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Das Schlachtfeld der Dämonen
»Mein Name ist Legion; denn wir sind viele.«
MARKUS 5:9
Diese Zeit war für die Kirche – zumindest im Nachhinein – eine Zeit der Helden. Die Giganten der Kirche wandelten damals noch auf Erden: Der heilige Augustinus unterhielt sich mit dem heiligen Ambrosius und schrieb Briefe an den heiligen Hieronymus. Viele der großen Namen jener Zeit sind uns heute noch geläufig. Wir haben von Kaiser Konstantin gehört, vom heiligen Martin und vom heiligen Antonius – oder zumindest von seinem Kloster. Manchmal kennen wir auch noch ein paar biografische Details: Wir wissen, dass Konstantin Konstantinopel gegründet hat und dass er (was weniger nett war) seine Frau durch allzu heißes Badewasser umbringen ließ. Wir wissen, dass Augustinus eine dominante Mutter hatte und dass er als junger Mann zu Gott betete, er möge ihn keusch machen – aber bitte erst später, nicht sofort.1 Es war eine Epoche, die einem heute durchaus vertraut vorkommen kann.
Doch da sollten wir uns nicht täuschen. Es war ein anderes Land, und es war eine andere Zeit – eine Zeit, in der Mönche höchstpersönlich mit Christus sprachen, mit Johannes dem Täufer spazieren gingen und spürten, wie ihnen vom Himmel die Tränen eines Propheten auf die Haut fielen. Die Welt war noch voller Wunder: Blinde wurden sehend gemacht, Gläubige entstiegen ihren Gräbern, Heilige liefen über das Wasser. Es war eine seltsame, eine ätherische Welt, wo die Türen religiöser Wahrnehmung weit offen standen. Eine Welt, in der sich manch heiliger Mann in eine flackernde Flamme verwandelte, auf einer schimmernden Wolke reiste oder im Alleingang mit einem flammenden Schwert eine Horde Barbaren niederstreckte.
In jener Welt gab es aber nicht nur fromme Erscheinungen, sondern auch Manifestationen des Bösen – es kam vor, dass auf der Straße auf einmal der Teufel neben einem spazierte oder dass sich beim Abendessen ein Dämon neben einen setzte. Es war eine Welt, in der die unsterbliche Seele immer und überall in Gefahr war. Die Barbarenhorden, die an den Grenzen des Imperiums für Ärger sorgten, waren nichts im Vergleich zu der schrecklichen Armee von Dämonen, die laut den christlichen Autoren jener Zeit bereits überall im Römischen Reich unterwegs waren. »Mein Name«, hatte der Dämon im Markusevangelium angekündigt, »ist Legion; denn wir sind viele.«2 Für viele christliche Autoren waren das keine bloßen Metaphern: Die Dämonen und die Bedrohung, die sie darstellten, waren ganz und gar real.
Modernen Historikern ist dieses Thema so peinlich, dass sie den Teufel und seine Dämonen oft gar nicht erst erwähnen. Dabei waren einige der führenden Köpfe des frühen Christentums regelrecht von der Dämonologie besessen. In Augustinus’ Gottesstaat (einem Werk, das man nur selten bei seinem vollen Titel nennt: Über den Staat Gottes gegen die Heiden) wimmelt es geradezu von diesen furchterregenden Gestalten. Sie seien, so Augustinus, »Dämonen, Schlechtigkeiten wollen sie lehren, an Schändlichkeiten haben sie ihre Freude«.3
Angesichts dieser überall lauernden Bedrohung machten die christlichen Autoren mobil. Mit der Akribie viktorianischer Naturforscher begannen die Historiker, Theologen und Mönche des ausgehenden 4. Jahrhunderts, die Sitten und Gewohnheiten dieser teuflischen Spezies zu beobachten und aufzuzeichnen. Ein Mönch teilte in seinen Schriften die Dämonen mit beinahe linnéscher Genauigkeit in acht Kategorien ein: Völlerei, Lust, Habgier, Traurigkeit, Wut, Teilnahmslosigkeit, Prahlerei und Stolz. Falls Ihnen diese Liste bekannt vorkommt, so liegt das daran, dass sie den Ausgangspunkt für das mittelalterliche Konzept der Sieben Todsünden bildete (die Teilnahmslosigkeit wurde in eine andere Sünde inkorporiert, um auf die magische Zahl sieben zu kommen).
