»Eine mit hübschem Gesicht soll auf dem Rücken liegen, eine mit schönem Rücken soll man
Von hinten betrachten.
Eine Kleine soll auf einem reiten …«
DER RÖMISCHE DICHTER OVID ÜBER STELLUNGEN BEI DER KÖRPERLICHEN LIEBE, LIEBESKUNST 3
Imperium sine fine« – ein »Reich ohne Ende«.1 Dies, so der Dichter, sei die Bestimmung Roms, das sich in alle Richtungen ausdehnte, neue Länder, neue Kontinente, neue Welten eroberte. Das Christentum, das sich dieses Reich einverleibt hatte, war, wenn man seinen Predigern glaubt, nicht weniger ehrgeizig. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts, als das erste Jahrhundert der christlichen Herrschaft zu Ende ging, ließen sich die Auswirkungen dieser Eroberung überall beobachten. In Italien, Gallien, Griechenland, Spanien, Syrien und Ägypten wurden Tempel geschlossen und fielen nach und nach in sich zusammen. Über den Ruinen wucherten dornige Sträucher, und die verstümmelten Gesichter der Götter sahen schweigend dabei zu.
Eine Lebensweise, ja eine ganze Daseinsform lag im Sterben. Jene Autoren der alten Welt, die sich noch immer gegen die christliche Religion wehrten, hatten mehr und mehr Mühe, ihre Gefühle in Worte zu fassen. In einem düsteren Epigramm fragte Palladas: »Ist es denn nicht so, dass wir bereits tot sind und nur noch scheinbar am Leben, wir Griechen? … Oder sind wir am Leben, und das Leben selbst ist tot?«2 Ihre alte Gesellschaft wurde hinfortgefegt. Über den Ruinen des Kapitols in Rom wehte nun, um Gibbons eindringliche Formulierung zu zitieren, das Banner des Kreuzes.3
Doch laut einigen der berühmtesten Prediger der damaligen Zeit reichte dem Christengott selbst das noch nicht. Die Christen hatten sich die Wahrzeichen und Tempel des Reichs einverleibt, aber ihr Gott, so teilten die Geistlichen ihren Gemeinden mit, wollte mehr als die bloßen Gebäude und oberflächliche Glaubensbekundungen. Mag sein, dass sich die alten Götter der Römer durch vorgetäuschten Gehorsam hinters Licht führen ließen – hatten die römischen Statthalter die Christen nicht angefleht, den Weihrauch einfach nur zu berühren? Dieser Gott ließ sich nicht so leicht täuschen. Er wollte keine Rituale oder Tempel oder Steine – er wollte Seelen. Er wollte, ja verlangte das Herz und den Kopf jedes einzelnen Menschen im Römischen Reich.
Und die Kleriker warnten die Menschen, der Herr werde genau wissen, ob er ihre Seele bekam oder nicht. Im 4. Jahrhundert kamen sie ihren Gemeinden mit einer neuen Drohung: Gott sieht alles, verkündeten sie. Er sah einen nicht nur in der Kirche. Er beobachtete einen auch, wenn man die Kirche verließ und ins Freie trat. Wenn man die Straße entlangging, den Markt oder das Hippodrom besuchte oder im Theater saß. Sein Blick folgte einem bis in die eigenen vier Wände und sogar noch ins Schlafzimmer – und man musste durchaus davon ausgehen, dass er sich ganz genau ansah, was man da trieb. Doch das war längst nicht alles. Dieser neue Gott sah einem in die Seele. »Der Mensch schaut einem anderen ins Gesicht, Gott schaut ihm ins Herz«, donnerte Cyprian, der Bischof von Karthago. »Nichts, was geschieht, bleibt Gott verborgen.«4 Und es gab, so machte man den Gläubigen im ganzen Imperium klar, kein Entrinnen: »Ganz gleich, ob man etwas tatsächlich tut oder es sich bloß vornimmt: Gott entgeht nichts« – und nichts entging der »ewigen Strafe im Feuer«.5
Viele römische und griechische Intellektuelle hatten eine tiefe Abneigung gegen eine dermaßen neugierige Gottheit. Die Vorstellung, dass ein göttliches Wesen jede Bewegung eines jeden Menschen sah, war für diese Beobachter kein Zeichen von Zuneigung, sondern eine »ungeheuerliche« Absurdität. Sie beschreiben den christlichen Gott in ihren Schriften häufig als lüsternen Voyeur, als ein eigenartiges »Ärgernis«, ein »rastloses« Wesen, das sich »ohne Scham alles anschaut, was der Mensch tut«.6 Warum war dieser Gott bloß so sehr daran interessiert, was die Sterblichen trieben? Schon vor dem Aufkommen des Christentums hatten die weltgewandten römischen Denker mit einem solchen Konzept nichts anfangen können. Wie Plinius der Ältere schrieb: »Lächerlich aber ist die Behauptung, dass ein höchstes Wesen sich um die Angelegenheiten der Menschen kümmere. Sollen wir nicht glauben, dass es durch ein so trauriges und vielseitiges Amt entehrt werde?«7 Hatte ein Gott nichts Besseres zu tun?
