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Wie man einen Dämon vernichtet
»Den Tempel der Frevler zerstörte er bis auf die Grundmauern, alle Altäre und Statuen schlug er zu Staub.«
DAS LEBEN DES HEILIGEN MARTIN, 14.6
Die Seiten der Geschichtsbücher mögen diese Zerstörungswut verdrängen – Stein ist weniger vergesslich. In Raum 18 des British Museum in London kann man die sogenannten »Elgin Marbles« bewundern, Statuen vom Parthenonfries, die Lord Elgin im 19. Jahrhundert von Griechenland nach England brachte. Die erstaunlich lebensechten Standbilder befinden sich in einem recht traurigen Zustand: Viele sind verstümmelt, hier und da fehlen Gliedmaßen. Oft wird gemutmaßt, dass die Beschädigungen auf das mangelnde Geschick von Lord Elgins Arbeitern oder auf Kampfhandlungen während der osmanischen Besatzung zurückzuführen sind. Zwar stimmt beides, doch ein Großteil der Schäden war das Werk allzu eifriger Christen, die den Tempel und die »dämonischen« Götter mit stumpfen Werkzeugen attackiert und dabei einige der herausragenden Exponate griechischer Bildhauerkunst unwiederbringlich beschädigt hatten.1
Der Ostgiebel wurde am stärksten traktiert, hier sind Hände, Füße, sogar ganze Arme und Beine verschwunden. Es gilt als nahezu sicher, dass sie von Christen abgeschlagen wurden, um die angeblich in den Statuen wohnenden Dämonen außer Gefecht zu setzen. Die überwiegende Mehrheit der Götter wurde enthauptet – auch dies war höchstwahrscheinlich das Werk von Christen. Die großen Figuren in der Mitte des Giebels, die einst die Geburt der Athene zeigten, waren die heiligsten – und somit in den Augen der Christen die teuflischsten. Keine Frage, dass diese Figuren auch am meisten zu leiden hatten. Wahrscheinlich schob man sie vom Giebel, sodass sie zu Boden fielen und zerbrachen. Die Bruchstücke wurden kleingemahlen und beim Bau einer christlichen Kirche als Mörtel benutzt.
Weitere Objekte in Museen und archäologischen Stätten in aller Welt erzählen eine ganz ähnliche Geschichte. Ebenfalls im British Museum, ganz in der Nähe der Parthenonskulpturen, steht eine Basanitbüste des Germanicus, der jemand mit zwei Hieben die Nase abgeschlagen und ein Kreuz in die Stirn geritzt hat. In Athen steht eine überlebensgroße Aphroditestatue, die ebenfalls durch ein Kreuz auf der Stirn entstellt wurde; außerdem sind ihre Augen verunstaltet, und die Nase fehlt.2 In Kyrene hat man einer Büste im Demeterheiligtum die Augen gleich ganz herausgeschlagen, und auch hier fehlt die Nase. Die Statue eines schlanken Bacchus in der Toskana wurde enthauptet. Im archäologischen Museum von Sparta steht eine Kolossalstatue der Göttin Hera, der man Kreuze direkt in die Augen geritzt hat. Eine schöne Apollostatue aus Salamis wurde nicht nur kastriert, sondern auch hart ins Gesicht geschlagen, wodurch der Gott seine Nase einbüßte; auf seinem Hals deuten Schlagspuren darauf hin, dass Christen versuchten, ihn zu enthaupten – was ihnen aber nicht gelang. Bis der sogenannte Islamische Staat die Stadt eroberte, befand sich im Museum von Palmyra die verstümmelte, aber rekonstruierte Statue der Göttin Athene, die dort einst in einem Tempel gestanden hatte; auch ihr hatte jemand die Nase abgeschlagen, sodass in ihrem einst so hübschen Gesicht nun eine hässliche Lücke klaffte. Ein kürzlich erschienenes Buch über die Zerstörung von Statuen durch Christen hat einen Umfang von fast 300 Seiten und steckt randvoll mit Bildern solcherlei Verstümmelungen – dabei konzentriert es sich ausschließlich auf Ägypten und den Nahen Osten.3
Zahlreiche Beweisstücke sind erhalten geblieben, viele jedoch auch für immer verloren gegangen. Sinn und Zweck einer Zerstörung ist es schließlich, zu zerstören. Und dazu gehört mehr als nur eine Verunstaltung: Wer es richtig anstellt, vernichtet alle Hinweise darauf, dass das Objekt jemals existiert hat. Wir werden nie genau wissen, wie viele Kunstwerke damals für immer verschwunden sind. Statuen wurden zerschmettert, zermahlen, ihre Überreste verstreut, verbrannt und eingeschmolzen. Von manchen blieben nur kleine Häuflein verkohltes Elfenbein und Gold übrig. Andere hat man so gut entsorgt, dass wir sie wohl niemals finden werden; sie verschwanden auf Nimmerwiedersehen in Flüssen, Abwasserkanälen und Brunnen. Von manchen der heiligen Objekte ist aufgrund ihrer Beschaffenheit überhaupt nichts mehr übrig: In die heiligen Haine der Götter – jene friedvollen Naturheiligtümer, zu denen auch jenes gehörte, das Plinius einst bewunderte – drangen die Christen mit Äxten ein und fällten die uralten Bäume. Bilder, Bücher, sogar Bänder galten als Teufelswerk und wurden entfernt und vernichtet, genau wie bestimmte Musikinstrumente: Ein christlicher Prediger prahlte, Christen hätten die Flöten der »Musikanten der Dämonen« in Stücke geschlagen. Manche Vorfälle, wie der Abriss des Serapistempels, waren so fürchterlich, dass gleich mehrere Autoren davon berichteten. Mit stolzen Worten wurde dieser Vandalismus in christlichen Hagiografien verewigt. Allerdings sind das Ausnahmen. Die meisten dieser Verbrechen wurden totgeschwiegen.
Doch wo die schriftlichen Quellen schweigen, spricht die Archäologie oft Bände. Im Tempelbezirk von Dendera am linken Nilufer wurden die Bilder der ägyptischen Götter durch zahllose Meißelschläge verunstaltet. An jeder Götterstatue finden sich Hunderte solcher Spuren der Zerstörung. Der Archäologe Eberhard Sauer, ein ausgewiesener Spezialist für das Thema »religiöser Hass«, hat anhand der Nähe und Regelmäßigkeit der Meißelschläge festgestellt, dass sie mit geradezu hektischer Schnelligkeit ausgeführt wurden. Wie Sauer erklärt, hat in Rom jemand ein Fresko des Gottes Mithras mit einer Axt beschädigt, die offenbar mit beträchtlicher Kraft geschwungen wurde. Die Spuren, die Hämmer, Meißel und Eisenstäbe an antiken Statuen hinterlassen haben, stellen so etwas wie stumme Morsezeichen dar, die Archäologen eine Menge verraten können. An den Überresten der Athenestatue in Palmyra konnten die Fachleute feststellen, dass ein einziger, wütender Schwerthieb genügt hatte, um die Göttin zu enthaupten. Manchmal reichte den Angreifern ein Schlag aber nicht: In Germanien wurde eine Statue der Göttin Minerva in sechs Stücke zerlegt; ihr Kopf ist bis heute nicht aufgetaucht. Und in Frankreich zerschlug jemand ein Relief, das Mithras zeigte, in über 300 Einzelteile.