Auch wenn manche Mönche dazu tendierten, sich ein wenig zu lange mit jenen Manifestationen des Bösen zu beschäftigen, die man eher dem pornografischen Bereich zuordnen würde, so waren die akribischen Beschreibungen von Dämonen doch beileibe kein Selbstzweck. Vielmehr galten diese präzisen Berichte als wertvolles Mittel im Kampf der Christen gegen das Böse. Man wusste schon damals: Wissen ist Macht. Wer die verschiedenen Dämonen voneinander unterscheiden konnte, wer sich mit ihren Gewohnheiten auskannte und wusste, wie und wo sie anzugreifen pflegten, der war besser aufgestellt, diesem furchtbaren Feind zu begegnen – genau wie manche Soldaten, die im Norden des Reichs gegen die Barbaren in die Schlacht zogen, zunächst einmal Caesars Gallischen Krieg lasen.
Komplexe Dämonologien kamen auf den Markt, die dem Leser von A bis Z erklärten, was es mit diesen Kreaturen auf sich hatte: wie sie entstanden waren (der Höllensturz der gefallenen Engel), wie sie rochen (abscheulich), wo sie sich gerne aufhielten (ein beliebter Treffpunkt war Rom), wie sich ihre Haut anfühlte (kalt wie der Tod), sogar wie sie im Bett waren (einfallsreich, fantasievoll und ausdauernd). Alles nahmen die Dämonenforscher unter die Lupe, auch was die Dämonen planten, um die logistischen und linguistischen Hürden zu überwinden, die die angestrebte Weltherrschaft mit sich brachte: »Wir dürfen nicht glauben, dass es einen Geist der Unzucht gibt, der zum Beispiel eine Person verführt, die in der Bretagne Unzucht treibt«, schrieb ein Zeitgenosse, »und einen anderen für eine Person, die solches in Indien tut.« Stattdessen, erklärte er, gebe es unzählige Geister, eine ganze »abscheuliche Armee«, die unter ihrem Anführer Satan die Welt drangsaliere und zur Sünde verleite.4
Dass die Dämonen so mächtig waren, lag nicht zuletzt an ihrer erstaunlichen Schnelligkeit: Sie konnten jederzeit und (fast) überall auftauchen. Wie die Engel, die sie einst gewesen waren, hatten die Dämonen Flügel und konnten dadurch mit Höchstgeschwindigkeit große Distanzen überwinden, um ihr böses Werk zu verrichten – und die Menschen ganz allgemein in Angst und Schrecken zu versetzen. Ein Mann wachte auf, weil ihm mehrere Dämonen wie ein Schwarm Krähen um den Kopf flatterten. »Sie sind in ein und demselben Augenblick überall«, schrieb ein antiker Chronist. »Für sie ist die ganze Welt ein einziger Ort.«5 Dämonen, warnten andere Autoren, gaben furchterregende Geräusche von sich: Sie konnten schreien, heulen, zischen und (wenn sie besonders heimtückisch waren) sogar sprechen. Sie waren in der Lage zuzuschlagen, zu beißen, zu verbrennen und Spuren auf der Haut zu hinterlassen, die aussahen »wie mit einem Schröpfglas gemacht«. Am schlimmsten aber war das Ziel, welches sich diese üblen Kreaturen gesetzt hatten: nichts weniger als »die Unterwanderung der gesamten Menschheit«.6
Die Methoden, mit denen die Dämonen den Menschen zusetzten, waren mannigfaltig, und sie variierten, je nachdem, welcher Dämon zur Tat schritt und wen er vor sich hatte. Manchmal inszenierten sie ihr Erscheinen als geradezu extravagantes Spektakel, wobei sie sich die besonders höllischen Auftritte in der Regel für ihre besonders frommen Feinde aufsparten. Antonius suchten sie als Wölfe und Skorpione heim. Weniger frommen Gegnern erschienen sie in scheinbar harmloser, manchmal sogar durchaus angenehmer Form: als Mönche, als schöne Frauen, als nackte Jünglinge oder sogar als Engel. Ein älterer Mönch fand sich beim Abendessen auf einmal von nackten Frauen umgeben, die mit ihm am Tisch saßen, einem anderen hockte unvermittelt ein Dämon im Schoß – in der Gestalt eines äthiopischen Mädchens, dem er einst als junger Mann begegnet war. Ein Mönch wurde in seinem Kloster von einer ausgesprochen zeitlosen Erscheinung heimgesucht: einem mittleren Regierungsbeamten. Der Beamte packte den Mönch und begann mit ihm zu ringen. Erst während des Kampfs wurde dem Mönch klar, dass er es gar nicht mit einem Vertreter der Bürokratie zu tun hatte, sondern (offenbar waren die Unterschiede nicht allzu groß) mit dem unverfälschten Bösen. Es war ein Dämon.
