4   
»Über die geringe Anzahl an Märtyrern«

»Siehst du nicht, wie schön das Wetter ist? Wenn du dich heute umbringst, wirst du wenig Freude daran haben.«

EIN RÖMISCHER BEAMTER ZU EINEM ANGEHENDEN MÄRTYRER

Der christlichen Mythologie zufolge begann die Verfolgung der Christen mit Nero. Er war, wie es hieß, der erste Kaiser, »der unsere Kirche verfolgte«.1

Doch ob Christ oder Nichtchrist – allzu viel Positives hatte von Nero ohnehin kaum jemand erwartet, als er den Thron bestieg. Das lag allein schon an seinem Elternhaus. Sein Vater Domitius war einmal mit seinem Wagen durch ein Dorf gefahren und hatte dabei einen Jungen totgefahren, einfach so zum Spaß. Als ein anderer Adliger ihn dafür maßregelte, drehte Domitius sich zu ihm um und stach ihm ein Auge aus. Neros Mutter Agrippina war kaum sympathischer: Die Society-Lady hatte im Jahr 54 ihren dritten Mann, den amtierenden Kaiser Claudius, ermordet, indem sie ihm beim Familienessen vergiftete Pilze vorgesetzt hatte. Nicht einmal sein eigener Vater legte große Hoffnungen in Nero. Als er geboren wurde, verkündete Domitius, halb im Scherz, »von ihm und der Agrippina habe unmöglich etwas anderes als ein Scheusal und Verderben der Welt geboren werden können«.2

Nero erfüllte alle Erwartungen. Als er an die Macht kam, waren seine Verfehlungen zunächst noch ganz harmlos – hier ein bisschen zu viel Drama, dort ein paar Schlägereien. Doch von da an ging es immer weiter bergab. Bald verführte er freigeborene Jungen und verheiratete Frauen, vergewaltigte eine Vestalin – eine Priesterin der Göttin Vesta – , »heiratete« einen kastrierten Knaben und beging Inzest mit seiner Mutter – man erzählte sich, immer wenn er mit Agrippina in derselben Sänfte unterwegs gewesen war, verrieten hinterher »die Flecken seiner Kleider«, dass sie wieder einmal die Gunst der Stunde genutzt hatten.3 Wie die meisten Leidenschaften Neros war auch diese indes nicht von Dauer, und schließlich ließ Nero Agrippina ermorden. Auf der Suche nach einem neuen Zeitvertreib konzipierte er eine ganz neue Art des sexuellen Entertainments: Wie uns sein Biograf Sueton voll Abscheu berichtet (auch wenn er es offenbar nicht so abscheulich fand, dass er darauf verzichtet hätte, davon zu berichten), ließ Nero mehrere Männer und Frauen an Stangen festbinden und streifte sich selbst die Felle wilder Tiere über; dann wurde er aus einer »Höhle« gelassen, woraufhin er die Genitalien der Delinquenten attackierte, und »nachdem er seine wüste Lust gebüßt« hatte, ließ er sich, wie Sueton schreibt, »endlich von Doryphorus, einem Freigelassenen, erlegen«.4

So war es um den Charakter des Mannes bestellt, der damals die größte Stadt der Welt regierte (zumindest machen uns das die zotigen Berichte der Historiker weis). Und was für eine Stadt das war! Rund eine Million Menschen lebten auf den sieben Hügeln und liefen zwischen den weltberühmten Monumenten einzigartiger Schönheit und Größe umher. Auch die Infrastruktur der Metropole war beeindruckend: Hoch aufragende Aquädukte füllten die öffentlichen Trinkwasserbecken, die Thermen und sogar einen riesigen künstlichen See, auf dem sich Seeschlachten nachstellen ließen. Eine Million Kubikmeter Wasser floss über diese Wasserleitungen tagtäglich in die Stadt, also rund tausend Liter pro Kopf – die doppelte Menge dessen, was den Einwohnern Roms heutzutage zur Verfügung steht. Nach dem Untergang der Ewigen Stadt sollte es weit über tausend Jahre dauern, bis es in Europa wieder eine Stadt gab, die an die Pracht Roms – und insbesondere ihre Sanitäranlagen – heranreichte.

