In der dritten Phase spricht Meister Eckhart gleichzeitig von Gott als Nichts und als Sein. Doch wird der Intellektualität Gottes und des Menschen weiterhin der Vorzug gegeben.578

Im nicht vollendeten lateinischen Opus tripartitum (von 1311/13)579, behandelt Meister Eckart u.a. die These: „Esse est deus“580 („Das Sein ist Gott“). Er greift hier die ontotheologische Grundfrage der mittelalterlichen Theologie auf und stellt den Bezug zur Tradition her, die nach Exodus 3,14 („Ich bin, der ich bin“) auf der Basis der griechischen Metaphysik Gott als das Sein auffasst.581 Dabei ist zu beachten: Das Sein – so Eckhart in den Vorbemerkungen des Prologus generalis – darf man sich nicht nach der Seinsweise der Natur vorstellen582, sondern überzeitlich, d.h. transzendental.583

Schauen wir nun auf Eckharts Begründungen im Prologus, warum das Sein Gott ist: Erstens: „Quia si esse est aliud ab ipso deo, deus nec est nec deus est“584 („Wenn das Sein etwas anderes ist als Gott, so ist Gott entweder nicht oder er ist nicht Gott“). Gott und das Sein ist dasselbe: Wäre Gott und das Sein nicht identisch, hätte Gott das Sein von einem anderen; dann aber wäre Gott nicht. Zweitens: „Igitur si esse est aliud a deo, res ab alio habet esse quam a deo“585 („Wenn also das Sein etwas anderes als Gott ist, hat das Wirkliche das Sein von etwas anderem als von Gott“). Alles Seiende hat sein Sein vom Sein. Wenn Gott nicht das Sein ist, hat das Seiende sein Sein von etwas anderem als Gott. Das Sein muss demnach Gott sein. Drittens: „Ante esse est nihil“586 („Vor dem Sein ist nichts“). Wer Sein mitteilt – der Schöpfer –, der erschafft aus dem Nichts. Alles Seiende erhält aber sein Sein vom Sein. Wäre das Sein und Gott nicht identisch, hätte das Seiende sein Sein von etwas anderem als Gott; der Schöpfer wäre nicht Gott. Viertens: „Omne habens esse est.“587 („Alles, was Sein hat, ist.“). Alles Seiende hat Sein. Wenn das Sein nicht mit Gott identisch wäre, dann könnte alles Seiende ohne Gott sein und Gott wäre nicht die Erstursache. Fünftens: „Extra esse et ante esse solum est nihil“588 („Außerhalb des Seins und vor dem Sein ist allein das Nichts“). Wenn das Sein nicht mit Gott identisch wäre, wäre Gott entweder nichts oder von einem anderen. Dieses Andere und Frühere wäre dann Gott für Gott bzw. Gott vor Gott; es wäre der Gott von allem.

Das Sein ist also Gott. Gott teilt das Sein mit, und so ist alles Seiende. Was versteht aber Eckhart unter dem Sein Gottes? Eine Antwort haben wir bereits in Eckharts Auslegung des Johannesevangeliums – „Im Anfang war das Wort“ (Joh 1,1) erhalten: Gott ist für Eckhart „purum intelligere“589 („reines Denken“). Das bedeutet: Gott ist auf der einen Seite ein unwandelbares, ewiges, abgeschiedenes Sein, welches sich im intellektuellen Akt, im Erkennen seiner selbst, selbst erkennt. Auf der anderen Seite versteht Eckhart dieses sich selbst Erkennen der Gottheit als eine „sich selbst denkende Bewegtheit“590, d.h. Gott teilt sich denkend der Schöpfung und dem Menschen mit. Mit anderen Worten in „dieser Form ist Gott als Sein gleichzeitig Denken und als reiner Akt zu begreifen, in dem Gott, sich selbst denkend, ist.“591

Dieser Selbstvollzug entfaltet sich trinitarisch. Der Sohn bzw. das Wort geht aus nach Art der Verstandeserkenntnis des Vaters und teilt der Kreatur sein Sein mit:

„Et sic ‚verbum’, scilicet filius, ‚intellectualiter procedens’ a patre, ‚non est relatio rationis tantum, sed rei, quia et ipse intellectus et ratio’ res quaedam sunt vel ‚res quaedam est’.“592

„Und so ist das ‚Wort‘, nämlich der Sohn, ‚das nach Art der Verstandeserkenntnis‘ vom Vater ausgeht, ‚nicht eine bloße Beziehung der Idee nach, sondern der Wirklichkeit nach, weil auch der Verstand und die Idee Wirklichkeiten sind oder vielmehr eine Wirklichkeit ist‘.“

Dieses Ausgehen aus dem Vater nennt Eckhart „emanatio“593 („Ausfließen“) oder „ebullitio“ („Übersprudeln“):

„Deus sub ratione boni est principium ebullitionis ad extra, sub ratione vero notionis est principium bullitionis in se ipso, quae se habet causaliter et exemplariter ad ebullitionem. Propter quod emanatio personarum in divinis est prior, causa et exemplar creationis.“594

„Gott ist, insofern er gut ist, der Ursprung des Übersprudelns nach außen; insofern er erkennt, ist er Ursprung des Sprudelns in sich selbst, das Grund und Urbild des Übersprudelns ist. Deshalb ist auch das Hervorgehen der Personen in Gott vor der Schöpfung, und zwar als deren Grund und Urbild.“

Das göttliche Sein ist also ein intellektuelles Sprudeln in sich selbst, eine Selbsterkenntnis, die sich unter dem Aspekt der Güte trinitarisch mitteilt, d.h. übersprudelnd das göttliche Sein im Erschaffen der Schöpfung mitteilt. Ohne diese Selbstmitteilung ist alles Seiende, sind alle Geschöpfe, nichts.595 Und nur aufgrund der göttlichen bullitio ist es dem Menschen möglich in einem – ebenfalls intellektuellen – Aufstieg am göttlichen Leben teilzuhaben.596

„Denkt also Eckhart Gott als das Sein, heißt dies, dass er ihn in seinem intellektuellen Selbstvollzug als absolutes, in sich bewegtes Sein fasst. Dieses ist in seiner trinitarischen Entfaltung bullitio und in der Mitteilung des Seins in der Schöpfung ebullitio, gleichzeitig, in seiner intellektuellen Verfasstheit, aber immer auch Licht, das alles erhellt. So ist Gott als Identität von Sein und Erkennen universaler Grund von allem, als solcher von allem absolut unterschieden, gleichzeitig aber in seiner Selbstmitteilung immer schon auf alles bezogen und letzte absolute Wirklichkeit aller Dinge.“597

In diesem Zusammenhang unterscheidet Eckhart zwischen der Gottheit und Gott598: „Allez daz, daz in der gotheit ist, daz ist ein, und dâ von ist niht ze sprechenne“599 („Alles, was in der Gottheit ist, das ist eins, und davon lässt sich nicht sprechen“). Unter der Gottheit versteht Eckhart also Gott, sofern er ihn als eine Natur sieht, als das eine Wesen.600 Dem gegenüber nennt Eckhart Gott Gott, wenn er ihn unter dem Aspekt seiner trinitarischen Entfaltung betrachtet.601 Die Gottheit – der eine Gott über aller trinitarischen Entfaltung – bezeichnet Eckhart mit Begriffen der negativen Theologie des Dionysios Areopagita als „Nichts“, als „Wüste“, als „Einöde“, als „Grund“602; darüber hinaus als „Stille“ oder als „unergründliches Meer“603; er spricht von der „grundlosen Natur“604, vom „grundlosen Gott“605 oder paradox von der „Weise ohne Weise“606 bzw. vom „Grund ohne Grund“607.608 Diese Unterscheidung ist jedoch nicht so zu verstehen, als teile Meister Eckhart Gott in zwei abstrakte, individuelle Wesen ein, sondern es geht um zwei verschiedene Aspekte, die vom Menschen her zu betrachten sind609: Gott als „einvaltic ein“610 („einfaltiges Eins“) – die Gottheit – steht für die absolute Unterschiedenheit und Namenlosigkeit Gottes gegenüber dem Menschen und aller Schöpfung. Gott ist absolut eins. Hier werden die Aspekte einer negativen Theologie beachtet. Aber gleichzeitig tritt die Gottheit aus dieser Einheit trinitarisch aus sich selbst heraus – die Gottheit als Gott. Sie entfaltet sich als Vater, Sohn und Geist. Diese entsprechen auch den Kräften der menschlichen Seele: der Vater wird gemeinhin mit der memoria (Gedächtnis), der Sohn mit dem Intellekt (das Erkennen, das Vergegenwärtigen, die Weisheit) und der Heilige Geist mit dem Willen oder der Liebe in Verbindung gebracht.611 „Die trinitarische Entfaltung ist im eigentlichen Sinne als das Leben der Gottheit zu begreifen, an dem der Mensch gnadenhaft partizipiert und in das er in seinem Grund vollkommen eingeht.“612