Nein, behaupteten die christlichen Kleriker, das hatte er nicht. Seine umfassende Aufmerksamkeit war Ausdruck seiner großen Liebe zum Menschen. Genau wie seine Strafen. Denn keinesfalls durfte man Gott für einen unbeteiligten Beobachter halten: Er sah sich die Seelen der Menschen ganz genau an, und irgendwann würde er sie alle richten – und notfalls entsetzlich bestrafen. Eine ganz spezielle Spielart der Angst kam auf, die (wie Peter Brown ausgeführt hat) ständige Angst eines Menschen, der glaubt, dass nicht nur alles, was er tut und sagt, beobachtet wird, sondern auch alles, was er denkt. Einmal hatte ein Christ eine Vision, bei der er buchstäblich Flecken auf seinem eigenen Herzen sah. Wie ihm klar wurde, rührten diese Flecken daher, dass er einen Streit mit einem anderen Christen nicht »sofort« beigelegt hatte.8
So klangen die Predigten und Drohungen der Bischöfe und der christlichen Elite. Aber nahm das gemeine Volk diese Moralpredigten auch ernst? Wie viele Gläubige bekamen davon überhaupt etwas mit? Die Worte von Predigern wie Johannes Chrysostomos und Augustinus mögen in den Ohren der damaligen Zuhörer und vor allem in der Literatur noch lange nachgehallt haben, aber 80 bis 90 Prozent der Männer und ein noch höherer Prozentsatz der Frauen im Römischen Reich waren Analphabeten.9 Erreichte auch jene Leute die Botschaft, dass sie allesamt arme Sünder waren, die erlöst werden mussten? Oder um es mit den prägnanten Worten des Althistorikers E. A. Judge zu sagen: »Kümmerte es die Römer überhaupt, dass sie konvertiert waren?«10
Die knappe Antwort lautet: Wir wissen es nicht genau. Die Spätantike hat uns frustrierend wenige Texte hinterlassen, die diese Frage beantworten könnten. So wenige Menschen damals überhaupt lesen und schreiben konnten – zuverlässige Autoren gab es noch viel weniger. Die überwiegende Mehrheit der Menschen im römischen Imperium lebte und starb, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen, die spätere Historiker hätten auswerten können.
Wenn die Forschung nichts Genaues weiß, bleibt reichlich Gelegenheit zur Spekulation, und natürlich hat es dabei im Laufe der Zeit ganz unterschiedliche Reaktionen auf diese Frage gegeben. Viele hundert Jahre lang lautete die folgsame Antwort: Selbstverständlich kümmerte es die Römer, dass sie jetzt Christen waren, und zwar mehr als irgendetwas sonst. Vor der Ankunft Christi war Europa ein Sündenpfuhl, die Religionen der Einwohner und ein Großteil ihres Verhaltens waren primitiv und verdammenswert. Das Christentum rettete sie. Heute vertreten die meisten Wissenschaftler – sicherlich auch deswegen, weil sie keiner kirchlichen Obrigkeit mehr gehorchen müssen – einen objektiveren, ja regelrecht ketzerischen Ansatz. Kümmerte es die Römer, dass sie konvertiert waren? Nein, so die provozierende Antwort, die der Althistoriker A. H. M. Jones Mitte des 20. Jahrhunderts auf diese Frage fand, nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Die Christianisierung habe, so Jones, »wenn überhaupt dazu beigetragen, die moralischen Maßstäbe in der Gemeinschaft noch zu senken«.11
Die Wahrheit liegt, wie immer, irgendwo zwischen den Extremen. Denn es gab zweifellos ein paar Dinge, die sich änderten.
Mitte des 18. Jahrhunderts gruben einige Arbeiter im Süden Italiens auf einem hügeligen Gelände, das erstaunlicherweise bereits den Spitznamen »Civita« (»die Stadt«) trug. Die neapolitanischen Bauarbeiter räumten das Bimsgestein und die Asche fort, die Plinius der Jüngere 1700 Jahre zuvor eben dort hatte fallen sehen. Was darunter zum Vorschein kam, löste ein kulturelles Erdbeben aus: Es waren unvorstellbar explizite erotische Statuen und Bilder. Selbst für unsere heutigen Augen hat Pompeji in dieser Hinsicht noch einiges zu bieten. Sei es ein Gemälde des Gottes Priapus, der seinen gewaltigen Phallus auf eine Waage legt, seien es die Fresken von Paaren beim Geschlechtsakt oder die berüchtigte Statue des Gottes Pan, der eine Ziege besteigt – die Erotik ist omnipräsent.
Der Phallus taucht in Pompeji immer wieder als Dekoelement der Inneneinrichtung auf, an Wänden, an Statuen und in Fresken. Sogar in die Pflastersteine der Gehwege sind Phalli geritzt. In einer Taverne spendete einst eine hübsche Bronzelampe in Form einer kleinen Figur Licht. Die Figur hatte einen riesigen Penis, von dessen enormem Schaft Glocken baumelten. Einige der Darstellungen waren erstaunlich anschaulich. In einem Bordell befand sich ein Fresko, das heute leider nur als Reproduktion aus dem 19. Jahrhundert erhalten ist. Zu sehen sind darauf ein Mann und eine Frau; er steht hinter ihr, und beide trinken offenbar Wein aus Gläsern, die aussehen, als beinhalteten sie gut und gerne einen halben Liter. Der Mann hält sein Glas hoch, als inspiziere er den Inhalt. Die beiden schauen so unbefangen und heiter drein, als unterhielten sie sich über die Provenienz ihres Getränks. Doch offensichtlich sind sie mit den Gedanken ganz woanders, denn der Mann beglückt die Frau gerade mit seinem großen, erigierten Glied.
Pompeji war eine echte Offenbarung – in mancher Hinsicht eine größere Offenbarung, als sie es hätte sein dürfen. Die lateinische Literatur hatte für jeden, der willens und in der Lage war, sie zu lesen, genügend Hinweise parat, dass die vorchristliche Welt nicht so keusch gewesen war, wie es dem heiligen Basilius gefallen hätte. Catulls berüchtigtes Gedicht Nummer 16 ist eines der offensichtlicheren Beispiele. Niemand konnte den Vers »Ich werde euch in den Arsch und in den Mund ficken« lesen und allen Ernstes annehmen, dass der Urheber desselben züchtig wie ein Chorknabe gelebt hatte. Allerdings konnte den Vers kaum mehr jemand lesen – als Pompeji wiederentdeckt wurde, waren jene, die des Lateinischen noch mächtig waren, äußerst rar gesät.12
Doch jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte die Bilder und Statuen betrachten, die in Pompeji im Erdboden geschlummert hatten. Niemand konnte behaupten, dass der Gott Pan irgendetwas anderes tat, als eine Ziege zu besteigen. Niemand konnte behaupten, dass die Leute auf den Fresken irgendetwas anderes taten, als es ausgelassen zu treiben. Was aber noch schlimmer war: Diese Gemälde ließen sich nicht als verwerfliche Unsitte der Unterschicht oder der ungebildeten Sittenstrolche abtun, denn man fand sie nicht nur in Bordellen; es gab sie überall, sogar – nein: vor allem – in einigen der prachtvollsten Villen der ganzen Stadt. Die Pompejaner hatten sich nicht nur Bilder von nackten Leuten aufgehängt, sie hatten dies auch ganz offen getan, ohne sich dafür zu schämen. Auf diesen Bildern bemühte sich niemand, mit den Händen oder einem Feigenblatt seine Scham zu verbergen.