Diese Pracht ist es, die wir vor uns sehen, wenn wir an das alte Rom denken. Doch hinter der marmornen Fassade lag eine weit weniger glänzende Realität. So waren die Abwasserleitungen, die unter der Stadt entlangliefen, eine für die damalige Zeit wirklich erstaunliche Ingenieursleistung – ein Zeitgenosse schrieb mit dem für die Römer typischen Pragmatismus, sie seien die »bemerkenswerteste Errungenschaft« der Stadt überhaupt. Die Tunnel waren so groß, dass man mit einem voll beladenen Karren hätte hindurchfahren können.5 Dennoch war das Abwassersystem alles andere als perfekt. So geräumig die Cloaca Maxima auch war: Die meisten Bewohner Roms hatten keinen Zugang zu Latrinen und nutzten kurzerhand die Straßen der Stadt als Toilette – entweder indem sie den Inhalt ihrer Nachttöpfe aus dem Fenster kippten oder ihre Notdurft in Toreinfahrten, hinter Statuen oder direkt am Straßenrand verrichteten.

Und während die reichen Römer in gewaltigen Villen hausten (Kaiser Domitians Palast maß 40 000 Quadratmeter), war der Großteil der städtischen Bevölkerung in ruinösen Wohnblocks zusammengepfercht. Viele dieser Gebäude zählten bis zu sieben Stockwerke, doch sie waren meist billig gebaut, wurden von skrupellosen Hausbesitzern schlecht gewartet und fielen regelmäßig in sich zusammen. »Wir bewohnen ein Rom, das zum größten Teil auf dünnen Stelzen ruht«, spottete der Dichter Juvenal. Die Hausverwalter reagierten auf die Probleme ihrer Mieter lediglich mit minimalem Aufwand: Nachdem ein solcher Verwalter »einen klaffenden Riss in einer alten Wand hat abdecken lassen, wünscht er uns eine gute Nacht in der schwankenden Ruine«.6 Ein weiteres großes Problem war der unablässige Lärm. Die Wände waren dünn, die Fenster hatten kein Glas, und die meisten Römer – so zumindest erzählen es uns die römischen Satiriker – litten unter chronischer Schlaflosigkeit. Jeder seltene Moment nächtlicher Stille wurde im Handumdrehen zunichtegemacht durch das klirrende Gehämmer der Kupferschmiede oder das Klappern von Wagen, die sich in der Dunkelheit ihren Weg durch die Gassen bahnten. Tagsüber war es nicht weniger laut: Das Gebrüll fliegender Händler plagte die Ohren der Bürger genauso wie die Schreie gezüchtigter Schulkinder. Obendrein lebten die Mieter der baufälligen Wohnblocks in ständiger Angst davor, dass es irgendwo brannte. Juvenal, der ganz offensichtlich die Nase voll davon hatte, unter solchen Bedingungen leben zu müssen, schrieb: »Wenn ganz unten an der Treppe Feueralarm gegeben wird, so ist der, der ganz oben wohnt und den nur ein einziger Dachziegel vor dem Regen schützt, der Letzte, der verbrennt.«7

An einem heißen Sommertag im Jahr 64 bewahrheitete sich die Angst vor einem Brand. Am 18. Juli brach kurz nach Sonnenuntergang in einigen Geschäften in der Nähe des Circus Maximus ein Feuer aus. Die Gebäude waren mit hölzernen Rollläden versehen und bis oben hin voll mit brennbaren Waren – der ideale Ausgangspunkt für eine Feuersbrunst. Bald standen entlang des gesamten Circus die Häuser in Flammen, und es dauert nicht lange, bis diese die Hügel erreichten. Das Feuer breitete sich im Laufe der Nacht immer weiter aus. In das Geräusch der lodernden Flammen mischten sich die Hilferufe von Frauen und Kindern, die zu fliehen versuchten – oft vergebens. Die Flammen, so erzählte man sich hinterher, waren so heiß und verbreiteten sich so schnell, dass die Hitze jedem, der stehen blieb und sich umsah, das Gesicht verbrannte. Zwar verfügte Rom über eine (relativ) moderne Feuerwehr, doch entweder war das Inferno zu heftig, als dass es sich noch hätte kontrollieren lassen, oder es waren irgendwelche dunklen Machenschaften am Werk. Hinterher hieß es, als der Großbrand gewütet habe, seien bedrohliche Männer aufgetaucht, die jeden, der die Flammen zu löschen versuchte, eingeschüchtert und sogar Gebäude in Brand gesteckt hätten, die noch nicht Feuer gefangen hatten. Rom brannte fast eine Woche lang. Als das Feuer endlich erloschen war, hatte der Großbrand drei komplette Stadtviertel zerstört. Tausende waren obdachlos geworden.