Damit sich nun das trinitarische Leben Gottes im Menschen entfalten kann, muss der Mensch mit dem einen Gott eins werden. Dabei hilft ihm die trinitarische Entfaltung aus dem einen göttlichen Grund: der „erste Ausbruch“613 des Sohnes und die Kraft des Heiligen Geistes aus dem „Gedächtnis“ des Vaters. Der Vater, der auch mit der Gottheit identifiziert wird – Eckhart bezeichnet ihn u.a. als Beginn der Gottheit614 – gebiert den Sohn in einem Erkenntnisakt: „Er begriffet sich selber in im selber. Us dem gat das ewig wort.“615 („Er begreift sich selbst in sich selbst. Aus dem geht das ewige Wort.“).616 Die eine, abgeschiedene Gottheit erkennt sich selbst als Erkennende und teilt sich sodann als trinitarischer Gott zunächst in der Geburt des Sohnes mit. Dieses trinitarische Wirken ist die dem Menschen geschenkte Hilfe, mit der dieser die Gleichheit mit derselben überwinden kann, um gleich zu werden mit der Ungleichheit, d.h. eins zu werden mit dem einen Gott.617 Die trinitarische Entfaltung ist somit das „Mittel“, mit dem Gott dem Menschen die Einung mit dem einen Gott ermöglicht. Wenn der Mensch sodann eins mit der Einheit Gottes ist, entfaltet sich wiederum vollkommener das trinitarische Leben in der Seele des Menschen:

„Daz ist sîn natûre, daz er âne natûre sî. ... Daz ist dann götlich ordenunge. Wâ got vindet glîcheit dirre ordenunge in der sêle, dâ gebirt der vater sînen sun. Diu sêle muoz mit aller maht sich brechen ir lieht. Ûz der maht und ûz dem liehte entspringet ein brant, eine minne. Alsô muoz diu sêle sich brechen mit aller ir maht ze götlicher ordenunge.“618

„Das ist (Gottes) Natur, dass er ohne Natur ist. ... Das ist also denn göttliche Ordnung. Wo nun Gott Gleichheit mit dieser Ordnung findet, da gebiert der Vater seinen Sohn. Die Seele muss mit der ganzen Macht in ihr Licht durchbrechen. Aus der Macht und aus dem Licht entspringt ein Brand, eine Liebe. So muss die Seele mit ihrer ganzen Macht zu göttlicher Ordnung durchbrechen.“

Voraussetzung für diesen Durchbruch619 ist auf Seiten des Menschen eine abgeschiedene – eine völlig loslassende – Lebensweise, die auch auf alle kreatürlichen Vorstellungen über Gott verzichtet.620

„Eyâ, lieber mensche, waz schadet dir, daz dû gote günnest, daz got got in dir sî? Ganc dîn selbes alzemâle ûz durch got, sô gât got alzemâle sîn selbes ûz durch dich. Dâ disiu zwei ûzgânt swaz dâ blîbet, daz ist ein einvaltigez ein. In diesem ein gebirt der vater sînen sun in dem innersten gequelle. Dâ blüejet ûz der heilige geist, und dâ entspringet in gote ein wille, der behoeret der sêle zuo.“621

„Nun denn, lieber Mensch, was schadet es dir, wenn du Gott vergönnst, dass Gott Gott in dir sei? Geh’ völlig aus dir selbst heraus um Gottes willen, so geht Gott völlig aus sich selbst heraus um deinetwillen. Wenn diese beiden herausgehen, so ist das, was bleibt, ein einfaltiges Eins. In diesem Einen gebiert der Vater seinen Sohn im innersten Quell. Dort blüht aus der Heilige Geist, und dort entspringt in Gott ein Wille, der gehört der Seele zu.“

Gott ist also eins – ein Sein bzw. ein Denken –, dessen Leben sich trinitarisch entfaltet. Dieses Leben entfaltet sich in der Seele des Menschen, damit dieser zur einen Gottheit durchbrechen kann. Diese Gottesgeburt geschieht an einem „Ort“ in der Seele des Menschen. Wo ist dieser Ort genau zu lokalisieren? – Das ist die Frage nach Eckharts Bild vom Menschen und dessen Seelenlehre.

III. Der Mensch – Seele und Seelenfunken

„Die Frage nach dem Wesen der menschlichen Seele ist eines der Hauptthemen Meister Eckharts.“622 Es handelt sich dabei um die Frage nach dem letzten Grund und Sinn der menschlichen Existenz. Eckhart betont, dass man diese Frage letztlich mit Begriffen und Formen menschlicher Sprache nicht beantworten kann. Denn: „Swer nâch der einvaltihceit und lûterkeit und blôzheit der sêle, als si in ir selber ist, nennen sol, der enkan ir enkeinen namen vinden“623 („Wer die Seele nach der Einfaltigkeit und Lauterkeit und Bloßheit, wie sie in sich selbst ist, benennen soll, der kann keinen Namen für sie finden“).

In der allgemeinen Bestimmung der Seele folgt Meister Eckhart zunächst einmal den über Aristoteles vermittelten Definitionen der Vorsokratiker624:

„Unser meister sprechent: diu sêle heizet ein viur durch die kraft und durch die hitze und durch den schîn, der an ir ist. Die andern sprechent, si sî ein vünkelîn himelischer natûre. Die dritten sprechent, si sî ein lieht. Die vierden sprechent, si sî ein geist. Die fünften sprechent, si sî ein zal.“625

„Unsere Meister sagen: Die Seele heißt ein Feuer wegen der Kraft und der Hitze und des Glanzes, der an ihr ist. Die anderen sagen, sie sei ein Fünklein himmlischer Natur. Die dritten sagen, sie sei ein Licht. Die vierten sagen, sie sei ein Geist. Die fünften sagen, sie sei eine Zahl.“626

Aristoteles schließlich bestimmt die Seele einerseits als „die erste Wirklichkeit eines natürlichen Körpers, der dem Vermögen nach Leben hat.“627 Die Seele ist demnach „Ursache und Ursprung des lebenden Körpers.“628 Andererseits bestimmt er die Seele des Menschen als Intellekt („nous“629, allerdings ist der intellectus wesensgemäß unkörperlich, d.h. er existiert auch vom menschlichen Leib getrennt.630 Der unsterbliche Teil der Seele ist somit nicht an den Körper gebunden. Die Seele wird somit sowohl als Lebensprinzip eines pflanzlichen, tierischen oder menschlichen Körpers als auch als Intellekt, d.h. als „Ort“ der Teilhabe am Ewigen und an der Erkenntnis aller Dinge verstanden. Wie lassen sich beide Seelenauffassungen miteinander verbinden und wie kann man dabei auf die Unsterblichkeit der Seele schließen?631

Für Meister Eckhart sind all diese natürlichen Bestimmungen der Seele632 zwar richtig, letztlich aber berühren sie „den grunt der sêle niht“633 („den Grund der Seele nicht“), den letzten Sinn. Dieses unbestimmte Nebeneinander zweier Seelenauffassungen, d.h. „die Spannung zwischen einer Seele als Prinzip des Lebens in Raum und Zeit und einer Seele, die göttlicher Erkenntnis teilhaftig sein kann“634, versucht Meister Eckhart nun „in einer spannungsreichen und dynamischen Einheit zu denken.“635 Dabei eröffnet sich – im christlichen Horizont – „die Konzeption eines Weges ... des dem Gläubigen zugesagten Heils“636:

„Die christliche Tradition nämlich konfrontiert Eckhart mit dem Problem, die Seele als Lebensmitte der jeweils einzelnen menschlichen Person zu denken, deren Rettung oder Verwerfung durch Gott die entscheidende Frage der Existenz ist. Hier haben Begriffe wie Sünde und Gnade ihren Ort. Im Christentum wird die antike Seelenkunde durch eine die individuelle Existenz durchleuchtende Betrachtungsweise abgelöst, die z.T. dem nahe kommt, was wir heute ‚Psychologie‘ nennen. Die ‚Confessiones‘ des Augustinus entfalten diese Seite des Problems der Seele in einer bis dahin unerhörten Schärfe.“637

Meister Eckhart versteht unter der Seele einen „Ort“638, der zwischen Zeit und Ewigkeit geschaffen ist:

„Ein alter meister sprichet, daz diu sêle ist gemachet enmitten zwischen einem und zwein. Daz ein ist diu êwicheit, diu sich alle zit aleine heltet und einvar ist. Diu zwei ist diu zît, diu sich wandelt und manicvaltiget.“639

„Ein alter Meister sagt, dass die Seele gemacht ist zwischen Einem und Zweien. Das Eine ist die Ewigkeit, die sich allzeit allein hält und einförmig ist. Die Zwei aber, das ist die Zeit, die sich wandelt und vermannigfaltigt.“