Genauso effektiv, wie der Vesuv Pompeji unter seiner Asche begraben hatte, war es dem christlichen Europa jahrhundertelang gelungen, die Sexualität der klassischen Welt unter Verschluss zu halten; nicht umsonst hatte man Statuen die Brustwarzen abgeschlagen, unzüchtige Fresken und obszöne Gedichte verschwinden lassen. Doch nun kam mit einem Mal eine Welt ans Licht, die vom Christentum noch gänzlich unberührt war. Zwar ist durchaus denkbar, dass in Pompeji, als 79 n. Chr. der Vesuv ausbrach, Christen lebten. Aber wenn dem so war, besetzten sie keine höheren Posten und wären daher nicht in der Lage gewesen, in der Stadt Kunstwerke zu zensieren. Hier gab es keine christlichen Eiferer, die mit ihren Hämmern die Fresken kaputtschlugen oder den Hermen, die an fast jeder Straßenecke standen, das Gemächt abmeißelten. Die Menschen auf den Gemälden in Pompeji waren nicht nur nackt, sie waren auf schamlose Weise nackt. Dies war ganz buchstäblich eine Welt, die den Sündenfall nicht kannte.
Die Ausgräber, die sich nicht nur mit dem Sündenfall bestens auskannten, sondern auch genau wussten, wie die katholische Kirche auf diese Funde reagieren würde, waren entsetzt. Einige von ihnen gruben Kunstwerke, die sie als unzüchtig empfanden, kurzerhand wieder ein. Andere breiteten über derlei Gegenständen den Mantel des Schweigens aus. So ließen frühe Bücher über Pompeji die gewagteren Objekte einfach aus. Die erste veröffentlichte Sammlung von Funden zum Beispiel enthält keine Abbildung der Penislampe. Und der erste englischsprachige Pompeji-Führer, den Sir William Gell im Jahr 1824 veröffentlichte, erwähnte nicht ein einziges Objekt, bei dem seine Leser die Stirn gerunzelt hätten. Wie der Literaturwissenschaftler Walter Kendrick es ausdrückt: »Gell brachte es tatsächlich fertig, zwei dicke, durchgehend illustrierte Bände auf den Markt zu bringen, in denen sich nicht ein einziges anstößiges Objekt findet.«13
Trotz allem sprach sich natürlich herum, was man da in Pompeji gefunden hatte. Die Welt reagierte schockiert – oder tat zumindest so – und blieb es über Jahrzehnte hinweg. Im 19. Jahrhundert nannte ein Autor die Fresken etwas, »das in jedem modernen Land von der Polizei beschlagnahmt würde«.14 Jene Fachbücher über Pompeji, die die obszönen Objekte erwähnten, versäumten nicht, im gleichen Atemzug ihre Missbilligung zum Ausdruck zu bringen. Einem Besucher bereitete seine eigene »moralische Entwürdigung«15 regelrecht physische Schmerzen. Ein mit privaten Mitteln veröffentlichtes Handbuch über die unanständigeren Kunstgegenstände aus Pompeji gab sich erwartungsgemäß prüde: »Die Sitten, derer die Frauen in der Antike frönten, waren liederlich und anstößig«, heißt es dort. »Die Nacktheit jener Epoche und die unzüchtigen Schriften ihrer Autoren sind unanfechtbare Zeugen für die libertinäre Einstellung, die damals in sämtlichen gesellschaftlichen Schichten vorherrschte. Es war eine Zeit, in der die Männer nicht einmal erröteten, wenn sie der Welt verkündeten, sie hätten erfolgreich einen hübschen Jüngling umworben; in der Frauen sich voll Stolz mit den Namen von [Lesbierinnen] schmückten.« Der missbilligende Tonfall des Autors wird vom reißerischen Titel des Buches – The Royal Museum at Naples, Being Some Account of the Erotic Paintings, Bronzes and Statues Contained in that Famous »Cabinet Secret« – leider ein wenig konterkariert, wie auch von der Tatsache, dass das Werk auf dem Deckblatt damit warb, es warte mit »sechzig ganzseitigen Illustrationen« auf.16
Die besonders anstößigen Objekte wurden sozusagen kaltgestellt – den Gott Pan mit der Ziege zu zeigen »galt als Gesetzesverstoß«,17 er verschwand in einem Keller. Im Jahr 1819 fasste man all diese Gegenstände zu einer eigenen Sammlung zusammen, dem sogenannten »Geheimkabinett«. Der Zugang dazu war streng reglementiert. Die genaue Anzahl der Stücke in dieser Sammlung variierte, die Faszination, die sie auf die Menschen ausübten, blieb die gleiche.18 Wie ein Handbuch von 1871 klarmachte, war das Geheimkabinett »für Frauen und Kinder verboten; nur Männern reifen Alters war der Zutritt gestattet, wenn sie über eine besondere Erlaubnis des Ministers des königlichen Haushalts verfügten«.19 Man kann sich kaum vorstellen, wie peinlich es den Zeitgenossen gewesen sein muss, die entsprechende Erlaubnis einzuholen. Der berühmte Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann besuchte Neapel zu einer Zeit, als eine solche »vom König persönlich unterzeichnete« Sondererlaubnis nötig war, um die Objekte in Augenschein zu nehmen. Er beschloss, dass es der Mühe nicht wert sei: »Ich glaubte, es zieme sich nicht für mich, der Erste zu sein, der darum bäte.«20 Frauen durften das Geheimkabinett erst in den 1980er-Jahren betreten.21