Die Römer waren am Boden zerstört. Nur ein Mann – so erzählen es die Historiker – war von der Katastrophe richtiggehend angetan gewesen: Während seine Untertanen um ihr Leben liefen, soll Nero sechs Tage und sieben Nächte lang von einem hohen Turm auf die brennende Stadt hinuntergeschaut haben, entzückt von der »Schönheit der Flammenglut«.8 Er vertrieb sich die Zeit, indem er im Kostüm eine Eigenkomposition sang – Die Eroberung Ilions – , bei der es um eine andere berühmte Stadt ging, die ein Opfer der Flammen wurde. Er sang, wie man später immer wieder erzählte, während Rom brannte.

Als Nero die niedergebrannten Ruinen betrachtete, nahm er dies den Historikern zufolge nicht als Katastrophe wahr, sondern als die Chance, auf die er gewartet hatte. Unmittelbar danach gab er Bauarbeiten in Auftrag, doch nicht etwa, um neue Wohnungen für die vielen tausend Obdachlosen zu schaffen, sondern ein Haus für sich selbst. Neros neuer Palast, das berühmt-berüchtigte Goldene Haus, erhob sich wie ein geschmacklos glitzernder Phönix aus der Asche. Wo vor Kurzem die Flammen den Flüchtenden die Gesichter versengt hatten, befanden sich jetzt mit Meer- und Schwefelwasser gespeiste Thermen; wo die Luft so heiß gewesen war, dass sich spontan ganze Häuser entzündet hatten, lag nun ein riesiger künstlicher See, der von Gebäuden umgeben war, die wie kleine Städte aussehen sollten.

Selbst für Neros Verhältnisse war diese Anlage extravagant. Man sagt, der gesamte Palast habe geglitzert wie vergoldetes Feuer, in dem Juwelen und Perlmutt funkelten. Das Dach des Speisesaals war mit elfenbeinernen Paneelen ausgestattet, von denen der Kaiser Blütenblätter auf die Anwesenden regnen lassen konnte, während kleine Rohre einen feinen Parfümnebel verströmten. Wildtiere durchstreiften die kunstvoll angelegten Gärten. Es war eine ländliche Idylle inmitten einer der größten Städte der Welt. Als der neue Palast fertig war, sei Nero endlich zufrieden gewesen und habe verkündet, »jetzt fange er doch endlich an, wie ein Mensch zu wohnen«.9

Wer ganz genau hinhörte, vernahm neben dem Rauschen des fließenden Wassers und dem Gebrüll wilder Tiere jedoch möglicherweise noch ein weiteres Geräusch: das Murren einer zutiefst unzufriedenen Bevölkerung. Die Bürger von Rom waren wütend, und sie waren misstrauisch. Nero, so raunte man einander zu, habe das Feuer absichtlich legen lassen, um Platz für seinen Palast zu schaffen, der jetzt dort in der Sonne schimmerte, wo zuvor die Flammen gelodert hatten. Doch der Kaiser (der mitbekommen haben mochte, wie verbittert die Menschen waren) gab jemand anderem die Schuld an dem Großbrand. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Rom ein neuer Kult erreicht; der »verderbliche Aberglaube«10 – so der spätere Historiker Tacitus – werde von Störenfrieden verbreitet, die Anhänger eines Mannes namens »Christus« oder – so der Historiker Sueton – vielleicht auch »Chrestus«11 seien. Es handele sich, so Tacitus weiter, um eine Gruppe, die »das Volk Christen nannte«, und sie waren aufgrund ihrer »Schandtaten verhasst«. Und Tacitus fügt hinzu: »Der, von welchem dieser Name ausgegangen, Christus, war, als Tiberius regierte, vom Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden.« Dies ist ein ganz bedeutender Satz: Er ist in jener Zeit die einzige Stelle, an der die Hinrichtung des Jesus von Nazareth in einer nichtchristlichen Quelle erwähnt wird. Tacitus war wenig beeindruckt von den Christen, und er schloss mit der für ihn typischen misanthropischen Bemerkung, dass nach der Hinrichtung Jesu »der für den Augenblick unterdrückte verderbliche Aberglaube … nicht nur in Iudaea, dem Vaterlande dieses Unwesens, sondern auch in Rom, wo von allen Seiten alle nur denkbaren Gräuel und Abscheulichkeiten zusammenfließen und Anhang finden, wieder aus[brach]«.12

Offenbar lebten zur Zeit des Großbrandes im Jahr 64 bereits genug Christen in der Hauptstadt des Römischen Reichs, um Nero, der auf der Suche nach einem plausiblen Sündenbock für das Inferno war, ins Visier zu geraten. Es waren genug, um ihnen die Schuld in die Schuhe schieben zu können (auch wenn es sich wohl nicht um die »gewaltige Menge« handelte, von der spätere Historiker schrieben). Wen Nero eines Vergehens bezichtigte, der war praktisch bereits verurteilt, und wer verurteilt war, der wurde bestraft. Seltsamerweise bezichtigte man die Christen dennoch nicht offiziell der Brandstiftung, sondern »des allgemeinen Menschenhasses«.13 Sie wurden zum Tode verurteilt.