Zeit und Ewigkeit bestehen in der Seele nicht nebeneinander, wie bei der forma corporis und dem intellectus in der Auffassung des Aristoteles, sondern sie treffen in der Seele aufeinander – die Seele ist „ein ort oder ein eke, dor an sich stozen zeit und ewikeit“640 („ein Ort oder eine Ecke, wo Zeit und Ewigkeit aneinander stoßen“) – bzw. sie bewegen sich von der Seele aus in verschiedene Richtungen,

„daz diu sêle mit den obersten kreften rüeret die êwicheit, daz ist got, und mit den nidersten kreften, rüeret si die zît, und da von wirt si wandelhaftic und geneiget ûf lîphaftiu dinc.“641

„dass die Seele mit den obersten Kräften die Ewigkeit, das ist Gott, berühre; mit den niedersten Kräften (hingegen) berührt sie die Zeit, und dadurch wird sie dem Wandel unterworfen und körperlichen Dingen zugeneigt.“

Auch wenn zwei Kräfte im Wettstreit miteinander liegen, so ist die Seele dennoch „ein natur, gemaht von niht zwischen in beiden“642 („eine Natur, gemacht aus nichts von den beiden“). Eckhart spricht damit der Seele „ein Dasein jenseits von Zeit und Ewigkeit zu.“643

In seiner Seelenlehre verbindet Meister Eckhart das antike Seelenverständnis mit der mittelalterlichen „Psychologie“, die von den Vermögen („krefte“, potentiae) der Seele spricht.644 Er unterscheidet zwischen einem äußeren und inneren Vermögen der Seele:

„Diu hât krefte, die da würkent in dem lîbe. Ein kraft ist, dâ von der mensche döuwet, diu würket mêr in der naht dan in dem tage, dâ von der mensche zuonimet und wehset. Diu sêle hât ouch eine kraft in dem ougen, dâ von ist daz ouge so kleinlich und sô verwenet, daz ez diu dinc niht ennimet in der gropheit, als sie an in selber sint; sie müezent ê gebiutelt werden und klein gemachet in dem lufte und in dem liehte; daz ist dâ von, daz ez die sêle bî im hât. Ein ander kraft ist in der sêle, dâ mite si gedenket. Disiu kraft bildet in sich diu dinc, diu niht gegenwertic ensint, daz ich diu dinc als wol bekenne, als ob ich sie saehe mit den ougen, und noch baz – ich gedenke wol eine rôsen in dem winter – und mit dirre kraft würket diu sêle in unwesene und volget gote, der in unwesene würket.“645

„(Die Seele) hat Kräfte, die im Leibe wirken. Da ist eine Kraft, mit Hilfe derer der Mensch verdaut; die wirkt mehr in der Nacht als am Tage; kraft derer nimmt der Mensch zu und wächst. Die Seele hat weiterhin eine Kraft im Auge; durch die ist das Auge so subtil und so fein, dass es die Dinge nicht in der Grobheit aufnimmt, wie sie an sich selbst sind; sie müssen vorher gesiebt und verfeinert werden in der Luft und im Lichte; das kommt daher, weil (das Auge) die Seele bei sich hat. Eine weitere Kraft ist in der Seele, mit der sie denkt. Diese Kraft stellt in sich die Dinge vor, die nicht gegenwärtig sind, so dass ich diese Dinge ebenso gut erkenne, als ob ich sie mit den Augen sähe, ja noch besser – ich kann mir eine Rose sehr wohl (auch) im Winter vorstellen –, und mit dieser Kraft wirkt die Seele im Nichtsein und folgt darin Gott, der im Nichtsein wirkt.“

Die Lehre von den zwei Vermögen verbindet Meister Eckhart sodann mit der paulinischen Unterscheidung zwischen dem neuen und alten, dem äußeren und inneren Menschen646:

„Man sol ze dem êrsten wizzen und ist ouch wol offenbâr, daz der mensche hât in im zweierhande natûre: lîp und geist. Dar umbe sprichet ein geschrift: swer sich selben bekennet der bekennet alle crêaturen, wan alle crêaturen sint eintweder lîp oder geist. Dar umbe sprichet diu geschrift von dem menschlîchen, daz in uns ist ein mensche ûzerlich und ein andere mensche innerlich. Ze dem ûzerlichen menschen allez, daz der sêle anehaftende ist, begriffen und vermischet mit dem vleische, und hât ein gemeine werk mit einem und in einem ieglîchen gelide lîphafticlîche als daz ouge, daz ôre, diu zunge, diu hant und des glîche. Und daz nemmet diu geschrift alles den alten menschen, den irdischen menschen, den ûzern menschen, den vîentlichen menschen, einen dienstlîchen mensche. Der ander mensche, der in uns ist, daz ist der inner mensche, den heizet diu geschrift einen niuwen menschen, einen himelschen menschen, einen jungen menschen, einen vriunt und einen edeln menschen.“647

„Man soll zum ersten wissen, und es ist auch deutlich offenbar, dass der Mensch in sich zweierlei Naturen hat: Leib und Geist. Darum sagt eine Schrift: Wer sich selbst erkennt, der erkennt alle Kreaturen, denn alle Kreaturen sind entweder Leib oder Geist. Darum sagt die Schrift vom Menschen, es gebe in uns einen äußeren und einen anderen, den inneren Menschen. Zu dem äußeren Menschen gehört alles, was der Seele anhaftet, jedoch umfangen ist von und vermischt mit dem Fleische und mit und in einem jeglichen Gliede ein körperliches Zusammenwirken hat, wie etwa mit dem Auge, dem Ohr, der Zunge, der Hand und dergleichen. Und dies alles nennt die Schrift den alten Menschen, den irdischen Menschen, den äußeren Menschen, den feindlichen Menschen, einen knechtischen Menschen. Der andere Mensch, der in uns steckt, das ist der innere Mensch; den heißt die Schrift einen neuen Menschen, einen himmlischen Menschen, einen jungen Menschen, einen Freund und einen edlen Menschen.“

Die äußeren Seelenkräfte beziehen sich also auf den Leib – das ist der äußere Mensch, d.h. „der Leib in seinem Zusammenwirken mit der Seele“648; der innere Mensch mit seinen inneren Seelenkräften betrifft das psychische Leben – z.B. diskursives Denken, den Zorn oder das Begehren649 – aber darüber hinaus auch etwas „Höheres“, nämlich die sog. obersten Seelenkräfte: Gedächtnis (memoria, enhaltendiu kraft oder gehugnisse), Intellekt (intellectus, verstendikeit, vernünfticheit oder bekantnisse) und Wille (voluntas, wille bzw. amor).650 Der innere Mensch steht mit diesen Seelenkräften in Analogie zu Gott – nicht in Gleichheit: So kommt das Begehren erst im Besten, der Zorn nur im schwer Erreichbaren bzw. im Höchsten Gottes zur Ruhe.651

Als analoges Abbild entsprechen die Kräfte im obersten Bereich jedoch der trinitarischen Enfaltung:

„De eirsten craft is gehochnysse, de ment eyne heymeliche, verborgen konst; de nennet den vader. De ander craft heyscht inteligencia, dat is eyne intgegenwordicheit, eyn bekennen, eyne wysheit. Dey dirde crafte de heysset wylle, eyn vloit des heylgen geistes.“652

„Die erste Kraft (des obersten Bereichs) ist das Gedächtnis, womit ein geheimes, verborgenes Wissen gemeint ist; die bezeichnet den Vater. Die andere Kraft heißt intelligentia, das ist eine Vergegenwärtigung, ein Erkennen, eine Weisheit. Die dritte Kraft heißt Wille, eine Flut des Heiligen Geistes.“

Hier folgt Eckhart augustinischen Vorstellungen653: Die Seele mit ihrem intellektiven Teil (mens), d.h. die oberen Kräfte der Seele, sind nach Augustinus Abbild der göttlichen Dreifaltigkeit (imago trinitatis): Gedächtnis (memoria) = Vater; Vernunft (intellectus) = Sohn; Wille (voluntas) = Hl. Geist. Die mens trägt die Möglichkeit der Erkenntnis Gottes in sich. Eckhart folgt Augustinus jedoch nicht völlig, denn bei Eckhart tragen nicht die Seelenkräfte die Möglichkeit zur Gotteserkenntnis, sondern das Seelenfünklein, das eine eigene Wesenheit gegenüber den oberen Seelenkräften hat und den Ort der Gegenwart Gottes in der Seele des Menschen bezeichnet.654

Eckhart versteht also das geistige Leben der Seele als ein Abbild der Trinität. Und in dieser Abbildhaftigkeit stellt er den Bezug des Menschen und der Schöpfung zu Gott her, vor allem durch den Begriff des Intellekts oder der Vernunft. Denn die Vernunft als Seelenvermögen ist das Verbindungsglied zu Jesus Christus, die Intelligentia der Trinität. Von dieser Vernunft ist jedoch eine andere Vernunft zu unterscheiden, die eine Einung mit Gott erst möglich macht.

