Nicht ständig der Regen aus den Wolken auf die rauhen

Äcker strömt, nicht das Kaspische Meer

peitschen die wechselnden Winde

unaufhörlich, noch in Armeniens Landen,

 

Freund Valgius, starrt das Eis unbeweglich

alle Monate hindurch oder vom Nordsturm

die Eichen des Garganos leiden

und verlieren ihr Laub die Eschen […] (II, 9)

Die Entropie, nicht die Energie, treibt die Welt voran

In der Schule habe ich gelernt, dass Energie die Welt antreibt. Wir brauchen Energie, zum Beispiel aus Erdöl, der Sonne oder der Atomkraft. Sie treibt Motoren an, lässt Pflanzen wachsen und sorgt dafür, dass wir morgens voller Lebenskraft erwachen.

Aber etwas stimmt nicht. Energie – so hieß es in der Schule – bleibt erhalten. Sie entsteht nicht und verschwindet nicht. Wenn sie erhalten bleibt, wieso müssen wir uns dann ständig neue beschaffen? Warum nutzen wir nicht immer dieselbe? Die Wahrheit lautet, dass es Energie in Hülle und Fülle gibt und sie nicht verbraucht wird. Es ist nicht die Energie, die die Welt benötigt, um voranzukommen, sondern geringe Entropie.

Die (mechanische, chemische, elektrische oder potenzielle) Energie verwandelt sich in thermische Energie, also in

Nicht die Energiequellen, sondern die Quellen der geringen Entropie treiben den Weltenlauf an. Ohne geringe Entropie würde sich alle Energie in Wärme auflösen, und die Welt würde ihrem thermischen Gleichgewichtzustand zustreben, in dem es keine Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft und auch kein Geschehen mehr gäbe.

In der Nähe unserer Erde gibt es eine reichhaltige Quelle für niedrige Entropie: die Sonne. Sie schickt heiße Photonen zu uns. Die Erde strahlt daraufhin Wärme in den Nachthimmel zurück, indem sie kältere Photonen emittiert. Die einfallende Energie ist in etwa so groß wie die abgestrahlte. In diesem Austausch gewinnen wir folglich keine Energie (wenn wir welche gewinnen, bedeutet dies für uns eine Katastrophe: die Erderwärmung). Aber auf jedes eintreffende warme Photon emittiert die Erde ein knappes Dutzend kalter Photonen – mit der gleichen Energiemenge. Das energiereichere («heiße») Photon hat weniger Entropie als die dafür abgestrahlten energieärmeren, weil die Anzahl der Konfigurationen eines einzelnen (warmen) Photons niedriger ist als die der Konfigurationen des knappen Dutzends kalter Photonen. Folglich ist die Sonne für uns eine überreiche und ständig sprudelnde Quelle an niedriger Entropie. Und als solche lässt sie die Pflanzen wachsen, ernährt so die Tiere, treibt Motoren an und ermöglicht es uns, Städte zu errichten, Gedanken zu entwickeln und Bücher wie dieses zu schreiben.

Das Wachstum der Entropie des Universums treibt die gewaltige Geschichte des Kosmos voran.

Aber die Zunahme der Entropie im Universum verläuft nicht so rapide wie die plötzliche Ausdehnung eines Gases in einem Behälter; sie vollzieht sich schrittweise und benötigt Zeit. Auch mit einem gigantischen Rührlöffel dauert es ein Weilchen, bis ein so gewaltiges Ding wie das Universum neu durchmischt ist. Vor allem stehen der Vergrößerung der Entropie Barrieren und Hindernisse im Weg.