Einige Beschreibungen dämonischer Übergriffe sind von einer fast schon proustschen Präzision. Ein Mönch notierte das Werk eines, wie er es nannte, »Mittagsdämons«, der immer zwischen 10 und 14 Uhr auftauchte. Zu dieser Zeit soll der Mönch eigentlich arbeiten, aber dieser spezielle Dämon hindert ihn daran, und »es scheint, als bewege sich die Sonne kaum, wenn sie es überhaupt tut, und der Tag ist fünfzig Stunden lang. Dann zwingt er den Mönch, dauernd aus den Fenstern zu schauen und sogar seine Zelle zu verlassen, um sich den Stand der Sonne anzusehen und festzustellen, wie lang es noch bis zur neunten Stunde ist« – um diese Zeit gibt es nämlich Abendessen. Manchmal veranlasst der Dämon den Mönch, seinen Kopf aus der Zelle zu stecken, um nachzusehen, ob andere Mönche unterwegs sind, und später muss er feststellen, wie er sich in der warmen Mittagssonne »die Augen reibt und die Hände streckt, den Blick von seinem Buch abwendet und an die Wand starrt. Dann blickt er wieder ins Buch zurück und liest ein wenig. Doch er beschäftigt sich schließlich nur noch mit dem Zustand der Texte … Er kritisiert die Orthografie und den Buchschmuck. Am Ende faltet er das Buch zusammen, legt es sich unter den Kopf, und dann fällt er in einen leichten Schlummer.«7
Meistens aber suchten die Dämonen die Menschen auf viel prosaischere, wenn auch nicht weniger tückische Weise heim. Sie verführten Männer (die Berichte über solcherlei Vorkommnisse wurden ausschließlich von Männern verfasst), indem sie ihnen Gedanken und Ideen einpflanzten, denen sie nicht widerstehen konnten. Um den diabolischen Einflüsterern etwas entgegenzuhalten, brachte ein Mönch eine Sammlung von Phrasen heraus, mit denen man auf fast jede dieser Erscheinungen reagieren konnte. Genau wie man in unserer jüngeren Vergangenheit auf Reisen einen Sprachführer dabeihatte – ein Büchlein, das einem verriet, wie man in der Landessprache nach dem Weg zum Bahnhof fragte – , gab die Sammlung des Mönchs den Menschen praktische Phrasen an die Hand, die allesamt aus der Bibel stammten und dem Anwender im Falle eines Dämonenangriffs gute Dienste leisten sollten. Wenn einer von dem Gedanken geplagt wurde, dass er gerne ein Glas Wein trinken würde, sollte er die frommen Worte sagen: »Wer bei Tisch Freude am Wein hat, der bringt Schande über seine Festung.« Dann würde die Versuchung hoffentlich das Weite suchen.8 Das Kompendium enthält 498 Passagen, für jede nur erdenkliche Situation. Man darf sich durchaus fragen, ob die Mönche im 4. Jahrhundert – ähnlich den modernen Reisenden, die zwar nach dem Bahnhof fragen können, aber die Antwort nicht verstehen – sehr verwirrt waren, wenn sich ihr Gegenüber nicht exakt an das vorgegebene Drehbuch hielt.