Zunächst bleiben wir bei der Vernunft als Seelenvermögen. Allgemein gilt für Eckhart: Die Vernunft als Kraft in der Seele des Menschen steht vor dem Willen bzw. der Liebe.655 Denn

„diu sêle, diu got minnet, diu nimet in under dem velle der güete. Vernünfticheit ziuhet gote daz vel der güete abe und nimet in blôz, dâ er entkleidet ist von güete und von wesene und von allen namen.“656

„die Seele, die Gott liebt, die nimmt ihn unter der Hülle der Gutheit. Vernunft aber zieht Gott die Hülle der Gutheit ab und nimmt ihn bloß, wo er entkleidet ist von Gutheit und von Sein und von allen Namen.“

Durch die Vernunft vermag der Mensch Gott in seiner „Bloßheit“ zu erkennen, d.h. jenseits aller kreatürlichen Bestimmungen; der Wille bzw. die Liebe dagegen begehrt ein Gut oder eine Eigenschaft Gottes:

„Güete ist ein kleit, dâ got under verborgen ist, und wille nimet got under dem kleide der güete. Waere güete an gote niht, min wille enwölte sin niht. ... Dâ von enbin ich niht saelic, daz got guot ist. ... Dâ von bin ich aleine saelic, daz got vernünftic ist und ich daz bekenne.“657

„Gutheit ist ein Kleid, darunter Gott verborgen ist, und der Wille nimmt Gott unter diesem Kleide der Gutheit. Wäre keine Gutheit an Gott, so würde mein Wille ihn nicht wollen. ... Nicht dadurch bin ich selig, dass Gott gut ist. ... Dadurch allein bin ich selig, dass Gott vernünftig ist und ich dies erkenne.“

Der Wille setzt sogar die Vernunft – die Erkenntnis – voraus, denn mit Hilfe der Vernunft erkennt der Mensch, was er eigentlich liebt bzw. begehrt:

„Ir werk ist bekennen und eingeruowet niemer, si enrüere blôz, daz si bekennet. Und alsô gat si dem willen vor und kündet im, daz er minnet.“658

„Das Werk (der Vernunft) ist das Erkennen, und sie ruht niemals, bis sie das, was sie erkennt, unverhüllt berührt. Und auf solche Weise geht sie dem Willen voraus und macht ihm bekannt, was er liebt.“

Doch will die Vernunft wirklich das Höchste sein, muss sie – der Einheit Gottes gleich – frei sein von aller Intentionalität, von allen Phantasiebildern und natürlichen Vorstellungen; sie muss leer und blôz sein wie die Gottheit.659

„Dâ diu crêatûre endet, dâ beginnet got ze sînne. Nû begert got niht mê von dir, wan daz dû din selbes ûzgangest in crêatiurlîcher wîse und lâzest got got in dir sîn.“660

„Wo die Kreatur endet, da beginnt Gott zu sein. Nun begehrt Gott nichts mehr von dir, als dass du aus dir selbst ausgehest deiner kreatürlichen Seinsweise nach und Gott Gott in dir sein lässt.“

Wie das gemeint ist, wollen wir uns im Folgenden Schritt für Schritt aneignen, indem wir uns mit der Erkenntnisfähigkeit der menschlichen Seele beschäftigen.

Die Möglichkeit des Menschen, eins zu werden mit Gott, ist von der Erkenntnisfähigkeit der Seele abhängig. Allerdings gibt es im Menschen unterschiedliche Bereiche des Erkennens. Eckhart unterscheidet

„den Bereich der Sinneswahrnehmung ..., den Bereich der inneren Sinne bzw. des durch Teilhabe Vernünftigen oder der ratio inferior ... und den Bereich des diskursiven Verstandes oder der Vernunft, der ratio. ... Dieser Bereich kann sich aber in einen höheren Raum öffnen, den Raum der ratio superior oder des intellectus.“661

Der Bereich der Sinneswahrnehmung662 ist der unterste und äußerste Bereich der Erkenntnis, in welcher jedoch das „quod quid est rerum“663 („Wesen der Dinge“) nicht erkannt werden kann. Die äußere Sinneserkenntnis ist jedoch nicht bedeutungslos für den weiteren Erkenntnisweg, denn „von der üebunge ûzer kunst sô wirt diu kunst offenbâr, diu in der sêle ist natiurlîche verborgen“664 („so wird durch die äußere Anwendung des Wissens das Wissen offenbar, das in der Seele naturhaft verborgen ist“). Die Seele bedarf der Außenwelt, der äußeren Sinne, damit die Sinne für den inneren Weg geschärft werden:

„Möhte sie got bekennen âne die werlt, diu werlt enwaere nie durch sie geschaffen. Dar umbe ist diu werlt durch sie geschaffen, daz der sêle ouge geübet und gesterket werde, daz si daz götliche lieht lîden mag.“665

„Könnte sie (die Seele) Gott erkennen ohne die Welt, so wäre die Welt nie um ihretwillen geschaffen worden. Die Welt ist um ihretwillen geschaffen worden, damit der Seele Auge geübt und gestärkt werde, auf dass sie das göttliche Licht aushalten könne.“

Die äußere Übung der Sinne besteht darin, die äußere Welt als Möglichkeit zu erblicken, um tiefer in das Innere – den intellectus – einzudringen. Ein bewusstes Sehen und Wahrnehmen der äußeren Welt soll diese in das rechte Licht rücken und somit die Reinigung von den äußeren Hindernissen, den Bildern und Formen, bewirken.666 „Die Übung der Sinne besteht also darin, den höheren Bereich, dessen Zuträger sie sind, nicht zu versperren, sondern den Weg zu ihm freizulegen.“667 Indes besteht für den Menschen die Gefahr, dass die Sinnenerkenntnis dazu neigt,

„eine scheinhafte Selbstständigkeit zu gewinnen und damit ein eigenes ‚Seelenauge‘ zu werden – dann nämlich, wenn die menschliche Seele sich aufgrund unkontrollierter und ungeordneter Leidenschaften auf die Kreatur, das Äußere und Nichtige als auf ihr Ziel ausrichtet.“668

Eine Mittelstellung zwischen intellectus und den Sinnen nimmt das untere Verstandesvermögen ein, da der intellectus allem Sinnlichen und Körperlichen entzogen ist – gemeint sind die sog. „inwendigen Sinne“669 („inwendigen [inneren] Sinne“) bzw. das durch Teilhabe Verständige (ratio inferior bzw. rationale per participationem).670 Unter den inneren Sinnen versteht Eckhart „den Gemeinsinn, die Vorstellungskraft, das Vermögen, Individuelles zu denken (vis cogitiva) und das Gedächtnis.“671 Im Mittelhochdeutschen spricht Eckhart von den „gedenke“ („Gedanken“). Gemeint ist damit die Vorstellungskraft, sich etwas zu denken, was nicht gegenwärtig ist:

„Wie wît die sîn und wie gruntlôs, daz ist wunder. Als wol gedenke ich über mer als hie bî mir.“672

„Wie weit diese (= die Gedanken) sind und wie unergründlich, das ist ein Wunder: kann ich mir doch ebenso leicht etwas denken [= vorstellen], was jenseits des Meeres wie das, was hier bei mir ist.“

Die Übersetzung von gedenke ist cogitatio:

„Cogitationes sind die aufeinander folgenden, einander ablösenden, auftauchenden und verschwindenden Gedanken, die Gedanken, insofern sie bewusst wahrgenommen werden. Von daher ist als Übersetzung von cogitatio der Terminus ‚Bewusstseinsakt‘ in Erwägung zu ziehen. Cogitationes sind rational, wenn sie sich aus der ratio oder dem intellectus speisen; insofern gehören sie dem durch Teilhabe Verständigen an.“ 673

Da die Seele durch die Vorstellung von etwas, das nicht gegenwärtig ist, im „unwesene“674 („Nichtsein“) wirkt, ahmt sie dabei Gott nach, der ebenso „in unwesene würket“675 („im Nichtsein wirkt“), da er über allem Seienden steht. Man kann demnach unter der inneren Sinnentätigkeit bewusst wahrgenommene Gedanken und Vorstellungen (cogitationes) verstehen. Als solche vermitteln sie zwischen der äußeren Welt und dem intellectus, der inneren Welt des Menschen.