Doch Derartiges gab es nicht nur in Pompeji. In ganz Europa wurden klassische Statuen, die bei Ausgrabungen zutage gefördert worden waren, vor der Öffentlichkeit verborgen. Die Museumskuratoren gingen diskreter vor als ihre frühchristlichen Vorfahren – was Jahrhunderte zuvor der Meißel bewirkt hatte, besorgte man nun mithilfe abgelegener Lagerräume. Das Resultat war indes das gleiche: Die sexuell expliziten Objekte blieben neugierigen Blicken verborgen. In anderen Fällen beauftragten die sittenstrengen Kuratoren Bildhauer damit, üppig rankende Feigenblätter anzufertigen, unter denen man dann die Geschlechtsorgane antiker Statuen verschwinden ließ. Die allzu anschaulichen Bilder auf griechischer Keramik wurden ebenfalls zensiert: Ein entsetzter Kurator ließ einen Satyr, der ausgelassen einen Pokal auf seinem riesigen erigierten Phallus balancierte, so übermalen, dass das Trinkgefäß auf einmal in der Luft zu schweben schien. So etwas blieb auch manchen Renaissance-Statuen nicht erspart: Im Jahr 1857 wurde Königin Victoria ein Abguss von Michelangelos David geschenkt. Als Victoria das riesige Standbild im Victoria and Albert Museum zum ersten Mal sah, war sie von dessen Nacktheit angeblich so schockiert, dass sie befahl, für den David ein Feigenblatt anzufertigen. Fortan hielt man im V&A den fünfzig Zentimeter hohen Gipsabguss eines solchen Blattes bereit; immer wenn die Königin das Museum besuchte, hängte man das Feigenblatt an zwei an der Statue befestigten Haken auf, sodass Ihrer Majestät der unschöne Anblick des Genitals erspart blieb.
Auf diese Weise hielt die Erbsünde Einzug in die klassische Welt. Den Ausbruch des Vesuvs empfanden die frommen Viktorianer als gerechte Strafe für ein Volk außer Rand und Band. In dem 1871 erschienenen Handbuch über die erotischen Gemälde und Statuen aus Pompeji kam man zu dem Schluss, dass »die Religion mit ihrem ewigen Ruhm unsere Empfindungen reiner und unsere Freude größer gemacht hat, indem sie diese unreinen Götzen unter Staub begraben und uns das Gebot der Keuschheit vor Augen geführt hat«.22 Allerdings warf das Buch das »Gebot der Keuschheit« gleich darauf mit einer ganzseitigen Illustration des Satyrs mit der Ziege wieder über den Haufen.
Dass die römische Welt nichts vom Sündenfall wusste, bedeutet jedoch keinesfalls, dass die Römer keine Scham und keine Schande kannten. Weit gefehlt. Es gab komplexe Unterschiede zwischen dem, was in der Sexualität akzeptabel war und was nicht, und diese Unterschiede galt es genau zu beachten. Der Historiker Paul Veyne schrieb: »Im Grunde genommen waren die Heiden von Verboten paralysiert.«23 Hier übertreibt Veyne. Es gab zwar Regeln, aber sie waren nicht so streng, dass sie die Menschen komplett paralysiert hätten. Sex wurde akzeptiert, und Sex sollte Spaß machen. Das war ein wichtiger Unterschied. Aber es gab auch Grenzen – und der wichtigste Faktor dabei war wie immer, wie privilegiert jemand war. Ein reicher Mann durfte sich wesentlich mehr erlauben als ein armer Mann; ein Mann mehr als eine Frau. Sklavinnen und Sklaven hatten so gut wie gar keine Rechte und bevölkerten die Häuser der freien Römer de facto als Prostituierte. Und im Osten des Römischen Reichs war die Atmosphäre ganz allgemein konservativer als im Westen.
Doch auch wohlhabende Männer mussten bestimmte Regeln einhalten: Über Homosexualität verlor man nicht viele Worte, solange man sie nicht in der passiven, »weiblichen« Rolle ausübte, sprich: penetriert wurde. Allein das Gerücht, man habe passiven homosexuellen Verkehr gehabt, reichte aus, um eine politische Karriere zu beenden. Auch hier gab es natürlich Ausnahmen: Wegen seiner angeblichen Beziehung zu König Nikomedes verspottete man Julius Caesar als »Königin von Bithynien«. Er überstand den Vorwurf relativ unbeschadet, doch, wie der Biograf Sueton schrieb, »blieb jener Vorwurf schwer und dauernd haften und setzte ihn allseitiger Schmähung aus«.24 Ein weiteres ungeschriebenes Gebot betraf die Beleuchtung im Schlafzimmer: Beim Sex hatte man das Licht zu löschen. Dies nicht zu tun galt als liederlich. Die römischen Dichter spielten mit diesen Regeln nur allzu gern (wie Dichter es nun einmal tun). In einem denkwürdigen Gedicht beschreibt Ovid, wie er am Nachmittag mit seiner Geliebten Sex hat, während durch den halb geöffneten Fensterladen die Sonne ins Schlafzimmer scheint; immerhin ist es dabei im Zimmer so hell, dass er in der Lage ist, jeden Teil des Körpers seiner Partnerin genau zu beschreiben. Es ist eines der erotischsten Gedichte aus seiner Feder.25