Eine Konsequenz des Dämonenkonzepts bestand darin, dass man selbst nicht schuld war, wenn man schlechte Gedanken hatte – schließlich waren es die Dämonen, die einem diese Gedanken eingetrichtert hatten. Dieser Umstand führte zu der kuriosen Situation, dass die Menschen selbst allersündhafteste Gedanken ohne Umschweife zugaben. In Schriften von erstaunlicher Offenheit manifestieren sich die Libido und die dunkelsten Sehnsüchte der Mönche. Sie berichten, dass sie von Visionen geplagt werden, in denen nackte Frauen – und gelegentlich auch andere Mönche – auftauchen, die sich der »obszönen Sünde der Hurerei hingeben«. Es sind Visionen, die ihre Seele zermartern (von ihrem Unterleib ganz zu schweigen). Die Mönche beschreiben, wie sie von den Gedanken an Sex so überwältigt sind, dass sie sich gezwungen sehen, »sofort aufzuspringen und häufig und schnell in der Zelle umherzuwandeln«.9 Erotische Phantasmagorien tanzten ihnen – manchmal ganz buchstäblich – als Dämon der Hurerei vor den Augen, der sie »in Gestalt einer wunderschönen nackten Frau mit grazilem Gang und einem obszön üppigen Körper« anfiel. Ein älterer Mönch wurde von einer regelrecht verschachtelten Versuchung gepeinigt. Sie überkam ihn in Form einer Vision, die nicht nur mit jungen Leibern, sondern auch mit Nahrung und der verbotenen Frucht »des Anderen« lockte: Während der Mönch in seiner Klosterzelle saß, erschien ihm ein »junger Sarazene«, wie er ihn beschrieb, der mit einem Brotkorb in der Hand durch sein Fenster kletterte, sich zu wiegen begann und wissen wollte: »Tanze ich gut, Alterchen?«10
Allerdings wurde der Beichtende nicht immer ganz von Schuld freigesprochen. Eben jener Mönch, der über die Frau mit dem »grazilen Gang« schrieb, berichtete in seiner Not auch über einen »Dämon, der mich mit Flüchen bedroht und gesagt hat: ›Ich werde dich dem Spott und der Missbilligung aller Mönche aussetzen, weil du dich mit allen möglichen unreinen Gedanken beschäftigt und sie ausgeplaudert hast.‹«11 Wir können heute noch nachvollziehen, wie es dem Mönch in der Seele wehgetan haben muss, solchermaßen zurechtgewiesen zu werden.
Doch wie sehr diese bösen Geister der Unzucht und Hurerei die Leute auch beunruhigt haben mochten: Die furchterregendsten Dämonen waren jene, die um die traditionellen Götter des Römischen Reichs herumschwirrten wie Fliegen um einen verwesenden Leichnam. Jupiter, Aphrodite, Bacchus und Isis – sie alle hatten in den Augen der christlichen Autoren eine dämonische Qualität. Predigt um Predigt, Traktat um Traktat gemahnten christliche Prediger und Autoren die Gläubigen mit deutlich missbilligenden Worten, dass der »Irrweg« der heidnischen Religionen von Dämonen inspiriert war, die den Menschen als Erste die »Täuschung« anderer Religionen in den Geist gepflanzt hatten. Dämonen waren es gewesen, die den Menschen und ihren »verführten und umgarnten Seelen« die Götter aufgehalst hatten.12 Einfach alles an den alten Religionen war dämonisch. Wie Augustinus polterte: »Alle Heiden waren von Dämonen unterjocht. Sie bauten Tempel für Dämonen, stellten für Dämonen Altäre auf, rekrutierten Priester für den Dienst an Dämonen, boten Dämonen Opfer dar und verehrten ekstatische Schreihälse als Propheten der Dämonen.«13
Die Motivation der Dämonen bei alldem war schnell erklärt: Da die Menschen die Götter verehrten, opferten sie ihnen, und diese Opfer dienten den Dämonen als Nahrung. Die christlichen Autoren erklärten, Dämonen hätten das gesamte griechisch-römische Religionssystem eigens aus der Taufe gehoben, »damit sie sich ausreichend Nahrung verschafften in Form von Rauch und Blut, die man den Statuen und Bildern offerierte«.14 Zugleich ging es auch um eine ganz andere Art der »Nahrung«: Die Dämonen labten sich am Anblick von Menschen, die sich vom wahren christlichen Gott abwendeten.