Der Mensch kann sich jedoch in seinen Gedanken und Vorstellungen verlieren, sofern er sie ganz in den Dienst der Sinne stellt, sie auf abwesende Gegenstände in Raum und Zeit richtet, nicht aber auf den intellectus.676 Im Gegensatz zum göttlichen intellectus im Menschen steht

„omnis cogitatio mala vel de malo aut etiam praeterito vel futuro sive de ente quocumque includente nihil, id est negationem. Haec autem dicunt rationem non entis vel umbram entis. Obiectum autem intellectus est ens.“677

„jeder böse Gedanke oder jeder Gedanke an Böses oder sogar an Vergangenes oder Zukünftiges oder an irgendein Seiendes, das das Nichts einschließt, nämlich eine Negation. Solche Gedanken drücken den Sinngehalt des Nicht-Seienden oder den Schatten des Seienden aus [daher sind sie ohne den Intellekt]. Der Gegenstand des Intellekts aber ist das Seiende.“

Den inneren Sinnen folgt der diskursive Verstand oder Vernunft („diskursive ratio“)678:

„Diese ratio ist eine neue Dimension des Erkennens. Ihre eigentümliche Tätigkeit ist das Schließen. Von den Gegenständen wird auf die sie bedingenden Strukturen geschlossen (ratiocinari). Hier verlassen wir die Ebene des außenweltlichen Seienden und betrachten stattdessen seine Konstitution im Sein.“679

Eckhart nennt die ratio, die auf das Verstehen der Außenwelt bezogen ist, das „ûzer verstânne“ („äußere Verstehen“)680:

„Und ist ouch ein bekennen in unsern sêlen ze ûzern dingen, als daz sinneliche und verstentliche bekennen, daz dâ ist nâch glîchnisse und nâch rede.“681

„Es gibt aber auch in unseren Seelen ein auf äußere Dinge gerichtetes Erkennen, nämlich das sinnenhafte und verstandesmäßige Erkennen, das (ein Erkennen) in Vorstellungsbildern und in Begriffen ist.“

Die rede682 bzw. ratio ist ein Denkvermögen, das die Vielheit der Sinnenwelt „in Ordnungen, Figuren und gedanklichen Einheiten“683 zusammenfasst und welches mittels natürlicher Argumente (rationes naturales) auf die äußeren und inneren Zusammenhänge des Seins zu schließen vermag.684 Der Mensch kann also mit Hilfe seiner ratio, sofern er nach dem Ursprung allen Seins fragt, zu dem Schluss kommen, dass es einen Gott gibt.

„Homo accipit cognitionem suam a posterioribus, procedens ad principia ratiocinando. Non sic creatura alterior intellectualis.“685

„Der Mensch empfängt seine Erkenntnis von dem (der Natur nach) Späteren und schreitet zu den Ursprüngen durch schlussfolgerndes Denken vor. Nicht so ist es bei einem höheren einsichtigen Geschöpf.“

Dieser „Gott“ ist jedoch – und hier liegt die Schwäche der ratio verborgen – nur ein gedachter Gott, ein Gott der Vorstellungsbilder, nicht aber Gott in seinem wahren Sein:

„Der mensche ensol niht haben noch im lâzen genüegen mit einem gedâhten gote, wan, swenne der gedank vergât, sô vergât ouch der got. Mêr: man sol haben einen gewesenden got, der verre ist obe den gedenken des menschen und aller crêature.“686

„Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen und aller Kreatur.“

Der Mensch darf sich also nicht vom rein äußerlichen diskursiven Denken gefangen nehmen lassen. Er muss noch tiefer steigen bzw. noch höher steigen in den Bereich des intellectus.

Das „oberste Erkenntnisvermögen“687 im Menschen, der „nach oben offene Raum der menschlichen Erkenntnis“688 ist für Eckhart der intellectus.689 Diesen Bereich nennt Eckhart jedoch zuweilen ratio bzw. mittelhochdeutsch „vernunft“.690 Die Unterscheidung dieser Bezeichnungen ist nicht einfach, da keine genauen Abgrenzungen möglich sind. Der menschliche intellectus kann eins sein mit dem göttlichen Intellekt, sofern er also ist, was er seiner Möglichkeit nach sein kann, doch bleibt er auch in der Einheit immer ein menschlicher Intellekt mit dem Vermögen der Unterscheidung.691 Eckhart unterscheidet deshalb den menschlichen Intellekt in einen „reinen, gänzlich unbestimmbaren intellectus und eine reine ratio.“692 Die reine ratio nennt er – als Gegenpol zum äußeren Verstehen – das „inner verstân“693 („innere Verstehen“) bzw. „inner bekennen“694 („inneres Erkennen“). Die reine ratio kann als ratio superior die Führung der unteren Erkenntnisweisen übernehmen und sich deren Vorstellungsbilder und Begriffe nutzbar machen, doch bleibt sie von diesen wesenhaft frei.695 Sie ist frei, weil sie ihr Erkennen, ihre Vernunft nicht aus etwas Geschaffenem, sondern aus dem Leben der Seele, aus deren eigentlichem Sein, aus dem Innersten, aus dem intellectus speist, in welchem der Mensch, eins mit dem göttlichen Intellekt, sich als Kind Gottes erkennt:

„Das inner bekennen ist daz, daz sich vernünfticlîche ist fundierende in unserer sêle wesene; doch enist ez niht der sêle wesen, mêr: ez ist dar in gewurzelt und ist etwaz lebens der sêle, wan wir sagen, daz daz verstân sî etwaz lebens der sêle, daz ist vernünftigez leben, und in dem lebene wirt der mensche geborn gotes sun und ze dem êwigen lebene; und diz bekennen ist âne zît und âne stat, âne hie und âne nû. In diesem lebene sint alliu dinc ein, allliu dinc gemeine al und al in al und al geeiniget.“696

„Das innere Erkennen ist jenes, das sich als vernunftartig im Sein unserer Seele fundiert; indessen ist es nicht der Seele Sein, vielmehr wurzelt es darin und ist etwas vom Leben der Seele, denn wir sagen, dass das Erkennen sei etwas vom Leben der Seele, das heißt vernünftiges Leben, und in diesem Leben wird der Mensch als Gottes Sohn und zum ewigen Leben geboren; und dieses Erkennen ist (= geschieht) ohne Zeit und Raum, ohne ‚Hier‘ und ohne ‚Nun‘. In diesem Leben sind alle Dinge eins, alle Dinge miteinander alles und alles in allem und ganz geeint.“

Sofern die ratio im intellectus wurzelt, bezeichnet Meister Eckhart die ratio superior als „vünkelîn der redelicheit“697 („Fünklein der Erkenntnisfähigkeit“), welches „niemer erlischet“698 („niemals erlischt“). In dieses Fünklein als das „oberste teil des gemüetes“699 („oberste Teil des Gemütes“) verlegt man „das ‚bilde‘ der sêle“700 („das ‚Bild‘ der Seele“)701: Denn durch diese Vernunft (ratio) vermag die Seele „gotes gewar“702 („Gottes gewahr“) zu werden und ihn „zu schmecken“703; sie ist mit der Gottheit darin gleich, dass sie nichts gleicht.704 Wie Gott ist sie „lûter und unvermenget“705 („lauter und unvermischt“) – diese Vernunft ist ein „bilde“706 („Bild“) Gottes, insofern sie eins ist mit dem göttlichen Urbild.707 Wie ihr Urbild besteht ihr Sein in ihrem innerlichen Erkennen – ist ein rein geistiges Vermögen708: Die Vernunft ist „alwege inne suochende“709 („allwegs nach innen suchend“); ihr Tätigsein und ihr Ziel sind ihr beide immanent.710 Und weil diese Vernunft Gott gleich ist, kann sie den Menschen vom „hie und von nû“711 („Hier und Nun“), d.h. von „stat und zit“712 („Stätte und Zeit“) loslösen und von aller zeitlichen Abhängigkeit befreien, um ihn eins werden zu lassen mit Gott. Meister Eckhart folgt in seiner Bestimmung Dietrich von Freiberg, allerdings setzt er an die Stelle des intellectus agens (bei Dietrich) den Seelenfunken.713 Ebenso sieht Eckhart den Intellekt des Menschen nicht einfach als „ein zusätzliches Erkenntnisvermögen zu den bisher genannten“714:

„Dagegen spricht schon, dass Eckhart ratio und intellectus des öfteren wie austauschbare Begriffe verwendet. Andrerseits gibt es Zusammenhänge, in denen nur einer der beiden Begriffe auftauchen kann. Wenn vom göttlichen intellectus die Rede ist, kann stattdessen keinesfalls ratio stehen.“715

Die göttliche Vernunft unterscheidet sich von der natürlichen Vernunft des Menschen.716 Deshalb muss der Bereich der natürlichen Erkenntnis überschritten werden, um mit dem göttlichen Intellekt eins zu werden. Das vermag der Mensch jedoch nicht mit seiner Vernunft als Seelenvermögen. Die Möglichkeit des Überstiegs ist jedoch in der Seele angelegt:

„Sant Augustinus sprichet in dem buoche ‚von der sêle und von dem geiste‘: diu sêle ist geschaffen als ûf ein ort zwischen zît und êwicheit. Mit den nidersten sinnen nâch der zit üebet si zîtlîchiu dinc; nâch der obersten kraft begrîfet und enpfindet si âne zît êwigiu dinc.“717

„Sankt Augustinus sagt im Buche ‚von der Seele und vom Geiste‘: Die Seele ist geschaffen gewissermaßen auf der Scheide zwischen Zeit und Ewigkeit. Mit den niedersten Sinnen befasst sie sich in der Zeit mit den zeitlichen Dingen; der obersten Kraft nach aber begreift und empfindet sie zeitlos ewige Dinge.“