So bleibt zum Beispiel ein sich selbst überlassener Stapel Holz lange stehen. Er befindet sich nicht in einem Zustand maximaler Entropie, weil die Elemente, aus denen er besteht, Kohlenstoff und Wasserstoff, auf eine besondere Weise verbunden sind, die dem Holz seine Form gibt. Wenn sich diese besonderen Verbindungen auflösen, wächst die Entropie: rasant vor allem dann, wenn Holz verbrennt, weil sich die enthaltenen Elemente aus ihren besonderen Strukturen herauslösen. (Tatsächlich kann Feuer als Musterbeispiel für einen irreversiblen Prozess gelten.) Holz entzündet sich allerdings gewöhnlich nicht von selbst. Es verharrt lange Zeit in seinem Zustand niedriger Entropie, bis ihm etwas eine Tür öffnet, durch die es in einen Zustand höherer Entropie übergehen kann. Wie ein Kartenhaus befindet sich ein Stapel Holz in einem instabilen Zustand, in dem er so lange verharrt, bis eine äußere Einwirkung seinen Zusammenbruch herbeiführt: zum Beispiel ein brennendes Streichholz. Als ein Prozess öffnet die Flamme dem Holz einen Kanal,

Auch im Universum stehen der Zunahme der Entropie also allenthalben Hindernisse im Wege, die sie verzögern. So war der Kosmos beispielsweise in der Vergangenheit eine schier endlose Ansammlung von Wasserstoff, ein Element, dessen Atome zu Helium verschmelzen können, das eine höhere Entropie als Wasserstoff hat. Damit dies geschieht, muss sich allerdings ein Kanal öffnen: Es braucht die Initialzündung eines Sterns, in dem Wasserstoff zu Helium verbrennt. Was zündet diese Kernfusion in den Sternen? Ein anderer Prozess, der die Entropie wachsen lässt: Die Kontraktion gewaltiger Wasserstoffwolken, die durch die Galaxie segeln, durch die Schwerkraft. Zusammengezogen hat eine solche Wolke eine höhere Entropie als im ausgedehnten Zustand.[99] Aber damit sich Wasserstoffwolken zusammenballen, benötigen sie wegen ihrer gewaltigen Größe Millionen von Jahren. Erst konzentriert erhitzen sie sich so stark, dass der Prozess der Kernfusion in Gang kommt, welcher der Entropie eine Tür zum weiteren Wachstum öffnet, wenn Wasserstoff zu Helium verbrennt.

Die gesamte Geschichte des Universums ist diese bald schleppende, bald sprunghafte kosmische Zunahme der Entropie. Sie verläuft weder rasant noch gleichförmig, weil die Dinge (der Stapel Holz, die Wasserstoffwolke …) so lange in Becken niedriger Entropie gefangen sind, bis etwas Dazwischenkommendes das Tor zu einem Prozess öffnet, durch den die Entropie weiter zunimmt. Dieses Wachstum öffnet seinerseits weitere Türen, durch das sie abermals wachsen kann. Zum Beispiel hält ein Damm im Gebirge das Wasser so lange zurück, bis ihn der Zahn der Zeit so stark angenagt hat, dass er zusammenbricht: Das dann zu Tal stürzende Wasser lässt

Lebewesen bestehen aus ähnlichen Prozessen, die sich wechselseitig auslösen. Bei der Fotosynthese sammeln Pflanzen die von der Sonne kommenden Photonen mit geringer Entropie ein. Tiere nähren sich beim Fressen an niedriger Entropie. (Wenn Energie anstatt Entropie genügte, würden wir alle, anstatt zu essen, in die Sahara übersiedeln.) Um jede lebende Zelle herum öffnet und schließt eine Struktur Tore, durch die hindurch die zunächst geringe Entropie anwächst. Moleküle fungieren als Katalysatoren, die Prozesse in Gang setzen oder bremsen. Die Zunahme der Entropie in jedem einzelnen Prozess steuert die Funktion des Ganzen. Leben ist dieses Geflecht aus Wachstumsprozessen von Entropie, die sich wechselseitig katalysieren.[100] Die zuweilen geäußerte Ansicht, wonach das Leben besonders geordnete Strukturen hervorbringe oder die örtliche Entropie verringere, ist so nicht richtig: Leben ist schlicht ein Prozess, der sich aus der niedrigen Entropie von Nahrung speist. Es ist wie das übrige Universum ein Ablauf, der sich selbst in Unordnung bringt.