Die christlichen Autoren waren von diesen Zerstörungen begeistert und spornten ihre Herrscher zu immer größeren gewaltsamen Übergriffen an. Einer merkte schadenfroh an, die christlichen Kaiser spuckten jetzt »den toten Götzen ins Gesicht, treten die unheiligen Bräuche der Dämonen mit Füßen, verspotten den alten, von den Vätern ererbten Betrug«.4 In einem berüchtigten frühen Text werden die Kaiser gebeten, sie mögen doch bitte diesen »Schmutz abwaschen« und »den Zierrat der Tempel … ohne zu zögern fortschaffen. Sollen das Feuer der Münzstätten und die Flammen der Metallhütten ihn schmelzen!«5 Schämen musste sich dessen niemand. Das erste Gebot hätte eindeutiger nicht sein können: »Du sollst dir kein Bildnis machen«, hieß es in der Bibel, und: »Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen.«6 Die griechischen und römischen Tempel, so alt und schön sie auch sein mochten, waren die Heimstatt der falschen Götter, und als solche mussten sie zerstört werden. Das war kein Vandalismus: Es war Gottes Wille. Und ein guter Christenmensch hatte die Pflicht, diesen Willen auszuführen.
Die Geschwindigkeit, mit der sich die Toleranz zunächst in Intoleranz und schließlich in absolute Unterdrückung verwandelte, schockierte die nichtchristlichen Beobachter. Kurz nachdem Konstantin im Jahr 324 die Kontrolle über das gesamte Römische Reich erlangt hatte, verbot er anscheinend allen Statthaltern, die noch Heiden waren, ihre Götzen zu verehren und ihnen zu opfern; damit verhinderte er fortan, dass Nichtchristen wichtige Posten innerhalb der kaiserlichen Regierung besetzen konnten. Als Nächstes erließ er zwei neue Gesetze gegen die Heiden und die »Tempel ihres Truges«.7 Eines dieser Gesetze verbot »den abscheulichen Götzendienst«, der »in Stadt und Land geübt wurde; keiner sollte es mehr wagen, Götterbilder aufzustellen oder sich mit Weissagung und andern derartigen unnützen Dingen zu befassen oder überhaupt noch zu opfern«. Mit dem zweiten Gesetz, das von der erfolgreichen Umsetzung des ersten ausging, wurden der massenhafte Bau und Ausbau von Kirchen befohlen – »wie wenn der Wahn der Vielgötterei schon aus dem Wege geschafft wäre und sich fast alle Menschen künftig Gott anschließen wollten«.8
Im Laufe des 4. Jahrhunderts wuchs der gesetzliche Druck auf die »Heiden«, in einer Ausdrucksweise, die zuweilen nicht nur feindselig, sondern fast schon hysterisch war. Im Jahr 341 verbot Konstantins Sohn, Kaiser Constantius, das Opfern endgültig. »Der Aberglaube«, so stand es in seinem Gesetz, »muss aufhören; der Wahnsinn der Opfer wird abgeschafft.« Wer sich nicht an das Verbot hielt, dem winkte eine (unheilvoll vage formulierte) »passende Strafe«. Wenig später erging die Order, alle Tempel zu schließen; es wagte ohnehin kaum noch jemand, sie zu besuchen. Kaiser Julian bemerkte später scharfsinnig, Konstantin habe die Tempel ausgeraubt, doch seine Söhne hätten sie niedergerissen. Vom Jahr 356 an war es bei Todesstrafe verboten, Bilder und Statuen anzubeten.9 Die neuen Gesetze waren so aggressiv formuliert wie nie zuvor. »Heiden« wurden darin als »Wahnsinnige« bezeichnet, deren Glauben »ganz und gar ausgerottet« gehöre, das Opfern sei eine »Sünde«, und jeden, der sich dieses Verbrechens schuldig mache, solle »das Schwert der Rache« treffen.10
Das soll nicht heißen, dass es in dem Jahrhundert, das auf Konstantins Konvertierung folgte, keine friedlicheren Abschnitte gegeben hätte; die gab es durchaus. Es gab Zeiten, als die Verfolgung Andersgläubiger pausierte, sogar umgekehrt wurde. Als Mitte des Jahrhunderts Valentinian I. und sein Bruder Valens regierten, ließen die staatlichen Übergriffe nach. Und dann war da natürlich noch Kaiser Julian, dem spätere Generationen von Christen den Beinamen Apostata (»der Abtrünnige«) verpassten. Doch Julians Herrschaft währte nur kurz, und auch wenn Konstantins Tod zu diesem Zeitpunkt erst ein halbes Jahrhundert zurücklag, so war es doch bereits zu spät, um die einmal in Gang gesetzte Vernichtung der alten Religion rückgängig zu machen. Julian sei, wie ein christlicher Kleriker seiner Gemeinde erzählte, »eine Wolke, die sich schnell wieder auflösen wird«.11 Er hatte recht.