Es wurde nicht an ausgeschmückten Erklärungen gespart, um jeden Einzelaspekt der alten religiösen Kulte auf diese Weise zu erläutern. Als einer der geschicktesten Tricks der Dämonen galt ihre Behauptung, die Zukunft vorhersagen zu können – dieses angebliche Talent fanden die Menschen so faszinierend, dass sie schon deshalb regelrecht an die Altäre strömten. Für die Christen war es hingegen lediglich eine Täuschung: Da die Dämonen mit ihren Flügeln wie Engel blitzschnell von einem Ort zum anderen fliegen konnten, mussten sie sich für ihre sogenannten Prophezeiungen nur kurz anderswohin begeben, um den Menschen nach ihrer Rückkehr »weissagen« zu können, was an Ort und Stelle bald geschehen würde. Dadurch waren die Dämonen beispielsweise in der Lage, das Wetter vorherzusagen: Sie »versprechen sogar Regen – den sie bereits fallen fühlen«.15
Die Tempel der alten Götter galten als Zentren dämonischer Aktivität. Hier ließen sich die Dämonen schwarmweise nieder und verschlangen gierig die Opfergaben, die die Römer ihren Göttern darbrachten. Wer sich des Nachts in einen Tempel schlich, der hörte Dinge, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließen: Leichen begannen zu sprechen, und die Dämonen flüsterten einander zu, was sie als Nächstes planten, um die Menschheit ins Unglück zu stürzen. Wer ein christliches Gebäude auf den Ruinen eines alten Tempels errichtete, tat das auf eigene Gefahr. In der Türkei wurde auf einer Baustelle, an der ein neues Kloster entstehen sollte, ein Steinmetz von empörten Dämonen emporgehoben und über eine Klippe geworfen. Vor den Augen seiner entsetzten Kollegen fiel der Mann mehrere hundert Meter und schlug immer wieder auf den Felsen auf, bis er auf einem Stein in der Mitte des Flusses liegen blieb. So erzürnt waren die Dämonen über den Vormarsch der Kirche.
Die frühen christlichen Prediger stellten angesichts dieser furchtbaren Bedrohung einen neuartigen, fast hysterischen Drang nach Reinheit zur Schau. Es reichte nicht, dass man es selbst unterließ, den Göttern zu opfern, man musste auch jeden Kontakt mit dem Blut, Rauch, Wasser und sogar dem Geruch der Opfergaben anderer meiden. Von dem Rauch oder dem geweihten Wasser der alten Kulte verunreinigt zu werden galt als unerträglich. Viele praktische Fragen rund um religiöse Kontamination wurden gestellt und mit großer Ernsthaftigkeit beantwortet, so trivial sie auch waren. Ende des 4. Jahrhunderts schrieb ein treuer Christ einen angsterfüllten Brief an Augustinus. Darf ein Christ die Thermen besuchen, die an einem Festtag von Heiden benutzt werden, wollte er wissen – und wenn ja: während die Heiden noch da sind oder nachdem sie gegangen sind? Darf ein Christ auf einem Stuhl sitzen, auf dem ein Heide während der Feiern für einen »Götzen« gesessen hat? Entdeckt ein durstiger Christ in einem verlassenen Tempel einen Brunnen, darf er daraus trinken? Wenn ein Christ zu verhungern droht und in einem Götzentempel etwas zu essen sieht, darf er es verspeisen?16
An dieser Spannung zwischen dem Göttlichen und dem Profanen änderte sich lange Zeit nichts. Noch anderthalb Jahrtausende später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, stellte Stephen Dedalus, der Protagonist von James Joyce’ Ein Porträt des Künstlers als junger Mann, ganz ähnliche Fragen – er wollte wissen, ob man jemanden mit Mineralwasser taufen darf, ob in jedem kleinen Detail der Eucharistiefeier der ganze Körper und das ganze Blut Christi enthalten ist und ob Jesus, wenn der geweihte Wein dann sauer geworden ist, immer noch im Essig steckt oder ob er stattdessen einen frischen Jahrgang bevorzugt. Damals, im 4. Jahrhundert, schloss Augustinus sein Antwortschreiben an den verängstigten Briefpartner mit einem kompromisslosen Standpunkt: Wenn ein Christ zu verhungern droht und die einzige Nahrung, die er findet, von heidnischen Opfern verunreinigt ist, dann »ist es besser, sie mit christlicher Stärke von sich zu weisen«. Mit anderen Worten: Hat ein Christenmensch die Wahl zwischen der Kontamination mit heidnischen Objekten und dem Tod, so muss er ohne Zögern den Tod wählen.17