Vor allem aber sollte ein Mann – und diese Texte wurden von und auch weitgehend für Männer geschrieben – seine sexuellen Triebe kontrollieren, anstatt sich von ihnen kontrollieren zu lassen. Sich hoffnungslos in eine Frau zu verlieben galt als inakzeptabel. Jene Dichter, die schrieben, sie seien der »Sklave« ihrer Freundin, brachten die Traditionalisten auf die Palme. An gewisse Grenzen hatten sich auch die Künstler zu halten: Ovid wurde wegen »carmen et error« verbannt – wegen eines allzu obszönen Gedichts und weil er die Grenzen überschritten hatte, die Augustus der Gesellschaft im Kampf gegen die grassierende Unmoral kurz zuvor gesetzt hatte.26 Beim Sex galt wie in allen anderen Lebensbereichen das in den Tempel von Delphi gemeißelte Motto: »Nichts im Übermaß!« Zu viel Sex galt als proletenhaft, doch wer zu wenig Sex hatte (und das auch noch überall herumerzählte), war schnell als Langweiler verschrien. »Verbiete nicht jenen den Mund«, riet ein Autor, »die der Liebe frönen, und erwähne nicht allzu oft, dass du das nicht tust.«27
Sex sollte sich also stets in einem gewissen Rahmen abspielen, aber er gehörte eindeutig zum Leben dazu. Wie Peter Brown beobachtet hat, behandelte die römische Elite den Sexualtrieb in ihren Schriften wie jedes andere körperliche Verlangen: Es galt, ihn zuzulassen und mit ihm umzugehen zu lernen – dafür schämen musste man sich nicht. Im Rahmen des (heute leider in Vergessenheit geratenen) Liberalia-Fests am 17. März feierten die römischen Bürger den ersten Samenerguss eines Jungen. In ihren medizinischen Handbüchern sprachen römische Ärzte unbefangen über die Ejakulation; sie waren der Ansicht, es könne Kopfschmerzen verursachen, wenn man nicht regelmäßig seinen Samen vergieße. Allerdings herrschte auch die Meinung vor, Sportler erbrächten bessere Leistungen, wenn sie vor dem Wettkampf auf Sex verzichteten. Auch Frauen empfahlen die Ärzte Sex und Orgasmen, um gesund zu bleiben.28
Über Sex, sexuelles Verlangen und die Konsequenzen des Geschlechtsverkehrs wurde ganz offen diskutiert. Dichter schimpften auf ihre Partnerinnen, wenn diese abtreiben ließen – meist nicht wegen der Abtreibung an sich, sondern weil die Frauen dabei ihre Gesundheit aufs Spiel setzten. In einem seiner Gedichte ist Ovid wütend auf seine Geliebte Corinna, als er von ihrem versuchten Schwangerschaftsabbruch erfährt – nicht, weil sie sein Kind abtreiben lassen wollte, sondern weil sie »dieses Risiko auf sich genommen hat, ohne mir davon zu erzählen!«29 Andere bedienten sich aufwendigerer Methoden, um eine Schwangerschaft zu verhindern. Als jemand Kaiser Augustus’ charmante und hübsche Tochter Julia fragte, wie es ihr gelinge, dass alle ihre Kinder ihrem Mann ähnlich sähen, obwohl sie so viele Liebhaber habe, antwortete sie: »Ich nehme nur dann einen Passagier an Bord, wenn der Laderaum bereits voll ist.«30
Und warum hätte man auch keinen Sex haben sollen? Das Leben war kurz, und man wusste nie, was einen am nächsten Tag erwartete. Lebe jetzt!, verkündeten unzählige römische Mosaiken, Gemälde und Gedichte. Wer weiß, was der Morgen bringt? Auf einem erst kürzlich in Antiochia entdeckten Mosaik sieht man ein entspannt zurückgelehntes Skelett mit einem Becher in der Hand und einer Amphore Wein neben sich. Neben seinem Schädel steht in großen griechischen Lettern eine Anweisung an alle, die einst über dem Mosaik speisten: »Sei frohen Mutes«, steht dort, »genieße das Leben!«31 Hier ist die Aufforderung, sich des Lebens zu freuen, buchstäblich in Stein gemeißelt. Ein bekanntes antikes Gedicht fasst diese Aufforderung in besonders elegante Verse: »Quam minimum credula postero« – »verlass dich so wenig wie möglich auf morgen« – , riet der Dichter Horaz seinen Lesern. »Carpe diem« – »Nutze den Tag.«32
Eines der berühmtesten Werke der römischen Literaturgeschichte ist die Liebeskunst, das Lehrbuch des Dichters Ovid über die Kunst der Verführung. »Sollte es hier in Rom jemanden geben, der nicht weiß, wie man liebt«, schreibt Ovid dort in den ersten Versen, »so lese er diese Zeilen und halte sich beim Lieben an mein Gedicht.«33 Der geistreiche, gelehrte und geltungsbedürftige Ovid war einer der berühmtesten römischen Dichter und offensichtlich der Meinung, dass dieser Status ihm durchaus gebührte: »Überall dort, wo sich Roms Macht über die zivilisierte Welt erstreckt«, heißt es nämlich in einem anderen seiner Gedichte, »wird das Volk mich lesen, und … durch die Zeiten hindurch werde ich im Ruhm fortleben.«34 Bislang hat er recht behalten, und das nicht zuletzt wegen seiner Liebeskunst – einem langen Gedicht, an dessen Ende er, nachdem nahezu alle anderen Themen aus dem Bereich abgearbeitet sind, noch Zeit findet, dem Leser zu bestimmten Stellungen zu raten: »Die Knie auf das Bett drücken und den Hals ein wenig zurückbiegen soll/Die hochgewachsene Frau, die man gerne anschaut …«35 Und so weiter und so fort.