Als Theophilos das Serapeion von Alexandria zerstören ließ, hatte er das Gesetz auf seiner Seite. Doch viele andere Christen brannten so sehr darauf, die Tempel Satans anzugreifen, dass sie gar nicht erst warteten, bis es ihnen jemand erlaubte. Schon Jahrzehnte, bevor das Römische Recht diese Übergriffe legalisierte, kam es vonseiten eifriger Christen zu gewalttätigen, zerstörerischen Übergriffen gegen ihre »heidnischen« Nachbarn. In Syrien war es besonders schlimm. Die syrischen Mönche waren skrupellose Fanatiker, bekannt dafür, besonders massiv und brutal nicht nur gegen Tempel, Statuen und Denkmäler vorzugehen, sondern auch gegen alle Priester, die sich ihnen entgegenstellten. Der griechische Redner Libanios aus Antiochia war entsetzt von dem Vandalismus, dessen er Zeuge wurde. »Ganz hastig greifen diese Leute die Tempel an, mit Stöcken, Steinen und eisernen Stangen, in manchen Fällen sogar mit bloßen Händen und Füßen«, schrieb er. »Es folgt die reine Verwüstung – Dächer werden abgedeckt, Mauern zertrümmert, Statuen zerschmettert und Altäre umgestürzt, und die Priester müssen untätig danebenstehen, sonst bringt man sie um … So fegen diese Leute über die Landschaft hinweg wie reißende Flüsse.«12 In elegischem Tonfall erzählt Libanios von einem gewaltigen Tempel an der Grenze zu Persien, einem prachtvollen Gebäude mit wunderschöner Decke, in dessen kühlem Schatten zahlreiche Statuen standen. Heute, so schreibt er, »ist er verschwunden, sehr zum Kummer aller, die ihn je gesehen haben« – und zum Kummer aller, die ihn nie werden sehen können.13 Laut Libanios war dieser Tempel so eindrucksvoll, dass es Leute gab, die meinten, er sei mindestens so großartig wie der Serapistempel, den – so fügte er mit einer Ironie hinzu, die späteren Historikern nicht entgangen ist – »hoffentlich niemals das gleiche Schicksal ereilen wird«.14
Die Mönche waren nicht nur vulgär, übelriechend, ungebildet und gewalttätig, sie waren ihren Kritikern zufolge auch Schwindler. Sie taten so, als führten sie ein Leben in strenger Selbstverleugnung, aber im Grunde waren sie um nichts besser als eine Horde betrunkener Rowdys, »eine schwarz gekleidete Sippe, die mehr frisst als Elefanten und noch jene unter den Tisch trinkt, die beim Saufen Lieder singen«. Nach der Randale verbargen diese Männer dann, so Libanios, »ihre Exzesse wieder unter ihrer künstlich hervorgerufenen Blässe« und taten so, als seien sie Mönche, die sich selbst verleugneten.15 Doch selbst als Trunkenbolde waren sie, wie auch Libanios erkannte, in ihrem Handeln furchtbar effektiv: »Nachdem sie einen [Tempel] niedergerissen haben, eilen sie zum nächsten, dann zu einem dritten, und sie stapeln Trophäe auf Trophäe« – und all das, »obwohl das Gesetz es verbietet«.16
Als sich das Jahrhundert seinem Ende näherte, war die Zeit der Nachsicht vorbei. In den 380er/390er-Jahren kamen in immer kürzeren Abständen immer neue Vorschriften gegen alle nichtchristlichen Rituale, und sie wurden immer schärfer formuliert. Im Jahr 391 erließ der durch und durch christliche Kaiser Theodosius ein Gesetz, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte: »Keiner hat mehr das Recht, Opfer darzubringen«, hieß es darin, »niemand darf mehr die Tempel betreten, niemand darf mehr die Schreine verehren.« Sogar in den eigenen vier Wänden durfte niemand mehr »mit heimlicher Boshaftigkeit« seine Hausgötter verehren, ihnen Lichter entzünden, Kränze aufhängen oder Weihrauch verbrennen.17 Im Jahr 399 wurde ein weiteres Gesetz erlassen, das noch schrecklicher war. Darin hieß es: »Sollte es noch irgendwelche Tempel in den Landbezirken geben, so sind sie ohne Störungen oder Tumulte abzureißen. Denn wenn sie abgerissen und entfernt sind, so ist die materielle Grundlage für allen Aberglauben zerstört.«18
Mitunter wurde argumentiert, dass diese Gesetze gegen die »Heiden« nur auf dem Papier bestanden: In keiner Provinz seien kaiserliche Truppen aufmarschiert, um die Anordnung durchzusetzen, und bereits die schiere Anzahl der Gesetze deute darauf hin, dass sie wenig wirksam gewesen seien. Wie bei einem Lehrer, der seine Klasse immer und immer wieder zur Ordnung rufen muss, deute die Häufigkeit der Erlasse an, dass sie keiner befolgt habe – wie ein Gesetz auch unumwunden zugebe: »Der Wahnsinn der Heiden«, heißt es dort, »zwingt uns … zu einer Wiederholung der Vorschriften, die wir erlassen haben.« Aber eine solche »Wiederholung« bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein Gesetz unwirksam war; möglicherweise war auch einfach nur eine Klärung erforderlich.19 Diese Edikte waren weit mehr als nur Worte, und es ist unredlich, das Gegenteil zu behaupten. Für die Christen waren sie ein Freifahrtschein, den sündigen Heiden die Dämonen auszutreiben.
Und viele Christen waren nur allzu bereit, genau das zu tun. Sie warteten lediglich auf ihre Chance. Die Bibelstelle Markus 12:31 wurde dabei gerne vergessen – viele Christen hatten gar keine Lust, ihren polytheistischen Nächsten zu lieben wie sich selbst, und setzten alles daran, seinen Tempel in Schutt und Asche zu legen. Bischöfe bedrängten ihre Dienstherren, immer neue Gesetze zu erlassen, und schickten dann ihre Gemeindemitglieder als Milizen aus, um die Drecksarbeit zu erledigen.
Im gleichen Maße, wie der Tonfall der Gesetze schärfer wurde, nahm nicht nur das Ausmaß der Schäden zu, sondern auch die unverhohlene Freimütigkeit, mit der die Menschen ihrem zerstörerischen Werk nachgingen. Vermutlich kurz vor dem Angriff auf das Serapeion von Alexandria trat ein Bischof namens Marcellus auf den Plan – »der erste Bischof, der das Edikt in die Tat umsetzte und in der Stadt, für die er zuständig war, die Schreine zerstören ließ«.20 392 fiel das Serapeion – mit Ausnahme der Plünderung Roms durch die Westgoten im Jahr 410 gab es kein Ereignis, das in der Literatur jener Zeit stärker nachhallte.21 Doch in den folgenden Jahrhunderten verklang dieses Echo: In der neuen christlichen Welt war die Zerstörung des Serapeion nur eine von vielen Geschichten, über die man lieber den Mantel des Schweigens breitete.
Die Hagiografien und Geschichtswerke bejubelten die Übergriffe. Im Frankreich des 4. Jahrhunderts setzte der heilige Martin, wie uns in Das Leben des Heiligen Martin stolz mitgeteilt wird, »einen der ältesten und berühmtesten Schreine in Brand«, bevor er in das nächste Dorf weiterzog und sich einen weiteren Tempel vornahm: Dort »riss er den Tempel, der der falschen Religion gehörte, nieder und schlug alle Altäre und Statuen zu Staub«.22 Martin war keine Ausnahme. Von seinem Erfolg im Serapistempel angespornt, ließ Bischof Theophilos in Ägypten viele weitere Tempel abreißen. Die Hagiografien beschreiben diese Übergriffe natürlich nicht als furchtbaren Vandalismus, ja nicht einmal als unschöne Sachbeschädigung, sondern, im Gegenteil, als Beweis für die Tugend eines Heiligen. Wenn man den Erzählungen glauben darf, begannen einige der berühmtesten Heiligen des westlichen Christentums auf diese Weise ihre Karriere. Benedikt von Nursia, der heute noch verehrte Ordensgründer, wurde ebenfalls als Vernichter antiker Kunstwerke gefeiert. Als er in Montecassino in der Nähe von Rom eintraf, bestand seine erste Amtshandlung darin, eine alte Apollostatue und den Altar des dazugehörigen Schreins zu zertrümmern. Doch das reichte ihm noch nicht. Er zog durch die Gegend, »riss Götzenbilder nieder und vernichtete die Haine am Berg … Er gönnte sich keine Ruhe, bis er dort die letzten Reste des Heidentums an der Wurzel ausgerissen hatte«.23 Natürlich darf man Hagiografien nicht als präzise historische Aufzeichnungen werten; Berichte wie diese sind bestenfalls mit Vorsicht zu genießen. Doch selbst wenn sie nicht gänzlich der Wahrheit entsprechen, so zeigen sie doch zumindest eines: dass viele Christen stolz auf diese Zerstörungen waren und sie sogar bejubelten.