Selbst die alltäglichsten Phänomene werden vom Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik gesteuert. Ein Stein fällt zu Boden. Warum? Häufig liest man, dass der Stein «in einen Zustand niedrigerer Energie» strebe, den er unten vorfinden soll. Aber warum sollte der Stein sich in diesen Zustand begeben? Warum sollte er Energie verlieren, wenn Energie erhalten bleibt? Die Antwort lautet: Wenn der Stein auf dem Boden aufschlägt, erhitzt er sich: Seine mechanische Energie verwandelt sich in Wärme, und dieser Prozess ist unumkehrbar. Ohne den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, ohne Wärme und ohne das mikroskopische Gewimmel würde

Die Entropie, nicht die Energie sorgt dafür, dass der Stein liegen bleibt und die Welt sich dreht.

Das gesamte kosmische Geschehen ist ein schrittweiser Prozess der Unordnung wie der Stapel Karten, der geordnet beginnt und beim Mischen in Unordnung gerät. Dabei wird das Universum nicht von Riesenhänden, sondern von sich selbst durchmischt, durch die Wechselwirkungen zwischen seinen Teilen, die im Verlauf des Mischens Zug um Zug in Gang oder zum Stillstand kommen. Große Regionen bleiben in geordneten Konfigurationen befangen, bis sich hier und da neue Kanäle öffnen, durch die Unordnung um sich greift.[101]

Was die Ereignisse der Welt vorantreibt, was die Geschichte des Universums schreibt, ist das unaufhaltsame sich Mischen aller Dinge, das von den wenigen geordneten Konfigurationen zu den zahllosen ungeordneten voranschreitet. Das gesamte Universum verhält sich wie ein Berg, der sacht in sich zusammenstürzt. Wie eine Struktur, die Schritt um Schritt auseinanderfällt.

Von den geringfügigsten Ereignissen bis zu den komplexesten ist dieser Tanz der wachsenden Entropie, gespeist aus der niedrigen Ausgangsentropie des Kosmos, der wahrhaftige Tanz Shivas des Zerstörers.

Spuren und Ursachen

Ein wichtiger Effekt, der sich daraus ergibt, dass die Entropie in der Vergangenheit gering war, ist für die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft entscheidend. Und er

Spuren finden sich allenthalben. Mondkrater zeugen von vergangenen Einschlägen. Fossilien verraten uns, welche Lebensformen die Erde einstmals besiedelt haben. Teleskope zeigen uns, wie ferne Galaxien früher aussahen. Bücher erzählen von unserer Geschichte. In unserem Gehirn wimmelt es von Erinnerungen.

Spuren gibt es aus der Vergangenheit, nicht aber aus der Zukunft, und zwar nur deshalb, weil die Entropie in der Vergangenheit niedrig war. Aus keinem anderen Grund. Die einzige Quelle des Unterschieds zwischen Vergangenheit und Zukunft ist die vergangene niedrige Entropie, also kann es keine anderen Gründe geben.

Um eine Spur zu hinterlassen, muss etwas zum Stillstand kommen, in der Bewegung innehalten, und dies geschieht nur in einem irreversiblen Prozess, bei dem Energie zu Wärme wird. Deswegen erhitzen sich Computer, erwärmt sich das Gehirn oder werden die auf dem Mond einschlagenden Meteore heiß. Sogar die Gänsefeder der Schreiber in den mittelalterlichen Benediktinerklöstern erwärmte ein wenig das Papier, auf das sie die Tinte auftrug. In einer Welt ohne Wärme federt alles elastisch zurück, ohne Spuren zu hinterlassen.[102]

Eben die Präsenz einer Fülle von Spuren aus der Vergangenheit erzeugt das vertraute Gefühl, dass die Vergangenheit festgelegt sei. Dass entsprechende Spuren aus der Zukunft fehlen, weckt die Empfindung, dass sie offen ist. Spuren sorgen dafür, dass unser Gehirn über ausgedehnte Landkarten aus vergangenen Ereignissen, aber über nichts Entsprechendes für künftige Ereignisse verfügt. Von dieser Tatsache rührt unser Gefühl her, frei in der Welt agieren, zwischen