Doch nach und nach änderte sich etwas. Etwas mehr als zwei Jahrhunderte, nachdem Pompeji untergegangen war, erlebte die römische Elite ihre eigene Katastrophe, als Konstantin sich zum Christentum bekannte. Die Auswirkungen waren das ganze 4. Jahrhundert hindurch immer wieder spürbar: Tempel wurden abgerissen, Statuen zerschlagen und neue Gesetze erlassen, die die alte »heidnische« Lebensweise unter Strafe stellten. Die Zahl der (freiwilligen und unfreiwilligen) christlichen Konvertiten nahm zu jener Zeit rapide zu. Und im Zuge dessen veränderte sich auch die Literatur. Schlüpfrige Verse, die früher so populär gewesen waren, tauchten auf dem Buchmarkt immer seltener auf. Stattdessen verbreiteten sich freudlose, voreingenommene und oft auch aggressive Predigten. In diesen Texten wurden Leser mit minutiösen Details darin unterwiesen, wie sie sich in den unterschiedlichen Bereichen ihres Lebens zu verhalten hatten – und es wurde gedroht. Doch an dieser Entwicklung war nicht einzig und allein das Christentum schuld: Schon vorher hatte sich in der Literatur ein zunehmend moralisierender Ton abgezeichnet, und der Aufstieg des Christentums könnte, zumindest teilweise, sogar ein Symptom dafür gewesen sein. Wie dem auch sei: Das Christentum machte sich diese moralisierende Haltung zunutze, schwang sich zu ihrem Sprachrohr auf und sorgte dafür, dass sie sich stärker verbreitete als jemals zuvor.
Die christlichen Autoren jener Epoche waren nicht gerade begeistert von der sexuellen Offenheit, die in den Werken römischer Autoren und Maler zum Ausdruck kam. Sie fanden sie abstoßend. Bereits der Apostel Paulus hatte den Ton vorgegeben: Er war der Ansicht, die »Heiden« seien schon so weit vom rechten Weg abgekommen, dass es für sie kaum noch Rettung gebe. Nicht zuletzt weil sie Götzen verehrten, »lieferte Gott sie durch die Begierden ihres Herzens der Unreinheit aus, sodass sie ihren Leib durch ihr eigenes Tun entehrten«.36 Sie hatten nicht nur Sex, viel schimmer – sie hatten gleichgeschlechtlichen Sex: »Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht.«37 Und doch, beruhigte Paulus seine Leser, blieb diesen Sündern die gerechte Strafe nicht erspart: »Wisst ihr denn nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder … werden das Reich Gottes erben.«38 In späteren Jahrhunderten blieb man dieser Auffassung treu. Während der repressiven Herrschaft des Kaisers Justinian im 6. Jahrhundert wurden mehrere grausame Gesetze gegen Homosexualität erlassen, die alles bislang Dagewesene in den Schatten stellten.
Für Paulus und andere christliche Prediger waren der Körper und seine Triebe etwas, das es nicht etwa zu feiern, sondern zu verdrängen, zu unterdrücken galt. Gewohnt umständlich wütete Paulus: »Ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich aus diesem dem Tod verfallenen Leib erretten?«39 Auf jemanden, der seine Jungfräulichkeit bewahrt hatte, wartete im Himmel, so hieß es, ein sechzigmal größerer Lohn. Die christlichen Autoren jener Epoche schrieben nur mit tiefer Abscheu über ihre sexuellen Regungen. Für den wohl einflussreichsten Autoren der damaligen Zeit, Augustinus, war Geschlechtsverkehr lediglich zu billigen, wenn er der Zeugung diente, und selbst dann sei der Akt an sich voller Lust, böse und »bestialisch«; Erektionen fand Augustinus generell »unziemlich«. Der Westen lud sich mit Augustinus’ und Paulus’ angewiderten Worten eine bittere Hypothek sexueller Scham auf. Die ganz frühen Christen gingen teilweise noch weiter und behaupteten, es gebe gar keinen Bedarf mehr für Sex; vielmehr stehe eine neue Form der Schöpfung unmittelbar bevor, und zwar in Gestalt einer großen Feuersbrunst mit anschließender Wiedergeburt der Gottgefälligen. Was brauchte man da noch die peinliche, schmutzige menschliche Fortpflanzung? Das ewige Leben machte es schlichtweg überflüssig, sich zu vermehren.
War Ovids Liebeskunst das berühmteste »heidnische« Lehrwerk, so gehörte zu den berühmtesten christlichen Büchern dieser Art ein Traktat des Theologen Clemens von Alexandria aus dem 3. Jahrhundert. Es trug den Titel Paedagogus (»der Erzieher«), und sein erklärtes Ziel war es, »ein das Wichtigste umfassendes Bild davon [zu] entwerfen, wie in seinem ganzen Leben der sein muss, der sich Christ nennt«.40 Ohne Umschweife erinnert Clemens seine Leser daran, was jene erwartete, die sich nicht an seine und Gottes Gebote halten, nämlich die »Zähne wilder Tiere« und ein »unheilbarer Gliederkrampf«. Schließlich hätte der Herr höchstpersönlich verkündet: »Ich will mein Schwert schärfen, … und ich selbst werde Rache üben an meinen Feinden, und denen, die mich hassen, will ich es vergelten. Ich werde meine Pfeile trunken machen von Blut, und mein Schwert soll Fleisch fressen vom Blute Verwundeter!« Aber das bedeute nicht etwa, dass Gott grausam wäre: Es sei ein Beweis seiner Liebe. »Geißel und Zucht«, versichert der Verfasser seinen Lesern, seien »zu jeder Zeit ein Zeichen von Weisheit.«41
Mit oftmals fast herrisch klingenden, aber stets präzisen Formulierungen, die er immer wieder mit Zitaten und vor allem Drohungen aus der Heiligen Schrift anreichert, erklärt Clemens den Lesern, was sie in ihrem Leben zu tun und zu lassen haben. Er befasst sich mit jedem Aspekt im Tagesablauf der Gläubigen – von der Nahrung, die sie zu sich nehmen sollen, über die Frisuren, Kleidung und Schuhe, die es sich zu tragen ziemt, bis hin zu dem, was im Bett erlaubt oder verboten ist. In den drei Bänden seines Lehrwerks richtet er über nahezu jede menschliche Tätigkeit. »Die verabscheuenswerte Lust«, schreibt er »muss man gänzlich ausrotten.«42 Er beginnt mit dem Essen und eröffnet seine Betrachtungen direkt mit dem Hinweis darauf, dass wir alle letztlich nur Staub sind. Anschließend befasst er sich mit einzelnen Gerichten. In steifen, unbarmherzigen Sätzen, die nicht den leisesten Hauch von Humor aufweisen, beklagt er sich über die extravaganten Gelage seiner Zeitgenossen und über fast alles, was bei ihnen auf den Tisch kommt. Selbst die übermäßige Verwendung von Stößel und Mörser missbilligt Clemens, Gewürze sind ihm ein Gräuel, genau wie Weißbrot (dem »die eigentlich nahrhaften Bestandteile« fehlten) und natürlich Süßes wie Honigkuchen, Zuckerpflaumen, getrocknete Feigen und so weiter. Man dürfe auf keinen Fall so sein wie jene Gourmands, warnt Clemens, die sich Muränen aus Sizilien kommen ließen, Schollen aus Attika, Krammetsvögel aus Daphnis …43 Und in diesem Stil geht es weiter.