Im Südosten des Reichs trat der Hassprediger Johannes Chrysostomos (»Goldmund«) auf den Plan. Dieser Mann war so charismatisch, dass die Christen scharenweise in die Große Kirche in Antiochia strömten, um den Mann mit dem funkelnden Blick reden zu hören; sobald er fertig war, gingen sie sofort wieder – »als sei ich eine Konzertaufführung«, wie er ganz unbescheiden kommentierte.24 Chrysostomos war ein Eiferer, wie er im Buche stand. Als er hörte, dass »Phönizien immer noch unter dem Wahnsinn der dämonischen Bräuche« litt, sandte er Banden gewalttätiger Mönche aus, die in der Umgebung alle Tempel einrissen. Finanzieren ließ er das Ganze von den frommen Frauen seiner Gemeinde. »Auf diese Weise«, schreibt der Historiker Theodoret, »wurden die letzten verbliebenen Schreine der Dämonen völlig zerstört.«25 Ein Papyrusfragment zeigt Bischof Theophilos, wie er triumphierend über einem Abbild des Serapis steht, die Bibel in der Hand. Auf der rechten Seite sind Mönche zu sehen, die den Tempel angreifen. Benedikt von Nursia, Martin von Tours, Johannes Chrysostomos – die Leute, die diese gewalttätigen Feldzüge anführten, waren mitnichten irgendwelche Exzentriker, sondern Männer im Herzen der Kirche.
Augustinus von Hippo ging wie selbstverständlich davon aus, dass sich seine Gemeindemitglieder an den Gewalttaten beteiligen würden – und er implizierte, dass sie im Recht waren, wenn sie es taten: Die Tempel, die Götzenbilder und die Haine zu vernichten sei, so Augustinus, nichts weniger als »ein klarer Beweis dafür, dass wir solcherlei Dinge nicht ehren, sondern verabscheuen«.26 Und er erinnerte seine Schäfchen daran, dass diese Zerstörung das ausdrückliche Gebot Gottes sei. Im Jahr 401 wies Augustinus die Christen von Karthago an, alle heidnischen Objekte zu zerschlagen, denn das sei es, was Gott verlange und befehle. Angeblich ließen bei den Ausschreitungen, zu denen es nach seinen Brandreden gekommen war, sechzig Menschen ihr Leben.27 Etwas früher hatte eine von Augustinus’ Gemeinden, die unbedingt die Tempel von Karthago niederbrennen wollte, Psalm 83 zu rezitieren begonnen: »Beschämt und verschreckt sollen sie sein für immer«, skandierten die Gläubigen verbissen, »zuschanden sollen sie werden und zugrunde gehen!«28
Ganz offensichtlich waren diese gewaltsamen Übergriffe nicht nur die Pflicht eines Christenmenschen, sie waren für viele auch eine durchaus angenehme Freizeitbeschäftigung. Die Teilnehmer sangen, als sie den alten Marmor zertrümmerten, und brüllten vor Lachen, während sie die Statuen kaputtschlugen. In Alexandria drangen sie in Privathäuser und Thermen ein, um »Götzenbilder« herauszuholen, die sie dann unter Jubel öffentlich verbrannten und verstümmelten. Wenn sie ihr Werk vollendet hatten, gingen die Christen »ihrer Wege und priesen Gott für die Zerstörung solch fehlgeleiteter Zeugnisse von Dämonen und Götzen«.29 Die zerbrochenen Statuen an sich boten ebenfalls Anlass zur Heiterkeit, ihre Einzelteile bedachte man mit »Gelächter und Hohn«.30 Es entstanden sogar Lieder, in denen das zerstörerische Werk gefeiert wurde. Als koptische Pilger in die ägyptische Stadt Hermopolis kamen, stimmten sie in die örtliche Hymne der Gläubigen auf die Verwüstungen ein.31 Immer wieder ergingen sich die Gotteskrieger in Beleidigungen, die einen ganz eigenen Humor offenbarten. In Karthago wurde alljährlich eine religiöse Zeremonie abgehalten, bei der der Bart einer Herkulesstatue vergoldet wurde; zu Beginn des 5. Jahrhunderts schritten einige Christen zur Tat und verpassten der Statue voll Hohn eine »Rasur«, was für viel Heiterkeit sorgte. In den Augen der anwesenden Polytheisten war dies eine Schändung.
Gegen Statuen wurde besonders massiv vorgegangen, da die Menschen glaubten, dass Dämonen darin wohnten. Es reichte nicht, eine Statue einfach nur umzuwerfen – man musste den Dämon, der in ihr steckte, demütigen, schänden, foltern und zerstückeln, um ihn endgültig zu neutralisieren. Ein jüdisches Traktat, das sogenannte Avoda sara, lieferte detaillierte Anweisungen, wie man mit einer solchen Statue umzugehen habe: Man solle ein Standbild entweihen, hieß es dort, »indem man die Spitze eines Ohrs oder seiner Nase oder eines Fingers abschlägt. Auch wenn der Rest intakt bleibt, ist es so dennoch entweiht.« Die Statue lediglich vom Sockel zu reißen, sie anzuspucken, über den Boden zu schleifen oder mit Schmutz zu bewerfen, genüge nicht, warnte das Mischnatraktat – was besonders einfallsreiche Christen jedoch nicht davon abhielt, genau das zu tun, um den Dämon darin zusätzlich zu demütigen.32
Manche Statuen scheinen, wie es bei der erwähnten Aphroditebüste in Athen der Fall war, »getauft« worden zu sein, indem man ihnen tiefe Kreuze in die Stirn ritzte. Wenn dies eine »Taufe« war, dann trug sie möglicherweise nicht nur dazu bei, den Dämon in der Statue zu neutralisieren, sondern auch persönlichere Dämonen, die einem zusetzten, wenn man sich derart schöne splitternackte Menschen anschaute. Eine nackte Statue der Aphrodite sei, wie ein angewiderter christlicher Historiker schrieb, »schamloser als eine Prostituierte, die vor einem Bordell steht«33 – und genau wie eine Prostituierte konnte Aphrodite mit ihrem prallen Hintern und ihren nackten Brüsten im Betrachter den Dämon der Lust wecken. Eine Statue mit einem in die Stirn geritzten Kreuz, mit ausgestochenen Augen oder abgeschlagener Nase war da schon weniger attraktiv. Ganz folgerichtig litten erotische Darstellungen auch mehr unter den Attacken als züchtig bekleidete Standbilder. Und so sieht man heute im Museum einen einst hübschen Apollon, dem die Nase fehlt. Eine Venusstatue, die einmal in einem Badehaus stand und der jemand die Brustwarzen und den Venushügel weggemeißelt hat. Ein Bildnis des Dionysos, bei dem die Nase verstümmelt und die Genitalien entfernt wurden.