Die Art und Weise, wie sie hingerichtet wurden, zeugte selbst für Neros Maßstäbe von brutaler Kreativiät. Einige ließ er in Tierfelle kleiden und von wilden Hunden totbeißen. Andere wurden (ihrem angeblichen Delikt entsprechend) bei lebendigem Leibe verbrannt. Als sich die Dämmerung über Rom senkte, ließ Nero in seinen Gärten Christen an Kreuze nageln. Anschließend wurden die Kreuze in Brand gesteckt – eine wirklich außergewöhnliche nächtliche Beleuchtung für die Gärten, die der Kaiser eigens zu diesem Anlass für die Bevölkerung öffnete – als besonderes Spektakel, vielleicht aber auch als Warnung an andere potenzielle Missetäter. Während der Hinrichtungen schlenderte er zwischen seinen Gästen umher. Dazu hatte er sich aus irgendeinem Grund als Wagenlenker verkleidet (vielleicht einfach nur, weil er ein großer Fan der Wagenrennen war). Das Schauspiel war indes so grausam, dass selbst die Römer, die normalerweise kaum mit der Wimper zuckten, wenn jemand qualvoll zu Tode kam, befremdet waren. Es kam sogar so etwas wie Mitleid mit den Christen auf, und man murmelte, sie würden offenbar »nicht dem allgemeinen Besten, sondern der Mordlust eines Einzigen geopfert«.14

Das also war die erste Christenverfolgung der Kaiserzeit, und laut christlichen Historikern war sie beileibe nicht die letzte. Die christliche Literatur stilisierte die römischen Kaiser und ihre Beamten zu Dienern des Teufels, die von Dämonen besessen waren und die es nach dem Blut der Christen dürstete.

Es ist ein äußerst wirkmächtiges Bild. Doch es entspricht überhaupt nicht der Realität.

Märtyrer gaben schon immer ein besonders dramatisches Motiv ab. Als William Caxton im 15. Jahrhundert in London Englands erste Druckerei eröffnete, war eines der Bücher, die er dort produzierte, eine Sammlung der Biografien – genauer gesagt: der Tode – von Heiligen. Die Sammlung, die den Titel Die Goldene Legende trug und die Jacobus de Voragine im Jahr 1260 zusammengestellt hatte, war auf dem europäischen Festland längst ein Renner. Caxton war nicht nur ein talentierter Übersetzer, sondern auch ein cleverer Geschäftsmann; er erkannte das Potenzial dieses Buchs und übersetzte (oder wie es auf der Titelseite seines Buches heißt, »englished« – »verenglischte«) die Verse in lebhaft-derbe Prosa. Einen guten Eindruck vom Tonfall des Buchs bekommt man durch die Beschreibung davon, wie der heilige Alban den Tod fand: Der Peiniger des frommen Mannes, so heißt es dort, »öffnete ihm den Nabel, nahm ein Ende des Darms und befestigte es an einem Pfahl, den er in den Boden rammte. Dann ließ er den Heiligen um den Pfahl herumgehen, während er ihn mit der Peitsche schlug, so lange, bis ihm das ganze Gedärm aus dem Leib gezogen war.«15 Caxton hatte den richtigen Riecher gehabt: Das Buch war ein Riesenerfolg. Es erreichte neun Auflagen und wurde zu einem Bestseller der frühen Neuzeit.

Die Ära der Christenverfolgungen im Römischen Reich war eine schreckliche Zeit, doch das hielt die spätere Kirche nicht davon ab, sie in der Rückschau zu glorifizieren. Bis heute glauben viele Menschen, dass sich damals Christen im ganzen Römischen Reich freimütig als Anhänger des auferstandenen Christus zu erkennen gaben und bereit waren, dafür den entsprechenden Preis zu bezahlen. Der Legende nach gingen Abertausende Christen für ihren Glauben bereitwillig, ja sogar heiter in den Tod: »Kaum war das Urteil gegen die einen gesprochen«, schrieb der Historiker Eusebius, »da eilten schon von anderer Seite andere zum Richterstuhle und gaben sich als Christen an. Ohne Sorge angesichts der schrecklichen Qualen und verschiedenartigen Foltern bekannten sie sich unerschrocken und frei zu der Frömmigkeit … und nahmen freudig und lächelnd und wohlgemut das Todesurteil entgegen.«16