Diesen Teil der Seele, der auf die Ewigkeit bezogen ist, bezeichnet Meister Eckhart ebenfalls als Vernunft.718 Innerhalb dieser Vernunft als rein geistiges Vermögen unterscheidet Eckhart, wie vor ihm Albertus Magnus und Dietrich von Freiberg719, zwischen dem intellectus agens und dem intellectus possibilis:

„Nû sprechen wir in einem andern sinne von den ‚zwein sünen‘ der vernünfticheit. Der ein ist diu mügelicheit, der ist diu würklicheit.“720

„Nun sprechen wir in einem anderen Sinne von den ‚zwei Söhnen‘ der Vernunft. Der eine ist die ‚Möglichkeit‘ [= die mögliche Vernunft], der andere die ‚Tätigkeit‘ [= die tätige Vernunft].“

Beide Intellekte korrespondieren miteinander. So betont Eckhart, dass die mögliche Vernunft – ohne die Kraft der tätigen Vernunft – einer Abenderkenntnis, einem Abendlicht gleicht, d.h. der Mensch kann die Dinge und Kreaturen nur mit seiner naturhaften Vernunft erkennen; gemeinsam mit der tätigen Vernunft aber wird die Abenderkenntnis der möglichen Vernunft zum Morgenlicht, zur Morgenerkenntnis bzw. zum lichten Mittag721: Der Mensch erkennt – er gleicht darin den Engeln – alle Geschöpfe in Gott.722

An anderer Stelle hebt Meister Eckhart jedoch stärker die Bedeutung des intellectus possibilis für den Weg des Menschen zu Gott hervor.723 Der intellectus agens hat dabei eine Art Zuträgerfunktion für den möglichen Intellekt:

„Diu wirkende vernunft diu houwet diu bilde von den ûzern dingen und enkleidet sie von materien unde von zuovalle unde setzet sie in die lîdende vernunft, unde diu gebirt ir geistlich bilde in sie.“724

„Die wirkende Einsicht schlägt die Bilder von den äußeren Dingen ab und entkleidet sie ihrer Materialität und ihrer Zufälligkeit und versetzt sie in die leidende Einsicht; und diese gebiert ihr geistiges Bild in sie.“

Damit aber lehrt Eckhart – im Gegensatz zu Albertus Magnus und vor allem zu Dietrich von Freiberg725 – im „innerseelischen Bereich die Überlegenheit einer leidenden, empfangenden Vernunft gegenüber einer durch Aktivität sich auszeichnenden.“726 Die höchste Einsicht ist laut Eckhart im intellectus possibilis möglich, da diese Vernunft, bevor sie erkennt, nichts ist, um alles zu werden, die jedoch auch die Möglichkeit ist, zu nichts zu werden.727 Die Aktivität hat Eckhart zufolge auf dem Weg zu Gott nur eine reinigende, nicht aber eine einigende Funktion.728 Es geht Eckhart um die Einung mit dem einen Gott oberhalb seines trinitarischen Wirkens, dort wo Gott nur reines Sein und kein Wirken ist.729 Der intellectus possibilis bringt in diesem Kontext die Unbestimmtheit Gottes, sein nichtwirkendes Sein730, zum Ausdruck. Das bedeutet: Der rezeptiv-passive Aspekt des Erkennens ist die Bedingung der Möglichkeit, dass der Mensch durch Gott überformt werden kann731:

„Ez ist diu wesenlich vernünfticheit gotes, der diu lûter blôz kraft ist intellectus, daz die meister heizent ein enpfengîchez.“732

„Dies ist die wesenhafte (seiende) Vernunft Gottes, die die lautere, reine Kraft intellectus ist, die die Meister733 ein Empfängliches nennen.“

Erst in diesem reinen empfänglichen Sein erkennt der Mensch, wenn er von allen äußeren, sinnlichen Dingen und sogar von der tätigen Vernunft „abgeschieden“ lebt.734 Dann erfolgt eine Erkenntnis „im lieht der gnâde“735 („im Licht der Gnade“), insofern der Mensch eins geworden ist mit der göttlichen Vernunft, in welcher der Vater in der Erkenntnis seiner selbst sein Wort ausspricht und dabei der Heilige Geist ausfließt.736 In diesem Sinne ist die Vernunft für Eckhart der Tempel Gottes:

„Niergen wonet got eigenlîcher in sînem tempel, in vernünfticheit, als der ander meister sprach, daz got ist ein vernünfticheit, diu dâ lebet in sîn aleines bekantnisse, in im selber aleine blîbende, dâ in nie niht eingeruorte, wan er aleine dâ ist in sîner stilheit. Got in sîn selbes bekanntnisse bekennet sich selben in im selben.“737

„Nirgends wohnt Gott eigentlicher als in seinem Tempel, in der Vernunft, wie jener andere Meister738 sagte: Gott sei eine Vernunft, die da lebt im Erkennen einzig ihrer selbst, nur in sich selbst verharrend dort, wo ihn nie etwas berührt hat; denn da ist er allein in seiner Stille. Gott erkennt im Erkennen seiner selbst sich selbst in sich selbst.“

In dieser Erkenntnis wird der Mensch schließlich Sohn. Die mögliche Vernunft bezieht sich für Eckhart also auf die mögliche Geburt Gottes im Menschen.739 Sie ist das Bild des göttlichen Ursprungs und somit puritas essendi, reines Sein, allerdings abhängig von ihrer Verbundenheit zum Urbild.740 Dadurch wird der Durchbruch von der Zeit in die Ewigkeit möglich bzw. sie überwindet die Stellung des Menschen zwischen Zeit und Ewigkeit und vereinigt alle äußeren und inneren Kräfte durch die Geburt im Innersten der Seele.741

Die mögliche Vernunft steht bei Eckhart somit für ein dynamischgeistiges Geschehen, das in der Seele des Menschen stattfindet und seine ursprüngliche Beziehung zu Gott zum Ausdruck bringt. Wenn Eckhart in diesem Kontext auf das Innerste im Menschen zu sprechen kommt, benutzt er nicht wie Dietrich von Freiberg den Ausdruck intellectus agens, sondern ersetzt diesen durch den Begriff Seelenfunken. Die Lehre vom Seelenfunken ist jedoch keine Erfindung Eckharts.742 Er kann auf eine lange philosophische und theologische Tradition zurückblicken: In der mittelalterlichen Theologie waren Begriffe, die ein Innerstes im Menschen zum Ausdruck brachten, weit verbreitet: z.B. abditum mentis, essentia animae, archa animae, acumen mentis, apex mentis, scintilla rationis und synderesis. Diese Tradition umfassen christliche, platonische und stoische Stränge.

„Das Seelenfünklein ist eine spezifisch stoische Vorstellung. Wie das Urfeuer als Urvernunft den Kosmos bildet und erhält, so belebt ein Funke dieses göttlichen Feuers den menschlichen Leib. Sitz des Funkens ist die Seele, und zwar das ‚Höchste der Seele‘, dort wo das Urfeuer in seiner ursprünglichen Reinheit erhalten ist. Griechisch heißt es apóspasma, das ‚Stückchen‘, lateinisch scintilla animae, dazu anotaton méros, ‚Höchster‘, d.i. nach dem Höchsten ausgerichteter ‚Teil‘ der Seele, lateinisch supremum animae und, bildhafter, apex mentis, ‚Spitze‘, ‚Gipfel der Vernunft‘. Nach seiner Funktion ist der Funken leitendes Prinzip, hegemonikón, principale cordis, Ziel des hegemonikón die Erhaltung des Ganzen: synteresis (‚Bewahrung‘). Die stoische Philosophie hat das Hegemonikon, den Zentralbegriff der scintilla-Lehre, noch nicht im Sinne eines Seelengrundes verstanden, der einen erkenntnismäßigen Kontakt mit der Urvernunft gewähren könnte.“743

Erst wo sich das stoische Schema mit der platonischen Philosophie verband, entstand die Vorstellung, dass der menschliche Geist aus dem Ureins ausströmt, um wieder dorthin zurückstreben. Jene Rückkehr vollzieht sich im Seelenfunken. Daraus entwickelte sich das Bild vom Seelengrund. Diese Sicht finden wir zuerst bei Origenes; im Mittelalter bei Wilhelm von St. Thierry, Alcher von Clairvaux, bei Hugo und Richard von St. Viktor, bei Bonaventura und Hugo von Balma.744

Zu diesem stoisch-platonischen Denken traten schließlich noch Gedanken der augustinischen Theologie hinzu. So bringen die Begriffe abditum mentis oder essentia animae die Innerlichkeit Gottes zum Ausdruck und sprechen von dem Verborgenen in der Seele des Menschen.745 Dieses von Augustinus beeinflusste Denken wurde in der deutschen Dominikanerschule – u.a. über Albertus Magnus, Dietrich von Freiberg und Thomas von Aquin –, des Weiteren von der Theologie des Dionysios Areopagita, des „Liber de causis“, vom Neuplatoniker Proklos („Elementatio theologica“) und vom Aristotelismus des Averroes beeinflusst.