Sosehr diese Übergriffe Gott gedient haben mögen – auch für die ortsansässigen Christen waren sie ein Segen. Die Menschen bauten sich aus den Steinen der abgerissenen Tempel neue Häuser. Im Osten des Römischen Reichs finden sich in der neuen christlichen Architektur immer wieder Überreste der klassischen Tradition: hier zwei abgeschnittene Beine, dort das Kapitell einer hübschen griechischen Säule. In einem Gesetzestext heißt es, die Steine der abgerissenen Tempel sollten dazu verwendet werden, baufällige Straßen, Brücken und Aquädukte zu reparieren.34 In Konstantinopel wurde ein Aphroditetempel in einen Unterstand für die Pferdewagen eines Bürokraten umfunktioniert.35 Die christlichen Autoren feixten angesichts solcher kleinen Demütigungen. Einer schrieb: »Eure Statuen, eure Büsten, eure Kultgegenstände sind zu Boden geworfen, und alle lachen über euren Selbstbetrug.«36
»Sündige« Heiden, die sich urplötzlich von einem wütenden christlichen Mob umzingelt sahen, hatten eher den Eindruck, dass man sich gegen sie versündigte als umgekehrt. Manche widersetzten sich der Zerstörung ihrer heiligen Denkmäler und schlugen zurück. Der gewalttätige Bischof Marcellus, ein eifriger Tempelzerstörer, wurde von empörten Polytheisten verschleppt und bei lebendigem Leibe verbrannt.37 In den 420er-Jahren wurden in Karthago der Tempel der römischen Göttin Caelestis und alle Heiligtümer in seiner Nähe dem Erdboden gleichgemacht. Das war mit ziemlichem Aufwand verbunden, immerhin hatte das Heiligtum der Caelestis eine Länge von anderthalb Kilometern. Die Heiden protestierten lautstark, mussten ansonsten aber tatenlos zusehen. »Kein Handwerker wird jemals wieder solche Götzenbilder anfertigen, wie Christus sie zerschlagen hat«, höhnte Augustinus. »Man überlege nur einmal, welche Macht diese Caelestis einst hier in Karthago genoss. Und wo ist es jetzt, das Reich der Caelestis?«38 Während der Zerstörung von Bauten und Kunstwerken kam es immer wieder zu Handgreiflichkeiten, und manchmal wurden Christen dabei auch umgebracht – was für einige von ihnen natürlich nicht unbedingt etwas Schlechtes war, immerhin wartete die Märtyrerkrone auf denjenigen, der auf diese Weise starb. Der Tod als Märtyrer war für manche Christen eine so verlockende Aussicht, dass sie sich bei diesen Übergriffen vorsätzlich provokant verhielten. Der ganze Vorgang schien mehr und mehr aus dem Ruder zu laufen. Bereits zu Beginn des 4. Jahrhunderts sahen sich einige spanische Bischöfe genötigt zu verkünden: »Wenn jemand Götzenbilder zerbricht und an Ort und Stelle getötet wird, so wird er keinesfalls die Krone der Märtyrer erhalten.«39
Später beschränkten sich die Zerstörungen nicht mehr auf öffentliches Eigentum. Christliche Truppen drangen in Privathäuser und Thermen ein und entfernten alle verdächtigen Statuen, die sie dann öffentlich verbrannten. Für Letzteres war laut den christlichen Chroniken mitunter gar kein menschliches Eingreifen notwendig: Die bloße Präsenz von so viel gottgefälliger Frömmigkeit reichte aus, dass sich die Statuen selbst zerstörten. Wie in der (ein wenig zweifelhaften) Hagiografie eines Bischofs aus Gaza berichtet wird, habe sich jener mit einem Kreuz in den Händen einer Statue genähert, und »der Dämon, der in der Statue wohnte, … schlüpfte in seiner Verwirrung aus dem Marmor heraus, stieß das Standbild von sich, und es zerbarst in seine Einzelteile«. Das war an sich schon recht wundersam, doch infolgedessen gab es auch noch ein paar willkommene Kollateralschäden: Wie unser Hagiograf mit Genugtuung schreibt, »hielten sich zwei Götzendiener neben dem Sockel des Standbilds auf, und als es herunterfiel, schlug es dem einen den Kopf entzwei, dem anderen brach es Schulter und Handgelenk. Denn sie standen beide daneben und verspotteten die fromme Menschenmenge.«40
In den christlichen Berichten weidet man sich regelrecht an solch glücklichen Zufällen. Die apokryphen (und ähnlich zweifelhaften) Johannesakten erzählen davon, was dem Apostel Johannes wiederfuhr, als er nach Ephesos zum berühmten Tempel der Artemis reiste, einem der Sieben Weltwunder der Antike. Johannes traf an einem Festtag dort ein, als alle Einheimischen Weiß trugen und feierten. Der ganz in Schwarz gekleidete Johannes betrat den Tempel und begann, gegen die Gottlosigkeit der Einheimischen zu predigen. Mit Gottes Hilfe sorgte er dafür, dass der Altar in tausend Stücke zersprang, alle geweihten Gegenstände herunterfielen und die Götterstatuen umkippten. Und als ob das nicht genug gewesen wäre, »stürzte eine Hälfte des Tempels ein, sodass der Priester durch das herabfallende [Dach] mit einem Schlag getötet wurde«. Nach dieser eindrucksvollen Vorstellung kamen die Epheser zur Vernunft – sie zerrissen ihre Kleider, brachen in Tränen aus und begannen, den einen wahren Gott anzubeten.41
Wie für das Martyrium brauchte man auch für dieses ebenso fromme wie wichtige Werk keine besonderen Kenntnisse oder Fähigkeiten. Waren Monate harter Arbeit, eine jahrelange Ausbildung und ein über mehrere Jahrhunderte zusammengetragenes Wissen nötig, um einen griechischen Tempel zu bauen, so brauchte es wenig mehr als blinden Eifer und etwas Geduld, um denselbigen zu zerstören. Ende des 4. Jahrhunderts, als die Gesetze gegen die Heiden ein aggressives Crescendo erlebten, soll Bischof Marcellus den riesigen und noch immer sehr populären Zeustempel in Apameia mit der Kraft seiner Gebete und mithilfe eines Mannes zerstört haben, der »kein Baumeister oder Maurer oder Kunsthändler oder etwas Ähnliches war«. Heute wird Marcellus in der orthodoxen Kirche als Heiliger verehrt.42
Dabei stellen sogar die christlichen Berichte diese frommen Zerstörer oft als inkompetente Stümper dar. Marcellus brauchte mehrere Anläufe, bevor der alte Tempel endlich in sich zusammenbrach (wie sich herausstellte, hatte ein »schwarzer Dämon« ein zeitigeres Gelingen verhindert43). Für den heiligen Martin in Frankreich lief auch nicht alles glatt. Als er einen alten Tempel niederbrannte, hätte sich sein Triumph beinahe ins Gegenteil verkehrt: Die Feuersbrunst war so heftig, dass die Flammen um Haaresbreite ein nahegelegenes Haus in Brand gesetzt hätten. Martin gelang es gerade noch, dieses PR-Desaster zu verhindern, indem er »auf das Dach des Hauses kletterte und sich den Flammen in den Weg warf, als sie auf ihn zukamen«.44 Hier und da gibt es auch archäologische Befunde, die von derlei Inkompetenz zeugen. So blieb ein Teil des Parthenonfrieses wahrscheinlich nur deshalb erhalten, weil er so hoch lag – und der Hang hinter dem Tempel so steil war, dass die anstößigen Skulpturen ohnehin kaum jemand zu sehen bekam.