Die damaligen Christen behaupteten gerne, dass der Anblick ihrer zu Tode gefolterten Glaubensbrüder potenzielle Konvertiten nicht etwa abschreckte, sondern vielmehr dazu anspornte, sich deren Glauben anzuschließen. Laut den christlichen Autoren ließen sich so immer neue Anhänger rekrutieren. »Wir werden immer mehr, wenn ihr uns richtet«, fasste der Apologet Tertullian die Lage zusammen, und in seiner gewohnt bildlichen Ausdrucksweise fügte er hinzu: »Das Blut der Christen ist ihr Samen.«17 Ein anderer Autor schrieb den Toten im Garten des Glaubens eine etwas andere Rolle zu und erklärte, dass »das Blut der Märtyrer die Kirchen wässert«.18

Die Tode der Märtyrer sorgten auch bei späteren christlichen Schreibern für leere Tintenfässer, immer neue Märtyrergeschichten tauchten auf. Seit vielen Jahrhunderten üben die entsprechenden Bilder starken Einfluss auf die europäische Kunst aus. Im 4. Jahrhundert verfasste der Dichter Prudentius epische Gedichte über die Märtyrer und weidete sich geradezu an Details wie zerfetztem Fleisch, lebendig verbrannten Leibern und freigelegten, noch immer pulsierenden Organen. Wie einflussreich solche Geschichten waren, lässt sich an einer Episode ermessen, die der Althistoriker Robin Lane Fox beschreibt: Als die muslimischen Behörden im Cordoba des 9. Jahrhunderts eine Gruppe von Christen foltern ließen, erklärten spätere Berichte, sie seien von einem »Konsul« verurteilt worden – ganz so, als habe sich das Ganze im alten Rom ereignet.19 Wer heute durch eine der großen europäischen Kunstgalerien spaziert, entdeckt an den Wänden zahlreiche – oft erschreckend detaillierte – Darstellungen von Menschen, die auf qualvolle Weise umgebracht werden.

Aus Märtyrern wurde Kunst – wenn diese Kunst auch nicht immer kunstvoll war. Während die frühesten – und glaubwürdigsten – Märtyrergeschichten oft durch ihre Schlichtheit und Ehrlichkeit bestechen, leiden viele spätere, eher fiktive Berichte unter der allzu expliziten Darstellung von spritzendem Blut und herausgerissenem Gedärm und unter kaum verhohlenen sexuellen Anspielungen. Umso einleuchtender, dass sie in der viktorianischen Zeit besonders hoch im Kurs standen. Im England des 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche entsprechende Kirchenlieder: »Die Steine, die dich verwunden, schimmern hell«, heißt es in einer Strophe über den zu Tode gesteinigten heiligen Stephan, »benetzt von deinem Blut«. Und in einem anderen Lied werden die Heiligen besungen, die »dem Stahl des Tyrannen« begegnet sind »und der Mähne des furchtbaren Löwen«.20

Auch 400 Jahre nach Caxton konnte man mit solchen reißerischen Geschichten noch Kasse machen. 1895 veröffentlichte der polnische Schriftsteller Henryk Sienkiewicz einen Roman, der zum internationalen Bestseller wurde und dafür sorgte, dass sein Autor mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. In 73 Kapiteln erzählt der Wälzer davon, wie Kaiser Nero die christlichen Märtyrer zum Tode verurteilt und hinrichten lässt. Der Roman schließt mit den Worten: »So zog Nero vorüber, wie Sturm, Feuersbrunst, Krieg und Pest vorüberziehen, aber die Basilika des Petrus herrscht noch von den Höhen des Vatikan über Rom und die Welt.«21 Das Buch selbst kennt heute kaum noch jemand, wohl aber seinen Titel: Quo vadis. Schließlich wurden diverse Filme und Fernsehserien produziert, die diesen Namen tragen. Die berühmteste Verfilmung ist der Sandalenfilm von 1951, in dem ein rundlicher Peter Ustinov als Nero feixend zusieht, wie unschuldig dreinschauende, in Weiß gekleidete Christen in der Arena von Löwen gejagt und zerfleischt werden und dabei bis zum letzten Moment fromme Lieder singen.22