Die frühen Kirchenväter begegneten religiösen Verfehlungen mit der geballten Kraft ihrer Rhetorik. Immer wieder verwiesen sie darauf, dass sich das Christentum von allen anderen Religionen unterschied. Die Christen wurden gerettet, alle anderen nicht. Die Christen hatten recht, die Anhänger der anderen Religionen lagen falsch. Und nicht nur das: Letztere waren krank, geistig verwirrt, böse, verflucht, minderwertig. Ein neues, brutales Vokabular kam auf, das vom Abscheu gegen die anderen Religionen und das, was mit ihnen zu tun hatte, zeugte – was im alten Rom so gut wie alles war. Die Religion durchdrang die römische Welt wie Linien ein Stück Marmor. Vor Gladiatorenkämpfen wurde üblicherweise zuerst den Göttern geopfert, genau wie vor Theateraufführungen, sportlichen Wettkämpfen und sogar Senatssitzungen. All diese Veranstaltungen galten ab sofort als dämonisch und mussten vermieden werden. Als ein christlicher Legionär im Dienst einen Tempel der alten Götter betreten musste, spritzte ein Tropfen Weihwasser auf seine Kleidung. Sofort riss er demonstrativ den verunreinigten Teil seines Umhangs ab und schleuderte ihn von sich. Alle Christen – das behaupteten zumindest die Prediger – bekamen Angst, wenn sie den Rauch einatmeten, der von den Altären auf dem Forum durch die Stadt wehte; ein guter Christenmensch würde eher auf einen Altar der Heiden spucken und den brennenden Weihrauch löschen, als Gefahr zu laufen, dessen Dämpfe einzuatmen. Die Verehrung der alten Götter wurde fortan als furchtbare Verschmutzung gebrandmarkt, als ein Miasma, wie es den Protagonisten einer griechischen Tragödie geradewegs in die Katastrophe leitet.
Das alte Laisser-faire der Römer, wo der eine den einen, der nächste einen anderen Gott verehrte, würde, wie die Prediger ihren Gemeinden klarmachten, ab sofort nicht mehr akzeptiert. Wer einen anderen Gott anbetete, war nicht mehr nur anders: Er war von einem Dämon besessen. In den Köpfen all jener Menschen, die die alten Religionen praktizierten, hausten den Klerikern zufolge Dämonen. Wer das Christentum kritisierte, warnte der christliche Apologet Tertullian, war nicht ganz bei Verstand, sondern wurde von Satan und seinen Fußsoldaten gesteuert. Das »Schlachtfeld« dieser teuflischen Soldaten war »euer Verstand, den Satan durch seine heimlichen Andeutungen auf sich eingestimmt hat«.18 Dämonen konnten »die Seelen der Menschen in Besitz nehmen und ihre Herzen verstopfen«, und das Resultat war: Man glaubte nicht mehr an Christus.19 Mit einem Abstand von weit über tausend Jahren klingt dieses Gerede über Dämonen heute trivial, ja regelrecht komisch. Doch das war es ganz und gar nicht. Und es war auch keine bloße Rhetorik: Es ging um die Rettung der Menschheit oder ihren Untergang – nichts konnte wichtiger sein. Als Konstantin im Jahr 312 in Rom einmarschiert war, mag es zunächst gewirkt haben, als würde sich kaum etwas ändern. Zum ersten Mal in der Geschichte Roms war der Kaiser ein Anhänger Christi, doch er hatte sich vorgenommen, allen Bürgern seines Reichs auch weiterhin zu erlauben, jene Götter anzubeten, die sie seit Jahrhunderten verehrten. Das behauptete er zumindest. »Niemandem soll die Glaubensfreiheit verwehrt werden«, verkündete sein berühmtes Edikt von Mailand* im Jahr 313, und weiter hieß es darin: »Jedem Menschen soll gestattet sein, seinen eigenen Glauben zu haben und ihn zu praktizieren, wie er es für richtig hält.«
Schöne Worte. Und wie bei vielen schönen Worten stellte sich später heraus, dass nichts dahinter war. Christliche Kleriker konnten (beziehungsweise wollten) einen solchen Liberalismus um keinen Preis zulassen. Die römische Religion sahen sie nicht als gesunde Konkurrenz an, sondern als Anlass, eine ganze Bevölkerungsgruppe zu verdammen. Der Teufel griff nach jedem neugeborenen Kind, und wenn es nicht getauft war, dann behielt er es. Konnte ein Christ mit gutem Gewissen dabeistehen und zusehen, wie seine Brüder wissentlich mit Dämonen tanzten?