Genau wie die britischen Romane der Nachkriegszeit – von James Bond bis Wiedersehen mit Brideshead – , die während einer Zeit großer Entbehrung entstanden sind und dennoch viele detaillierte Beschreibungen feiner Speisen enthalten, scheint sich Clemens ein wenig zu ausführlich mit diesen verbotenen Früchten zu beschäftigen.* Er selbst hätte diesen Gedanken weit von sich gewiesen. Leute, die die gehobene Küche bevorzugten, waren seiner Ansicht nach bloße »Tiere in Menschengestalt, nach dem Vorbild ihres Vaters, des lüsternen Tieres«.44 Satan lauerte zwischen den Süßigkeiten. Und dann war da noch der Wein, der in Clemens’ Augen noch schädlicher war als das Essen: Diese wärmende Flüssigkeit würde die ohnehin schon überhitzten Körper junger Männer noch weiter erhitzen, um »gleichsam Feuer zu Feuer hinzuzuleiten. Denn dadurch entbrennen wilde Triebe und leidenschaftliche Begierden und ein hitziges Wesen … und schamlose Blutwallungen zeigen ein vorzeitiges Begehren und verlocken den Sittsamen zu zuchtlosem Wesen.« Clemens wettert gegen all die »Unglücklichen«, denen im Leben nichts wichtiger sei als »Festgelage, Rausch, Bäder, Wein, … Faulheit, Trinken« und (erstaunlicherweise) »Nachtgeschirr«.45
Den Predigern war beinahe alles rund ums Essen suspekt. War man anderswo zum Speisen eingeladen, konnte es sein, dass man einen anderen Mann auf einmal um dessen Haus beneidete und deshalb weniger zufrieden heimkehrte, als man losgegangen war. Johannes Chrysostomos empfahl, statt Dinnerpartys lieber Beerdigungen zu besuchen: »Ist es denn nicht besser«, wütete er vor seiner Gemeinde, »dorthin zu gehen, wo man weint, klagt und stöhnt, wo Angst und Traurigkeit herrschen, als dorthin, wo man tanzt, die Zimbeln schlägt, wo man lacht und den Luxus genießt, wo man sich mit Essen und Trinken den Bauch vollschlägt?«46 Man muss nicht allzu vertraut mit dem Leben und Werk von Chrysostomos sein, um zu ahnen, dass er als Antwort auf diese rhetorische Frage ein lautes und deutliches »Ja!« erwartete. In einem Haus, wo alle fröhlich waren, beneidete man am Ende vielleicht noch das lauschige Atrium des Nachbarn oder sein schön eingerichtetes Esszimmer. In einem Haus der Trauer würde man Chrysostomos zufolge eher verkünden: »Wir sind nichts, und unsere Bosheit ist unaussprechlich!«47 Die Bandbreite von Clemens’ Betrachtungen war im Grunde nichts Neues. Mehrere Jahrhunderte, bevor die Vollstrecker Gottes ihre Nase in jedes Alltagsdetail zu stecken begannen, hatte Ovid seine geneigten Leser ebenfalls mit Ratschlägen dazu versorgt, wie man sich beim Abendessen verhalten solle. Nur war seine Zielsetzung eine ganz andere gewesen. So erklärt er zum Beispiel:
Auch ein Festmahl mit zusammenrückten Tischen gewährt dir Zugang,
Dort gibt es weit mehr zu holen als Wein.
Oft schon hat sich dort an die Hörner des
Purpurnen Bacchus Gott Amor geklammert.48
Genau wie Clemens hält sich auch Ovid eine ganze Weile mit dem Thema Wein auf, der, wie auch der Dichter meint, in Maßen getrunken werden sollte – allerdings aus völlig anderen Gründen: Wer sich zu stark betrinke, verliere seinen Partner. »Eine Frau, die voll Wein ausgestreckt daliegt – das ist schändlich.«49 Auch bei Ovid gibt es ausführliche Anweisungen zu Kleidung und Körperpflege. Er rät den Lesern, sich um ihr Äußeres zu kümmern, stets zu duften, ihre Nägel zu schneiden und sauber zu halten und ihre Nasenhaare zu stutzen:
Niemals soll dir aus den Nasenlöchern ein Haar herauswachsen.
Dir soll kein übler Atem aus einem schlecht riechenden Mund strömen.
