig.[6]

Dies war umso eher der Fall, als auch die übrigen Reformen ohne den gewünschten Effekt blieben. Trotz höherer Ankaufpreise und deren regionaler Differenzierung anstelle allgemeingültiger Tarife (die auf Produktivitätsunterschiede keine Rücksicht nahmen), trotz Vereinheitlichung der Abgabearten zu einer einzigen, besser kalkulierbaren füllten sich die staatlichen Lager nicht im erforderlichen Maße. Chruščev sah sich mit dem Dilemma konfrontiert, dass weitere Anreize für einen Sektor der Volkswirtschaft wachsende Lasten in einem anderen nach sich zogen. Höhere Ankaufpreise für die Kolchosen verteuerten die Lebenshaltung der Stadtbewohner, die ohne entsprechende Lohnerhöhungen einen realen Einkommensverlust hätten hinnehmen müssen. Es war daher verständlich, dass der Partei- und Regierungschef lange zögerte und den Bauern zunächst nur durch höhere Vorauszahlungen (seit März 1956) für zumeist per Kontrakt vereinbarte Lieferungen oder die Übernahme der Transportkosten entgegenkam. Schmerzhafte Maßnahmen ließen sich jedoch auf Dauer nicht vermeiden. Zum 1. Juni 1962 wurden sowohl die An- als auch die Verkaufspreise in den Läden vor allem für tierische Produkte drastisch erhöht. Fleisch etwa verteuerte sich um 30 %, Butter um 25 %, mit der Folge, dass es in einigen Städten zu Unruhen kam, in Novočerkassk, wie erwähnt, sogar zu Massenprotesten, die blutig niedergeschlagen wurden. Auch diese Verteuerung brachte keine wirkliche Erleichterung, da die höheren Preise die Produktionskosten ebenfalls nicht deckten.

So blieb ein unaufhebbarer Widerspruch: Auf der einen Seite vergrößerte sich der staatliche Nahrungsmittelfond in der Ära Chruščev enorm; zugleich nahm das bäuerliche Geldeinkommen deutlich zu. Auf der anderen Seite reichte der Zuwachs bei weitem nicht aus, um den gestiegenen Bedarf und die wachsenden Ansprüche zu befriedigen. Erst recht verminderte sich die Diskrepanz zu den parallelen großspurigen Versprechungen, man werde die USA bei der Fleisch- und Milchproduktion in wenigen Jahren überholen, in keiner Weise. Weiterhin ließ der entscheidende Fortschritt auf sich waren: ein nachhaltiger Schub der Produktivität. Dem aber stand weniger die Einfallslosigkeit Chruščevs im Wege als ein Strukturdefekt der Gesamtordnung.[7]

Es wird kein Zufall sein, dass Chruščev auch mit einer anderen tiefgreifenden Reform der Landwirtschaft bis zum endgültigen Triumph über seine innerparteilichen Gegner wartete: der Änderung des Systems der Bezahlung von Kolchosarbeit. Im selben Jahr 1958, als mit der Auflösung der MTS ein Stützpfeiler der stalinistischen Dorfverfassung fiel, dachte der Partei- und Staatschef auch immer lauter über die Schwächen der Entlohnung gemäß «Tagewerken» nach. Er sprach aus, was längst zur Binsenweisheit geworden war: dass die Ertragsabhängigkeit dieses Einkommens Desinteresse an der gemeinschaftlichen Tätigkeit nachgerade provoziere. Die Bezahlung vom Ernterest nach trudodni erfolgte so spät im Jahr und unterlag so starken Schwankungen, dass die kolchozniki nicht ernsthaft mit ihr rechnen konnten. Die Bauern investierten ihre Kraft daher ganz überwiegend in das eigene Land. Chruščevs Bemühung um eine Monetarisierung auch der Landwirtschaft vertrug sich mit diesem Zustand nicht. Wenn höhere Preise bessere Erträge hervorbringen sollten, konnte es nicht angehen, dass der Anreiz zu größerem Einsatz, den sie bildeten, durch das Entlohnungssystem wieder zunichte gemacht wurde. Hinzu kam, dass auch eine andere Folge der Quasi-Verstaatlichung ihre dysfunktionalen Folgen immer deutlicher offenbarte: die Überbewertung administrativer Tätigkeiten. Zur Abhilfe für beide empfahl Chruščev zwar keine ‹kapitalistische› Form leistungsabhängiger Entlohnung, aber eine Angleichung an die Sowchosen und damit an Arbeiter im engeren Sinne: Auch Kolchosbauern sollten endlich einen monatlichen monetären Festlohn erhalten.