Auch wenn sich viele Geschichten, die das Leid christlicher Märtyrer beschreiben, spannend lesen und auch überzeugend scheinen, basieren nur sehr wenige davon auf historischen Fakten; vielleicht sind sie sogar allesamt erfunden. Die Phase, in der im römischen Kaiserreich Christen verfolgt wurden, war dafür einfach nicht lang genug – es waren insgesamt lediglich 13 von 300 Jahren. So verständlich es ist, dass diese wenigen Jahre in christlichen Berichten eine besonders große Rolle spielen: Sie die gesamte historische Darstellung dominieren zu lassen ist bestenfalls irreführend und im schlimmsten Fall eine grob falsche Darstellung der geschichtlichen Ereignisse. Zwar gab es während der ersten Jahrhunderte der neuen Religion immer wieder örtliche Maßnahmen gegen Christen, doch die einzige staatlich angeordnete Christenverfolgung in den ersten 250 Jahren des Christentums war jene von Nero – und der verfolgte, derangiert wie er war, alle Menschen gleichermaßen. Zweieinhalb Jahrhunderte lang ließ die Regierung des Römischen Reichs die Christen in Frieden.

Der Gedanke, es habe der Reihe nach mehrere vom Teufel besessene Kaiser gegeben, die es nach dem Blut der Gläubigen dürstete, ist nichts als ein christlicher Mythos. Wie der Historiker Keith Hopkins schreibt: »Die traditionelle Frage ›Warum wurden die Christen verfolgt?‹ mit all ihren Implikationen, von der ungerechten Unterdrückung bis hin zum schlussendlichen Triumph, sollte man anders stellen: ›Warum wurden die Christen so wenig und erst so spät verfolgt?‹«23

Dennoch hatten die Märtyrerlegenden nicht zuletzt auf das Selbstverständnis des Christentums großen Einfluss. In den Jahren nach der staatlichen Verfolgung, so die Theologin Candida Moss, begannen die Christen, sich mit großem Stolz als verfolgte Kirche zu sehen. Ihre größten Helden waren nicht etwa diejenigen, die gute Taten vollbrachten, sondern die, die einen besonders schmerzhaften Tod erlitten. Wer bereit war, auf qualvolle Weise in der Arena zu sterben, der fuhr direkt in den Himmel auf, ganz egal, wie fromm er zuvor gewesen war: Das Martyrium löschte im Moment des Todes alle Sünden aus. Und die Märtyrer waren nicht nur schneller im Paradies als alle anderen, sie genossen auch dort einen Sonderstatus und durften die allseits begehrte Märtyrerkrone tragen. Das Himmelreich hatte auch sonst einiges zu bieten: Die Heilige Schrift versprach, wie es hieß, »die bis zu hundertmalige Vervielfachung von Brüdern, Kindern, Eltern, Land und Häusern«.24 Wie genau man diese himmlische Summe errechnet hatte, wissen wir nicht, aber das Grundprinzip war klar: Wer früh, in aller Öffentlichkeit und eines schmerzhaften Todes starb, der wurde dafür reich belohnt.

Bei vielen Märtyrerlegenden sind es gar nicht so sehr die Römer, die die Christen unbedingt umbringen wollen – vielmehr wollen die Christen um jeden Preis sterben. Und warum auch nicht? Das Martyrium brachte dem, der es erlitt, ja paradoxerweise eine Menge Vorteile. Zum einen bedeutete es den direkten Einzug ins Himmelreich, ohne Wenn und Aber. Wie der Dramatiker George Bernard Shaw mehr als tausend Jahre später scharfsinnig beobachtete, ist das Martyrium die einzige Möglichkeit, berühmt zu werden, ohne dass man irgendetwas kann. Und in einer Zeit, in der zwischen den gesellschaftlichen Schichten und den Geschlechtern eine absolute Ungleichheit herrschte, bot das Martyrium auch Frauen und sogar Sklaven die Chance, sich auszuzeichnen. Märtyrer konnte in der römischen Spätantike jeder werden, unabhängig von gesellschaftlichem Rang, Bildungsstand, Vermögen oder Geschlecht. Der Soziologe Rodney Stark hat darauf hingewiesen, dass das Martyrium – so man an die versprochenen Belohnungen glaubte – eine vollkommen rationale Wahl darstellte. Ein Märtyrer konnte morgens als unbedeutendster Mensch der Welt aufwachen und schon am Nachmittag einer der Erhabensten im Himmelreich sein. Das klang so verlockend, dass sich fromme Christen, die zu einer Zeit lebten, in der es keine Christenverfolgungen gab, sogar beschwerten, man habe ihnen die Chance auf einen qualvollen Tod geraubt. Als der spätere Kaiser Julian während seiner Herrschaft ausdrücklich darauf verzichtete, Christen hinrichten zu lassen, pöbelte ein – alles andere als dankbarer – christlicher Autor: »Er missgönnt unseren Mitstreitern die Ehre des Martyriums.«25