Bis heute werden diese zerstörerischen Übergriffe in den historischen Darstellungen jener Epoche kaum jemals verurteilt – wenn sie überhaupt erwähnt werden. In der Ausgabe des Penguin Dictionary of Saints von 1965 wird in beinahe amüsiertem Tonfall berichtet, Martin von Tours sei »nicht abgeneigt« gewesen, »mit gewaltsamen Mitteln die heidnischen Schreine zu zerstören«.45 In modernen Geschichtswerken werden diejenigen, die die Angriffe ausführten und andere dazu anstachelten, nur selten als gewalttätig, böswillig oder aggressiv beschrieben: In der Regel sind sie »eifrig«, »fromm«, »enthusiastisch« oder schlimmstenfalls »übereifrig«. Wie der Historiker John Pollini schreibt: »Die moderne Forschung hat unter dem Eindruck einer jüdisch-christlichen kulturellen Befangenheit« diese Übergriffe immer wieder ignoriert oder heruntergespielt und zuweilen sogar »versucht, die Schändungen, die auf das Konto der Christen gingen, in ein positives Licht zu rücken«.46 Die Bedeutung dieser Übergriffe wird dabei verharmlost – das geschieht oft implizit, indem ihnen nur wenig Beachtung geschenkt wird, mitunter aber auch ganz explizit. Man solle diese Vorgänge nicht überbewerten, hat ein einflussreicher Wissenschaftler postuliert, und »nicht in unangemessenem Maße aufbauschen« – solche Schändungen seien ja lediglich »das zügig ausgeführte Werk von ein paar wenigen Entschlossenen« gewesen.47
Mag sein, dass diese Taten »zügig ausgeführt« wurden, doch ihre Auswirkungen waren massiv und von Dauer. Und genau darum ging es den Christen, das war Sinn und Zweck dieser Angriffe. Immer wieder wird berichtet, dass die gewaltsame Zerstörung eines Tempels dazu führte, dass sich die Einheimischen quasi sofort taufen ließen. Nach der Zerstörung des Serapeion von Alexandria »bereuten viele Bürger ihren Irrtum, erkannten, wie bösartig sie gewesen waren, und wandten sich dem Glauben an Christus und der wahren Religion zu«. Laut dieser christlichen Quelle konvertierten die Alexandriner, weil ihnen endlich die Augen geöffnet worden waren. Naheliegender ist indes eine andere Lesart: Die Menschen hatten schlicht und einfach Angst. Als in Gaza eine Statue zerbrach, nachdem sich ihr jemand mit einem Kreuz genähert hatte, sollen 32 Männer und sieben Frauen auf der Stelle konvertiert sein.48 Als Marcellus den großen Zeustempel in Apameia zerstörte, fiel jener mit einem solchen Getöse in sich zusammen, dass unter den Bewohnern der Stadt eine Panik ausbrach. Doch als »die Menge vernahm, dass der feindliche Dämon in die Flucht geschlagen war, stimmten sie alle in eine Hymne mit ein und lobten den Herrn«.49
Gebildete Nichtchristen versuchten, sich den Gewalttätern entgegenzustellen. Libanios, der als letzter großer »heidnischer« Redner in die Geschichte einging, verurteilte die Übergriffe aufs Schärfste. Die Kirche verkünde zwar, dass dadurch immer mehr Menschen zum wahren Glauben fänden, doch das, so Libanios, sei Augenwischerei: »Die Bekehrungen, von denen sie sprechen, sind nicht echt. Diese ›Bekehrten‹ sind nicht wirklich bekehrt worden – sie sagen nur, sie seien es.« Insofern müsse man fragen, fuhr er fort, »welchen Vorteil die Kirche davon hat, wenn die Leute nur behaupten, sich an ihre Lehre zu halten, es in Wirklichkeit aber gar nicht tun. Bei solcherlei Dingen ist Überzeugungskraft gefragt, nicht Zwang.«50 Einige der größten Redner der Antike verteidigten die lange Tradition des religiösen Pluralismus im Römischen Reich und machten sich für Toleranz stark.* 51 In eine Rede, die ein gewisser Themistios im Jahr 364 hielt, hallen Libanios’ Argumente nach: Die Leute hätten seit eh und je verschiedene Götter verehrt, und daran sei auch nichts verkehrt. Im Gegenteil, das göttliche Gesetz »stellt es der Seele jedes einzelnen Menschen frei, sich jener Religion anzuschließen, die er für die beste hält. Keine Enteignung, keine Strafe, kein Niederbrennen hat gegen dieses Gesetz jemals etwas ausrichten können; und wenn unser Leib zerbrochen und tot ist, wird unsere Seele davonschweben und das Wissen vom Gesetz der Freiheit mit sich tragen, selbst dann, wenn uns diese Freiheit auf Erden genommen wird.«52
Die Christen waren da ganz anderer Meinung. Sie waren stolz darauf, wie viele Menschen sie durch ihre gewalttätigen Aktionen bekehrten. In Karthago zerstörten zwei kaiserliche Beamte die Tempel der »falschen Götter« und schlugen die dortigen Statuen kaputt. So kurz dieser Ausbruch von Aggression auch war, in den Augen der Christen hatte er auf die Einheimischen eine erfreulich belebende Wirkung. Wie Augustinus zufrieden feststellte, hatte »von da bis heute, in fast dreißig Jahren … die Verehrung des Namens Christi, wie jedermann sehen kann, gewaltig zugenommen, insbesondere seitdem viele von denen Christen geworden sind, die (…) sich (…) von der Annahme des Glaubens abhalten ließen«.53 Nachdem die Bewohner eines Dorfes in Gallien tatenlos zugesehen hatten, wie der heilige Martin ihren Tempel in Schutt und Asche legte, heißt es, die Dorfbewohner hätten »eingesehen, dass es der Wille Gottes gewesen war, der ihnen solche Angst eingeflößt hatte, dass sie weder in der Lage waren, zu sprechen, noch sich zu rühren und den Bischof an seiner Tat zu hindern. Daher ließen sich fast alle von ihnen zum Herrn Jesus bekehren.« Der heilige Martin war davon so beflügelt, dass er sofort ins nächste Dorf zog, um einen weiteren Tempel zu zerstören. Die Ungläubigen hatten keine Chance, zumal Martin doppelt so gründlich zu Werke ging. Denn »ebendort, wo er die heidnischen Schreine einriss, ließ er sofort Kirchen oder Klöster errichten«54 – wahrscheinlich aus den Steinen der Ersteren. Man könnte die Hagiografie des heiligen Martin als bloße Fiktion abtun, doch die Erkenntnisse der Archäologie stützen zumindest ihre allgemeine Aussage: Zu der Zeit, als Martin von Tours Bischof war, schritt die Christianisierung von Gallien besonders rasch voran.