Eckhart versucht in seiner Lehre vom Seelenfunken – ebenfalls eines seiner Kernthemen746 – mit verschiedenen Ausdrücken das „Innerste“ im Menschen, wo Gott und Mensch eins sind, zu bestimmen:

„Ich hân underwîlen gesprochen, ez sî ein kraft in dem geiste, diu sî aleine vrî. Underwilen hân ich gesprochen, ez sî ein huote des geistes; underwîlen hân ich gesprochen, ez sî ein lieht des geistes; underwîlen hân ich gesprochen, ez sî ein vünkelin.“747

„Ich habe bisweilen gesagt, es sei eine Kraft im Geiste, die sei allein frei. Bisweilen habe ich gesagt, es sei eine Hut des Geistes; bisweilen habe ich gesagt, es sei ein Licht des Geistes; bisweilen habe ich gesagt, es sei ein Fünklein.“

Diese Bezeichnungen sind nichts anderes als Hilfen, um das Geschehen bzw. die Dynamik im Menschen zu umschreiben, für die es keine Worte gibt.748 Denn „ez enist weder diz noch daz“749 („es ist weder dies noch das“). Dennoch ist es „ein waz“750 („ein Etwas“), das jedoch „hoeher boben diz und daz dan der himel ob der erde“751 („erhabener über dies und das als der Himmel über der Erde“) ist. Aus diesem Grund „beschreibt“ Meister Eckhart die Unbenennbarkeit dieses „Etwas“ wie folgt, nicht ohne anzumerken, dass diese Beschreibung jeglicher Realität spottet752:

„Ez ist von allen namen vrî und von allen formen blôz, ledic und vrî zemâle, als got ledic und vrî ist in im selber. Ez ist sô gar ein und einvaltic, als got ein und einvaltic ist, daz man mit dekeiner wîse dar zuo geluogen mac.“753

„Es ist von allen Namen frei und aller Formen bloß, ganz ledig und frei, wie Gott ledig und frei ist in sich selbst. Es ist so völlig eins und einfaltig, wie Gott eins und einfaltig ist, so dass man mit keinerlei Weise dahinein zu lugen vermag.“

Der Seelenfunken ist der „Ort“ des göttlichen Lebens, die Einheit Gottes im Menschen, als solche jedoch namen- und weiselos. Deshalb – so Eckhart – könne selbst Gott in seiner trinitarischen Seinsweise dort nicht „geluogen“754 („hineinlugen“).755 Allerdings entfaltet sich dieses Eine trinitarisch; Gott ist also keine in sich abgeschlossene Monade:

„Diu selbe kraft, dar abe ich gesprochen hân, dâ got inne ist blüejende und grünende mit aller sîner gotheit und der geist in gote, in dirre selber kraft ist der vater gebernde sînen sun als gewaerlîche als in im selber, wan er waerlîche lebet in dirre kraft, und der geist gebirt mit dem vater den selben sun und ist der selbe sun in diesem liehte und ist diu wârheit.“756

„Jene nämliche Kraft, von der ich gesprochen habe, darin Gott blühend und grünend ist mit seiner ganzen Gottheit und der Geist in Gott, in dieser selben Kraft gebiert der Vater seinen eingeborenen Sohn so wahrhaft wie in sich selbst, denn er lebt wirklich in dieser Kraft, und der Geist gebiert sich selbst als denselben Sohn und ist derselbe Sohn in diesem Lichte und ist die Wahrheit.“

Der Seelenfunke oder Grund der Seele ist also ein von Gott gnadenhaft verliehenes „geistiges Gefäß“757, „Ort des Lebens Gottes“758 im Menschen.759 Dieser „Ort“ ist die Einheit Gottes. Im Inneren dieses „Ortes“ entfaltet sich jedoch das göttliche Leben trinitarisch. Zur Entfaltung dieses göttlichen Lebens kommt es jedoch erst, wenn sich der Mensch ganz mit diesem namenlosen Ort seiner Seele verbindet – wenn er dort eins wird mit der Gottheit. Und weil im Seelengrund der Mensch mit dem einfaltigen Gott gleich ist, ist hier auch der „Ort“ der Gottesgeburt:

„Daz wir alsus sîn ein bürgelîn, in dem Jêsus ûfgange und werde enpfangen und êwiclîche in uns blîbe ..., des helfe uns got. Âmen.“760

„Dass wir so ein ‚Bürglein‘ seien, in dem Jesus aufsteige und empfangen werde und ewig in uns bleibe ..., dazu helfe uns Gott. Amen.“

Damit sich das trinitarische Leben im Menschen – in der Gottesgeburt – entfalten kann, muss der Mensch wie der Eine Gott werden, d.h. namen- und weiselos. Der Mensch soll deshalb gelassen, abgeschieden bzw. arm im Geiste leben. Was bedeuten diese Begriffe?

IV. Gelassenheit – Abgeschiedenheit – Armut des Geistes

Die Begriffe Gelassenheit, Abgeschiedenheit und Armut des Geistes, lassen sich nicht voneinander getrennt behandeln, da sie dasselbe meinen: „Wie der Begriff Armut des Geistes und der Begriff Abgeschiedenheit zielt auch der Begriff Gelassenheit auf das Bloßsein und Freisein des demütigen Menschen, der darin von Gottes Fülle überformt zu werden vermag.“761

1. Gelassenheit762

Der Begriff gelâzenheit/ gelâzen ist eine Wortschöpfung Meister Eckharts und bezieht sich auf Jesu Wort in Lk 9, 23 und somit unmittelbar auf die Forderung der Nachfolge Christi763: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Dabei übersetzt Eckhart das „Verleugne sich selbst“ auch mit sich „selben lâzen“764 („selber lassen“). Ziel der gelâzenheit ist die Einung mit Gott:

„Der gotes wort hoeren sol, der muoz gar gelâzen sîn. Daz selbe, daz dâ hoeret, daz ist daz selbe, daz dâ gehoeret wirt in dem êwigen worte. Allez daz, daz der êwige vater lêret, daz ist sîn wesen und sîn natûre und alliu sîn gotheit, daz offenbâret er uns alzemâle in sînem eingebornen sune und lêret uns, daz wir der selbe sun sîn. Der mensche, der da waere ûzgegangen alsô, daz er waere der eingeborne sun, dem waere eigen, daz dâ eigen ist dem eingebornen sune.“765

„Wer Gottes Wort hören soll, der muss völlig gelassen sein. Das Gleiche, was da hört, ist dasselbe, was da gehört wird im ewigen Worte. Alles das, was der ewige Vater lehrt, das ist sein Sein und seine Natur und seine ganze Gottheit: das offenbart er uns all zumal in seinem eingeborenen Sohne und lehrt uns, dass wir derselbe Sohn seien. Der Mensch, der da also ausgegangen wäre, dass er der eingeborene Sohn wäre, dem wäre eigen, was dem eingeborenen Sohn eigen ist.“

Gelassenheit meint also, das eigene Selbst in der Welt ganz und gar zu lassen, um im Sohn eins mit Gott zu werden:

„Ez kam einest ein mensche ze mir – des enist niht lanc – und sprach, er haete grôziu dinc gelâzen von ertrîche, von guote, durch des willen, daz er sîne sêle behielte. Dô gedâhte ich: eyâ, wie wênic und kleine hâst dû gelâzen! Ez ist ein blintheit und ein tôrheit, die wîle dû ihtes ahtest, daz dû gelâzen hâst. Hâst du dich selben gelâzen, sô hâst dû gelâzen.“766

„Es kam einmal ein Mensch zu mir – es ist nicht lange her – und sagte, er habe große Dinge hinweggegeben (gelassen) an Grundbesitz, an Habe, um dessentwillen, dass er seine Seele rettete. Da dachte ich: Ach, wie wenig und Unbedeutendes hast du (doch) gelassen! Es ist eine Blindheit und eine Torheit, solange du irgendwie auf das schaust, was du gelassen hast. Hast du (aber) dich selbst gelassen, so hast du wirklich gelassen.“

Ein Leben in Gelassenheit beginnt mit der Selbsterkenntnis, womit ein ehrlicher Blick auf die Realität des eigenen Lebens gemeint ist: „Hebe an dir selber an ze dem êrsten und lâz dich“767 („Fang zuerst bei dir selber an und lass dich“). Die Selbsterkenntnis führt sodann zu einer Haltung des Sich-Lassens, zu einem Verzicht auf den egozentrischen Gebrauch der Selbstliebe und des Eigenwillens, der im Menschen nur zu Unfrieden führt768:

„Daz enist niht schult, daz dich diu wîse oder diu dinc hindernt: dû bist ez in den Dingen selber, daz dich hindert, wan dû heltest dich unordenlîche in den dingen“769

„Nicht das ist schuld, dass dich die Weise oder die Dinge hindern: Du bist es (vielmehr) selbst in den Dingen, was dich hindert, denn du verhältst dich verkehrt zu den Dingen.“