Wichtig war, dass die Märtyrer nicht einfach nur starben, sondern dass sie einen möglichst schmerzhaften Tod erlitten. Je größer der Schmerz, desto größer der Lohn, wie ein angehender christlicher Märtyrer aufgeregt erklärte: »Wer den Triumph langsamer und unter größeren Schwierigkeiten erringt, dessen Siegerkrone wird umso prächtiger sein.«26 Die Märtyrerliteratur entwickelte sich weiter, und die Beschreibungen der Todesfälle wurden irgendwann so detailliert, dass ihre Schilderung beinahe lüstern wirkte. In einem grausamen Bericht aus der Feder von Prudentius befiehlt ein Richter, einen Christen auf die Streckbank zu legen, »bis die Gelenke seiner Knochen in jedem Glied laut knackend zerreißen. Nach den nächsten Schlägen sollen seine Rippen freiliegen, sodass man seine Organe im Inneren der Wunden pulsieren sieht.«27

Wie seltsam die frühen Berichte über die Martyrien der Christen eigentlich sind, ist heute größtenteils in Vergessenheit geraten. Manche Darstellungen sind regelrecht schlüpfrig. Ein widerkehrendes Motiv dabei sind die nackten Brüste schlanker Frauen, aus denen manchmal auch Milch tropft. In späteren Geschichten werden Märtyrerinnen häufig (und ohne dass es unbedingt notwendig wäre) gezwungen, sich zu entkleiden, woraufhin die Anwesenden über ihre Schönheit staunen. Immer wieder werden besonders hübsche Christinnen von böswilligen Statthaltern zunächst einem Bordell übergeben, bevor sie sterben müssen. In den apokryphen, aber früher recht populären Akten des Paulus und der Thekla finden sich an mehreren Stellen Lobgesänge auf die Jungfräulichkeit direkt neben seltsam deplatziert wirkenden Passagen an der Grenze zum Softporno. Thekla ist eine wunderschöne Frau, die (selbstverständlich) entschlossen ist, Jungfrau zu bleiben. Und natürlich wird sie mehr als einmal gezwungen, sich vor den Augen mehrerer Männer auszuziehen. Eines Nachts besucht sie Paulus im Gefängnis, und »ihr Glaube wurde noch stärker, als sie seine Ketten küsste«28 – ein Satz, der die Gender-Forschung seit Jahrzehnten beschäftigt.

In manchen Gedichten über Märtyrer sehen Mütter begeistert zu, wie ihre Kinder leiden und sterben. Einmal jubelt eine Mutter, dass sie einen Sohn zu Welt gebracht hat, der als Märtyrer stirbt; sie umarmt seinen Leichnam und beglückwünscht sich selbst zu ihrem Nachwuchs. In einem anderen Gedicht ist der Anblick eines Jungen, der ausgepeitscht wird, so schwer zu ertragen, dass allen Anwesenden – sogar den Stenografen des Kaiserhofs – Tränen in die Augen schießen. Nur die Mutter des Jungen »zeigte kein derartiges Leid, ihre Augen waren klar und glänzten vor Freude«. Sie nimmt ihren Sohn auf den Arm und trägt ihn bereitwillig zum Henker. Als dem Jungen der kleine Kopf abgeschlagen wird, fängt sie ihn auf und drückt ihn sich voller Glück »an ihre zärtliche Brust«.29

Aber kann das wirklich stimmen? Wie viele dieser berühmten und hoch emotionalen Erzählungen entsprechen tatsächlich der Wahrheit? Wie schon der frühchristliche Autor Origenes zugab, existierten nur so wenige echte Märtyrer, dass man sie leicht zählen konnte; Christen waren nur »gelegentlich«30 für ihren Glauben gestorben. Die Geschichten entwickelten irgendwann ein Eigenleben und vermehrten sich, doch wie die Kirche selbst erkannte, als sie begann, die Märtyrerlegenden systematisch zu analysieren, waren viele davon eben nur das: Legenden. Im 17. Jahrhundert brachte ein Gelehrter eine radikale Schrift mit dem Titel De paucitate martyrum (»Über die geringe Anzahl an Märtyrern«) heraus, die zu eben diesem Schluss kam.31 Beim Thema Märtyrer wurde maßlos übertrieben. Das wusste auch Edward Gibbon: »Die Gesamtzahl mochte sich auf ungefähr fünfzehnhundert belaufen, eine Zahl, die bei gleichmäßiger Verteilung auf die zehn Jahre der Christenverfolgung eine jährliche Hinrichtung von einhundertfünfzig Märtyrern ergäbe«.32