Zerstörte Tempel, verunstaltete Statuen, eingeschüchterte Bürger – keine Szenerie könnte der friedvollen Erzählung von den Sieben Schläfern ferner liegen. Um nachzuvollziehen, was zu jener Zeit wirklich vor sich ging, hilft es, sich für einen Moment eine Parallelhandlung dazu vorzustellen, eine Parallelhandlung, zu der die Archäologie von Ephesos sogar ein paar harte Fakten beisteuern kann. Stellen Sie sich vor, dass es noch einen achten Schläfer gab, einen Heiden, der genau wie die Christen im Jahr 250 in einen göttlichen Schlummer fiel. Stellen Sie sich vor, auch er wäre erst über hundert Jahre später wieder aufgewacht und hätte die Stadt betreten, die er früher einmal gekannt hatte.
Genau wie Malchus hätte dieser Mann sofort gewusst, dass sich einige ganz wesentliche Dinge verändert hatten. Sobald er Ephesos durch eines der großen Stadttore betreten hätte, wäre ihm nicht nur das triumphierende Kreuz darüber aufgefallen. Höchstwahrscheinlich hätte er auch bemerkt, dass das hübsche Relief neben dem Tor verunstaltet worden war. Und in der Stadt hätte er erschrocken festgestellt, dass eine ganze Reihe der Statuen fehlte, die einst in den Nischen der Tempel gestanden hatten, und dass die Türen der Tempel selbst fehlten oder beschädigt waren – Tempel, von denen einige auf eine tausendjährige Geschichte zurückblickten. Wäre unser Schläfer zu den städtischen Thermen unten am Hafen gegangen, so hätte er erst recht mit dem Kopf geschüttelt: In einer der Straßen hatte jemand ein Abbild der Göttin Artemis verunstaltet, und in den Artemisthermen war sogar ihr Name aus einem Sockel herausgemeißelt worden, auf dem einst ihre Statue gestanden hatte. Überall hätte er Skulpturen entdeckt, die auf ganz bösartige Weise verschandelt worden waren. Nicht einmal Kaiser Augustus war verschont geblieben: Jemand hatte ihm die Nase abgeschlagen, und auf der Stirn trug er nun ein christliches Kreuz.
Wäre unser fiktiver Schläfer weitermarschiert, so hätte er schließlich ein letztes unmissverständliches Zeichen entdeckt, das auf die Quelle all dieser Zerstörung verwies. Denn dort, direkt im Zentrum von Ephesos, stand ein riesiges hölzernes Kreuz. Und in den Sockel, auf dem das Kreuz stand, waren recht unbeholfen griechische Buchstaben gehauen worden; eine Inschrift, die von einem Epheser namens Demeas stammte. »Nachdem er ein Trugbild der dämonischen Artemis zerstört hat«, verkündete die Inschrift in dramatischen Großbuchstaben, »hat Demeas dieses Zeichen der Wahrheit aufgestellt, das zugleich Gott ehrt, der die Götzen vertreibt, als auch das Kreuz, das unsterbliche Siegeszeichen Christi«.55
Ende des 4. Jahrhunderts beschrieb der Redner Libanios voller Verzweiflung, was er um sich herum beobachtete. Er und andere, die die alten Götter verehrten, müssten mitansehen, wie »ihre Tempel in Trümmern liegen, ihre Rituale verboten werden, ihre Altäre umgestoßen, ihre Opfer unterdrückt und ihre Priester fortgeschickt werden und all ihr Hab und Gut von einer Horde Gauner beschlagnahmt und untereinander aufgeteilt wird«.56
Das sind markante Worte, und es ist ein markantes Bild. Doch in der christlichen Geschichtsschreibung existieren kaum Menschen wie Libanios. Die Stimmen derer, die noch die alten Götter verehrten, wurden nur selten, wenn überhaupt, schriftlich festgehalten. Dennoch gab es sie. Einige dieser Stimmen, wie eben jene von Libanios, sind bis heute zu vernehmen, aber es werden weit mehr Menschen gewesen sein, die ihren Gefühlen Ausdruck verliehen haben. Als Konstantin Kaiser wurde, waren höchstens zehn Prozent der Bevölkerung des Römischen Reichs Christen. Das heißt jedoch nicht, dass alle anderen voller Inbrunst Isis oder Jupiter verehrt hätten – die Beliebtheit der einzelnen Gottheiten schwankte im Laufe der Zeit, und das Spektrum ihrer Anhänger reichte von überzeugten Gläubigen bis zu heillosen Skeptikern. Sicher ist nur, dass rund neunzig Prozent der Römer keine Christen waren. Am Ende des wechselhaften ersten Jahrhunderts christlicher Herrschaft hatten sich diese Zahlen Schätzungen zufolge nahezu umgekehrt: Zwischen siebzig und neunzig Prozent der Reichsbevölkerung waren nun Christen.57 In einem Gesetzestext aus jener Zeit stand sogar, es gebe keine »Heiden« mehr. Überhaupt keine. Das ist natürlich Unsinn, aber es ist bemerkenswert, welche Aggression hinter dieser Behauptung steckt; auf diese Weise vernichteten die Christen die bösen »Heiden« auch mit sprachlichen Mitteln. »Der heidnische Glaube«, frohlockte ein besonders triumphalistischer Bericht, »der so viele Jahre den Ton angab und dabei für solche Schmerzen sorgte, für den so viel Geld verschwendet wurde, für den so oft die Waffen geschwenkt wurden, ist von der Erde verschwunden.«58
Verschwunden war er nicht. Doch die Lage hatte sich dramatisch verändert. Binnen eines Jahrhunderts waren mehrere Zehnmillionen Menschen »bekehrt« worden – oder taten zumindest so – und zu einer neuen, fremdartigen Religion übergetreten. Religionen, die viele Jahrhunderte lang existiert hatten, verschwanden in einem bemerkenswerten Tempo von der Bildfläche. Und wenn ein Teil dieser Millionen von Menschen nicht aus Liebe zu Christus konvertiert wäre, sondern aus Furcht vor seinen Vollstreckern? Das sei ganz egal, so die christlichen Prediger, schließlich sei es besser, in diesem Leben Angst zu haben, als im nächsten ewige Qualen zu leiden.