Die Gelassenheit soll letztlich dazu führen, Gott um Gottes willen zu lassen, d.h. vor allem auf Vorstellungen über Gott bzw. die Gaben, die er zu schenken vermag:

„Daz hoehste und daz naehste, daz der mensche gelâzen mac, daz ist, daz er got durch got lâze. Nû liez sant Paulus got durch got; er liez allez, daz er von gote nemen mohte und liez allez, daz im got geben mohte, und allez, daz er von gote enpfähen mohte. Dô er daz liez, dô liez er got durch got, und dô bleip im got, dâ got istic ist sîn selbes, niht nâch einer enpfähunge sin selbes noch nâch einer gewinnunge sîn selbes, mêr: denne in einer isticheit, daz got in im selber ist.“770

„Das Höchste und das Äußerste, was der Mensch lassen kann, das ist, dass er Gott um Gottes willen lasse. Nun ließ Sankt Paulus Gott um Gottes willen; er ließ alles, was er von Gott nehmen konnte, und ließ alles, was Gott ihm geben konnte, und alles, was er von Gott empfangen konnte. Als er dies ließ, da ließ er Gott um Gottes willen, und da blieb ihm Gott, so wie Gott in sich selbst seiend ist, nicht in der Weise seines Empfangen- oder Gewonnenwerdens, sondern in der Seinsheit, die Gott in sich selbst ist.“

Denn wenn der Mensch von allem gelassen lebt – von allen irdischen Dingen, von allem natürlichen Denken, von sich selbst und auch von allen natürlichen Vorstellungen über Gott; wenn er sozusagen Raum und Zeit enthoben „zeitlos“ wird771 – dann „muss“ sich Gott dem Menschen ganz und gar mitteilen:

„Sît des gewis, daz got des niht enlaezet, er engebe uns al; und haete er sîn gesworn, er enkünde sîn doch niht gelâzen, er enmüeze uns geben.“772

„Seid des gewiss, dass Gott es nicht unterlässt, uns alles zu geben; und hätte er´s abgeschworen, er könnte doch nicht umhin, uns geben zu müssen.“

Die Gelassenheit ist eine Haltung bzw. ein Zustand der völligen Indifferenz gegenüber allen Bedingungen des Lebens, also eine Gleichmütigkeit („indiferentes“) im Sinne des Ignatius von Loyola773, ein Ruhen in sich selber, wodurch der Mensch allerdings frei und offen wird für das Wirken Gottes.774

„Der mensche, der gelâzen hât und gelâzen ist und der niemermê gesihet einen ougenblik ûf daz, daz er gelâzen hât, und blîbet staete, unbeweget in im selber und unwandellîche, der mensche ist aleine gelâzen.“775

„Der Mensch, der gelassen hat und gelassen ist und der niemals mehr nur einen Augenblick auf das sieht, was er gelassen hat, und beständig bleibt, unbewegt in sich selbst und unwandelbar, der Mensch allein ist gelassen.“

2. Abgeschiedenheit

Der Ausdruck abegescheidenheit ist wie die gelâzenheit eine deutsche Prägung Meister Eckharts.776 Das Verb abescheiden meint: „sich trennen, absondern, fortgehen, Abschied nehmen, sterben, zum Austrage kommen.“777 Inhaltlich bringt der Begriff Abgeschiedenheit – im Sinne Meister Eckharts – einen fern vom Menschen entlegenen Ort zum Ausdruck, der jedoch geistig gedeutet werden muss.778 Unter Abgeschiedenheit versteht Meister Eckhart kein Leben als Einsiedler in der Abgeschiedenheit und Einsamkeit, sondern die höchste und beste Tugend, verstanden als „Grundtugend und Grundbefindlichkeit“779, die zur Einung mit dem göttlichen Ursprung führt und somit den „Endpunkt eines spirituellen Weges“780 darstellt:

„Ich han ... mit ernste und mit ganzem vlîze gesuochet, welhiu diu hoeste und diu beste tugent sî, dâ mite der mensche sich ze got allermeist und aller naehest gevüegen müge und mit der der mensche von gnâden werden müge, daz got ist von natûre, und dâ mite der mensche aller glîchest stande dem bilde, als er in gote was, in dem zwischen im und gote kein underscheit was, ê daz got die crêatûre geschuof. Und ... sô envinde ich nicht anders, wan daz lûteriu abgescheidenheit ob allen dingen sî.“781

„Ich habe ... mit Ernst und mit ganzem Eifer danach gesucht, welches die höchste und die beste Tugend sei, mit der sich der Mensch am meisten und am allernächsten Gott verbinden und mit der der Mensch von Gnaden werden könne, was Gott von Natur ist, und durch die der Mensch in der größten Übereinstimmung mit dem Bilde stände, das er in Gott war, ehe Gott die Kreaturen erschuf. Und ... so finde ich nichts anderes, als dass lautere Abgeschiedenheit alles übertreffe.“

Die Abgeschiedenheit ist das „Unum est necessarium“ (Lk 10,42) – das, was notwendig ist –, was bei Eckhart nicht Maria, der Schwester des Lazarus, sondern ihrer Schwester Martha zukommt.782 Gegenüber anderen Tugenden – wie z.B. Liebe, Demut oder Barmherzigkeit783 –, die immer irgendein „ûfsehennes ûf die crêatûre“784 („Absehen auf die Kreaturen“) haben, ist die Abgeschiedenheit „ledic aller crêatûren“785 („losgelöst von allen Kreaturen“).786

Die Abgeschiedenheit ist der „Gipfel einer Bewegung“787, in der sich die Seele des Menschen ganz und gar „entbloezet“788 („entblößt“) von ihrer „zîtlicheit und von allem eigenen gesmacke der crêatûren“789 („Zeitlichkeit und von allem Geschmack der Kreaturen“), um in ihrem Innersten ganz in Gott einzugehen: Ihr ganzes „wesen, leben, bekennen, wizzen und minnen ist ûz gote und in gote und got“790 („Sein, Leben, Erkennen, Wissen und Lieben ist aus Gott und in Gott und ist Gott selbst“). In der Abgeschiedenheit wird der Mensch „nichts“, d.h. er steht „unbeweglich ... gegen allen zuovellen liebes und leides, êren, schanden und lasters als ein blîgîn berc unbewegelîchiu ist gegen einem kleinen winde“791 („unbeweglich ... gegenüber allem anfallenden Lieb und Leid, Ehren, Schande und Schmähung, wie ein bleierner Berg gegenüber einem schwachen Winde“), wodurch er allerdings die „Fülle des Seins“, die Gott ist, empfängt792:

„Disiu unbewegelîchiu abegescheidenheit bringet den menschen in die groeste glîcheit mit gote. Wan daz got ist got, daz hât er von sîner unbewegelîchen abegescheidenheit, und von der abegescheidenheit hât er sîne lûterkeit und sîne einvalticheit und sîne unwandelbaerkeit.“793

„Diese unbewegliche Abgeschiedenheit bringt den Menschen in die größte Gleichheit mit Gott. Denn dass Gott Gott ist, das hat er von seiner unbeweglichen Abgeschiedenheit, und von der Abgeschiedenheit hat er seine Lauterkeit und seine Einfaltigkeit und seine Unwandelbarkeit.“

Die Unbeweglichkeit in der Abgeschiedenheit beschreibt Eckhart mit folgendem Vergleich:

„Ein tür gat in einem angel ûf und zuo. Nû glîche ich daz ûzer bret an der tür dem ûzern menschen, so glîche ich daz angel dem innern menschen. Sô nû die tür ûf und zuo gât, sô wandelt sich daz ûzer bret hin und her, um blibet doch der angel an einer stât unbewegelich und enwirt dar umbe niemer verwandelt.“794

„Eine Tür geht in einer Angel auf und zu. Nun vergleiche ich das äußere Brett der Tür dem äußeren Menschen, die Angel aber setze ich dem inneren Menschen gleich. Wenn nun die Tür auf- und zugeht, so bewegt sich das äußere Brett hin und her, und doch bleibt die Angel unbeweglich an ihrer Stelle und wird deshalb niemals verändert.“

In der Vollendung der Abgeschiedenheit, in der radikalen Trennung von der Welt, wird in Gott alles eins:

„Homo in deo deus est. Igitur sicut deus in leone indinstinctus et distinctissimus, sic homo in deo al leone indistinctus et distinctus, et sic de aliis.“795

„Der Mensch ist in Gott (selber) Gott. Wie also Gott von einem Löwen ununterschieden und zugleich gänzlich unterschieden ist, so ist der Mensch in Gott von einem Löwen ununterschieden und zugleich gänzlich unterschieden. So aber verhält es sich auch sonst.“

In der Abgeschiedenheit wird die „Bindung an die Kreatur im Erkennen, im Wollen und im Haben zugunsten der absoluten Lauterkeit der Seele im Sinne innerer geistiger Armut“796 aufgehoben:

„Und sô diu abgescheidenheit kumet ûf das hoehste, so wirt si von bekennenne kennelôs und von minne minnelôs und von liehte vinster.“797