Dies war allerdings nur die offizielle Haltung. Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass die christlichen Prediger von ihren Gemeinden zwar absolute Reinheit forderten, ihre Schäfchen davon aber nicht allzu begeistert waren. Sicher, Augustinus oder Chrysostomos glaubten, wenn man den christlichen Gott anbetete, bedeute das, allen anderen zu entsagen. Doch die Gemeindemitglieder teilten diese Ansicht nicht unbedingt. Was bedeutete »christlich« damals überhaupt? Im Polytheismus war es Sitte gewesen, dass ein neuer Gott sich einfach zu den alten dazugesellte, und der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Viele »Heiden« bauten die Anbetung des christlichen Gottes und der Heiligen kurzerhand in ihre religiösen Gewohnheiten mit ein und opferten nebenbei wie gehabt ihren alten Göttern. Es gibt Grabsteine, die auf Christus und zugleich auf die alten römischen Unterweltgötter verweisen. Viele »Christen« gingen in die Kirche, nur um tags darauf, wenn sich ein rauschhafter Festzug durch die Straßen Roms wälzte, dem einen, wahren Gott wieder zu entsagen und bis spät in die Nacht zu tanzen und heidnischen Göttern zuzuprosten. Viele »Christen« beteten zu Gott, er möge sich um die wirklich entscheidenden Dinge in ihrem Leben kümmern, und wandten sich, wenn es um etwas weniger hochtrabende Angelegenheiten ging, etwa um eine entlaufene Kuh oder ein schmerzendes Knie , an die weniger bedeutsamen Geister20 – sehr zum Missfallen ihrer Prediger, die behaupteten, ihr Gott habe zwar Himmel und Erde gemacht, finde aber dennoch Zeit, sich mit ihrem Vieh zu beschäftigen. »Er befasst sich auch mit den ganz kleinen Dingen«, teilte Augustinus einer (offenbar wankelmütigen) Gemeinde mit: »Er kümmert sich darum, dass deine Henne gerettet wird.«21
Nicht einmal Kaiser Konstantin selbst scheint in seinem christlichen Glauben gefestigt gewesen zu sein. Es existiert eine Münze, die Konstantin im Profil zusammen mit einem Gott zeigt, der aussieht wie Apollon; neben seiner berühmten christlichen Vision soll Konstantin auch dieser ausgesprochen heidnische Gott erschienen sein.22 Später ließ Konstantin der Kaiserfamilie einen Tempel bauen, als seien sie selbst Götter. Mit einem Selbstvertrauen, das modernen Christen befremdlich erscheint – das für die Polytheisten im Altertum, die es gewohnt waren, dass ihre Kaiser vergöttlicht wurden, aber ganz normal war – , trug Konstantin den Titel Isapostolos (»den Aposteln ebenbürtig«).
Bei einem Kaiser konnten die Bischöfe vielleicht noch ein Auge zudrücken, bei den Normalbürgern aber keinesfalls. Mit einschüchternden Predigten stellte eine neue Generation rigider, unnachgiebiger Kirchenmänner das Volk vor die Wahl. Und es war nicht die Wahl, ob die Gemeinde den einen Gott anbetete oder einen anderen – es war die Wahl zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Satan. Wer den Menschen gestattete, einen anderen Weg zu wählen als den, der zum wahren Christus führte, war nicht etwa liberal. Er war grausam. Die Freiheit, Fehler zu machen, war, wie Augustinus später energisch argumentierte, letztlich die Freiheit, Sünden zu begehen – und wer sündigte, riskierte den Tod seiner Seele. »Die Möglichkeit der Sünde«, so drückte es ein Papst später aus, »ist nicht Freiheit, sie ist Sklaverei.«23 Wenn man anderen erlaubte, außerhalb des christlichen Glaubens zu leben, so hieß das nicht, dass man besonders tolerant war. Es hieß, dass man sie zu ewiger Verdammnis verurteilte.