Die Verehrer der alten Götter wiederum versuchten die christlichen Eliten mit Argumenten dazu zu bringen, ihren Glauben zu tolerieren. Bei einer der bekanntesten Auseinandersetzungen ging es um einen Altar. Seit Jahrhunderten stand der Altar der Siegesgöttin Victoria im römischen Senatshaus, und seit Jahrhunderten war es Sitte, dass die Senatoren dort vor einer Senatssitzung Opfer darbrachten. Es war ein alter und noch immer sehr beliebter Brauch, der aus der Zeit des Augustus herrührte. Doch die Christen waren immer weniger willens, den Senat mit solchen Götzen zu teilen und den ihrer Meinung nach giftigen Rauch der dämonischen Opfergaben einzuatmen. Nach jahrzehntelangem Tauziehen befahl der christliche Kaiser Gratian im Jahr 382, den Altar zu entfernen.
Die römischen Senatoren – zumindest jene, die noch die alten Götter verehrten – waren tief bestürzt. Dies war nicht nur ein unerhörter Bruch mit der Tradition, es war eine ernstzunehmende Beleidigung der Götter. Als Reaktion darauf verfasste der brillante Redner Symmachus einen Appell an den Kaiser. Darin bittet er ihn zunächst einmal darum, religiöse Unterschiede zwischen seinen Untertanen zuzulassen. Er bezieht sich auf Herodot, Kelsos, Themistios und andere, als er anmerkt, dass »jede Person ihre eigenen Sitten, ihren eigenen religiösen Ritus« habe und dass der Mensch schlechterdings nicht beurteilen könne, welche Religion die beste sei, »da sich alle solchen Überlegungen in Mehrdeutigkeiten hüllen«. Die Ausbreitung des Christentums einzudämmen – darum bittet Symmachus ihn indes nicht. Schließlich sei es, wie er schreibt, »unmöglich, ein so erhabenes Mysterium nur über einen einzigen Pfad zu erreichen«. Man kann dieses Schreiben als bloßen Pragmatismus und politischen Schachzug abtun, und tatsächlich wird Symmachus kaum in der Position gewesen sein, sich mehr als dies auszubedingen. Dennoch wäre eine solche Sichtweise allzu zynisch. Ob der griechisch-römische Polytheismus nun »tolerant« war oder nicht: Niemand kann ernsthaft bezweifeln, dass die Römer zu früheren Zeiten in religiösen Dingen äußerst liberal gewesen waren, und Leute wie Symmachus wollten nicht, dass sich daran etwas änderte. Wie er seinem intoleranten christlichen Dienstherrn mitteilte: »Wir bieten euch Gebete an, keinen Krieg.«59
Auch wenn man davon ausgeht, dass Symmachus keinen Krieg wollte, so nahmen die Christen diese Auseinandersetzungen doch genau so wahr: als Krieg. Für einen Christenmenschen gab es keine »Mehrdeutigkeiten«, schließlich stand alles schwarz auf weiß in der Bibel – und in diesem Punkt war die Bibel äußerst eindeutig: Wie das 5. Buch Mose ausdrücklich klarstellte, stand die Duldung anderer Religionen und ihrer Altäre überhaupt nicht zur Debatte. Die Aufgabe der Rechtgläubigen war es vielmehr, beides zu zerstören.60 Kein Christ konnte mit Symmachus’ relativistischen Spitzfindigkeiten etwas anfangen. Für einen Christen gab es keine zweite Meinung, die neben seiner etwas gelten durfte. Hier waren die Engel, da die Dämonen. Wie der Althistoriker Ramsay MacMullen es so treffend formuliert hat: »Mit dem Teufel ging man keine Kompromisse ein.«61 Und wie die Christen mit hundert gnadenlosen Gesetzen und tausend einschüchternden Predigten klarstellten, gehörte alles, was nicht mit ihrer eigenen Religion zu tun hatte, ins Reich des Herrn der Finsternis. »Sie gehen in ihre Götzentempel, um den Teufel anzubeten«, wetterte ein Christ, »und entzünden Lampen oder Weihrauch, um leblosen Götzenbildern Tribut zu zollen.«62 Symmachus hatte das Nachsehen. Seine Bitte wurde ignoriert.
Rund zwanzig Jahre später, im Jahr 408, wurde eines der bis dato am schärfsten formulierten Gesetze erlassen. »Falls in den Tempeln und Schreinen noch irgendwelche Bildnisse stehen«, hieß es darin, »so sollen sie von ihren Fundamenten gerissen werden … Die Tempelbauten selbst sollen, so sie in Städten oder außerhalb von Städten liegen, der Öffentlichkeit zur Nutzung überlassen werden. Altäre müssen allerorten zerstört werden.«63
Roms alte Kulte standen vor dem Aus. Und obwohl (oder vielleicht gerade weil) Symmachus seinen aussichtlosen Kampf verlor, wirken seine Worte von damals heute eindrucksvoller denn je: »Wir bitten um Frieden für die Götter unserer Vorfahren«, hatte er den Kaiser angefleht. »Die Vernunft gebietet es, in all dem Unterschiedlichen, was die Menschen anbeten, ein und dasselbe zu sehen. Wir alle blicken zu denselben Sternen auf, über uns thront derselbe Himmel, dieselbe Welt ist es, die uns alle umgibt. Wen kann es da kümmern, mithilfe welcher Weisheit jemand nach der Wahrheit sucht?«64
* Die Frage, wie tolerant die Römer waren, ist nicht so leicht zu beantworten. Man könnte argumentieren, dass sie nicht tolerant waren, da das Wort Toleranz impliziert, dass man mit dem, was jemand anderes tut, zwar nicht einverstanden ist, es ihn aber dennoch tun lässt. Voltaires berühmtes Diktum über die Redefreiheit (»ich missbillige, was du sagst, aber würde bis auf den Tod dein Recht verteidigen, es zu sagen«) ist ein perfektes Beispiel für wahre Toleranz. Deshalb argumentieren manche, dass die Römer, auch wenn sie anderen Religionen viel mehr Freiheiten einräumten, als die Christen es taten, dennoch keine wahre Toleranz im Wortsinn an den Tag legten – es kam ihnen einfach nur nicht in den Sinn, intolerant zu sein. Zu behaupten, bei der Toleranz der Römer zähle die Absicht mehr als das Verhalten an sich, wäre allerdings eine anachronistisch christliche, ja geradezu augustinische Herangehensweise.