Die gewaltigen Mechanismen des Gehirns, deren Abläufe uns nicht unmittelbar bewusst sind – «Ich weiß nicht, was mich traurig macht», sagt Antonio eingangs in Der Kaufmann von Venedig –, entwickelten sich im Verlauf der Evolution, um Berechnungen zu möglichen Varianten der Zukunft anzustellen: Dies nennen wir «entscheiden». Und weil sie mögliche künftige Alternativen ausarbeiten, die nachfolgen würden, wenn die Gegenwart bis auf ein Detail genau so wäre, wie sie ist, denken wir selbstverständlich in Begriffen von «Ursachen», die «Wirkungen» vorangehen: Die Ursache eines künftigen Ereignisses ist ein vergangenes Ereignis, sodass das künftige Ereignis in einer Welt nicht erfolgen würde, in der alles bis auf diese Ursache gleich wäre.[103]

In unserer Erfahrungswelt ist der Begriff der Ursache zeitlich asymmetrisch: Die Ursache geht der Wirkung voraus. Wenn wir erkennen, dass insbesondere zwei Ereignisse «dieselbe Ursache» haben, finden wir diese gemeinsame Ursache[104] in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft: Wenn zwei Tsunamiwellen ungefähr zeitgleich auf zwei benachbarte Inseln treffen, gehen wir davon aus, dass beide von einem Ereignis in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft ausgelöst wurden. Aber dieses geschieht nicht deshalb, weil es eine «verursachende» Kraft aus der Vergangenheit in die Zukunft gibt, sondern weil die Unwahrscheinlichkeit einer Korrelation zwischen zwei Ereignissen etwas Unwahrscheinliches erfordert. Und nur die geringe Entropie der Vergangenheit liefert diese Unwahrscheinlichkeit. Was sonst wäre dazu in der Lage? Mit anderen Worten: Die Existenz gemeinsamer Ursachen in der Vergangenheit ist die Manifestation der vergangenen niedrigen Entropie. In einem Zustand des thermischen

Die Gesetze der Grundlagenphysik sind nicht in Begriffen von «Ursachen», sondern von «Gesetzmäßigkeiten» formuliert, die, bezogen auf Vergangenheit und Zukunft, symmetrisch sind. In einem viel zitierten Artikel schreibt Bertrand Russell dazu mit Nachdruck: «Das Gesetz der Kausalität […] ist ein Relikt aus einer vergangenen Epoche, das wie die Monarchie nur deshalb überlebt, weil irrigerweise angenommen wird, dass es nicht schadet.»[105] Dabei übertreibt er allerdings insofern, als die Tatsache, dass es auf elementarer Ebene keine «Ursachen» gibt, kein hinreichender Grund ist, um den Begriff der Ursache für obsolet zu erklären:[106] Auf elementarer Ebene gibt es auch keine Katzen, was uns aber keineswegs daran hindert, uns um unsere lieben Hausgenossen weiterhin zu kümmern. Durch die niedrige Entropie der Vergangenheit wird «Ursache» zu einem leistungsfähigen Begriff.

Aber Erinnerung, Ursachen und Wirkungen, Ablauf, Bestimmung der Vergangenheit und Indeterminismus der Zukunft sind nur Bezeichnungen, die wir den Auswirkungen eines statistischen Faktums geben: der Unwahrscheinlichkeit eines vergangenen Zustands im Universum.

Ursachen, Erinnerung, Spuren, ja die Geschichte des Geschehens in der Welt, das sich nicht nur in Jahrhunderten und Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte, sondern in den Milliarden Jahren der großen kosmischen Erzählung entfaltet, all dies geht schlicht aus der Tatsache hervor, dass die Konfiguration der Dinge vor einigen Milliarden Jahren «besonders» gewesen ist.[107]

Und «besonders» ist ein relativer Begriff: Besonders ist etwa bezogen auf eine Perspektive. Auf eine Unschärfe. Die ihrerseits von den Wechselwirkungen bestimmt wird, die ein