Die Prediger predigten, und irgendwann begannen die Leute – zunächst nur einige, dann immer mehr – ihnen zuzuhören. Das Tempo der Christianisierung nahm zu.
Im 19. Jahrhundert stand der viktorianische Dichter Matthew Arnold am Strand von Dover und lauschte dem »melancholischen, langen Getöse« des Meeres, das sich – wie sein Glaube – zurückzog und in der Dunkelheit einen einsamen, verwirrten Mann zurückließ. Zur Zeit des heiligen Augustinus vernahmen die Christen ein ähnliches Geräusch, das sie strepitus mundi nannten, das »Getöse der Welt«.24 Doch dieser Lärm war nicht das Geräusch der Religion, die sich zurückzog, im Gegenteil: Das Christentum brach so unaufhaltsam wie eine Flutwelle über Städte, Länder, ganze Kontinente herein. Arnold machte der Klang der Veränderung schwermütig – Augustinus beflügelte er. Als er auf ein paar Männer traf, die noch nicht zum Christentum bekehrt worden waren, sagte Augustinus ihnen, sie sollten endlich aufwachen und den strepitus mundi hören.
Das Wort strepitus lässt sich jedoch nicht so einfach definieren. Im Lateinischen versteht man unter strepitus keinen angenehmen, beruhigenden Klang, ja nicht einmal ein neutrales Geräusch. Das Wort bezeichnet überhaupt kein bestimmtes Geräusch, sondern Lärm. Lärm, wie er entsteht, wenn Räder über Pflastersteine rattern; das ohrenbetäubende Rauschen eines Flusses an einer Stromschnelle; das kakophone Stimmengewirr einer aufgeregten Menschenmenge. Strepitus ist ein mindestens zweideutiges Wort: etwas, das spannend und aufregend sein kann, wenn man auf der richtigen Seite steht – oberhalb eines rasenden Flusses, inmitten einer jubelnden Menge. Doch ein Fluss kann einen auch mitreißen, eine Menschenmenge kann einen niedertrampeln. Als Augustinus zu den Männern, die noch nicht bekehrt worden waren, sagte, sie sollten aufwachen und den strepitus mundi hören, war es einerseits eine freundliche Einladung, sich der christlichen Religion anzuschließen. Andererseits war es eine unverhohlene Drohung.
Die Religion der anderen zu bekämpfen, zu verhindern, dass sie ihren Göttern Opfergaben darbrachten – das war nichts Boshaftes und auch kein Ausdruck von Intoleranz, wie die Kleriker ihren Gemeinden klarmachten, sondern eine der ehrenvollsten Tätigkeiten überhaupt. Die Bibel selbst verlangte es: »Ihr sollt ihre Altäre niederreißen und ihre Steinmale zerschlagen«, heißt es, ganz kompromisslos, im 5. Buch Mose. »Ihre Kultpfähle sollt ihr im Feuer verbrennen und die Bilder ihrer Götter umhauen. Ihre Namen sollt ihr an jeder solchen Stätte tilgen.«25 Die Christen im Römischen Reich hörten hin. Und im Laufe des 4. Jahrhunderts begannen sie, diesen Worten Folge zu leisten.
* Der tatsächliche Status der früher als »Toleranzedikt von Mailand« apostrophierten Vereinbarung wird unter Wissenschaftlern seit vielen Jahrzenten kontrovers debattiert. Heute sind viele der Ansicht, dass dem Schreiben früher zu große Bedeutung beigemessen wurde und es eigentlich nicht mehr war als ein Brief. Doch wie der amerikanische Historiker H. A. Drake überzeugend dargelegt hat, war der Text – ganz gleich, ob Edikt oder Brief – von großer Bedeutung.