Die staatlich sanktionierten Übergriffe lassen sich in drei Hauptphasen einteilen: die Christenverfolgung unter Decius, die unter Valerian sieben Jahre später und die große Diokletianische Christenverfolgung fünfzig Jahre danach, im Jahr 303. Dabei richteten sich diese Maßnahmen längst nicht immer explizit gegen Christen. Die »Christenverfolgung« unter Decius begann im Jahr 250, als der Kaiser ein Edikt erließ, das alle im Reich ihm opfern mussten. Ein wahrer Christ musste sich natürlich weigern, irgendwem irgendetwas zu opfern. Die Aufforderung, dem Kaiser oder den Göttern ein Opfer darzubringen, wurde vor Gericht gerne als Mittel eingesetzt, um die christliche Gesinnung (oder vielmehr die Bereitschaft zum Gehorsam gegenüber der römischen Obrigkeit) zu prüfen. Solche Szenen vor Gericht bildeten später den Höhepunkt vieler Märtyrerlegenden. Durch sein Edikt wollte sich Decius im Grunde nur der Loyalität seiner Untertanen versichern – aber da ein frommer Christ einem solchen »Dämon« nun einmal nicht opfern sollte, weigerten sich einige der Gläubigen. Auch wenn Decius’ Edikt viele Christen zum Opfer fielen, war es mit ziemlicher Sicherheit nicht per se gegen sie gerichtet. Und es war von kurzer Dauer, denn kaum ein Jahr nach dem Beginn der Christenverfolgung hatte das Ganze auch schon wieder ein Ende.

Valerians Christenverfolgung dauerte etwa drei Jahre, forderte jedoch kaum Todesopfer. Nach diesen drei Jahren fiel Valerian in Persien dem dortigen König Schapur I. in die Hände und wurde gefangen genommen.* Die größte Christenverfolgung, unter Diokletian, ist zwar für rund die Hälfte aller frühchristlichen Märtyrertode verantwortlich, doch im Westen verlief sie recht schnell im Sande, und nach zehn Jahren wurde sie auch offiziell beendet. Während dieser Dekade geschahen viele schreckliche Dinge. Bücher wurden verbrannt, Christen wurden gefoltert und hingerichtet, Kirchen niedergebrannt. Aber die Christenverfolgung war begrenzt. Zwar gab es auch zwischendurch immer wieder lokale Maßnahmen gegen Christen, doch diese waren sporadisch und wirkten sich nicht negativ auf die Ausbreitung der Religion aus. Die Römer wollten das Christentum nicht vernichten. Hätten sie das vorgehabt, wäre es ihnen höchstwahrscheinlich auch gelungen.

Seit der Schrift Über die geringe Anzahl an Märtyrern sind in der Forschung die Schätzungen über Todesopfer im Zuge der römischen Christenverfolgungen immer weiter nach unten korrigiert worden. Eine detaillierte Analyse der Gedenktage im Heiligenkalender der römisch-katholischen Kirche ergab ein Bild, das mehr mit romantischer Fiktion gemein hat als mit historischen Tatsachen. Manche Heilige tauchen gleich mehrmals auf, während die Namen anderer im besten Fall falsch aufgezeichnet und mit den Namen der Konsuln des jeweiligen Jahres verwechselt wurden. Diverse Heilige scheinen überhaupt nicht existiert zu haben. Heute geht man davon aus, dass nicht einmal zehn Märtyrerlegenden der frühen christlichen Kirche auf wahren Begebenheiten beruhen. So inspirierend und unterhaltsam die Geschichten über die Märtyrer auch sein mögen: Sie stellen, wie der Althistoriker Geoffrey de Ste Croix es formuliert hat, »eine zunehmende Verachtung für historische Fakten« zur Schau.33

Um nachzuvollziehen, was damals wirklich zwischen den Christen und den Römern vorgefallen ist, sollte man nicht mit den Märtyrerlegenden beginnen, sondern mit einem der genauesten historischen Berichte, die wir besitzen. Es ist der erste Text eines nichtchristlichen Autors, in dem die Christen erwähnt werden.


* Wie christliche Historiker mit ziemlich unchristlicher Schadenfreude anmerkten, soll er dort bis ans Ende seines Lebens König Schapur I. als »Steigbügel« für dessen Pferd gedient haben.