Der Ziegenbock, der der Herde vorsteht, soll nicht die Nasen beleidigen.50
Viel mehr als das tue jedoch nicht not, fügte der Dichter hinzu: »Du solltest dir nicht mit dem Eisen Locken ins Haar brennen«, riet er den Männern, »und dir auch nicht die Schenkel mit Bimsstein enthaaren.«51 Dies täten nur »leichte Mädchen/Und halbe Männer, die einen Mann suchen«.52
Frauen erhielten von Ovid ebenfalls einige Anweisungen. Sie sollten ihr Haar nicht vernachlässigen. Wer ein rundliches Gesicht habe, solle das Haar auftürmen, Frauen mit einem langen Gesicht stehe ein einfacher Mittelscheitel. Sorgfältig zerzaustes Haar könne aber auch eine Lösung sein: »Vielen Frauen steht eine Frisur, die ganz nachlässig aussieht: Oft glaubt man,/Sie hätte sich seit gestern nicht mehr das Haar gekämmt, dabei hat sie es gerade erst gerichtet.«53
Weiße Kleider, schrieb er, eigneten sich vor allem für dunkelhäutige Frauen, den bleicheren stehe Grau; Violett gelte es generell zu vermeiden, genau wie Volants. Auch für die Frauen hatte er Tipps zur Körperpflege parat: Die Zähne sollten sauber sein und keine Flecken aufweisen; dass einem ein »wilder Bock unter den Achselhöhlen« 54 wohne, sei zu vermeiden. Schminke sei ratsam, aber in Maßen: »Ihr weißt euch mit Kreide die Haut,/nicht Blut rötet Wangen, sondern künstliches Rot,/der freie Raum unter den Augenbrauen wird mit Farbe versehen«, und so weiter. Das Schminken sollte lediglich die natürliche Schönheit der Frau betonen, denn »nur die Kunst, die sich versteckt, macht schön«.
In einem Punkt war Ovid erstaunlich strikt: Niemals dürfe die Frau zulassen, dass ihr Partner sie beobachte, solange sie sich zurechtmache:
Wenn du dich hübsch machst, lass uns glauben, du schliefest noch.
Erst nach dem letzten Handgriff zeige dich uns!
Warum sollte ich erfahren, wieso dein Antlitz so weiß ist?
Vor allem aber solle man den Partner, so Ovid, niemals der Zahnpflege beiwohnen lassen: »Auch wenn es Schönheit verleiht: Es beobachten zu müssen, ist furchtbar.«55
Bei vielen Themen demonstrierten die christlichen Traktate eine ganz ähnliche Haltung wie Ovid: Auch Clemens mochte keine übermäßig geschminkten Frauen und keine allzu herausgeputzten Männer, nur war sein Tonfall ein ganz anderer. Und es gab bei ihm wirklich für alles genaue Anweisungen – von Kopf (das Haar durfte nicht gefärbt, gezupft oder künstlich gelockt werden; all das zählte zu den »bösen Künsten«) bis Fuß (den nur eine einfache Sandale schmücken durfte). Schminke galt als Hinweis auf eine kranke Seele.56 Goldene, silberne und juwelenbesetzte Becher lehnte Clemens genauso ab wie violette Bettwäsche – all das waren für ihn »Zeugen geschmackloser Prunksucht, Überfluss, der dem Neid und [dem Verdacht] der Weichlichkeit ausgesetzt ist«.57 Das Tragen von Goldschmuck war eine weitere beklagenswerte Unsitte; dadurch gäben die Frauen »den Gaben Gottes ein falsches Gepräge, wobei sie die Kunst des Bösen nachahmen«. Durchsichtige Textilien galten als »Zeichen einer nicht gefestigten Sinnesart«.58 Dennoch ging er mit den Frauen generell weniger hart ins Gericht als beispielsweise mit Männern, die sich zu enthaaren pflegten. Hatte der Herr denn nicht gesagt: »Alle Haare eures Hauptes sind gezählt«? Damit war für den bibelfesten Clemens die Sache klar. »Man darf also auf keinen Fall gegen Gottes Absicht das Haar, das nach seinem Willen mitgezählt ist, herausreißen.«59
Ovid legte dem Leser seine Ansichten mit der Haltung eines Fachmanns dar, der einen Novizen unterweist. Eine Frau, die sich nicht an Ovids Ratschläge hielt, etwa indem sie sich unpassend kleidete oder beim Abendessen zu viel trank, musste in diesem Leben die Konsequenzen für ihr Verhalten tragen: Ihr Angebeteter ließ sie links liegen, oder die Leute hielten sie für ordinär. In den neuen christlichen Schriften zählte der Geschmack eines Mannes – auch eines Fachmanns – nichts, sondern nur der Geschmack Gottes. »Der Mensch ist das Maß aller Dinge«, hatte Protagoras gesagt. Das galt nun nicht mehr. Ab sofort war Gott das Maß aller Dinge, und er beurteilte alles, was die Menschen taten, und bestrafte alle, die seine Vorgaben nicht befolgten. Die christlichen Prediger hielten es nicht mit Horaz, der verkündet hatte, man könne nie wissen, was die Zukunft für einen bereithalte. Im Gegenteil, gerade das wussten sie ganz genau: Man würde sterben und gerichtet werden. Ein paar wenige Glückliche kamen danach in den Himmel, alle anderen in die Hölle. Man sollte sich stets die Gefahren vor Augen führen, die einem im nächsten Leben drohten, und um jene Gefahren abzuwenden, musste man genau darauf achten, wie man sich in diesem Leben verhielt. Essen, Trinken und Sex, so erging die Warnung, waren das Letzte, das einem wichtig sein sollte. Wer es sich in dieser Welt allzu gut gehen ließ, auf den wartete in der nächsten mitnichten die ewige Glückseligkeit. »Du bist schon sehr verwöhnt, mein Teuerster«, warnte der christliche Gelehrte Hieronymus, »wenn du dich hier mit der Welt freuen und dort mit Christus herrschen willst.«60
* Der Katholik Evelyn Waugh ließ später kein gutes Haar an seinem Werk Wiedersehen mit Brideshead (1945). Er erklärte, er habe den Roman »in einer Zeit allgegenwärtiger Entbehrung geschrieben, in der man jederzeit mit der Katastrophe rechnete. Es war die Zeit von Sojabohnen und einfachem Englisch – infolgedessen ist das Buch voll von Völlerei, von gutem Essen und Wein; es verherrlicht die jüngste Vergangenheit und bedient sich einer betont rhetorischen und ausgeschmückten Sprache, die mir heute, mit vollem Magen, peinlich ist.« Clemens hätte das voll und ganz unterschrieben.